Selbsthilfe im Sog der Institutionalisierung „Die Selbsthilfe muss sich verändern, um auch künftig noch attraktiv zu sein.“ So oder so ähnlich lauten viele Kommentare, wenn es um den Stellenwert der Selbsthilfe in unserer Gesellschaft geht. Nicht selten ist von verkrusteten Strukturen oder aber von fehlender Professionalität die Rede. Auch innerverbandlich werden „neue Kommunikationsformen“ oder „neue Angebote“ eingefordert. Gleichzeitig beklagten viele Aktive die immer weiter wachsenden Anforderungen an das Ehrenamt und die damit verbundene Nachwuchsproblematik. Scheinbar ist seit einiger Zeit ein Wandel im Gange, der die Selbsthilfe erfasst hat. Doch worin liegt die Triebfeder der allenthalben beschriebenen Veränderungen? Studien zum Wandel geben Aufschluss Bereits im Jahr 2010 konnte von der BAGSELBSTHILFE mit Unterstützung der „DAKUnternehmen Leben“ eine qualitative Studie zum Wandel der Gesundheitsselbsthilfe durchgeführt werden, um dieser Frage auf den Grund zu gehen. Ziel der Studie war es, die aus Sicht der Selbsthilfe veränderten Rahmenbedingungen der Selbsthilfearbeit detailliert zu beschreiben und die Konsequenzen zu verstehen, die sich aus diesem Wandel für die Kommunikation in der Selbsthilfe ergeben. Die Studie brachte vor allem zwei Erkenntnisse: Zum einen, dass die Gesundheitsselbsthilfe zunehmend mit fachlichen Anforderungen konfrontiert wird, die die bisherigen Arbeitsgrundlagen der Selbsthilfe mit ihrer vorwiegend lebensweltlichen Orientierung verändern. Zum anderen spielen die Selbsthilfegruppen auch in der verbandlich organisierten Selbsthilfe nach wie vor eine zentrale Rolle. Die Beziehungen zwischen betroffenen Menschen, Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisationen haben sich jedoch verändert. Dies steht in einem Zusammenhang mit der zunehmenden Übernahme von Dienstleistungsfunktionen durch die Selbsthilfeorganisationen, aber auch mit veränderten Anspruchshaltungen der betroffenen Menschen gegenüber der Selbsthilfe. Personenbefragung vertieft aktuelle Erkenntnisse Im Jahr 2011 konnten diese Befunde anhand einer sehr differenzierten Befragung weiter vertieft werden. Von den Befragten wurde zum einen eine Veränderung der politischen Gegebenheiten beschrieben: So birgt die zunehmende Beteiligung der Selbsthilfe an fachlichen und politischen Gremien neue inhaltliche und organisatorische Herausforderungen für die Selbsthilfe. Es besteht der Eindruck, dass sich die Maßstäbe des eigenen Handelns verändern, ohne dass man sich hierzu bewusst hätte entscheiden können. Andererseits hat sich auch die „Kundschaft“ der Selbsthilfe verändert. Die in der Befragung gemachte Aussage „Auch in ehrenamtlichen Beratungen wird Professionalität erwartet“ zeigt, dass sich die Anforderungen an die Gesundheitsselbsthilfe durch betroffene Menschen ebenfalls verändert haben. Die vollständigen Ergebnisse sind in der Informationsschrift „Die Gesundheitsselbsthilfe als Brücke zwischen Betroffenen, Fachleuten und Politik“ im Einzelnen dargestellt worden. Die Broschüre kann von allen Interessenten in der Geschäftsstelle der BAG SELBSTHILFE angefordert werden und an dieser Stelle gilt noch einmal all jenen mein ganz herzlicher Dank, die die von unserer Geschäftsstelle verschickten Fragebögen mit viel Geduld und Gewissenhaftigkeit ausgefüllt haben! Diese Befunde der Befragung sind auf den ersten Blick durchaus erstaunlich: Je größer die Anerkennung der Selbsthilfe im politischen Entscheidungsprozess und bei den Betroffenen wird, desto größer werden die Anforderungen an die Selbsthilfe und die Herausforderungen für die Selbsthilfe. Dieses Dilemma wird in der Politologie unter dem Stichwort der „Institutionalisierung“ diskutiert. Was bedeutet Institutionalisierung? Schon im Jahr 1968 hat der Politologe Samuel Huntington in seiner Studie „Political Order in Changing Societies“ herausgearbeitet, dass politisches Handeln in einer Wechselwirkung zu den politischen Institutionen der Demokratie steht. Wer politisch handelt, richtet sein Handeln in der Demokratie an den Institutionen des Staates aus. Umgekehrt beeinflusst das Auftreten neuer Akteure immer auch die Inhalte und Formen der politischen Debatten und verändert somit die staatlichen Institutionen. Soziale Bewegungen werden „etablierter“, wenn sie in politische Entscheidungsstrukturen einsickern. Diesen Prozess der Institutionalisierung, durchläuft aktuell auch die gesundheitsbezogene Selbsthilfe in Deutschland. Wir müssen uns mit den Wirkweisen der Institutionalisierung befassen! Natürlich ist es eine große Auszeichnung, wenn politische Gremien wie der Gemeinsame Bundesausschuss oder fachliche Gremien wie die Leitlinienkommissionen der medizinischen Fachgesellschaften ihre Türen für die Selbsthilfe öffnen. Zudem eröffnet sich ein Weg, „die Dinge im System zu verändern“. Was aber gleichzeitig geschieht ist, dass sich auch die Themen in der Selbsthilfe, die Anforderungen an die Selbsthilfe und das Bild der Selbsthilfe in der Gesellschaft wandeln. Die Selbsthilfe tut daher gut daran, sich mit den Wirkungsweisen der Institutionalisierung näher zu befassen. Daher wird dieses Thema im Zentrum des diesjährigen Selbsthilfekongresses stehen, den die BAG SELBSTHILFE gemeinsam mit der BARMER GEK am 12. November 2012 in Berlin durchführen wird. Zur Mitwirkung an diesem Kongress möchte ich Sie bereits jetzt herzlich einladen. Lesen Sie mehr zum Programm des gemeinsamen Selbsthilfekongresses von BAG SELBSTHILFE und BARMER GEK auf Seite 34! Der Autor Dr. Martin Danner ist Bundesgeschäftsführer der BAG SELBSTHILFE.