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Schweizer Gesundheitssystem:
Perspektiven für einen machbaren Wandel
Die Schweiz hat sich im XIX. Jahrhundert schrittweise ein komplexes demokratisches
System gegeben, das auf einen breiten Einbezug der verschiedenen Meinungsströmungen
und Kulturen sowie auf sozialen, regionalen und politischen Ausgleich ausgerichtet ist
und damit auf eher langsame Entwicklungen und auf Stabilität. Wesentliche Merkmale
davon sind der Föderalismus, der es unter anderem erlauben soll, zur Erreichung
gemeinsamer nationaler Ziele ausreichend Spielraum für verschiedene Wege zu
ermöglichen, die den lokalen und regionalen Begebenheiten Rechnung tragen, und die
Volksrechte, die, ausgeübt oder auch nur als Drohkulisse aufgebaut, dem
parlamentarischen Gesetzgebungsprozess Leitlinien mitgeben.Wer in welchem
gesellschaftlichen Bereich auch immer Reformmodelle entwickelt, ohne diesen
Eigenheiten der Schweizer Staatsdynamik Rechnung zu tragen, ist meist zum Scheitern
verurteilt.
Für das Gesundheitswesen und damit auch die Gesundheitspolitik, die besonders
föderalistisch ausgeprägt sind, von den Volksrechten überdurchschnittlich stark tangiert
und dementsprechend in den letzten Jahren des öfteren durch Volksentscheide direkt und
indirekt geprägt, ist es deshalb besonders wichtig, gesellschaftliche Trends und
Herausforderungen nicht nur möglichst früh zu erkennen, sondern dazu auch
Lösungsansätze frühzeitig auf ihre Systemkompatibilität ausloten zu können.
Die Frage der Machbarkeit von Reformvorschlägen hängt auch vom Verhältnis zwischen
gesundheitsökonomischen und gesundheitspolitischen Perspektiven in der öffentlichen
Debatte ab. Sowohl die medizinischen Fortschritte wie die demographische Entwicklung
- und insbesondere die dadurch induzierten Kostensteigerungen - werden uns zwingen,
das Paradox des einzigen Wirtschaftssektors, über dessen Wachstum öffentlich geklagt
wird, anzugehen: die Kosten unseres Gesundheitssystems sind seit der Jahrtausendwende
im Verhältnis zu unserem Wirtschaftspotential weitgehend stabil geblieben, was nicht nur
Medien, sondern auch einigermassen seriöse Experten nicht daran hindert, immer wieder
eine "Kostenexplosion" heraufzubeschwören. Der bruttoinlandproduktorientierte
Kostenindex ist zwar in den beiden letzten Jahren wieder leicht angestiegen, doch würde
sogar eine ungebremste Fortführung des Trends der Schweiz erst in ca. 120 Jahren einen
so hohen Anteil der Gesundheitskosten an der Gesamtwirtschaft wie heute in den
Vereinigten Staaten bescheren. Und: es kommt keinem vernünftigen Menschen in den
Sinn, zu behaupten, der US-Volkswirtschaft ginge es wegen der hohen Gesundheitskosten
schlecht. Das zeigt: die Kostenfrage per se hat eine Relevanz, die nicht absolut ist,
sondern gerade in unserer halbdirekten Demokratie bedingt wird durch wahrgenommene
Mehrwerte präventiver, diagnostischer oder therapeutischer Innovationen, durch die
Verteilung der Kosten mit einer im internationalen Vergleich massiv überhöhten
Belastung der mittleren Einkommen, durch die Transparenz sowie durch andere Faktoren,
die letztlich den Grad der Kostenakzeptanz primär für den durch die obligatorische
Krankenversicherung abgedeckten Teil des Systems bestimmen. Allerdings: auch und
gerade wenn eine Gesellschaft bereit sein sollte, 20 Prozent ihres Bruttoinlandproduktes
für Gesundheit aufzuwenden, wird sie ein besonderes Augenmerk auf die Effizienz
richten.
In dieser Perspektive hat die Schweizerische Gesellschaft für Gesundheitspolitik
beschlossen, zu ihrem 40jährigen Bestehen 2016 eine Delphi-Studie mit Einschätzungen
von zahlreichen Expertinnen und Experten aller relevanter Träger des Systems zu den
Perspektiven des Schweizer Gesundheitswesens im Jahr 2030 und entsprechender
gesundheitspolitischer Massnahmen zu organisieren - als Anregung für die öffentliche
gesundheitspolitische Debatte, aber auch für das eigene Wirken.
Bei den Resultaten fällt auf, dass die meistgenannten Bereiche für Reformen - Qualität,
E-health, Transparenz, Organisation der Versorgungsstrukturen - zwar in den
Positionspapieren der meisten politischen Parteien irgendwo auftauchen, in den letzten
Jahren in den entscheidenden politischen Prozessen aber entweder untergegangen oder
auf Sparflamme umgesetzt worden sind, wie dies beispielsweise beim elektronischen
Patientendossier der Fall war. Ähnliches gilt für die Prävention, wo eine sehr klare
Mehrheit auch nach dem Scheitern des Präventionsgesetzes im Parlament für eine
deutliche Erhöhung der Investitionen in die Prävention mit dem Hauptziel einer
verbesserten Lebensqualität ausspricht. In einem Rechtsstaat hat selbstverständlich der
Gesetzgeber grundsätzlich Recht - doch wenn politische Prozesse und nahezu
übereinstimmende Einschätzungen von Experten aller Schattierungen und
Interessenvertretungen allzu stark auseinanderklaffen, ist die Reformfähigkeit und damit
auch die Qualität des Systems in Frage gestellt und verlangt nach sachorientierten
Prozessen der Vertrauensbildung, um über ideologische und parteipolitische
Grabenkämpfe hinweg Wege zur dynamischen Anpassung des Gesundheitswesens an die
gesellschaftliche Entwicklung zu finden. In diese Richtung weist auch die von
verschiedenster Seite geforderte Stärkung der Interessenvertretung der Patientinnen und
Patienten in den systemrelevanten politischen und organisatorischen Prozessen im Sinn
einer in ausländischen reformorientierten Systemen oft bereits umgesetzten,
vertrauensbildenden Massnahme. Dass auch in der Schweiz der Reformglaube der
Expertinnen und Experten nicht verloren gegangen ist, belegt die Tatsache, dass nach wie
vor die meisten unter ihnen von einer tragbaren Kostenentwicklung dank geeigneter
Rationalisierungsmassnahmen ausgehen. Dies setzt allerdings neben Mehrheiten für
entsprechende Massnahmen auch einen gesellschaftlichen Konsens über das Ausmass
tragbarer Gesundheitskosten sowie über deren Verteilung zwischen den Kostenträgern
voraus.
Der SGGP werden die Themen für ihre Hauptaufgabe der Förderung reformorientierter
Kräfte und Ideen im Schweizer Gesundheitswesen offensichtlich nicht ausgehen. Aus den
Einschätzungen und Trends der Delphi-Studie wird sie auch in den kommenden Jahren
der schweizerischen Gesundheitspolitik mit ihren Publikationen und Tagungen Impulse
geben. Dafür danke ich allen Teilnehmenden, die ihre Erfahrungen und Kompetenzen in
die Studie eingebracht haben - und ganz besonders den Mitgliedern der für die Studie
verantwortlichen Arbeitsgruppe der SGGP sowie dem Projektverantwortlichen Philippe
Lehmann - und wünsche Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, anregende Momente mit der
vorliegenden Delphi-Studie.
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