Fernuniversität Hagen Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung Arbeitsbereich Theorie der Schule und des Unterrichts Prof. Dr. H. Dichanz Magisterarbeit zum Thema Die Vorlesungen Kants über Pädagogik Wie ordnet Kant seinen pädagogischen Ansatz zwischen der Aufklärungspädagogik und seiner Transzendentalphilosophie ein? vorgelegt von: Berthold Koperski Köln, im Oktober 1998 als zip-Datei INHALTSVERZEICHNIS Vorwort Einleitung Kapitel 1: Pädagogik als Wissenschaft 1.1 Pädagogik und Erziehungswissenschaft 1.1.1 Historische Entwicklung 1.1.2 Definition 1.2 Theorie und Praxis 1.3 Pädagogische Theorien 1.4 Pädagogik als Erfahrungswissenschaft und Prinzipienwissenschaft 1.4.1 Pädagogik als Erfahrungswissenschaft (Empirische Pädagogik) 1.4.2 Pädagogik als Prinzipienwissenschaft (Normative Pädagogik) 1.4.3 Fazit Kapitel 2: Aufklärungspädagogik 2.1 Das "Zeitalter der Aufklärung" 2.2 Das "Pädagogische Jahrhundert" 2.3 Ansätze der Aufklärungspädagogik 2.3.1 Die Pädagogik des Pietismus 2.3.2 Die neue Anthropologie bei J. J. Rousseau 2.3.3 Der Philantropismus Kapitel 3: Transzendentalphilosophie 3.1 Einführung 3.2 Transzendentalphilosophie nach Kant 3.2.1 Der kritische Ansatz 3.2.2 Sinnlichkeit und Verstand 3.2.3 Die Vernunft 3.2.3.1 Die theoretische (oder spekulative) Vernunft 3.2.3.2 Die praktische Vernunft 3.2.3.2.1 Die ‘Zwei-Reiche-Lehre’ 3.2.3.2.2 Das "höchste Gut" 3.2.3.3 Theoretische und praktische Vernunft 3.3 Transzendentalphilosophische Begründung der Pädagogik Kapitel 4: Kants Vorlesungen über Pädagogik 4.1 Kants Leben und Werk 4.2 Zur Quelle 4.2.1 Der Lehrbetrieb an der Universität zu Königsberg 4.2.2 Das "Collegium Scholastico-Practicum" 4.2.3 Die Kompendien 4.2.4 Die Herausgabe der Schrift 4.2.4.1 Die "Vorrede" des Herausgebers 4.2.4.2 Urteile über die Herausgabe 4.3 Inhaltsangabe 4.4 Analyse 4.4.1 Was ist Erziehung? 4.4.1.1 Die anthropologische Grundlegung 4.4.1.2 Die Definition von Erziehung 4.4.2 Das Ziel von Erziehung 4.4.2.1 Die "Bestimmung" des Menschen 4.4.2.2 Die "Naturanlagen" des Menschen 4.4.3 Die Aufgaben von Erziehung 4.4.4 Das Problem der Erziehung 4.4.5 Die Einteilung der Erziehung 4.4.5.1 Die "physische Erziehung" 4.4.5.2 Die "praktische Erziehung" 4.4.5.3 Schematische Darstellung des Aufbaus von Erziehung 4.4.6 Transzendentalphilosophische Pädagogik oder Empirische Pädagogik 4.4.6.1 Die wissenschaftstheoretische Begründung der Erziehung 4.4.6.1.1 Die "Idee einer Erziehung" 4.4.6.1.2 Der "Mechanismus in der Erziehungskunst" 4.4.6.1.3 Die Verbindung von transzendentalphilosophischer Begründung und empirischer Methode 4.4.6.1.4 Einschub: Kants Verständnis von Theorie und Praxis 4.4.6.2 Das Stufenmodell der Erziehung 4.4.6.2.1 Die "physische Erziehung" als Fremderziehung 4.4.6.2.2 Die "praktische Erziehung" als Selbsterziehung 4.4.6.2.3 Pädagogik der "transzendentalen Freiheit" Kapitel 5: Fazit und Ausblick LITERATURVERZEICHNIS Vorwort Dieser Arbeit liegt ein zweifaches Erkenntnisinteresse zu Grunde: ein wissenschaftstheoretisches und ein praktisches. Im Verlauf meines Studiums haben die erkenntnistheoretischen, ethischen und geschichtsphilosophischen Schriften Kants einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen. Inwieweit mögen seine philosophischen Gedanken Einfluß auf die Begründung seiner "Erziehungslehre"1 gewonnen haben? Oder gründet er seine Pädagogik auf einem gänzlich anderen Denkansatz? Baut er seine Pädagogik gar auf mehreren Ansätzen auf? Diese und ähnliche Fragen leiten mein wissenschaftstheoretisches Interesse bei der Untersuchung der Vorlesungen Kants über Pädagogik. Das praktische Erkenntnisinteresse beim Verfassen dieser Arbeit ist ein gleichermaßen berufliches2 und persönliches. Welche Bedeutung hat das Kantische Erziehungsziel - die sittliche Autonomie - in meiner konkreten pädagogischen Praxis und in meinem alltäglichen Leben? Was heißt das in der Praxis: Erziehung zur sittlichen Persönlichkeit? Kann es eine solche Erziehung zur Autonomie überhaupt geben? Und wenn es sie gibt, welche Mittel und Methoden führen zum Ziel? Wann beginnt autonomes Handeln und Urteilen? Wie könnte das Handeln einer sittlichen Persönlichkeit im alltäglichen Leben aussehen? Ist ein solches Handeln im Alltag mit seinen Erfordernissen überhaupt möglich? Das Thema und die Fragestellung dieser Arbeit machen deutlich, daß das theoretische Erkenntnisinteresse das leitende ist und die Inhalte hauptsächlich bestimmt. In diese theoretischen Bemühungen schiebt sich meine Lebenswirklichkeit und die alltägliche erzieherische Praxis jedoch immer wieder ein - anregend und störend zugleich. Etliche Gedanken in dieser Arbeit dienen nicht nur der Beantwortung der wissenschaftstheoretisch motivierten Frage, sondern zielen auf das Verständnis des Kantischen Erziehungsmodells als Ganzes vor dem Hintergrund meines konkreten Lebens. Einleitung Der Gegenstand dieser Arbeit sind die pädagogischen Vorlesungen Kants, die in der von Friedrich Theodor Rink herausgegebenen Schrift "Über Pädagogik" zusammengefaßt worden sind. Ich versuche, die Schrift vor dem Hintergrund der Frage, welchen pädagogischen Ansatz Kant bevorzugt und wie er ihn wissenschaftstheoretisch begründet, zu analysieren. Schon jetzt möchte ich darauf hinweisen, daß der Text keine deutliche und klare Erklärung zu einer eigenständigen Erziehungswissenschaft und ihrer wissenschaftstheoretischen Begründung - sei sie nun empirisch (im Sinne der Aufklärungspädagogik) oder normativ (im Sinne der Transzendentalphilosophie) fundiert - abgibt (vgl. IPFLING 1967, S. 165, LIEDTKE 1966, S. 134, KANT 1961, S. 7). Daher werde ich bei der folgenden Analyse, die auch gleichzeitig eine Interpretation ist, weitere Schriften und Werke von Kant hinzuziehen, die nach meinem Verständnis in einem Zusammenhang mit seinen pädagogischen Gedanken stehen und daher helfen können, die eingangs gestellten Fragen (s. Vorwort) zu beantworten. Die Anzahl der hinzugezogenen Schriften Kants - gemessen an seinem umfangreichen Werk - ist sehr begrenzt; noch weit begrenzter ist die Auswahl von Arbeiten anderer Autoren, die Kants pädagogische Vorlesungen unter ähnlichen Fragestellungen untersucht haben. Kants pädagogische Vorlesungen sind in den letzten zwei Jahrhunderten von vielen Autoren schon gründlich und umfaßend analysiert worden. Einige jener Ergebnisse werden in diese Arbeit einfließen. Das Ziel dieser Arbeit kann und wird es nicht sein, eine grundlegende ‘Kritik’ der Schrift, die alle anderen wesentlichen Texte und Briefe Kants sowie die bisherigen wissenschaftlichen Analysen und Resultate mit einschließt, abzuliefern. So erhebe ich mit dieser Arbeit nicht den Anspruch, eine detaillierte und abschließende Analyse und Interpretation der Kantischen Schrift "Über Pädagogik" vor dem Hintergrund der oben skizzierten Fragestellung zu liefern. Es handelt sich hier um eine Annäherung, die versucht, die Kantischen Gedanken für mich und den Leser schlüssig und stimmig anzuordnen und sie zu ‘verstehen’. Das führt dazu, daß ich zum eigenen und - so hoffe ich - allgemeinen Verständnis viele Zitate aus Kants Werken anführe und kommentiere. Folgende These lege ich dieser Arbeit zu Grunde: Kants Schrift "Über Pädagogik" enthält Hinweise sowohl auf eine empirisch orientierte Pädagogik (im Sinne der Aufklärungspädagogik) als auch auf eine normativ orientierte (im Sinne der Transzendentalphilosophie). Innerhalb des Verhältnisses zwischen empirischer und normativer Pädagogik kommt der Kantischen Transzendentalphilosophie die entscheidende Rolle des Aufweisens und Begründens von Ursprung, Ziel und Zweck der Erziehung zu. Zurück zum Text Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel. Im 1. Kapitel stelle ich die Pädagogik als Wissenschaft dar. Dabei gehe ich besonders auf die beiden grundlegenden Paradigmen der Pädagogik ein: als Erfahrungs- (empirische Pädagogik) und als Prinzipienwissenschaft (normative Pädagogik). Das 2. Kapitel ist stark der Historie verpflichtet. Das Paradigma der Pädagogik als Erfahrungswissenschaft aufnehmend, beschäftigt es sich mit der Aufklärungspädagogik. Ich werde auf das sogenannte "pädagogische Jahrhundert" eingehen und drei Ansätze, die ich im Zusammenhang mit Kants pädagogischen Vorlesungen für wichtig halte, erläutern: den Pietismus, die Pädagogik J.-J. Rousseaus und den Philantropismus. Ist das 2. Kapitel eher historisch orientiert, so beschäftigt sich das 3. Kapitel mit Philosophie. Es nimmt das Paradigma der Pädagogik als Prinzipienwissenschaft auf und geht auf die Kantische Transzendentalphilosophie ein. Ich versuche dabei, die Tranzendentalphilosophie besonders in ihren erkenntnistheoretischen und ethischen Bezügen und Zusammenhängen darzustellen. Das 4. Kapitel umfaßt den Hauptteil dieser Arbeit. Ich werde dort versuchen, die Schrift "Über Pädagogik" unter zu Hilfenahme weiterer Kantischer Schriften und Aufsätze sowie von Sekundärliteratur zu analysieren und interpretieren. Ein Abriß von Kants Leben und Werk, Hinweise auf die von ihm verwendeten Kompendien und ein kurzer Überblick über die quellenkritischen Erkenntnisse zu seiner Schrift sollen dieses Kapitel ergänzen. Im 5. Kapitel werde ich mein Resümee zu den Kantischen Vorlesungen über Pädagogik geben und einen kurzen Ausblick wagen. Kapitel 1: Pädagogik als Wissenschaft 1.1 Pädagogik und Erziehungswissenschaft 1.1.1 Historische Entwicklung Das Wort Pädagogik stammt aus dem Griechischen paidagogike (techne) und bedeutet "Knabenführungskunst". Das Wort Paideia bezeichnet die Erziehung der Knaben3 (HOFFMEISTER 1955, S. 448). Seit Platon (427-347 v. Chr.) umfaßt dieser Begriff auch die "Bildung" des Menschen, d. h. "das unendliche Bemühen um [die eigene geistige und sittliche B.K.] Vervollkommnung, was für ihn [Platon B.K.] zugleich das spezifisch Menschliche (Humanum) ist und deshalb zugleich "Sollens"-Charakter hat" (DICKOPP 1983, S. 107). Aristoteles (384-322 v. Chr.), der Schüler Platons, ordnete diese "Kunst" der praktischen Philosophie zu und so wurde die Pädagogik seither unter der Philosophie abgehandelt. Pädagogik wurde normativ verstanden; philosophische Gedanken sollten die Praxis leiten und bestimmen. Die praktisch-deduktive Anwendung philosophischer Gedanken und Theoreme wurde mit der ‘Entdeckung’ der "»Erziehungswirklichkeit«4 als relativ autonomes kulturelles Subsystem der Gesellschaft" im letzten Jahrhundert zunehmend in Frage gestellt; die Pädagogik entwickelte sich zu einer eigenständigen Geisteswissenschaft, zur "geisteswissenschaftlichen Pädagogik" (WULF 1984, S. 199 ff.). Obwohl es seit Beginn dieses Jahrhunderts immer wieder Bemühungen um eine empirische Pädagogik gab (vgl. WULF 1977, S. 65 ff.), behauptete sich der geisteswissenschaftliche Ansatz in der Pädagogik. Er war durch die starke Hinwendung zum Individuum und zur Geschichtlichkeit jeder Erziehung sowie der Bevorzugung hermeneutischer Methoden und der Betonung der "relativen Autonomie" der Erziehung und Erziehungswissenschaft gegenüber der Gesellschaft ausgezeichnet (vgl. ebda. S. 10 ff.). Erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts wurde der geisteswissenschaftliche Ansatz der Pädagogik von empirisch orientierten Verfahren zurückgedrängt. Versuchte H. Roth mit seiner Forderung nach "einer realistischen Wendung in der pädagogischen Forschung" noch zwischen hermeneutischen und empirischen Verfahren zu vermitteln (vgl. ebda. S. 77 ff.) und Anteile des geisteswissenschaftlichen Paradigmas für die Pädagogik zu erhalten, so forderte W. Brezinka die Erziehungswissenschaft als eine Realwissenschaft. Brezinka formulierte zu Beginn der siebziger Jahre eine "realwissenschaftliche Pädagogik, die abkürzend als"Erziehungswissenschaft" bezeichnet werden kann"; die "Erziehungswissenschaft" beschäftigt sich nicht mehr mit philosophischen, normativen und praktischen Aspekten der Erziehung, sondern nur noch mit Beschreibungen, Erklärungsversuchen und eventuell auch Voraussagen über die "Erziehungswirklichkeit". Dazu kommen zwei ergänzende Bereiche: die "Philosophie der Erziehung", die sich mit philosophischen Fragen der Erziehung wie beispielsweise der normativen Begründung der Pädagogik befaßt und die "Praktische Pädagogik" (oder "Erziehungslehre"), die "die erziehungspraktisch-politischen Erfordernisse der jeweils vorhandenen gesellschaftlichen Situation behandelt" (BREZINKA 1971, S.15/16). Zurück zum Text Der "realistischen Wende in der Pädagogik" folgte in zeitlich kurzem Abstand die "Kritische Erziehungswissenschaft". Dieser Ansatz stellt Gesellschaftskritik und Emanzipation in den Mittelpunkt und untersucht den gesellschaftlichen Charakter der Erziehung und der Erziehungswissenschaft. D. Garz konstatiert für die gegenwärtige Erziehungswissenschaft einen "Paradigmenschwund […]: Die drei Hauptstränge erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung haben sich gewissermaßen verflüchtigt und einer Vielzahl mehr oder minder kleinformatiger Ansätze das Feld überlassen" (GARZ 1989, S.18)5 . Was bleibt ist "Der Postmodernismus oder das Ende jeder Wissenschaft" (ebda. 1989, S.25). Der Universalismus der Wissenschaften macht dem Relativismus oder der Beliebigkeit Platz. Um die Erziehungswissenschaften nicht der Beliebigkeit zu überlassen, formuliert Garz die Alternative: Eine Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie nach W. Klafki, die die Topoi der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik wieder aufnimmt "..und nach Maßgabe der Einwände und Weiterentwicklungen erneut zusammenfügt - also aufhebt" (ebda. 1989, S. 32). 1.1.2 Definition Nach diesem historischen Abriß möchte ich ‘Pädagogik’ und ‘Erziehungswissenschaft’ wie folgt definieren: ‘Pädagogik’ ist der erziehungsgeschichtlich ältere und auch umfassendere Begriff. Unter ‘Pädagogik’ wird sowohl die "Erziehungswirklichkeit" mit allen Formen des praktischen Erziehungsgeschehens verstanden als auch die wissenschaftlichen und philosophischen Gedanken und Theorien über diese "Erziehungswirklichkeit". Der Begriff ‘Pädagogik’ schließt also den Begriff ‘Erziehungswissenschaft’ mit ein; er umfaßt dabei auch das Spannungsverhältnis zwischen ‘Praxis’ und ‘Theorie’ (mehr dazu im folgenden Kapitel). Die ‘Erziehungswissenschaft’ bezeichnet die wissenschaftliche Klärung der "Erziehungswirklichkeit". Es gibt mehrere erziehungswissenschaftliche Modelle, die versuchen, mit bestimmten Methoden den Gegenstandsbereich der Erziehung, die "Erziehungswirklichkeit", zu analysieren und systematisch darzustellen und so neue Erkenntnisse über die Wirklichkeit zu gewinnen. Innerhalb des Spannungsverhältnisses zwischen ‘Praxis’ und ‘Theorie’ neigt sich die ‘Erziehungswissenschaft’ stark der ‘Theorie’ zu, ohne dabei zu vergessen, daß der Ausgangs- und Bezugspunkt der ‘Theorie immer die ‘Praxis’ ist (vgl. HOBMAIR 1989, S. 10 ff). 1.2 Theorie und Praxis Zwei weitere wichtige Begriffe, die es zu definieren gilt, sind ‘Theorie’ und ‘Praxis’. Beide Begriffe sind eng miteinander verbunden und verweisen aufeinander; sie stehen dabei in einem Spannungsverhältnis zueinander, das konstitutiv für die Pädagogik ist. Das Wort ‘Theorie’ stammt ebenfalls aus dem Griechischen (theoria) und bedeutet die "Betrachtung", die Schau. Obwohl bei dieser Übersetzung erst einmal eine sinnliche Schau, die einfache Wahrnehmung von Gegenständen naheliegt, wird unter ‘Theorie’ die "geistige Schau" verstanden (HOFFMEISTER 1955, S. 609). Der Begriff ‘Theorie’ steht in enger Nachbarschaft zu dem aus dem lateinischen stammenden Wort "Kontemplation", was "Beschauung, Betrachtung" bedeutet (ebda. S. 356). Hieran wird die Nähe der ‘Theorie’ zur Mystik, Religion und Spiritualität deutlich, was unserem Verständnis von wissenschaftlicher Theorie doch stark entgegenzustehen scheint. Ebenso wichtig zum Verständnis von ‘Theorie’ ist die ‘Anschauung’: sie meint das intuitive, ganzheitliche Erfassen von Gegenständen, die zwar zuerst sinnlich vermittelt werden, im Akt der ‘Anschauung’ aber eine neue, nichtsinnliche Qualität entfalten. Eine theoretische Haltung zur Welt ist eine reflexive Haltung. Der Betrachter wendet sich ab von den sinnlich vermittelten Gegenständen der Welt; er versucht, den Sinnesdaten eine neue Qualität, eine gedankliche Qualität zu geben6. Der Begriff ‘Praxis’ - ebenfalls aus dem Griechischen stammend - bedeutet Handlung. Bezogen auf die Pädagogik steht Praxis "...für das Handlungsfeld, in dem erzieherische Handlungen vor sich gehen" (TSCHAMLER 1983, S. 103). Diese Handlungen vollziehen sich in der "Erziehungswirklichkeit". Theorien sind also keine sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände oder Gegebenheiten, sondern "sinnlich vermittelte Gedankenkonstrukte über Gegenstandsbereiche" (DICKOPP 1983, S. 39). Dabei wollen diese Gedankenkonstrukte einen Ordnungszusammenhang in wahrnehmbare Ereignisse, Fakten und Abläufe bringen. Theorien wollen die Praxis ordnen, erklären und deuten. 1.3 Pädagogische Theorien Pädagogische Theorien möchten über den pädagogischen Gegenstandsbereich, die "Erziehungswirklichkeit", aufklären; sie möchten "praxisrelevantes Wissen" zur Verfügung stellen, "das Erzieher, Eltern, Lehrer ... dazu ermächtigt, ihr erzieherisches Handeln auszurichten" (DICKOPP 1983, S. 42). Pädagogische Theorien wollen eine Orientierung für erzieherisches Handeln in konkreten erzieherischen Situationen anbieten, keine Festlegung. Eine pädagogische Theorie läßt sich in ein System von vier Gegenstandsbereichen aufsplitten: 1. Pädagogische Grundbegriffe, 2. Methoden der Pädagogik (qualitative und quantitativeMethoden), 3. Praxisfelder von Erziehung, 4. Metatheorie / Philosophie der Erziehung ( in diesen Bereich gehören Anthropologie, Wissenschaftstheorie, Geschichte, Gesellschaftstheorie und Ethik) Im Gegensatz zu Brezinka (s. Kap. 1.1.1) stehen diese Bereiche aber nicht relativ isoliert nebeneinander, sondern in einem System beieinander, bedingen und ergänzen sich gegenseitig und begründen in ihrem Zusammenhang eine pädagogische Theorie (vgl. DICKOPP 1983, S. 121-129). 1.4. Pädagogik als Erfahrungswissenschaft und Prinzipienwissenschaft Pädagogik als Wissenschaft mit ihren unterschiedlichen Ansätzen läßt sich aufteilen in Pädagogik als Erfahrungswissenschaft (auch als deskriptive oder empirische Pädagogik bezeichnet), als Prinzipienwissenschaft (auch normative Pädagogik genannt) und als hermeneutische Wissenschaft (auch "Geisteswissenschaftliche Pädagogik" genannt). Im Folgenden möchte ich die beiden erst genannten Typen näher erläutern. Auf die Pädagogik als hermeneutische Wissenschaft7 werde ich nicht eingehen: zum einen, weil dieses Wissenschaftsparadigma zu Zeiten Kants nicht oder kaum den Vorstellungshorizont der Zeitgenossen bestimmte, zum anderen, weil die "Geisteswissenschaftliche Pädagogik" das methodische Instrumentarium sowohl der normativen als auch der empirische Pädagogik benutzt, also eine Verbindung zwischen diesen beiden Paradigmen darstellt8(vgl. TSCHAMLER S. 89 ff.). Ich möchte schon jetzt darauf hinweisen, daß sich diese Polarisierung in empirische und normative Pädagogik nur auf einer sehr abstrakten und stark idealisierenden Ebene durchhalten läßt. Im Bezug auf das wissenschaftliche Arbeiten stellen sich pädagogische Theorien als "Mischtypen" dar, die "miteinander konkurrieren und sich dabei auch teilweise ergänzen....." (DICKOPP 1983, S. 148). Insofern gibt es keine ‘reinen’ erfahrungswissenschaftlichen oder prinzipienwissenschaftlichen pädagogischen Theorien, sondern nur Ansätze, die sich stärker an ein Paradigma anlehnen ohne dabei Anteile des anderen gänzlich auszuschließen. Es besteht eine grundsätzliche Spannung und Diskrepanz zwischen dem, was ist und dem, was sein soll: Das was ist, das Faktische, ist nicht das, was sein soll, das Normative! Innerhalb dieses Gegensatzes zwischen dem Sein und dem Sollen bzw. zwischen der Welt und dem Willen wendet sich die erfahrungswissenschaftliche Pädagogik mehr dem Sein, der Welt, und die prinzipienwissenschaftliche Pädagogik mehr dem Sollen und dem Wollen des Menschen zu. Empirische Pädagogik beschreibt, analysiert und erklärt das, was ist: die Wirklichkeit; sie beschäftigt sich mit dem, was in der Welt ‘machbar’ ist. Normative Pädagogik begründet und legitimiert das Gewollte, das, was Wirklichkeit werden soll: Sie beschäftigt sich mit dem Sollen, mit dem, was dem Menschen ‘möglich’ ist. 1.4.1 Pädagogik als Erfahrungswissenschaft (Empirische Pädagogik) In einem ersten Zugang läßt sich aussagen, daß sich eine empirisch verfahrende Wissenschaft auf die Erfahrung stützt, auf induktive Methoden und auf eine intersubjektive Prüfung ihrer Erkenntnisse. Ich möchte kurz die Entwicklung empirischer Forschungsansätze, die auch für die Entwicklung der Pädagogik nach Kant wichtig geworden sind, umreißen (vgl. zum Folgenden RUPRECHT 1974, S. 7-20, WULF 1977, S. 60-136 u. DICKOPP 1983 S. 53-66). Der Ansatz des naiven Empirismus orientiert sich streng an der Erfahrung und der Wirklichkeit. Das methodische Verfahren fußt auf der Beobachtung und dem Experiment; Erkenntnis läßt sich nur induktiv gewinnen. Der logische Empirismus überwindet den "sensualistischen Dogmatismus" (RUPRECHT 1974, S. 9) des naiven Empirismus, indem er nicht mehr die Wirklichkeit in der Vordergrund stellt, sondern ‘Sätze’ über die Wirklichkeit (Theorien und Hypothesen). Nicht die Struktur der Wirklichkeit allein bestimmt den Erkenntnisprozeß, sondern die Struktur des Erkennens, des Denkens, ist ebenso maßgebend. Es kommt beim Verfahren des logischen Empirismus zu einer Verknüpfung zwischen Rationalismus und Empirismus, indem die rational gewonnen Hypothesen sich an der Erfahrung, an sogenannten "Protokollsätzen" verifizieren lassen müssen. Erkenntnisse können allerdings auch weiterhin nur auf induktivem Wege gewonnen werden und erlauben dann Prognosen. Erst der Ansatz des Kritischen Rationalismus überwindet die ‘typisch’ empirische Methode der Induktion. Ich möchte etwas näher auf diesen Ansatz - dessen pädagogische Transformation eng mit dem Namen Brezinka verbunden ist - eingehen, da er heute als ein wichtiges Modell für eine empirisch verfahrende Pädagogik gilt. Der Kritische Rationalismus räumt ebenso wie der logische Empirismus der Theorie den Vorrang ein und nicht der Beschreibung der Wirklichkeit. Das wissenschaftliche Verfahren zur Erkenntnisgewinnung ist allerdings deduktiv. Aus einer Theorie (z. B. einer erziehungswissenschaftlichen) werden Hypothesen in Form von Wenn-Dann-Sätzen formuliert, z. B. ‘Häufiges Loben stärkt das Selbstvertrauen!’. Aus dieser Hypothese werden nun Ableitungen gebildet, z. B. ‘Wenn ich die Leistungen von Kindern bei Spiel, Sport oder Basteln häufig lobe, steigt ihr Selbstvertrauen’. Die Ableitung wird nun an der Erfahrung überprüft; dies geschieht durch Einzelbeobachtungen und deren sprachliche Fassung in sogenannte "Basissätze", z. B. ‘Nachdem ich das Ergebnis der Bastelarbeit von Karl gelobt habe, traute er sich eine schwierigere Arbeit zu’. Stimmen die "Basissätze" mit den Ableitungen überein, kann die Hypothese und die zu Grunde liegende Theorie als vorläufig bestätigt gelten. Die Theorie bzw. Hypothese ist gültig! Scheitern die Ableitungen an den "Basissätzen", so ist die Hypothese und damit die Theorie falsifiziert; sie gilt nicht mehr. Der Anspruch auf Wahrheit ist aus diesem Ansatz weitgehend heraus gedrängt; es handelt sich hier ‘nur noch’ um die Überprüfung der Gültigkeit von Theorien und Hypothesen an der Erfahrung und um die Prüfung der logischen Widerspruchsfreiheit von Satzsystemen. Normative Probleme gehören im Verständnis des Kritischen Rationalismus nicht mehr zum Gegenstandsbereich einer wissenschaftlich verfahrenden Pädagogik. Aufgabe von Wissenschaft ist es, Erklärungen zu bieten und eine prognostische und technologische Verwendung dieser Erklärungen für die Erziehungspraxis bereit zu stellen9. Erziehungswissenschaft wird dabei als wertfreie, technologische Wissenschaft betrachtet, die keine normativen Aussagen aufstellt. So sind die Philosophie, bei der es um die Legitimation und Begründung von normativen Aussagen geht, und die "Praktische Pädagogik", die sich mit dem konkreten pädagogischen Handeln und seinen Zielen beschäftigt, aus der Erziehungswissenschaft ‘ausgelagert’ (vgl. Kap. 1.1.1). Die derzeit aktuellsten Konzeptionen empirischer Verfahren sind dem Konstruktivismus zuzurechnen. Bei diesen Ansätzen werden "... die empirischen Daten nicht mehr im Sinne der Theorie interpretiert [wie noch beim Kritischen Rationalismus B. K.], sondern ganz konsequent aus der Eigenart der Theorie auch konstruiert. Wirklichkeit als solche existiert nicht mehr, weil Fragen an die Wirklichkeit immer schon theorieabhängig sind. Es ist nur möglich, durch Aktivität des Forschers, also durch seine Konstruktion, Realität zu schaffen" (RUPRECHT 1974, S. 18)10. 1.4.2 Pädagogik als Prinzipienwissenschaft (Normative Pädagogik) Pädagogik als Prinzipienwissenschaft geht auf die antike und christliche Philosophie zurück. Aristoteles` Schrift "Metaphysik", in der im I. Buch (A), 1. Kapitel, der Ursprung und die Grenzen von Wissenschaft aufgewiesen werden, gilt als ein Grundlagenwerk für das prinzipienwissenschaftliche Paradigma. Eine normativ verfahrende Wissenschaft stützt sich bei der Erkenntnisgewinnung in erster Linie auf die menschliche Vernunft und ihre Fähigkeit, Prinzipien sowohl zu formulieren und zu begründen als auch zu kritisieren und auf die deduktive Methode. Nach H. Tschamler werden unter normativer Pädagogik "...alle jene Richtungen in der Pädagogik verstanden, die die Diskussion um die handlungsrelevanten Normen und Werte in die Wissenschaft mit einbeziehen" (TSCHAMLER 1983, S. 92). Nach H. Blankertz geht die normative Pädagogik "....von vorpädagogischen Voraussetzungen aus, setzt diese in Erziehungsziele um, bestimmt dann die Erziehungsmittel und kommt in einem scheinbar durchgängigen Begründungszusammenhang zu klaren Handlungsanweisungen. Ein solches System erzeugt hohe Verhaltenssicherheit, weil das Gesamtsystem dafür bürgt, daß die vorgeschriebenen Maßnahmen mit den obersten Normen übereinstimmen, ja deren logische Konsequenz sind" (BLANKERTZ 1981, S. 74). In seinem Aufsatz "Normative Pädagogik - Recht und Grenze" erläutert M. Heitger diesen pädagogischen Ansatz näher. Ich möchte einige seiner Gedanken aufnehmen und hier wiedergeben, da sie die Nähe der normativen Pädagogik zur transzendentalphilosophisch orientierten Pädagogik deutlich machen. Der Autor weiß um die "Aporie des Normenproblems" (HEITGER 1989, S. 515) und formuliert sie auf zweifache Weise: das Angewiesensein auf Normen in der pädagogischen Praxis und ihre mangelnde theoretische Begründung sowie die Einforderung der Geltung von Normen und gleichzeitig der Anspruch auf Selbstbestimmung und Selbständigkeit des Menschen. Die Notwendigkeit von Normen für pädagogisches Handeln steht für Heitger außer Frage. "Der Grund für die Notwendigkeit, in aller Pädagogik ein Sollen geltend zu machen, ist dem Menschen selbst gegeben, in seiner Bildsamkeit. Bildsamkeit bezeichnet eine anthropologische Invariante, die gleichzeitig den Menschen in seiner Aufgabenhaftigkeit sieht" (ebda. S. 516). Einen Ausweg aus der genannten "Aporie" gelingt nach Heitger nur, wenn der Mensch in der Lage ist, Normen selbständig auf ihre "Normativität" hin zu prüfen. Diese Kompetenz der praktischen Vernunft, Normen auf ihre "Normativiät" zu prüfen und geltend zu machen, bezeichnet der Autor "als transzendentales Apriori in jeder Vernunft" (ebda. S. 524). In einem früher erschienen Aufsatz erläutert der Autor den wichtigen Begriff der "Normativität" genauer: "Normativität ist die Bedingung der Möglichkeit der Diskussion von Normen, ihrer Kritik und Begründung. Sie ist selbst keine Norm, sondern jene [a priorische B. K.] Voraussetzung, unter der Normen geprüft, kritisiert, verworfen, abgelehnt oder als partiell vorläufig angenommen werden können" (HEITGER 1985, S. 114/115). Es darf in der Erziehung nicht darum gehen, Menschen an Normen anzupassen, sondern ihnen "Hilfe zur Selbstbestimmung im Apriori des eigenen Gewissens" (HEITGER 1989, S. 525) zu geben; das heißt, Menschen sollen dazu ermächtigt werden, selbständig das Für und Wider von Normen zu erwägen und dem Anspruch der Verbindlichkeit von Normen nach Maßgabe der eigenen Gewissensentscheidung zu folgen. Die Gedanken Heitgers zur normativen Pädagogik zeigen eine große Nähe zur transzendentalphilosophischen Begründung der Pädagogik bei Kant (s. Kap. 3 u. 4.4.6). Der Autor weist allerdings darauf hin: "Der häufig auch für transzendentalphilosophische Pädagogik gebrauchte Name 'normative Pädagogik' bleibt mißverständlich. Besser spricht man von prinzipienwissenschaftlicher Pädagogik" (HEITGER 1989, S. 524). Ich möchte den hier angedeuteten Unterschied zwischen Normen und Prinzipien aufnehmen: Normen sind übergeordnete Verhaltensregeln und geben Mäßstäbe für die Beurteilung von Verhaltensweisen; je nach historischgesellschaftlichen Bedingungen werden sie jedoch uminterpretiert oder durch neue Normen ersetzt. Prinzipien sind keine Normen, sondern sie geben unabhängig von der jeweiligen Zeit und ihren Verhältnissen - die Bedingungen der Möglichkeit an, Normen überhaupt aufzustellen, sie zu beurteilen und zu akzeptieren. Ein solch unhintergehbares Prinzip, von Heitger als "Normativität" bezeichnet, ist die ‘Freiheit’ des Menschen. Ich möchte festhalten: Bei einer prinzipienwissenschaftlich orientierten Pädagogik geht es nicht darum, Menschen streng nach der Vorgabe bestimmter Normen auf festgelegte Ziele hin zu erziehen, sondern um die Begründung und Legitimierung von Normen sowie um die Entwicklung der Fähigkeit, dies selbständig zu leisten. 1.4.3 Fazit Die beiden hier erläuterten pädagogischen Paradigmen - Pädagogik als Erfahrungswissenschaft und Pädagogik als Prinzipienwissenschaft - waren zu Zeiten Kants so noch nicht geläufig. Die Pädagogik als eine eigenständige Wissenschaft hatte sich noch nicht etabliert; dies geschah im folgenden Jahrhundert und erst in unserem Jahrhundert haben sich die verschiedenen pädagogischen Ansätze stärker konturiert, aber gleichzeitig auch weiter aufgesplittert. Die Unterscheidung zwischen Erfahrungswissenschaft und Prinzipienwissenschaft oder philosophisch gewendet - zwischen Empirismus und Rationalismus (dafür mögen auch die Namen John Locke (1632-1704) und Rene Descartes (1596-1650), die neuzeitlichen Begründer dieser Ansätze, stehen) - war dem 18. Jahrhundert bekannt; diese Unterscheidung kann als der grundlegende erkenntnistheoretische Gegensatz des "Jahrhunderts der Aufklärung" angesehen werden, der die wissenschaftlichen Diskussionen immer wieder ‘anheizte’. Erst Kant gelingt in seiner Transzendentalphilosophie die Überwindung dieses Gegensatzes. Wie er ihn in wissenschaftstheoretischer Hinsicht überwindet und die Gegensätze verbindet, ist für das Verständnis seines pädagogischen Ansatzes wichtig. Ich hoffe, dies in den Kapiteln 3, 4, und 5 darlegen zu können. Kapitel 2: Aufklärungspädagogik 2.1 Das "Zeitalter der Aufklärung" Es ist schwierig, die "Aufklärung" als Epoche klar und deutlich zu definieren; zu vielfältig sind ihre Strömungen, zu gegensätzlich ihre tragenden Gedanken, zu tief ihre Widersprüche. Sie ist ein europäisches Phänomen - mit Austrahlungen in die sich konsolidierenden Staaten Neuenglands - und zweifellos "die mächtigste Bewegung des 18. Jahrhunderts, aber sie ist mit diesem weder sachlich noch zeitlich deckungsgleich" (SCHNEIDERS 1997, S. 16). Ich möchte trotzdem die übliche Begrenzung dieser Epoche auf das 18. Jahrhundert vorschlagen, da in diesem Jahrhundert die Aufklärung ihren Höheund Wendepunkt erfährt. Auf die Zeiten der heftigen Religionskriege in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts folgte eine Spanne verstärkter Ordnungs- und Systematiesierungsversuche11. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts versuchte, die durch die Gedanken der Hochscholastik und der Renaissance in ein Diesseits und ein Jenseits zerrissene Welt, noch einmal auf einer rationalen Basis zu versöhnen (vgl. HORKHEIMER 1974, S. 376 ff.). Mit der "Aufklärung" hob im Verständnis der Zeitgenossen das "Zeitalter der Vernunft" und gleichsam der "Kritik" - das "philosophisches Jahrhundert" - an. Die Stoßrichtung der "Kritik" zielte vor allem auf die Religion, d. h. auf das überkommene, in Dogmen erstarrte Christentum. Die der Philosophie entstammenden Denkrichtungen des ‘Empirismus’ und des ‘Rationalismus’ entwickelten sich in diesem Jahrhundert zu zwei eigenständigen Ansätzen, die sich antagonistisch gegenüberstanden. Noch einmal - zum letzten Male - gelangte die Philosophie12 auf den Thron der Wissenschaften, den ihr die Theologie so lange streitig gemacht hatte: "..; die Philosophie wurde zur maßgeblichen Denkform" (SCHNEIDERS 1997, S. 12). H. Blankertz definiert das Zeitalter der Aufklärung als "Eine Epoche, in der das Vertrauen in die Kraft der menschlichen Vernunft größer ist, als das Bedürfnis nach Orientierung und Anleitung durch Tradition oder Autorität, ...." (BLANKERTZ 1981, S. 15). Neben dem Vertrauen in die Kraft der Vernunft stand der Glaube an den menschlichen Fortschritt. Die ‘Aufklärer’ nahmen an, daß sich die Menschheit - ausgerichtet auf einen idealen Endzustand - im Laufe der Geschichte immer weiter verbessern und vervollkommnen würde. So drängte der unvoreingenommene Gebrauch der Vernunft zur praktischen Wirksamkeit. Und praktische Wirksamkeit bedeutete Anwendung der Vernunft zum Nutzen und Wohl aller Menschen. Für die ‘Aufklärer’ schien das Glück der Menschen - die soziale Glückseligkeit - mit Hilfe der Vernunft nicht nur denkbar, sondern auch machbar. Das "Zeitalter der Aufklärung" besaß vor allem eine politisch-gesellschaftliche Dimension und weniger - wie die ‘subjektivistisch’ orientierte Philosophie vielleicht vermuten läßt - eine individuelle. Die Epoche der "Aufklärung" ist - wie jeder andere Zeitabschnitt auch durch das geprägt, was die Historiker die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" nennen (NIETHAMMER 1984, S,. 48 ff.). Das Traditionelle, das Alte, steht unverbunden neben dem Modernen, dem Neuen: Die traditionelle, regional stark unterschiedliche Ständegesellschaft mit ihren starren Regeln und ihrer mangelnden sozialen Mobilität, steht neben den Bestrebungen der absolutistischen Staatsführungen (hier ist in Deutschland vor allem Preußen zu nennen) nach einheitlichen ökonomischen und administrativen Strukturen; die ‘alte’ Religion, das Christentum, steht neben den Versuchen eines aufgeklärten Bürgertums, eine ‘neue’, natürliche Religion zu begründen. Dem "Zeitalter der Aufklärung" gelingt noch nicht der gesellschaftliche Durchbruch in die Moderne. Vieles bleibt nur angedacht, in vielfältigen und oftmals versponnenen praktischen Versuchen erprobt und wieder verworfen (wie beispielsweise der Philantropismus, s. dazu Kap. 2.3.3). Aber wie kaum einer anderen Epoche gelingt es der "Aufklärung", Möglichkeiten und Visionen aufzuzeigen und zu entwerfen - sie mögen politischer, wirtschaftlicher, sozialer oder pädagogischer Art gewesen sein, die ihre gesellschaftliche Wirkkraft dann in den kommenden Jahrhunderten zeigen werden. 2.2 Das "Pädagogische Jahrhundert" Neben den genannten Selbstbezeichnungen wurde das "Zeitalter der Aufklärung" von den Zeitgenossen auch "Das pädagogische Jahrhundert" genannt (vgl. HERMANN, 1981). Denn das ‘Programm’ der Aufklärung, das wie oben erwähnt - zur praktischen Wirksamkeit drängte, verpflichtete zu pädagogischen Handeln. Gerade in diesem Jahrhundert wurden erzieherische Konzepte sowie pädagogische Grundlagen und Begrifflichkeiten entwickelt, die bis heute ihre Wirksamkeit und Visionskraft behalten haben. Voller Zuversicht und Enthusiasmus wandten sich viele ‘Aufklärer’ der Erziehung zu; das "pädagogische Jahrhundert" entdeckte die Erziehung neu. Aufbauend auf den Erziehungsschriften von John Locke (1632-1704) und der subjektivistischen Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) sowie den methodisch-didaktischen Grundlagen von Johann Amos Comenius (1592-1670) und Wolfgang Ratke (1571-1635), wurde Erziehung unter den gewandelten gesellschaftlichen Umständen13 mit Blick auf einen ‘neuen Menschen’ hin entworfen. Es ging um eine ‘neue’ Bestimmung, um die ‘wahre Natur’ des Menschen, um seine sittliche Vervollkommnung und Glückseligkeit. Die Entwicklung und Förderung von Vernunft und Sittlichkeit wurden zu bestimmenden Zielen der Erziehung. Diese Bestimmung wurde nun anthropologisch gedeutet und nicht mehr theologisch. Der Wille des Menschen wurde zur entscheidenden Komponente, nicht mehr der Wille Gottes. Das ‘Credo’ des "pädagogischen Jahrhunderts" läßt sich in dem Satz zusammenfassen: Der Mensch ist der Erziehung bedürftig und daher erziehbar! Erziehbar ist der Mensch aber nicht nur gemäß den Anforderungen, die die jeweilige Wirklichkeit an ihn stellt, sondern auch auf eine bessere Zukunft hin. Uns wohl bekannte Begriffe wie Mündigkeit, Emanzipation, Toleranz, Fortschritt, Freiheit, Autonomie - um nur einige zu nennen, werden zu Leitbegriffen der Erziehungsreflexion (vgl. TENORTH 1988, S.73-80). Aber auch Begriffe wie Fleiß, Arbeit, Nützlichkeit, allgemeines Wohl und Glückseligkeit bestimmen das pädagogische Nachdenken. Ein Grundwiderspruch kennzeichnet die vielfältigen theoretischen und praktischen Bemühungen des "pädagogischen Jahrhunderts": der Widerspruch zwischen der Bildung zum Menschen und der Erziehung zu seiner Brauchbarkeit und Nützlichkeit - oder pointiert gefaßt: der Konflikt zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, zwischen Freiheit und Zwang. Die Frage, die sich die Pädagogen seitdem immer wieder stellen, lautet: Wie erziehe ich den Menschen zum mündigen, kritischen und selbstverantwortlichen Bürger und gleichzeitig zu einem arbeitsamen, disziplinierten und nützlichen Mitglied der Gesellschaft? Der Bruch zwischen den Möglichkeiten des Menschen und den Anforderungen der jeweiligen Gesellschaft wird in dieser Frage immer wieder aufgeworfen. Es geht letztlich darum zu beantworten, zu was Erziehung den Menschen befähigen und ermächtigen soll: zum Nutzen der Gesellschaft oder zu sich selbst? Zurück zum Text Die Tendenz des "pädagogischen Jahrhunderts" und seiner Protagonisten zielte auf praktische Wirksamkeit; es gab daher viele praktische pädagogische Versuche (z. B. die Philantropine und die Bauernschulen), die von engagierten Zeitgenossen mit wohlwollender Duldung und Unterstützung der jeweiligen Fürsten durchgeführt wurden. Allerdings fanden diese Versuche isoliert vom gängigen Schulwesen statt und erfreuten sich in der Regel auch nur einer kurzen Dauer. Sie scheiterten; als ein neues Schulmodell konnten sie sich nicht durchsetzen. Die Ideen der ‘Aufklärer’ zur Erziehung, die so stark die pädagogische Literatur der Zeit bestimmten und den Eindruck erwecken mögen, als hätten sie nachdrücklich das Erziehungs- und Schulwesen der Zeit beeinflußt, dürfen nicht verwechselt werden mit der Erziehungswirklichkeit des "pädagogischen Jahrhunderts". Die Wirklichkeit war nach wie vor von den überkommenen Schul- und Erziehungsformen bestimmt: von mittelalterlichen Lateinschulen (als Vorbereitung für die gelehrten Berufe) und ihren Unterklassen, den sog. Trivialschulen für die städtisch-bürgerlichen Mittelschichten sowie den religiösen Elementar- oder Armenschulen. Geprägt wurden diese Schulformen von dem seit alters her überkommenen christlichen Weltbild. 2.3 Ansätze der Aufklärungspädagogik Die Aufklärungspädagogik wurde in Deutschland durch drei große pädagogische Konzeptionen maßgeblich geprägt: die Pädagogik des Pietismus, die Pädagogik von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) und den Philantropismus. Ich erläutere diese Ansätze etwas näher, da sie Einfluß auf die pädagogischen Vorstellungen von Kant genommen haben. 2.3.1 Die Pädagogik des Pietismus Von den drei genannten pädagogischen Konzeptionen ist der Pietismus die älteste; er wird gemeinhin nicht mehr zur Aufklärungspädagogik im engeren Sinne gezählt, die ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte; er steht aber als eine besonders dynamische pädagogische Bewegung am Anfang dieses Jahrhunderts. Der Pietsimus, eine Frömmigkeitsbewegung, die konfessionell im Luthertum verblieb, hatte seine große Zeit am Ende des 17. und am Anfang des 18. Jahrhunderts. Der bedeutendste Pädagoge dieser Bewegung war der evangelische Theologe August Hermann Francke (1663-1727), in dessen Franckeschen Stiftungen in Halle nach der pietistischen Pädagogik erzogen wurde. Von dort erfuhr die Bewegung eine rasche Verbreitung. Was sind nun die Grundlagen, Aufgaben und Ziele der pietistischen Pädagogik? Die Ermöglichung von Erziehung liegt nicht im Menschen, sondern im Willen Gottes beschlossen. Francke schreibt: "...Das Werk der Erziehung ist über alle Kräfte des natürlichen Menschen. Es muß durch den Geist Gottes geführt werden; ..."(BALLAUF 1970, S. 321). Aufgabe der Erziehung ist daher die Brechung des natürlichen menschlichen Eigenwillens und die Ausrichtung auf den Willen Gottes. Es geht um die Umsetzung des "Liebeswillen Gottes in der Welt", wobei das Evangelium dem menschlichen Willen die Regeln liefert (vgl. ebda. S. 320/321). Der Pietismus geht von einer "pessimistischen Anthropologie [aus B. K.], derzufolge die dämonische Macht der Erbsünde jedes Kinderherz mit dem bösen Eigenwillen belädt" (BLANKERTZ 1981, S. 70). Allerdings setzt sich der Pietismus von der Lutherischen Gnadenlehre, nach der sich der Mensch durch kein Werk vor Gott rechtfertigen kann, sondern bedingungslos von dessen Gnade abhängt, insofern ab, als er ein tätiges Christentum postuliert: gute Werke und Taten stehen unter dem Segen Gottes14. Nach Francke soll Erziehung zur Bekehrung des erbsündenbelasteten Kindes führen. Zwei Mittel sollen helfen, dieses Ziel zu erreichen: die "Selbstreflexion" und die "innerweltliche Askese". Unter "Selbstreflexion" ist das Gebet zu verstehen (die "Frömmigkeit des Herzens") und unter "innerweltlicher Askese" die Arbeit i. S. eines realisierten "Tatchristentums" (vgl. BLANKERTZ 1981 S. 73). In Kurzform läßt sich die pietistische Erziehungsgrundsatz in dem altbekannten Leitspruch der Benediktiner wiedergeben: ‘Bete und arbeite!’ Der Pietismus trennte zwischen Religion und Wissenschaft. Der Glaube sollte nicht durch die Wissenschaft belastet werden und umgekehrt. Das ermöglichte auf der einen Seite ein durch den Glauben gespeistes christliches Tätigsein und auf der anderen Seite ein Lehren und Lernen der Wissenschaften, ohne stärker in Konflikt mit der Religion zu geraten. Die pädagogische Wirksamkeit des Pietismus in Deutschland zeigte sich in neuen Formen des Unterrichts auf allen Stufen: er entwickelte Armen-, Bürger- und Lateinschulen und gründete ein Lehrerseminar. Gerade die Einführung der sogenannten Realien in den Unterricht wie Geschichte, Geographie, Mathematik war ein Verdienst der pietistischen Pädagogik. In der Mitte des 18. Jahrhunderts erlahmte jedoch die pädagogische Dynamik des Pietismus; sie versandete zusehends in Frömmelei. Der Pietismus wollte zur Frömmigkeit und zur Gemeinnützigkeit erziehen und spiegelt damit die o. a. grundsätzliche Spannung in der Aufklärungspädagogik wieder: zwischen der Bildung zum Menschen und der Erziehung zum nützlichen Bürger (s. Kap. 2.2). Die pietistische Pädagogik ist ein Beispiel für eine normativ orientierte Pädagogik. BALLAUF sieht in ihr gar die Züge einer "...ideologischen Pädagogik, der es um die Durchsetzung eines Willens geht, ..." (BALLAUF 1970, S. 322). Sie zeichnet sich durch Strenge und Allgegenwärtigkeit aus. Die gesamte Zeit der zu Erziehenden ist ausgefüllt mit "beten und arbeiten"; dazwischen gibt es nur noch die Nahrungsaufnahme und den Schlaf. Immanual Kant wuchs in einem stark pietistisch geprägten Elternhaus auf. Nicht minder prägend waren die Gymnasialjahre (1732-1740) "in der «Pietistenherberge», wie das Collegium Fridericianum mit leicht ironischem Ton von den Gegnern genannt wurde" (WEISSKOPF 1970, S. 7). Dieses Institut, das zu seiner Zeit als fortschrittlich und "modern" galt, bemühte sich unter seinem Leiter Franz Albert Schultz (1692-1763), eine harmonische Verbindung von Pietismus und dogmatischer Wolffscher Philosophie herzustellen (vgl. SCHULTZ 1965, S. 9 ff.). Es ist daher naheliegend, Wirkungen dieser Erziehung auch in den Schriften Kants zur Ethik und Pädagogik zu finden. H. BLANKERTZ bemerkt dazu: "Die Tatsache, daß am Ende des 18. Jahrhunderts viele Menschen das eigene Verständnis des "Guten" in der Kantischen Ethik auf den Begriff gebracht sahen, kann als Resultat pietistischer Pädagogik vorgestellt werden (BLANKERTZ 1981, S. 80). 2.3.2 Die neue Anthropologie bei J. J. Rousseau Der Name Rousseau und sein utopischer Erziehungsroman "Emile" (1762 publiziert) standen im Zentrum des "pädagogischen Jahrhunderts". Seine pädagogischen Gedanken waren gleichsam Ausgangs- und Reibungspunkt für viele Erziehungskonzeptionen, die die Aufklärungspädagogen in Deutschland entwickelten. Rousseau stellt die Frage nach der Eigenstruktur der Erziehung, nach dem eigentlichen Ziel der Erziehung. Unabhängig von den jeweiligen Erziehungszielen, -zwecken und -mitteln, die die Gesellschaft setzt und anstrebt, sucht er nach dem im Menschen angelegten Ziel und Zweck von Erziehung. Das, was die Gesellschaft, die jeweilige Kultur und Zivilisation, aus dem Menschen macht bzw. machen will, ist nicht das dem Menschen eigene Ziel von Erziehung. Rousseau geht so weit zu sagen, der Mensch "entarte" durch die gesellschaftliche Erziehung. Er sucht nach der "Natur" des Menschen, nach dem, was im Menschen angelegt ist, was sich aus ihm heraus entwickeln möchte; er will nicht "zurück zur Natur" - wie ihm einige Zeitgenossen vorwarfen, sondern er will die "Natur" des Menschen offenlegen und damit das dem Menschen eigene Ziel der Erziehung bestimmen. So stellt Rousseau an den Anfang seines Erziehungsromans "Emile" den bekannten, aber auch einseitigen Satz: "Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers (der Natur B. K.) kommt, alles entartet unter der Hand des Menschen." (ROSSEAU 1995, S. 9). Rousseau postuliert als erster ein Eigenrecht des Kindes und des Jugendlichen und gilt insofern als Begründer der modernen Pädagogik; er fordert eine "natürliche Erziehung", die die Einflüsse der Natur im Menschen und auf den Menschen nicht zu verhindern oder künstlich zu gestalten sucht, sondern wirken läßt. "Natürliche Erziehung" bedeutet für ihn Erziehung zur Selbsttätigkeit. Oberstes Ziel seiner Erziehung ist das "Menschsein". Ähnlich wie Kant kann Rousseau als Kritiker und Überwinder der Aufklärung angesehen werden. Seine Fortschrittskritik und sein Kulturpessimismus weisen schon über die Epoche hinaus. Während Kant die "reine theoretische" und die "reine praktische Vernunft" kritisiert, versucht Rousseau in seinen Schriften eine "Kritik der reinen Menschlichkeit" (BALLAUF 1970, S. 326). Es ist in der Kantrezeption häufig auf den Einfluß hingewiesen worden, den die Schriften Rousseaus - vor allem sein "Emile" - auf Kant ausgeübt haben (vgl. VORLÄNDER 1977, S. 148 ff.). Ohne nun das pädagogische Konzept Rousseaus darstellen zu wollen, sind die Gemeinsamkeiten bei der Periodisierung und dem Aufbau der einzelnen Entwicklungsstufen der Erziehung auffällig. Es kann davon ausgegangen werden, daß sich Kant an das Rousseauische Erziehungsmodell angelehnt hat, ohne es jedoch inhaltlich ungebrochen zu übernehmen (vgl. NIETHAMMER 1980, S. 127 ff.). In Kapitel 4.4.5 werde ich auf Kants Erziehungsaufbau näher eingehen. 2.3.3 Der Philantropismus Die philantropische Bewegung gilt als die entscheidende Ausprägung der Aufklärungspädagogik in Deutschland. Da der Philantropismus zumeist mit dem Terminus "Aufklärungspädagogik" gleichgesetzt wird, möchte ich ihm den längsten Abschnitt in diesem Kapitel widmen. In dieser pädagogischen Bewegung zeigte sich deutlich der Glaube der Aufklärungspädagogen an die Vervollkommnung und Glückseligkeit des Menschen durch Erziehung und Unterricht. Rousseaus pädagogische Schrift "Emile" galt den Philantropen als Grundstein und Wegweiser. Allerdings interpretierten sie Rousseaus Schrift sehr oberflächlich; sie waren weniger an streng am Text gebundenen Reflexionen interessiert, als mehr an den praktischen Folgerungen aus Rousseaus pädagogischen Betrachtungen. Sie wollten die "Natur" des Menschen nicht frei und ungezwungen gewähren lassen, sondern kontrollieren; Erziehung sollte methodisch vorgehen. Die Philantropen formten Rousseaus Gedanken in pädagogische Praxis um. Innerhalb der grundlegenden Spannung der Aufklärungspädagogik zwischen individueller Bildung und Erziehung zur Gemeinnützigkeit neigten die Philantropen dem Nützlichkeitsstandpunkt zu. Sie verstanden ihre Erziehung als "utilitäre Pädagogik" (BALLAUF 1970, S. 344), die dem merkantilistischen Staat bei seinen Bemühungen um die größtmögliche allgemeine Wohlfahrt dienen sollte. Johann Bernhard Basedow (1723 - 1790), der Gründer und anfängliche Leiter des 1774 in Dessau gegründeten Philanthropins15 und einer der charismatischsten Vertreter der Philantropen, bezeichnet als "...Hauptzweck der Erziehung […], die Kinder zu einem gemeinnützigen, patriotischen und glückseligen Leben vorzubereiten" (BALLAUF 1970, S. 342). In seinem "Methodenbuch", das, obwohl sehr umstritten, ein Grundlagenwerk der Aufklärungspädagogik in Deutschland war, formuliert Basedow die grundlegenden pädagogische Ideen des Philantropismus: die Trennung von Unterricht und Erziehung, die Elementarmethode16, eine spiel- und bewegungsorientierte Pädagogik, eine Erziehung zu bürgerlichen Tugenden wie Arbeitsamkeit und Fleiß, ein an den Realien ausgerichteter Unterricht und eine Erziehung zur Sexualfeindlichkeit sowie zum Patriotismus (vgl. WEISSKOPF 1970, S. 119 ff). Zurück zum Text Eine grundsätzliche Frage hatten sich die Philantropen zu stellen: wie der Gegensatz zwischen der Individualität des Menschen und seiner Gemeinnützigkeit, zwischen Allgemeinbildung und Standes-/Berufsbildung, in einer pädagogischen Theorie zu vereinen sein könnte. Joachim Heinrich Campe (1746-1818), einer der umtriebigsten Philantropen17, gab die originelle Antwort. Campe schreibt im dritten Band des "Revisionswerkes": "Ich zeigte daselbst, daß zwar alle ursprüngliche Kraefte aller Menschen, welches Standes sie auch immer seyn moegten, nach Moeglichkeit, wiewohl im Ebenmaaß entwickelt werden duerften und sollten, daß aber die bei dieser Entwickelung zu erwerbenden Fertigkeiten, nach Verschiedenheit des Standes, des Berufs und der Ganzen Lage des Menschen verschieden seyn mueßten." (BALLAUF 1970, S. 350/351). Das heißt, die Entwicklung der "ursprünglichen Kraefte" des Menschen sollen nach Maßgabe der Verschiedenheit seines Standes und Berufes gefördert werden. Die Fertigkeiten, die Stand und Beruf erfordern, gelten als geeignet, um auch die "ursprünglichen Kraefte" zu entwickeln. Campe formulierte als erster, was Herwig BLANKERTZ dann später als die "Ineinsetzung von formaler und materialer Bildung" (BLANKERTZ 1981, S. 141) bezeichnet: die Standes- und Berufsbildung (materiale Bildung) soll auch gleichzeitig Allgemein- und Menschenbildung (formale Bildung) sein. Durch diese "Ineinsetzung" soll die gleichmäßige Entfaltung aller Kräfte im Menschen gewährleistet werden. Der Gegensatz zwischen Berufs- und Allgemeinbildung - von den Philantropen noch nicht als drängend wahrgenommen, sollte dann die pädagogischen Diskussionen des folgenden Jahrhunderts bestimmen. Mit den Philantropen begann "die Verfachlichung des pädagogischen Diskurses" (vgl. TENORTH 1987, S. 134 ff. u. 1988, S. 102 ff.)18. Der Anspruch der Pädagogik, eine Wissenschaft zu sein, wird in diesen Bemühungen deutlich. Die Philantropen reflektierten über die Erziehungspraxis; sie versuchten eine Theorie der Erziehung zu entwerfen und verstanden sich als pädagogische Experten (in Abgrenzung zu den pädagogischen Laien wie Müttern, Hausvätern und Landlehrern). In ihren pädagogischen Betrachtungen hatten sie besonders die öffentliche Erziehung und ein allgemeines Schulsystem vor Augen, das den Anforderungen und dem Wohle der Gesellschaft am besten nutzen sollte. Bei diesen Versuchen, eine "Erziehungswissenschaft" zu gründen, fühlten sich die führenden Philantropen eher einem empirischen Ansatz verpflichtet, der auf Beobachtung und Experiment vertraute. Ihre Aufgeschlossenheit gegenüber der Welt und Abkehr von der vorherrschenden spekulativen Philosophie förderte ihr Interesse für eine Tatsachenforschung. Bei den Bemühungen um eine erziehungswissenschaftliche Theoriebildung ist besonders Ernst Christian Trapp (1745-1818) zu nennen. Trapp, einer der Hauptvertreter einer erfahrungswissenschaftlichen Pädagogik im 18./19.Jahrhundert, versuchte in seiner Schrift "Versuch einer Pädagogik" (1780 erschienen) eine auf genaue und planmäßige Beobachtung der menschlichen Natur und Gesellschaft gegründete Pädagogik zu entwickeln19 (vgl. BALLAUF 1970, S. 371-375 und RUPRECHT 1974, S. 29-34). Die Philantropen bleiben dem bestimmenden Paradigma der Aufklärung verbunden, wonach sich jede Wissenschaft an der Erfahrung ausweisen muß. Die konkreten Anforderungen, die Familie, Staat und Gesellschaft an den Einzelnen stellen, und ihre angemessene Erfüllung zum Nutzen und Wohle aller, stehen im Vordergrund der pädagogischen Konzepte der Philantropen. Es geht ihnen weniger um das Mögliche, als mehr um das Machbare. Kant zeigte ein großes Interesse und einen erstaunlichen Einsatz für das Philantropin in Dessau. Obwohl sein Gründer Basedow eine sehr umstrittene Persönlichkeit war, lenkte Kant die Aufmerksamkeit der Hörer seiner "Pädagogikvorlesungen" auf das Basedowsche Philantropin und die philantropische Bewegung (vgl. WEISSKOPF 1970, S. 71). Er benutzte in seiner ersten Pädagogikvorlesung im Wintersemester 1776/77 als Kompendium das Basedowsche "Methodenbuch". Zudem verfaßte er in den Jahren 1776 und 1777 zwei Aufsätze, die das Philantropin in Dessau betrafen und die in den "Königsbergischen Gelehrten und Politischen Zeitungen" erschienen. In den Aufsätzen lobt er das Philantropin als eine "..., der Natur sowohl als allen bürgerliche Zwecken angemessene Erziehungsanstalt,...", in der "... eine ganz neue Ordnung menschlicher Dinge anhebt;..." (KANT 1982, S. 61). Er fordert zur tatkräftigen Unterstützung des "D e s s a u i s c h e n E d u k a t i o n s i n s t i t u t s" auf und wirbt gar um Abonnenten für die vom Philantropin herausgegebene Monatsschrift "P ä d a g o g i s c h e U n t e r h a n d l u n g e n" (vgl. KANT 1982, S. 6265). In seiner Schrift "Über Pädagogik" sind einige wohlwollende Hinweise auf den Philantropismus und das Dessauische Philantropin enthalten (Päd Bd. XII, A 8 u. 9, A 27, A 64/65)20. Zurück zum Text Diese enthusiastische Phase, die Kant mit vielen seiner Zeitgenossen teilte, endete 1778. Er ging später auf kritische Distanz zur Anstalt und zur Bewegung des Philantropismus, ohne sein Interesse für die zeitgenössischen pädagogischen Belange zu verlieren (vgl. VORLÄNDER 1977, S. 226). Kapitel 3: Transzendentalphilosophie 3.1 Einführung Pädagogik als Prinzipienwissenschaft übernimmt den Wissenschaftsbegriff von der Transzendentalphilosophie und "...die Aufgabe der Pädagogik [wird B. K.] in der Begründung und dem Aufweis von Normen und Werten für die Erziehung [ge]sehen " (TSCHAMLER 1983, S. 92). Was bedeutet nun Transzendentalphilosophie? Transzendentalphilosophie zeichnet sich durch eine radikale Fragehaltung aus. "Es ist das Philosophieren in seiner ursprünglichen Form gemeint,..." (SCHURR 1969, S. 86). Die Transzendentalphilosophie fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis: Gesicherte Erkenntnis ist nur dann möglich, wenn diese Bedingungen angegeben werden können21. Diese Bedingungen sind a priori, das heißt, sie sind über die Erfahrung nicht zu ermitteln; sie liegen aller Erfahrung voraus und begründen Erfahrung und Erkenntnis erst. Kant bemerkt dazu: "Nun heißt etwas a priori erkennen es aus seiner bloßen Möglichkeit erkennen" (MAN Bd. IX, A IX). Insofern Transzendentalphilosophie nach den letzten Gründen, den Prinzipien von Erkenntnis fragt, ist sie Prinzipienwissenschaft. Die Aufklärung über die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, versucht die Transzendentalphilosophie nur mit den Mitteln der Vernunft zu erreichen. Dabei verfährt die Vernunft sowohl ‘objektiv’ als auch ‘subjektiv’: ‘objektiv’, indem sie ihren eigenen Ursprung, ihren Umfang, ihre Grenzen und ihre Prinzipien ermittelt und kritisch überprüft; ‘subjektiv’, indem sie diese Ermittlung und kritische Überprüfung selbständig (autonom) und mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln vornimmt. 3.2 Transzendentalphilosophie nach Kant Da die Transzendentalphilosophie nach meiner Eingangs skizzierten These ( s. Einleitung) den Kantischen Ansatz von Pädagogik in besonderer Weise bestimmt, werde ich im Folgenden versuchen, sie möglichst ausführlich zu erläutern. Die Transzendentalphilosophie steht in einem engen Zusammenhang mit der klassischen Metaphysik, deren Thema die Frage nach dem Sein des Seienden, dem Wesen der Dinge war. Das Ziel war die spekulative Erfassung der Wirklichkeit als Ganze und ihre Zurückführung auf letzte Gründe. Am Beginn der "Kritik der reinen Vernunft" gibt Kant eine kurze Definition des Begriffs der Transzendentalphilosophie": "Ich nenne alle Erkenntnis t r a n s z e n d e n t a l, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein S y s t e m solcher Begriffe würde T r a n s z e n d e n t a l - P h i l o s o p h i e heißen" (KrV Bd. III, A 11). Und etwas weiter schreibt er: "Die Transzendental-Philosophie ist die Idee einer Wissenschaft, wozu die Kritik der reinen Vernunft den ganzen Plan architektonisch, d. i. aus Prinzipien, entwerfen soll, mit völliger Gewährleistung der Vollständigkeit und Sicherheit aller Stücke, die dieses Gebäude ausmachen. Sie ist das System aller Prinzipien der reinen Vernunft." (ebda. A 12/13). Kant will allerdings kein abgeschlossenes System der Philosophie bzw. der Wissenschaften entwerfen, sondern "...die P r o p ä d e u t i k zum System der reinen Vernunft ..." angeben. "Eine solche würde nicht eine D o k t r i n , sondern nur K r i t i k der reinen Vernunft heißen müssen, ..." (ebda. A 11). 3.2.1 Der kritische Ansatz Kant versteht unter Transzendentalphilosophie in erster Linie ‘kritische Philosophie’. Im "Zeitalter der Aufklärung" ist die ‘alte’ Metaphysik zum Dogmatismus, zur "Schulmetaphysik"22 erstarrt. Kant wirft der "Wolffschen Schulmetaphysik" vor, daß sie in ihren Erkenntnissen nicht die Bedingungen und Voraussetzungen ihrer eigenen Entstehung mit reflektiert und sie daher zu Glaubenssätzen, zu ‘transzendenten’ Sätzen gelangt. Die "Kritik" ist dem "D o g m a t i s m" entgegengesetzt (KrV Bd. III, B XXXV), indem die Vernunft ihr eigenes Vermögen grundlegend und uneingeschränkt prüft. Kant setzt gegen den Dogmatismus der "Schulmetaphysik" eine ‘kritische Philosophie’: die Transzendentalphilosophie; er verleiht dem Wort ‘transzendental’ eine Bedeutung, die seitdem das Verständnis dieses Begriffes maßgeblich bestimmt hat. Dabei setzt Kant ‘transzendental’ sehr genau von ‘transzendent’ ab23. Für Kant ist es grundlegend, daß - im Gegensatz zur "Schulmetaphysik" nicht die Gegenstände das Denken ‘vorstrukturieren’, sondern daß die a priori vorgegebene Struktur des menschlichen Geistes die mögliche Erfahrung und Erkenntnis der Gegenstände bestimmt. Das ist die sog. "Kopernikanische Wende" in der Metaphysik (vgl. BECKMANN 1983, S. 49 ff.), die Kant selbst in der "Vorrede zur zweiten Auflage" seiner "Kritik der reinen Vernunft" so beschreibt: "Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter diesen Voraussetzungen zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, […]. Es ist damit eben so, als mit dem ersten Gedanken des K O P E R N I K U S bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ" (KrV Bd. III, B XVI). Kant bezeichnet diese "Wende" als die "Revolution der Denkart" (ebda. B XI ff.), die sich zuerst in "M a t h e m a t i k" und " der Naturwissenschaft" ihre Bahn gebrochen habe und die von der Metaphysik nun auch vollzogen werden solle24. Kant nimmt weder den Standpunkt der ‘Dogmatiker’ (oder ‘Rationalisten’) noch den der ‘Skeptiker’25 (oder ‘Empiristen’) ein. Der ‘Dogmatiker’ versucht, indem er die vorgegebenen Begriffe analytisch zerlegt und die Erfahrung dabei nicht mit einbezieht, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Seine Erkenntnisse sind - wie Kant bemerkt "a n a l y t i s c h e" Urteile a priori oder "E r l ä u t e r u n g s u r t e i l e" (beispielsweise das Urteil: Der Kreis ist rund). Solche Urteile sind zwar Erkenntnisse a priori, das heißt, sie entstammen nicht der Erfahrung und sind darum auch nicht täuschungsanfällig, aber sie stellen keine neuen Erkenntnisse dar, da sie die vorgegebenen Begriffe nur weiter zergliedern. Stellt der ‘Dogmatiker’ diese "a n a l y t i s c h e n" Urteile trotzdem als neue Erkenntnisse dar, indem er durch die ‘Erweiterung’ der Begriffe auch die Grenzen der Sinnlichkeit erweitern will, so betritt er den Bereich des Glaubens; sein Urteil wird dann zu einem ‘transzendenten’ Glaubenssatz (beispielsweise das Urteil: Das Universum ist ein unendlicher Kreis). Im Gegensatz zum ‘Dogmatiker’ gelangt der ‘Skeptiker’ oder ‘Empirist’ durch sinnliche Beobachtung und Experiment zu neuen Erkenntnissen, die nicht in den vorgegebenen Begrifflichkeiten enthalten sind; seine Erkenntnisse sind "s y n t h e t i s c h e" Urteile a posteriori oder "E r w e i t e r u n g s u r t e i l e" (beispielsweise das Urteil: Der Kreis ist groß). Da er in seinen Urteilen aber die Erfahrung zu Hilfe nimmt, sind sie täuschungsanfällig (vgl. ebda. A7A10). Beide Positionen sind für Kant unbefriedigend. Er will nachweisen, wie die Vernunft zu Urteilen gelangt, die a priorisch und gleichzeitig synthetisch sind, d. h. die neue und gleichsam objektive Erkenntnisse26 darstellen. Kant schreibt dazu: "Die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft ist nun in der Frage enthalten: W i e s i n d s y n t h e t i s c h e U r t e i l e a p r i o r i m ö g l i c h?" (ebda. B 19). In dieser Frage nach der Möglichkeit eines "synthetischen Urteils a priori" faßt Kant seine Transzendentalphilosophie programmatisch zusammen. Durch die Beantwortung dieser Frage werden die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und Erkenntnis geklärt. Ich möchte das bisher Erläuterte noch einmal kurz zusammenfassen: "Transzendentalphilosophie" im Sinne Kants will die unbedingten Grundlagen von Wissenschaftlichkeit festlegen; sie will die subjektiven, vor jeder Erfahrung liegenden Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis erfassen. Diese a priorischen Prinzipien konstituieren Erkenntnis und sind die Grundlagen einer jeden Wissenschaft - auch einer wissenschaftlich verfahrenden Pädagogik - und ihres Systems. Zwei Bereiche will Kant mittels seiner Transzendentalphilosophie klären: den Bereich der Naturerkenntnis bzw. Erfahrungserkenntnis, das heißt, die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und ihrer Gegenstände und den Bereich der Moral, des "Freiheitsbewußtseins", das heißt, die Bedingungen der Möglichkeit von freiem Handeln (vgl. FUNKE 1979; S. 125 ff.). Die menschliche Vernunft beschäftigt sich daher mit zwei Gegenständen, "...Natur und Freiheit..." oder "Naturgesetz" und "Sittengesetz" (KrV Bd. IV, A 840). 3.2.2 Sinnlichkeit und Verstand Kant schließt seine "Einleitung" der "Kritik der reinen Vernunft" mit dem bedeutsamen Hinweis, "..., daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch den ersteren uns Gegenstände g e g e b e n, durch den zweiten aber g e d a c h t werden" (KrV Bd. III, A 15). Sinnlichkeit und Verstand oder Anschauung und Denken müssen zusammenkommen, um Urteile zu ermöglichen, die gleichzeitig a priori und synthetisch sind. Kant ermittelt aus diesen "zwei Stämmen" die a priorischen Prinzipien von Erfahrung und Erkenntnis. Ohne auf die Herleitung dieser a priorischen Prinzipien eingehen zu wollen, möchte ich sie kurz bezeichnen: die "reinen Anschauungsformen" Raum und Zeit sind die letztbegründenden Prinzipien der Sinnlichkeit und die "reinen Verstandesbegriffe", die Kategorien, sind die letztbegründenden Prinzipienbegriffe27. Erst wenn sinnliche Anschauung und Verstandesbegriff zusammenkommen, kann von einer im wissenschaftlichen Sinne gesicherten Erkenntnis gesprochen werden. Kant erläutert dazu: "Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. […] Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen" (ebda. A 51). In dem recht schwierigen Kapitel "Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena" in der "Kritik der reinen Vernunft" bemerkt er: "V e r s t a n d und S i n n l i c h k e i t können bei uns n u r i n V e r b i n d u n g Gegenstände bestimmen. Wenn wir sie trennen, so haben wir Anschauungen ohne Begriffe, oder Begriffe ohne Anschauungen, in beiden Fällen aber Vorstellungen, die wir auf keinen bestimmten Gegenstand beziehen können" (ebda. A 258). Zurück zum Text Damit Anschauung und Begriff eine synthetische Einheit bilden, die Erkenntnis ermöglicht, bedarf es noch einer weiteren transzendentalen Bedingung: der "Einheit des Selbstbewußtseins" (ebda. B 132)28. Kant findet diese a priorische Bedingung im "I c h d e n k e" . "Das: I c h d e n k e , muß alle meine Vorstellungen begleiten k ö n n e n ; ...." (ebda. B 131). Durch das "I c h d e n k e" wird die "Einheit des Selbstbewußtseins", eine Identität, ermöglicht. Dieses "I c h d e n k e" ermöglicht es dem Menschen erst, von seinen Vorstellungen zu sprechen29. Sinnlichkeit und Verstandestätigkeit müssen also in einem einheitlichen Bewußtsein zusammenwirken. Ich möchte das eben in einer Fußnote erwähnte Urteil ‘Das ist ein Baum’ noch einmal als Beispiel aufgreifen. Der sinnliche Wahrnehmungskomplex ‘grün, braun, fest, rauh, herb, rauschen’ kann sehr vieles bedeuten, er ist erst einmal "blind". Der Begriff ‘Baum’ ist klar und deutlich, aber solange "leer", bis ich einen Sinneneindruck (über Auge, Hand, Nase und/oder Ohr) von ihm erhalte. Erst die Verbindung der mannigfaltigen Sinneneindrücke ‘grün, braun, fest, rauh, herb, rauschen’ mit dem Begriff ‘Baum’ in meinem Bewußtsein vermittelt das Urteil ‘Das ist ein Baum!’: Dies ist eine Erkenntnis, die Anspruch auf Wahrheit erheben kann. Mit dieser Synthesis von Sinnlichkeit und Verstand hat Kant die unhintergehbaren Bedingungen von Erfahrungserkenntnis (oder Verstandeserkenntnis) dargelegt und nachgewiesen, daß "s y n t h e t i s c h e U r t e i l e a p r i o r i" möglich sind. Er schreibt in poetischen Worten: "Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset, und jeden Teil sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann" (KrV Bd. III, A 235/236). Den Menschen, den "herumschwärmenden Seefahrer", drängt es immer wieder von der ‘Insel der Wahrheit’, dem "Land des reinen Verstandes", auf den umgebenden "weiten und stürmischen Ozeane" hinaus. Kant schreitet nun folgerichtig zu dem Vermögen des Menschen fort, das ihn immer wieder auf die ‘hohe See’ treibt, wo Irrtümer, Lügen und Halbwahrheiten sein ‘Schiff’ bedrohen und oftmals untergehen lassen: die Vernunft. 3.2.3 Die Vernunft "Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande, und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen" (ebda. A 298/299). Das ‘erkenntnistheoretische Stufenmodell’, das Kant hier kurz umreißt, findet in der Vernunft seinen Abschluß und Höhepunkt30. Etwas weiter schreibt Kant: "Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittels Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien" (ebda. A 302). Die Vernunft übersteigt den Verstandesgebrauch: sie sucht die Erkenntnisse des Verstandes durch Schlüsse, die nur auf Begriffen und Urteilen und nicht auf Erfahrungen beruhen, immer weiter zusammenzufassen und zu vereinheitlichen bis sie zu Prinzipien, zu Ideen, gelangt. Der Zweck der Vernunft ist es, die mannigfaltige Natur mittels Ideen unter eine systematischen Einheit, unter eine letzte, absolute Einheit zu bringen. Zurück zum Text Ideen sind für Kant "Vernunftbegriffe"; sie dienen dem "Begreifen". Während die Verstandesbegriffe, die dem "Verstehen" dienen, in Verbindung mit Erscheinungen Vorstellungen von Gegenständen ermöglichen, können zu den Ideen "keine Erscheinungen gefunden werden, an der sie sich in concreto vorstellen ließen" (KrV Bd. IV, A 567). 3.2.3.1 Die theoretische (oder spekulative) Vernunft Die Suche der Vernunft nach Prinzipien hängt mit ihrem Zweck zusammen, "...zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird" (KrV Bd. III, A 307). Allerdings führt diese Suche der Vernunft nach dem "Unbedingten" oft zu Fehlschlüssen, Irrtümern und Widersprüchen; sie überschreitet bei ihrer rein spekulativen Suche den durch Anschauung und Verstandesbegriff eng umgrenzten Bereich gesicherter Erfahrungserkenntnis, das "Land der Wahrheit". Das, was der Vernunft zu suchen aufgegeben ist, die letzten Prinzipien, die Ideen, vermag sie zwar zu denkend zu entwerfen, aber nicht zu erkennen, da es von dem "Unbedingten" keinerlei Gegenstände in der Erfahrung gibt. Wie kann die Vernunft nun verhindern, daß sie beim Verlassen des "Landes der Wahrheit" ‘Schiffbruch’ erleidet? Solange die Vernunft ihre Ideen nicht zu objektiven Erkenntnissen erklärt und dadurch Irrtümern, Widersprüchen und Lügen anheimfällt, sondern die Idee als "regulatives Prinzip" für "die Einheit und den Zielpunkt der gesamten Erkenntnis, die es anzustreben gilt" (SCHULTZ 1965, S. 111), nutzt, überschreitet sie die Grenzen möglicher Erkenntnis nicht. Kant schreibt: "Also sollen sie [die Ideen B. K.] an sich selbst nicht angenommen werden, sondern nur ihre Realität, als eines Schemas des regulativen Prinzips der systematischen Einheit aller Naturerkenntnis, gelten, mithin sollen sie nur als Analoga von wirklichen Dingen, aber nicht als solche an sich selbst zum Grunde gelegt werden" (KrV Bd. IV, A 674). Die Vernunft soll davon ausgehen, "a l s o b" es letzte Prinzipien der Einheit in der Natur gebe (vgl. Bd. IV, A 669 ff.) und die Ideen31 als regulativen Maßstab bei all ihren Anstrengungen und Forschungen nutzen. Das Resultat, das Kant am Ende seiner "Kritik der reinen Vernunft"32 zieht, ist eher ernüchternd: "Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ; da sie nämlich nicht, als Organon, zur Erweiterung, sondern, als Disziplin, zur Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten"(ebda. IV, A 795). Um in den eben gebrauchten Metaphern zu bleiben: es ist ratsam, das "Land der Wahrheit" nicht zu verlassen, da sonst unvermeidlich der ‘Schiffbruch’ droht. Oder wie Voltaire (1694-1778) seinen Held Candid in dem gleichnamigen Roman sagen läßt, nachdem dieser viele stürmische Meere befahren und ferne Länder gesehen hat: "....allein es gilt, unseren Garten zu bebauen" (VOLTAIRE 1971, S. 105). Angesichts der drei ‘großen Ideen’, mit denen die Vernunft aber immer schon versucht, Einheit in die Erfahrungserkenntnisse zu bringen - "die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, und das Dasein Gottes" (KrV Bd. IV, A 798), mochte Kant bei einem nur "negativen Nutzen" und "spekutativen Gebrauche" der Vernunft, bei einem mutlosen ‘Bebauen des eigenen Gartens’, nicht stehen bleiben. So sind der Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauch - ausgerichtet auf strenge Wissenschaftlichkeit - durch die Prinzipien von Raum, Zeit und die Kategorien (vgl. Kap. 3.2.2) enge Grenzen gesetzt; in praktischer Absicht ausgerichtet auf die Prinzipien möglicher Moralität bzw. Sittlichkeit - vermag sie diese Grenzen aber zu überschreiten. Beschäftigt sich die theoretische Vernunft mit dem ‘Naturgesetz’ und der ‘Naturerkenntnis’, so ist der Gegenstand der praktischen Vernunft das ‘Willensgesetz’ und die ‘Freiheitserkenntnis’; geht es dort um das ‘Wirkliche’ und ‘Machbare’, so geht es hier um die Möglichkeit eines Handeln des Menschen aus freier Selbstbestimmung: um das ‘Sollen’. 3.2.3.2 Die praktische Vernunft Die "Vernunft in praktischen Gebrauch" führt zur Kantischen Ethik33 und Religionsphilosophie. Die eben genannten Ideen sind grundlegend für Kants Sittenlehre, vor allem die Idee der "Freiheit"34. "Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist" (ebda. A 800). Freiheit ist nach Kant das Vermögen der Vernunft, spontan eigene Ursachen für Handlungen zu setzen, unabhängig von den Naturgesetzen. Die Vernunft "...folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontanität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt, und nach denen sie so gar Handlungen für notwendig erklärt, die doch n i c h t g e s c h e h e n s i n d und vielleicht nicht geschehen werden, von allen aber gleichwohl voraussetzt, daß die Vernunft in Beziehung auf sie Kausalität haben könne; denn, ohne das, würde sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten" (ebda. A 548). Die Unabhängigkeit der Vernunft von sinnlichen Antrieben und Naturgesetzen wird durch "reine praktische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist", ermöglicht. Kant nennt diese "die m o r a l i s c h e n Gesetze", die allein "zum praktischen Gebrauch der reinen Vernunft" gehören (ebda. A 800)35. Dieses "moralische Gesetz" setzt sich der Mensch qua Vernunft selbst und er hat die "Pflicht", es uneingeschränkt zu achten, auch und gerade gegen sein individuelles Streben nach Glückseligkeit. So bemerkt Kant in seiner "Tugendlehre": "Denn e i g e n e G l ü c k s e l i g k e i t ist ein Zweck, den zwar alle Menschen (vermöge des Antriebes ihrer Natur) haben, nie aber kann dieser Zweck als Pflicht angesehen werden, ohne sich selbst zu widersprechen. Was ein jeder unvermeidlich schon von selbst will, das gehört nicht unter den Begriff von P f l i c h t ; denn diese ist eine N ö t i g u n g zu einem ungern genommenen Zweck" (MST Bd. VIII, A 13). Pflicht ist "S e l b s t z w a n g" (ebda. A 2). Kant ist davon überzeugt, "daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe" (KrV Bd. IV, A 807), die ein freies Handeln des Menschen überhaupt ermöglichen und bestimmen. "Also drückt das moralische Gesetz nichts anderes aus, als die A u t o n o m i e der reinen praktischen Vernunft, d. i. Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können" (GMS Bd. VII, A 59)36. Umgekehrt ist die Freiheit die Bedingung, die es möglich macht, das "Sittengesetz" zu achten und zu verwirklichen37. Es besteht allerdings ein unübersehbarer Widerspruch zwischen der praktischen Idee der Freiheit - die sich wohl widerspruchsfrei (im logischen Sinne) denken läßt - und den ‘freien’ Handlungen des Menschen in der Welt. Um diesen Widerspruch zu vermeiden, nimmt Kant eine bedeutsame ‘Trennung’ vor. 3.2.3.2.1 Die ‘Zwei-Reiche-Lehre’ Zwar haben die "moralischen Vernunftprinzipien", einen gewissen Einfluß auf die Sinnenwelt, aber es werden keine ‘reinen’ freien Handlungen, d. h. sittlichen Handlungen, in der Wirklichkeit angetroffen; zu sehr sind die Handlungen des Menschen durch Neigungen, Triebe und Interessen mitbestimmt. Insofern ist die "objektive Realität" der Idee der Freiheit in der Sinnenwelt durchaus "zweifelhaft" (ebda., BA 114). Kant nimmt nun eine ‘Trennung’ vor, die sich durch seine gesamte Transzendentalphilosophie zieht und die er schon in der "Vorrede zur zweiten Auflage" der "Kritik der reinen Vernunft" angedeutet hat: "... das Objekt in z w e i e r l e i B e d e u t u n g [zu B. K.] nehmen […], nämlich als Erscheinung, oder als Ding an sich selbst;" (KrV Bd. III, B XXVII). Die "m o r a l i s c h e W e l t" wird "als intelligible Welt gedacht" (KrV Bd IV, A 809). Neben dieser "intelligiblen Welt", auch Verstandeswelt genannt, steht die ‘empirische Welt’, die Sinnenwelt. Der Mensch gehört beiden Welten an und ist insofern durch eine ‘Doppelnatur’ ausgezeichnet. Die Sinnen- oder ‘empirische Welt’ ist die Welt der "Dinge als Erscheinungen". Sie wird durch Heteronomie, d. h. durch Kausalität aus Naturgesetzen bestimmt. Dieser Welt gehört der Mensch als Naturwesen38 an; er befindet sich hier unter dem unerbittlichen Gesetz der Kausalität, nach der jeder Gegenstand, jede Tat und Handlung, ihre Ursachen haben, die notwendig bestimmte Folgen nach sich ziehen. Der Mensch ist determiniert; seine ‘Zwecke’ sind jederzeit bedingte ‘Zwecke’. Die "intelligible" oder Verstandeswelt, d. i. die Welt der "Dinge an sich", wird durch Autonomie bestimmt, d. h. durch die Kausalität des Willens aus Freiheit. Dieser Welt gehört der Mensch als Vernunftwesen an; hier setzt der menschliche Wille selbst die Ursachen und damit den Beginn einer Kette aus Ursache und Wirkung. Der Mensch selbst gibt sich die Gesetze - Kant meint hier die "moralischen Gesetze" - und nicht die Natur, die den Menschen zwar durch ihre biologischen, physikalischen, psychologischen, chemischen, sozialen, .... Gesetzlichkeiten bestimmt, aber damit nicht ausschließlich determiniert (GMS Bd. VII, BA 108-110). Als Vernunftwesen ist der Mensch nicht determiniert; seine ‘Zwecke’ sind unbedingte ‘Zwecke’. Zurück zum Text Kant verneint weder den Determinismus noch bejaht er ihn uneingeschränkt. Diese ‘Trennung’ oder ‘Dopplung’ enthebt Kant der Gefahr des Widerspruches, in den die Versuche einer ‘Einlösung’ der Idee der "Freiheit" in der Wirklichkeit sonst unweigerlich führen würden. 3.2.3.2.2 Das "höchste Gut" Das "Ideal des höchsten Guts" ist der ‘Zielbegriff’ der Kantischen Sittenlehre und seiner Pädagogik. Wie oben schon dargelegt (s. Kap. 3.2.3) ist der Zweck der Vernunft die mannigfaltige Natur mittels Ideen unter eine Einheit, unter die "systematische Einheit der Zwecke", zu bringen. "Die höchsten Zwecke aber sind die der Moralität, .." (KrV Bd. IV, A 816); das "höchste Gut" ist der Inbegriff der "höchsten Zwecke", es ist die ‘systematische Einheit der sittlichen Zwecke’. Das "höchste Gut" läßt sich in einen empirischen und einen intelligiblen Zweck einteilen, die erst zusammen die sittliche Einheit ausmachen. Kant schreibt: "Glückseligkeit also, in dem genauen Ebenmaße mit der Sittlichkeit der vernünftigen Wesen, dadurch sie derselben würdig sein, macht allein das höchste Gut einer Welt aus, ..." (KrV Bd. IV, A 814). Der intelligible Zweck ist die "Sittlichkeit" oder die "Tugend"39. So bemerkt Kant , "Daß T u g e n d (als die Würdigkeit glücklich zu sein) die o b e r s t e B e d i n g u n g alles dessen, was uns nur wünschenswert scheinen mag, mithin auch aller unserer Bewerbung um Glückseligkeit, mithin das o b e r s t e G u t sei, ..." (KpV Bd. VII, A 198). Insofern kann die "Sittlichkeit" als erstes Element des "höchsten Gutes" bezeichnet werden. Der empirische Zweck oder das zweite Element des "höchsten Gutes" ist die "Glückseligkeit" (ebda. A 214). Alle Menschen streben danach, glücklich zu sein. Wie oben zitiert, wird dem Menschen die "Glückseligkeit" aber nur nach Maßgabe seiner "Sittlichkeit" bzw. "Tugend", eben seiner Würdigkeit glücklich zu sein, zuteil. Erst die Bewährung des Menschen bei seinen Anstrengungen, des "höchsten Gutes" teilhaftig zu werden und dadurch eine Einheit zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit herzustellen, macht seine Würdigkeit aus (vgl. LÖWISCH 1975, S. 20 ff.). Das "höchste Gut" ist das "allgemeine Weltbeste"; es ist der Zielpunkt allen menschlichen Handelns (vgl. FUNKE 1979, S.130). Zurück zum Text Kant bemerkt allerdings sehr treffend: "Die völlige Angemessenheit des Willens aber zum moralischen Gesetze ist H e i l i g k e i t , eine Vollkommenheit, deren kein zukünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig ist" (KpV Bd. VII, A 220). Die Verwirklichung von Sittlichkeit als Glückseligkeit ist im irdischen Leben, in der Erfahrungswelt, unmöglich. Um das Kernstück seiner Transzendentalphilosophie, das "Sittengesetz" und das "höchste Gut", trotzdem aufrecht zu erhalten, entwickelt Kant nun die "P o s t u l a t e der reinen praktischen Vernunft". So fordert er die Unsterblichkeit der Seele", damit der Mensch in einem unendlichen Fortschreiten des höchsten Gutes teilhaftig werde, das "Dasein Gottes", als "allwissende", "allgegenwärtige" und "ewige" Macht, welche die der "Sittlichkeit" gebührende "Glückseligkeit" zuteile und die "Freiheit", damit der Mensch aus freiem Willen nach dem "Sittengesetz" handeln könne (ebda. A 220-255 u. KrV Bd. IV, A 802). 3.2.3.3 Theoretische und praktische Vernunft Kant weist in seine Schriften mehrmals darauf hin, daß das "höchste Gut" nur durch die Einheit von "Sittlichkeit" und "Glückseligkeit" in einer Person erreicht werden kann. Die Bedingungen der Möglichkeit des "höchsten Gutes" sind "Freiheit, Unsterblichkeit und Gott" (KpV Bd. VII, A 242). Die objektive Realität dieser Vernunftbegriffe ist in theoretischer Hinsicht nicht zu sichern. Es läßt sich keine Anschauung zu diesen Vernunftbegriffen finden; sie sind denkbar, aber nicht erkennbar. Allerdings ist die Vernunft in praktischer Hinsicht genötigt, die Möglichkeit jener Objekte zu postulieren, da dies das "praktische Gesetz" (oder "Sittengesetz") gebietet. Dadurch bekommt "....die theoretische Erkenntnis der reinen Vernunft allerdings einen Zuwachs […], der aber bloß darin besteht, daß jene für sie sonst problematischen (bloß denkbaren) Begriffe, jetzt assertorisch [d. i. behauptend B. K.] für solche erklärt werden, denen wirkliche Objekte zukommen, weil praktische Vernunft die Existenz derselben zur Möglichkeit ihres, und zwar praktisch-schlechthin notwendigen, Objekts, des höchsten Guts, unvermeidlich bedarf, und die theoretische dadurch berechtigt wird, sie vorauszusetzen " (ebda.). Es geht hier, wie Kant etwas weiter bemerkt, nicht um die "theoretische Erkenntnis der Objekte dieser Ideen", sondern darum, daß diese Ideen überhaupt (mögliche) Objekte haben. Diese ‘Realität’ verschafft die reine praktische Vernunft (vgl. ebda. A 245). Dies ist zwar keine "objektive theoretische Realität", aber "praktische Realität", "die sich in concreto in Gesinnungen oder Maximen darstellen läßt" (ebda. A 98/99). Die Vermittlung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft ist die Vermittlung zwischen dem ‘Reich der Natur’ und dem ‘Reich der Freiheit’ (s. Kap. 3.2.3.2.1). Sie geschieht auf der einen Seite durch die formale Übereinstimmung der Naturgesetze mit dem Sittengesetz: Die Gesetze der Mechanik unterscheiden sich in formaler Hinsicht nicht vom "Kategorischen Imperativ". Auf der anderen Seite geschieht sie durch die Möglichkeit der Verwirklichung von freien sittlichen Handlungen in der Sinnenwelt: Der Mensch hat die Möglichkeit, nach den Ideen der Tugend zu handeln und ihren Anspruch in der Wirklichkeit zu realisieren. Mit seinen drei ‘großen Ideen’ überschreitet Kant die Grenzen der theoretischen Vernunft; er verläßt das "Land der Wahrheit" mit seinen gesicherten Erkenntnissen. "Hier, im Raum der reinen Vernunft, fernab vom Eiland der wissenschaftlichen Erkenntnis, doch in einem Bezirk, den die Vernunft notwendig aufsuchen muß, ist Raum für Glaube und Ethik, deren Objekte weder erkannt werden können noch sollen, deren Anspruch darum aber nicht weniger unbedingt ist" (SCHULTZ 1965, S. 111) oder wie Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der "Kritik der einen Vernunft" schreibt: "Ich mußte also das W i s s e n aufheben, um zum G l a u b e n Platz zu bekommen, ..." (KrV Bd. III, B XXX) und damit zur Moralität. Freiheit, Unsterblichkeit und Gott müssen möglich sein, damit der Mensch überhaupt sittlich handeln und des "höchsten Gutes" teilhaftig werden kann. Obwohl theoretisch-spekulativ nicht erkennbar, muß die Realität dieser Ideen aus praktisch-ethischen Gründen gefordert werden. Für die Kantische "Erziehungslehre" wird gerade die Idee der ‘moralischen Freiheit’ von besonderer Wichtigkeit sein (dazu mehr unter Kap. 4.4.6.2.3). 3.3 Transzendentalphilosophische Begründung der Pädagogik Die leitenden Fragestellungen einer solchen Begründung sind: Welches sind die Bedingungen der Möglichkeit einer Pädagogik als Wissenschaft? Welches sind die a priorisch gültigen Prinzipien von Erziehung und Bildung, von pädagogischem Handeln? J. Schurr schreibt dazu: "sie [die transzendentalphilosophische Reflexion B. K.] muß die Gesetze erforschen, wie der Mensch das verwirklicht, was er der Möglichkeit nach immer schon ist. [...] Der Mensch ist seiner Möglichkeit nach stets mehr, als was er wirklich ist" (SCHURR 1969, S. 95). Ein Hintergrund transzendentalphilosophischer Fragen in der Pädagogik ist die Suche nach der wahren Bestimmung des Menschen und wie sie zu erreichen ist. Kant hat in seiner Schrift "Über Pädagogik" und der "Anthropologie in pragmatischer Absicht" grundlegende Gedanken zur Bestimmung des Menschen gegeben. (vgl. Kap. 4.4.1.1 u. 4.4.2). Philosophie und Pädagogik gehen im transzendentalphilosphischen Ansatz eine sehr enge Verbindung ein; die Philosophie leistet die grundsätzliche Rechtfertigung der Pädagogik und ihrer Begrifflichkeiten. Das zeigt der pädagogische Ansatz Kants besonders deutlich und klar. Ich werde versuchen, dies im Kapitel 4.4 darzustellen. Kapitel 4: Kants Vorlesungen über Pädagogik 4.1 Kants Leben und Werk Wie schon unter Kapitel 2.3.1 erwähnt, genoß Kant, das vierte von elf Kindern eines Riemermeisters, eine strenge pietistische Erziehung in Elternhaus und Schule (vgl. SCHULTZ 1997, S 7 ff.). Während seiner Studienjahre an der Universität zu Königsberg von 1740 bis 1747, übte besonders Professor Martin Knutzen, dem schon als 21jähriger eine außerordentliche Professur in Logik und Metaphysik übertragen worden war, einen starken Einfluß auf den jungen Kant aus. Knutzen war ebenfalls Pietist und der Wolffschen Philosophie sehr verbunden. Im Jahre 1847 verließ Kant die Universität und trat eine vermutlich 8 Jahre währende Tätigkeit als Hauslehrer an wahrscheinlich drei verschiedenen Stellen in Ostpreußen an40. Nach Promotion und Habilitation an der Universität Königsberg im Jahre 1755 begann der 30jährige Kant mit seiner umfangreichen Vorlesungstätigkeit, die teilweise 34 Stunden in der Woche umfaßte. Erst im Jahre 1770 gelangte er auf den von ihm so lange angestrebten Lehrstuhl: der Professur für Logik und Metaphysik in Königsberg. Nach Aussagen vieler seiner Studenten müssen seine Vorträge anregend und vielseitig gewesen sein und stets zu einem eigenständigen Denken aufgefordert haben. Kant scheint seine Vorlesungen mit pädagogischem Geschick gestaltet und dabei durch sein Vorbild erzieherisch gewirkt zu haben (vgl. hierzu WEISSKOPF 1970 S. 24ff.). In diesem Jahrzehnt (1770-1780) erreichte Kants originäre philosophische Schaffenskraft einen besonderen Höhepunkt, obwohl er in dieser Zeit kaum etwas publizierte. So fing Kant mit den umfangreichen Vorarbeiten zur "Kritik der reinen Vernunft" an (die dann 1781 erschien), er engagierte sich für das Philantropin in Dessau (s. a. Kap. 2.3.3.) und er hielt ab dem Wintersemester 1776/77 Vorlesungen über Pädagogik. Kant beginnt mit den entscheidenden Arbeiten zu seiner Transzendentalphilosophie in der gleichen Dekade wie mit seinen pädagogischen Vorlesungen und seinem Engagement für das Dessauische Philantropin (vgl. auch RITZEL 1964, S. 153, IPFLING 1967, S. 165 u. KANT 1982, S. 158). Ich sehe darin einen Hinweis, daß seine Gedanken zur Pädagogik nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich in einem engen Zusammenhang mit seiner kritischen Philosophie stehen41. In den folgenden Jahren bis zum Ende des Jahrhunderts baute Kant seine Transzendentalphilosophie immer weiter aus. Es erschienen 1784 "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", 1785 "Grundlegung der Metaphysik der Sitten", 1786 "Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte", 1787 die zweite und überarbeitete Auflage der "Kritik der reinen Vernunft", 1788 "Kritik der praktischen Vernunft", 1790 "Kritik der Urteilskraft", 1793 "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", 1797 "Metaphysik der Sitten" und 1798 "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht". 1796 hielt Kant, der mittlerweile weithin berühmt und bekannt war, seine letzte Vorlesung. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde seine Gesundheit immer anfälliger und sein Körper zusehends kraftloser. Er starb am 12. Februar 1804, fast 80jährig, in Königsberg. Auf den letzten Seiten der "Kritik der praktischen Vernunft" steht Kants "B e s c h l u s s", der für sein Leben und Werk prägend war und der auch seinen Grabstein ziert: "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: D e r b e s t i r n t e H i m m e l ü b e r m i r, u n d d a s m o r a l i s c h e G e s e t z i n m i r " (KpV Bd. VII, A 288). 4.2 Zur Quelle 4.2.1 Der Lehrbetrieb an der Universität zu Königsberg Im 18. Jahrhundert unternahm der preußische Staat verstärkte Anstrengungen, das tradierte Schulsystem zu reformieren42. Obwohl diese Verordnungen und Erlasse noch keine tiefgreifenden Änderungen in den überkommenen Schulund Erziehungsstrukturen auslösten, zeigten sie doch deutlich das Bestreben des Staates an, aufklärerisches Gedankengut zum Nutzen und Wohl des Staates in die Praxis umzusetzen. In den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts traf die Reformfreudigkeit des preußischen Staates in Form von Reskripten die Universitäten, so auch die ‘Albertina’ in Königsberg. Durch Ministerialverfügungen suchte die Regierung, Einfluß auf Form und Inhalt der Vorlesungen zu gewinnen. Der Lehrbetrieb der Universität Königsberg richtete sich - wie an anderen deutschen Hochschulen auch - nach von der Regierung vorgeschriebenen Lehrbüchern oder Kompendien. Obwohl vielfach der Ruf nach einer freien Lehre und Forschung laut wurde und an den neu gegründeten Hochschulen43 auch ansatzweise verwirklicht wurde, war der Lehrbetrieb an den deutschen Universitäten im allgemeinen stark reglementiert. Die preußische Regierung ging hier noch ein Stück weiter, indem sie mittels Reskripte neue Aufgaben für die Universitäten verfügte. Zurück zum Text 4.2.2 Das "Collegium Scholastico-Practicum" Eine dieser neuen Aufgaben - und für die Pädagogikvorlesungen Kants von ausschlaggebender Bedeutung - war das Reskript vom 13. Juni 1774 über das "Collegium Scholastico-Practicum". Es sah vor, daß von den Professoren der Philosophischen Fakultäten abwechselnd pädagogische Vorlesungen zu halten seien (vgl. Päd Bd. XII, A III). Für die Universität zu Königsberg bedeutete dies, daß "die sieben ordentlichen Professoren der Philosophischen Fakultät in Königsberg abwechselnd ein zweistündiges Kolleg über Praktische Pädagogik (Erziehungskunst) zu lesen [hatten B. K.]" (KANT 1982, S. 158). So mußte auch Kant im Turnus von sieben Semestern Vorlesungen über "Praktische Pädagogik" halten: im Wintersemester 1776/77 zum ersten Mal, dann wiederholt im Sommersemester 1780 und im Wintersemester 1783/84 und zum letzten Mal im Wintersemester 1786/87, da im Jahre 1790 ein eigenständiges Pädagogisches Seminar eingerichtet wurde. Es ist wichtig festzuhalten, daß Kant durch das ministerielle Reskript zu Vorlesungen über "Praktische Pädagogik" verpflichtet war. Das heißt, methodische, entwicklungspsychologische und praktische Gedanken im Sinne der zeitgenössischen Aufklärungspädagogik sowie anschauliche und realistische Beispiele sollten bei den Vorlesungen im Vordergrund stehen und weniger Betrachtungen zur Grundlegung einer wissenschaftlichen Pädagogik wie sie Kant im Hinblick auf sein Verständnis von Wissenschaftlichkeit (vgl. Kap. 3) wohl auch vorgeschwebt haben mochten. Die pädagogischen Vorlesungen hatten demgemäß auch den Titel "Praktische Anweisung Kinder zu erziehen" (Kant 1961, S. 6). 4.2.3 Die Kompendien Obwohl der Herausgeber Friedrich Theodor Rink (1770-1811) in seiner "Vorrede" nur von einem Kompendium spricht (Päd Bd. XII, A III), hat Kant im Verlauf seiner pädagogischen Vorlesungen deren zwei benutzt. Das in seiner ersten Vorlesung 1776/77 von ihm zugrunde gelegte Kompendium stammt von Basedow (s. a. Kap. 2.3.3): "Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker". Dieses Buch, der erste Teil des von Basedow angekündigten Elementarwerks44, ist - wie HORST M. P. KRAUSE schreibt - "... weniger als eine direkte methodische Anweisung für das Elementarwerk zu verstehen […], als vielmehr als eine allgemeine erziehungstheoretische Darstellung des Philantropismus. Im Methodenbuch fließen die methodischen Gesichtspunkte einer naturgemäßen Erziehung und die gesellschaftstheoretischen Auffassungen von der Glückseligkeit des Staates und seiner Bürger zusammen" (BASEDOW 1979, S. IL). WEISSKOPF nimmt aufgrund eindeutiger konkreter Hinweise an, "daß Kant für seine erste Pädagogikvorlesung im Wintersemester 1776/77 die dritte Auflage des Methodenbuches [1773 erschienen B. K.] benutzte" (WEISSKOPF 1970, S. 120). Das zweite - von Kant in den folgenden Vorlesungen verwandte Kompendium stammt von Friedrich Samuel Bock: "Lehrbuch der Erziehungskunst zum Gebrauch für christliche Eltern und künftige Jugendlehrer" (1780 erschienen)45. Dieses klar und übersichtlich gegliederte Werk enthält zwei Teile: eines über häusliche Erziehung (Familienerziehung) und eines über schulische Erziehung (Erziehung in Schulen, höheren Schulen, Erziehungsanstalten und durch Hofmeister). Es zeigt "viel psychologischen Feinsinn und gibt manch gute entwicklungspsychologische Beobachtung wieder" (ebda. S. 137). Kant benutzte gezwungenermaßen diese Kompendien (vgl. Kap. 4.2.1). Er hat sich aber "nur sehr bedingt an seine Vorlagen gehalten" (KANT 1982, S. 157). Die Struktur der Kompendien beibehaltend, veränderte und ergänzte er von Vorlesung zu Vorlesung die Inhalte (WEISSKOPF 1970, S. 101). 4.2.4 Die Herausgabe der Schrift 4.2.4.1 Die "Vorrede" des Herausgebers Rink spricht in seiner "Vorrede" von "diesem Umstande", dem "die folgenden Bemerkungen über die Pädagogik ihr Entstehen" verdanken. Unter "diesem Umstande" versteht Rink zum einen das Reskript vom 13. Juni 1774 über das "Collegium Scholastico-Practicum", nach dem auch Kant - abwechselnd mit den anderen Professoren - den Studierenden pädagogische Vorlesungen zu halten hatte und zum anderen die Verpflichtung, diese Vorlesungen nach vorgeschriebenen Kompendien zu führen. Der Herausgeber weist darauf hin, daß sich Kant "..., weder im Gange der Untersuchungn noch in den Grundsätzen, ..." an das von "..., dem Konsistorialrat D. Bock herausgegebene L e h r b u c h d e r E r z i e h u n g s k u n s t ..." hielt (Päd. Bd. XII, A III). Rink führt weiter zu den "Bemerkungen über die Pädagogik" aus, daß dies "hingeworfene Bemerkungen" seien, die Kant "nicht aus eigener Wahl" tat (ebda. A V). Damit deutet der Herausgebers noch einmal darauf hin, daß Kant die pädagogischen Vorlesungen nach einer ministeriellen Verordnung halten mußte und die zu verwendenden Kompendien vorgeschrieben bekam. Trotzdem ist es für Rink sicher, "daß Kant die neuen Ideen [die pädagogischen B. K.] damaliger Zeit […] kannte, über sie nachdachte, und manchen Blick weiter hinaustat, als seine Zeitgenossen, ... (ebda. A V). Inwieweit Rink die "Bemerkungen über die Pädagogik" selber ordnete, ergänzte und veränderte, geht aus seinem Vorwort nicht klar hervor. Er macht lediglich einen Hinweis auf seine angebrachten Fußnoten: "Von meinen beiläufigen Anmerkungen habe ich nichts zu sagen; sie sprechen für sich" (ebda. A V). 4.2.4.2 Urteile über die Herausgabe Ich möchte im Folgenden einige Beurteilungen über die Authentizität der Schrift aufführen,um die Breite der quellenkritischen Stellungnahmen anzudeuten. H. HOLSTEIN geht davon aus, daß die Arbeit als von Kant verfaßt angesprochen werden könne, obwohl er sie selber nicht mehr ediert habe. "Das ergibt sich aus dem Zusammenhang, den das pädagogische Denken Kants mit seiner Philosophie aufweist. Begriffe und Denkstrukturen entsprechen dem kritischen Gesamtwerk Kants. Es ist andererseits aber wahrscheinlich, daß Rink, der die Unterlagen für die Schrift von Kant in Form der Vorlesungsblätter erhielt, bei der Herausgabe einige Ergänzungen vornehmen mußte. In welchem Ausmaß und an welchen Stellen das geschehen ist, können wir nicht mehr feststellen. Wir müssen daher die Schrift nach der Ausgabe Rinks unverändert gelten lassen, weil jede Änderung, die nach dem Sinnzusammenhang vorgenommen wird, möglicherweise Kants Orginalstellen verändert" (KANT 1961, S. 6). Eine andere Beurteilung stammt von GROOTHOFF und REIMERS. Sie gehen in ihrer Ausgabe der Schrift davon aus, daß Kant für seine Vorlesung ein Heft angelegt habe, das er später seinem Schüler Rink überlassen habe. "Worum es sich dabei im einzelnen gehandelt hat, ist aber unbekannt, denn dieses Heft ist frühzeitig verlorengegangen. Man weiß daher auch nicht, was Rink aus anderen Quellen oder von sich aus hinzugetan hat. […] Im übrigen ist damit zu rechnen, daß das Kantische Heft über Pädagogik aus mehreren Schichten bestanden hat, die dann von Rink mehr oder weniger gewaltsam auf eine Ebenen und in einen Zusammenhang gebracht sind" (KANT 1982, S. 158). T. WEISSKOPF formuliert die stärksten Zweifel an der Authentizität der Schrift. Er kommt im Verlauf seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, "daß die Schrift «Immanuel Kant über Pädagogik» eine Kompilation aus verschiedenen Teilen46 darstellt, die zu verschiedenen Zeiten entstanden und für verschiedenen Zwecke entworfen worden sind" (WEISSKOPF 1970, S. 240). Diese Kompilation aus anderen Schriften nebst der stilistischen Überarbeitung und sinngemäßen Ergänzung "beinahe jeden Abschnitts der Schrift" (WEISSKOPF 1970, S. 315 ff) sind nach Ansicht des Autors von Rink vorgenommen worden, so daß er seine Erörterungen in der Schlußfolgerung gipfeln läßt: "Die Schrift «Immanuel Kant über Pädagogik» kann nicht als authentisches Werk Kants angesehen werden. Sie ist deshalb aus der Akademie-Ausgabe zu entfernen" (WEISSKOPF 1970, S. 349). Als Fazit dieses quellenkritischen Einschubes möchte ich festhalten: Auf der formalen Seite kann es als sicher gelten, daß die Einteilung, Anordnung und Betitelung der Schrift von Rink vorgenommen worden ist; auf der inhaltlichen Seite ist es - abgesehen von den Fußnoten des Herausgebers nicht eindeutig, welche Textabschnitte von Rink verändert, hinzugefügt oder weggelassen worden sind. Die strukturelle Schwäche der Schrift ist im Vergleich mit anderen Texten von Kant auffällig: Gedankengänge wirken oft nur angedacht, brechen unvermittelt ab und werden an anderen Stellen wieder aufgenommen oder stehen unverbunden nebeneinander. Die seine Werke auszeichnende Systematik und Stringenz habe ich vermißt. So ist es teilweise recht schwierig, den Aufbau und die Abfolge von Kants Gedanken in dieser Schrift zu ermitteln und ihnen zu folgen. Er nimmt beispielsweise mehrere Einteilungen der Erziehung vor teils systematischer, teils genetischer Art, die sich oftmals gegenseitig ‘überlappen’, wobei nicht klar ersichtlich ist, welche er denn nun für die entscheidende hält (vgl. KANT 1982, S. 158). Ich möchte mich dem Herausgeber F. Th. Rink anschließen, der die Gedanken Kants zur Pädagogik für "hingeworfene Bemerkungen" hält (Päd Bd. XII, A V). Es darf und soll allerdings nicht vergessen werden, daß die Grundlage zu dieser Schrift die pädagogischen Vorlesungen Kants waren und kein von ihm sorgfältig ausgearbeitetes Werk. Das Ziel dieser Arbeit ist keine vertiefende Quellenkritik; ich werde die Schrift "Über Pädagogik" - obwohl Zweifel angebracht sind - als von Kant stammend ansehen. Viele der verwendeten Begrifflichkeiten und einige Formulierungen stehen in einem engen Zusammenhang mit seiner kritischen Philosophie und seinen dazugehörigen Schriften und sind aus diesem Kontext heraus erklärbar. Ich werde unter Kapitel 4.4 versuchen, dies näher zu erläutern. Wie schon anfangs erwähnt, benutze ich die Gesamtausgabe von WILHELM WEISCHEDEL. Diese Ausgabe "hält sich ganz an die Orginalausgabe, übernimmt bewußt Eigentümlichkeiten der Kantischen Ausdrucksweise, läßt hingegen die Anmerkungen Rinks […] weg. Das Vorwort Rinks wird aber belassen" (WEISSKOPF 1970, S. 211). Nach diesen ‘quellenkritischen’ Bemerkungen mit den dargelegten Vorbehalten möchte ich nun zur Schrift selbst und ihrem Inhalt kommen. Ich möchte mit einer knappen Inhaltsangabe beginnen. 4.3 Inhaltsangabe Nach der "Vorrede" (Päd Bd. XII, A III-VI) des Herausgebers beginnt ein unbetitelter Abschnitt, der gemeinhin als "Einleitung" (vgl. WEISSKOPF 1970, S. 144) bezeichnet wird (Päd Bd. XII, A 1-34). Dies ist der eher theoretische Teil der Schrift, in dem Kant einige anthropologische, erkenntnistheoretische und geschichtsphilosophische Gedanken und Thesen erörtert. Er definiert Erziehung und benennt deren Ziele und Aufgaben; ebenso deutet er in diesem Abschnitt eine Theorie der Erziehung und ihre Methoden an und formuliert das grundsätzliche Problem der Pädagogik. Er untermauert seine Bemerkungen mit einigen Beispielen aus der Natur und verweist auf Basedow und dessen Philantropin in Dessau. Der Hauptteil der Schrift umfaßt die "Abhandlung" (ebda. A 34-146), die sich nach einer kurzen Vorbemerkung (ebda. A 34-37) in den umfangreicheren Abschnitt "Von der physischen Erziehung" (ebda. A 37-113) und den kürzeren "Von der Praktischen Erziehung" (ebda. A 113 - 146) unterteilt. In diesem Hauptteil stellt Kant den stufenförmigen Aufbau der Erziehung dar. Viele anschauliche Beispiele sind in diese Darstellung eingeflochten. 4.4 Analyse 4.4.1 Was ist Erziehung? 4.4.1.1 Die anthropologische Grundlegung Die "Einleitung" der Schrift beginnt mit dem Satz, den ich als die ‘anthropologische Grundsatzerklärung’ der Kantischen Pädagogik bezeichnen möchte: "Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß" (ebda. A 1). In der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (erschienen 1798) schreibt Kant ebenfalls: "Er [der Mensch B. K.] ist einer Erziehung, […], fähig und bedürftig" (AH Bd. XII, A 319). Er führt dies in seiner "Einleitung" dann noch weiter aus: "Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht. Es ist zu bemerken, daß der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch Menschen, die ebenfalls erzogen sind" (Päd Bd. XII, A 7). Erziehung ist für Kant eine Notwendigkeit. Im Gegensatz zu den Tieren, die von ihren Instinkten in und durch das Leben geleitet werden, ist der Mensch nicht festgelegt. Da er "keinen Instinkt" hat, braucht der Mensch den Menschen, um Mensch zu werden. Zwar besitzt der Mensch eine "eigene Vernunft", aber er ist als Kind noch nicht in der Lage, sich mit ihrer Hilfe "...selbst den Plan seines Verhaltens [zu B. K.] machen. Weil er aber nicht sogleich im Stande ist, dieses zu tun, sondern roh auf die Welt kommt: so müssen es andere tun" (ebda. A 2). Der Mensch ist erziehungsbedürftig und -fähig: sowohl als Natur- als auch als Vernunftwesen (s. a. Kap. 3.2.3.2.1). Was ‘ist’ nun der Mensch, der da erzogen werden muß, in anthropologischer Hinsicht? Kant bemerkt in seiner Schrift: "Im Menschen liegen nur Keime zum Guten." Und zwei Sätze vorher schreibt er: "Denn die Gründe zum Bösen findet man nicht in den Naturanlagen des Menschen." (ebda. A 19). Der Mensch ist also von Natur aus gut! Warum soll er dann erzogen werden? In seiner Schrift "Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft" (erschienen 1793) setzt Kant dagegen: "Der Mensch ist von Natur böse" (Rel Bd. VIII, A 24). Ist der Mensch nun von Natur gut oder böse?!47 Es läßt sich hier ein ‘anthropologischer Dualismus’ konstatieren. Allerdings überwindet ihn Kant durch die Setzung einer "Anlage" - der "Keime" - zum Guten im Menschen. Die Gründe zum Bösen sind nicht in den Naturanlagen des Menschen zu finden, sondern in seiner mangelnden Entschlußkraft. "Der Mensch muß also zum Guten e r z o g e n werden, ..." (AH, Bd. XII, A 321), damit er den "Hang zum Bösen", der die "Keime zum Guten" immer wieder an ihrer Entfaltung hindert, erkennt, überwindet und das Gute, das "moralische Gesetz", achtet. "Gute Erziehung gerade ist das, woraus alles Gute in der Welt entspringt. Die Keime, die im Menschen liegen, müssen nur immer mehr entwickelt werden" (Päd Bd. XII, A 18/19). 4.4.1.2 Die Definition von Erziehung Was bedeutet nun Erziehung? Kant gibt mehrere Deutungen an, die sich gegenseitig ergänzen und zu einer sehr weiten Fassung von Erziehung führen. Der zweite Satz der "Einleitung" enthält schon eine grundlegende Definition: "Unter Erziehung verstehen wir die Wartung (Verpflegung, Unterhaltung), Disziplin (Zucht) und Unterweisung nebst Bildung. Dem zufolge ist der Mensch Säugling, - Zögling, und Lehrling." (ebda. A 1). Etwas weiter formuliert Kant: "Der Mensch braucht Wartung und Bildung. Bildung begreift unter sich Zucht und Unterweisung" (ebda. A 6). Und gegen Schluß der "Einleitung" schreibt er. "Die Erziehung schließt V e r s o r g u n g und B i l d u n g in sich. Diese ist 1) n e g a t i v, die Disziplin, die bloß Fehler abhält; 2) p o s i t i v, die Unterweisung und Anführung, und gehört in so ferne zur Kultur" (ebda. A27/28). Erziehung umfaßt also Wartung (auch Verpflegung, Versorgung oder Unterhaltung genannt) und Bildung. Die Wartung ist "....Vorsorge der Eltern, daß die Kinder keinen schädlichen Gebrauch von ihren Kräften machen" (ebda. A2). Die Bildung unterteilt sich in die negative Erziehung, die Disziplin (Zucht), "wodurch man dem Menschen die Wildheit benimmt" und ihn "den Gesetzen der Menschheit", den "Vorschriften der Vernunft", unterwirft (ebda. A 3/4) und in die positive Erziehung, die Unterweisung oder Kultur, die den Menschen zu allerlei Zwecken geschickt machen soll (ebda. A22/23). Kant bemerkt, daß eine Vernachlässigung in der Disziplin im späteren Leben nicht mehr korrigierbar sei, wohingegen die Kultur immer noch nachgeholt werden könne (vgl.ebda.A9/10). Zurück zum Text 4.4.2 Das Ziel von Erziehung Auf welches Ziel soll Erziehung hinsteuern? Es gibt einige Stellen in der "Einleitung", in denen Kant auf das Ziel der Erziehung eingeht. "Die Menschengattung soll die ganze Naturanlage der Menschheit, durch ihre eigne Bemühung, nach und nach von selbst herausbringen. Eine Generation erzieht die andere" (Päd Bd. XII, A 2). "Jede Generation, versehen mit den Kenntnissen der vorhergehenden, kann immer mehr eine Erziehung zu Stande bringen, die alle Naturanlagen des Menschen proportionierlich und zweckmäßig entwickelt, und so die ganze Menschengattung zu ihrer Bestimmung führt" (ebda. A 13). "Nicht einzelne Menschen, sondern die Menschengattung soll dahin [zur Bestimmung B. K.] gelangen" (ebda. A 12). Das Ziel der Erziehung ist gleichzeitig die Bestimmung des Menschen. Die Bestimmung des Menschen ist die "Menschheit" (ebda. A 3), die der Mensch dadurch zu erreichen sucht, indem er " ... aus dem rohen Naturzustand als Tier ..." herautritt (ebda. A 128). Damit der Mensch zum Menschen unter Menschen wird, müssen seine Naturanlagen vollständig, proportionierlich und zweckmäßig entwickelt werden. Die Bestimmung erreicht nicht der einzelne Mensch, sondern - im Laufe unzählig vieler Generationen - die Menschengattung. In seiner Schrift "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (erschienen 1784) bringt Kant dies in den ersten beiden Thesen ("Erster Satz" und "Zweiter Satz") noch deutlicher zum Ausdruck: "Al l e N a t u r a n l a g e n e i n e s G e s c h ö p f e s s i n d b e s t i m m t, sich einmal vollständig und zweckmäßig a u s z u w i c k e l n. […] Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) s o l l t e n s i c h d i e j e n i g e n N a t u r a n l a g e n, d i e a u f d e n G e b r a u c h s e i n e r V e r n u n f t a b g e z i e l t s i n d, n u r i n d e r G a t t u n g, n i c h t a b e r i m I n d i v i d u u m v o l l s t ä n d i g e n t w i c k e l n" (Idee Bd. XI, A 388). Ebenso bemerkt er in der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht": "....daß bei allen übrigen sich selbst überlassenen Tieren jedes I n d i v i d u u m seine ganze Bestimmung erreicht, bei den Menschen aber allenfalls nur die G a t t u n g: so, daß sich das menschliche Geschlecht nur durch F o r t s c h r e i t e n, in einer Reihe unabsehlich vieler Generationen, zu seiner Bestimmung empor arbeiten kann;..." (AH Bd. XII, A 319). 4.4.2.1 Die "Bestimmung" des Menschen Die Frage, die sich jetzt anschließt, lautet: Wer oder was ‘bestimmt’ den Menschen bzw. die Menschengattung? Zur Beantwortung dieser Frage, läßt sich wieder die "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" heranziehen. Dort schreibt Kant: "Der Charakter eines lebenden Wesens ist das, woraus sich seine Bestimmung zum voraus erkennen läßt" (ebda. A 328). Was ist aber nun der "Charakter"48, aus dem sich die Bestimmung des Menschen erkennen läßt? Seit Aristoteles war die traditionelle Wesensbestimmung des Menschen die eines vernunftbegabten Lebewesens (lat.: animal rationale). Als strenger Kritiker läßt Kant diese Definition nicht unbefragt stehen. Es stellt sich für ihn die Frage, wie der nächsthöhere Gattungsbegriff (genus proximum) und der artbildende Unterschied (differentia specifica) zu der übergeordneten Gattung ausgemacht werden sollen, damit ein vernunftbegabtes Wesen klar und deutlich bestimmt werden kann. Da aber keine anderen vernunftbegabten Wesen bekannt sind, keine allgemein gültigen Erfahrungen von solchen Wesen vorliegen, fehlt "uns der Mittelbegriff der Vergleichung (tertium comparationis)" (ebda. A 315). Daraus schließt Kant: "Es bleibt uns also, um dem Menschen im System der lebenden Natur seine Klasse anzuweisen und so ihn zu charakterisieren, nichts übrig, als: daß er einen Charakter hat, den er sich selbst schafft; indem er vermögend ist, sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfektionieren; wodurch er, als mit V e r n u n f t f ä h i g k e i t begabtes Tier (animal rationabile), aus sich selbst ein v e r n ü n f t i g e s Tier (animal rationale) machen kann; ..." (ebda. A 315). Der Mensch ist von der Natur aus also unbestimmt; er bestimmt sich qua Vernunft selbst. Die "Bestimmung" des Menschen ist seine Selbstbestimmung! Auf welche Art ‘bestimmt’ sich der Mensch selbst? Kant fährt in der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" fort: "... - wo er dann: erstlich sich selbst und seine Art e r h ä l t, zweitens sie übt, belehrt und für die häusliche Gesellschaft e r z i e h t, drittens sie, als in ein systematisches (nach Vernunftprinzipien geordnetes) für die Gesellschaft gehöriges Ganzes, r e g i e r t; ..." (ebda. A 315/316). Die Selbstbestimmung des Menschen als vernunftbegabtes Lebewesen vollzieht sich also "als Arterhaltung, als Erziehung und als Regierung (Politik)" (BLAß 1978, S. 32). 4.4.2.2 Die "Naturanlagen" des Menschen Nachdem Kant die "Bestimmung" des Menschen als Selbstbestimmung definiert hat, gilt es jetzt, die zur Erreichung dieses Ziels notwendigen "Naturanlagen" und deren "proportionierliche und zweckmäßige" Entwicklung darzulegen. Kant erläutert sie wie folgt: "Unter den lebenden E r d b e w o h n e r n ist der Mensch durch seine t e c h n i s c h e (mit Bewußtsein verbunden-mechanische) zu Handhabung der Sachen, durch seine p r a g m a t i s c h e (andere Menschen zu seinen Absichten geschickt zu brauchen) und durch die m o r a l i s c h e Anlage in seinem Wesen (nach dem Freiheitsprinzip unter Gesetzen gegen sich und andere) zu handeln, von allen übrigen Naturwesen kenntlich unterschieden,..." (AH Bd. XII, A 317). Die technische Anlage ist die "Geschicklichkeitsanlage" (ebda. A 319) des Menschen; sie bezeichnet das, was der Mensch kann: die Gegenstände seiner Umwelt bearbeiten und gestalten. Dabei ist die menschliche Geschicklichkeit nicht auf bestimmte Handhabungen und spezifische Zwecke festgelegt wie die der Tiere, sondern unbestimmt und frei für vielerlei Anwendungen und Zwecke (Kant illustriert dies anschaulich an den vielfältigen und nicht festgelegten Funktionsweisen der menschlichen Hand). Die pragmatische Anlage umfaßt die sozialen und gesellschaftlichen Fähigkeiten des Menschen, ein "gesittetes (wenn gleich noch nicht sittliches) zur Eintracht bestimmtes, Wesen zu werden, ..." (ebda., A 319); diese Anlage bezeichnet das, was der Mensch will: die Mitmenschen klug nach eigenen Absichten gebrauchen und sich im gegenseitigen Nutzen in die Gesellschaft einfügen, ohne den Einzelnen in seinen Interessen einzuschränken (vgl. Päd Bd. XII, A 36). Die moralische Anlage ist die Fähigkeit der Vernunft zur freien, d. h. sittlichen, Selbstbestimmung. Dies bedeutet allerdings nicht, rein willkürlich zu handeln, sondern freie Selbstbestimmung ist dem Menschen nur möglich, wenn er das "Sittengesetz" achtet. (s. a. Kap. 3.2.3.2). Die moralische Anlage bezeichnet das, was der Mensch soll: sich Zwecke nach Maßgabe einer guten Gesinnung setzen, so daß sie "notwendigerweise von jedermann gebilligt werden" (ebda. A 23). Das dem Menschen innewohnende "moralische Gefühl" zeigt ihm, ob ihm oder anderen "recht oder unrecht geschehe" (vgl. AH Bd. XII A 320). Zurück zum Text Im Zusammenhang mit den "Naturanlagen" des Menschen weist J. L. BLAß nachdrücklich darauf hin, daß nach Kant "alle Naturanlagen des Menschen proportionierlich und zweckmäßig entwickelt" werden sollen. Erst wenn alle Anlagen, Kräfte und Fähigkeiten des Menschen verhältnismäßig, ausgeglichen und harmonisch entwickelt werden, erreiche der Mensch seine "volle Identität", seine Selbstbestimmung (BLAß 1978, S. 26). Blaß setzt das Schwergewicht ganz im Sinne Kants auf das Sollen, auf die moralische Anlage, des Menschen. "Sich selbst besser machen, sich selbst kultivieren, und, wenn er böse ist, Moralität bei sich hervorbringen, das soll der Mensch" (Päd Bd. XII, A 14). Die wichtigste Anlage des Menschen ist die moralische Anlage. Ihr widmet Kant den letzten und wichtigsten Teil seiner Erziehungslehre: die moralische Erziehung (s. a. Kap. 4.4.6.2.2 und 4.4.6.2.3). Kant ist davon überzeugt, daß durch Erziehung die menschlichen Naturanlagen immer weiter entwickelt und verbessert werden können und daher die Aussicht auf ein "künftig glücklicheres Menschengeschlecht" besteht (Päd. Bd. XII, A9). Allerdings schränkt er auch ein: Da der Mensch immer von Menschen erzogen wird - mit all ihren Stärken, aber auch Schwächen, gelangt die vollkommene Entwicklung seiner "Naturanlagen" - und damit seine "Bestimmung" - nie zur Wirklichkeit. So bemerkt Kant, daß sich erst bei der Erziehung durch "ein Wesen höherer Art" herausstelle, was alles aus dem Menschen werden könne (vgl. Päd Bd. XII, A 7). 4.4.3 Die Aufgaben von Erziehung Im Zusammenhang mit dem Ziel der Erziehung formuliert Kant vier Aufgaben der Erziehung: Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung. Wie oben erwähnt (s. Kap. 4.4.1.2) soll durch Disziplinierung die menschliche Wildheit bezähmt werden. Durch die zweite Aufgabe der Erziehung, die Kultivierung, soll der Mensch Geschicklichkeit "zu allen beliebigen Zwecken" erlangen, während die dritte Aufgabe, die Zivilisierung, den Menschen klug machen soll, was bedeutet, daß der Mensch " ... Manieren, Artigkeit und eine gewisse Klugheit [erlernt B. K.], der zufolge man alle Menschen zu seinen Endzwecken gebrauchen kann" (Päd Bd. XII, A 24). Die letzte und entscheidende Aufgabe der Erziehung, die Moralisierung, weist über die vorangegangenen hinaus. "Der Mensch soll nicht bloß zu allerlei Zwecken geschickt sein, sondern auch die Gesinnung bekommen, daß er lauter gute Zwecke erwähle. Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise von jedermann gebilligt werden; und die auch zu gleicher Zeit jedermanns Zwecke sein können" (ebda. A 24). Kant bemüht sich, in seiner praktischen Philosophie zu zeigen, daß und wie der Mensch eine gute Gesinnung bekomme, daß er also "lauter gute Zwecke erwähle". Die Gesinnung ist die Absicht, das individuelle Wollen, aus dem heraus eine Handlung erfolgt. Da "Gesinnung" ein wichtiger Begriff in der Kantischen Ethik und Pädagogik ist, möchte ich ihn im Zusammenhang mit einigen weiteren häufig verwendeten Begrifflichkeiten kurz erläutern. Kant definiert in der "Grundlegung der Metaphysik der Sitten" (erschienen 1785) Gesinnung als "Maxime des Willens" (GMS Bd. VII, BA 78). Eine Maxime ist für Kant "das subjektive Gesetz des Wollens" (ebda. BA 15). Maximen sind fundamentale Willensbestimmugen, mit denen der Mensch seine Lebensgrundsätze festlegt49. Das "objektive Prinzip" des Wollens ist das "praktische Gesetz" oder "Sittengesetz", das sich im Sittengebot, dem "Kategorischen Imperativ", ausdrückt (ebda. BA 15). An ihm müssen sich die subjektiven Lebensgrundsätze messen lassen. Wenn sie vor diesem Maßstab bestehen können, sind die gewählten Lebensgrundsätze ‘gut’. Der Wille selbst ist "das Vermögen, n a c h d e r V o r s t e l l u n g der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln"; der Wille ist "nichts anderes als praktische Vernunft" (ebda. BA 37). Der "gute Wille" wird bestimmt durch das "Sittengesetz". Ein solcherart fundierter Wille entspricht einer guten Gesinnung. So schreibt Kant im ersten Abschnitt der "Grundlegung der Metaphysik der Sitten: "Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein g u t e r W i l l e" (ebda. BA 1). Kant geht es in seiner Schrift "Über Pädagogik" besonders um das "vierte wichtigste Stück" der Erziehung, das Handeln aus Prinzipien. Die ersten drei Aufgaben der Erziehung werden erfüllt, nicht jedoch die vierte, die Moralisierung. "Wir leben im Zeitpunkte der Disziplinierung, Kultur und Zivilisierung, aber noch lange nicht in dem Zeitpunkte der Moralisierung" (Päd Bd. XII, A 25) oder - wie er in der "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" - vermerkt: "Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft k u l t i v i e r t. Wir sind z i v i l i s i e r t, bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns für schon m o r a l i s i e r t zu halten, daran fehlt noch sehr viel" (Idee Bd. XI, A 402). Die vierte und wichtigste Aufgabe der Erziehung, die Moralisierung, ist eng verbunden mit der Beförderung des "höchsten Gutes" (s. Kap. 3.2.3.2.2). Kant stellt die Frage nach der im "höchsten Gut" zu vollziehenden Verbindung zwischen Glückseligkeit und Sittlichkeit in der "Einleitung" seiner Schrift: "Denn wie kann man Menschen glücklich machen, wenn man sie nicht sittlich und weise macht? (Päd Bd. XII, A 25). 4.4.4 Das Problem der Erziehung Schon in seiner "Einleitung" formuliert Kant deutlich das Problem der Erziehung: "Der Mensch soll seine Anlagen zum Guten erst entwickeln; die Vorsehung hat sie nicht schon fertig in ihn gelegt; es sind bloße Anlagen und ohne den Unterschied der Moralität. […]. Daher ist die Erziehung das größte Problem, und das schwerste, was dem Menschen kann aufgegeben werden" (ebda. A 14). Und weiter: "Zwei Erfindungen der Menschen kann man wohl als die schwersten ansehen: die Regierungs- und die der Erziehungskunst nämlich, ..." (ebda. A 15). Seine Bemerkungen gipfeln in der bekannten Fragestellung: "Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen. Ohne dies ist alles bloßer Mechanism, und der der Erziehung Entlassene weiß sich seiner Freiheit nicht zu bedienen" (ebda. A 32). Der Zwang ist notwendig! Es gibt keine menschliche Gesellschaft, Gemeinschaft oder Gruppe, in der nicht Zwang in Form von Verboten und Geboten, Gesetzen und Anordnungen etc. ausgeübt wird und sei es der ‘Zwang’, die Freiheit des anderen um der eigenen Freiheit willen zu achten. So spricht Kant auch vom "gesetzlichen Zwang". In seiner "Rechtslehre" formuliert er das allgemeine Rechtsgesetz: "handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne, ... " (MSR Bd. VIII, A 34). Dieses allgemeine Rechtsgesetz soll die ‘Handlungsfreiheit’ des Menschen sichern und ist daher auch mit einer Zwangsbefugnis verbunden, das heißt, dieses Recht kann notfalls durch äußeren Zwang verwirklicht werden (vgl. CAVALLAR 1996, S. 87 ff.). In seiner Schrift "Über Pädagogik" weist Kant darauf hin, daß Kinder schon früh den "Zwang der Gesetze" fühlen und sich den "Vorschriften der Vernunft" unterwerfen sollen, damit sie aus dem Zustand der "Rohigkeit" (d. i. Unkultiviertheit) und "Wildheit" (d. i. Disziplinlosigkeit) heraus geführt werden (Päd Bd. XII, A 3-4). Besonders bei Kindern ist der Zwang, d. h. Widerstand, notwendig. Für Kant ist dies ein "mechanischer Zwang", der die Kinder in "Unterwürfigkeit und einen passiven Gehorsam" einüben soll (ebda. A 28). Allerdings soll dieser Zwang nicht zu einem sklavischen Gehorsam, sondern zum Gebrauch der eigenen Freiheit führen (ebda. A 33). Heranwachsende und selbst Erwachsene benötigen auch Zwang. Kant nennt ihn den "moralischen Zwang": sich seiner Freiheit "unter Gesetzen" bedienen zu können (ebda. A 28). Kant stellt in dem o. a. Zitat (s. ebda. A 32) den "gesetzlichen Zwang" der "Freiheit" gegenüber. Es wird hier - wie auch an anderen Stellen seiner Schrift - leider nicht deutlich, in welchem Sinne er "Freiheit" versteht: als ‘moralische Freiheit’ oder als ‘Handlungsfreiheit’ bzw. ‘Willkürfreiheit’. Ich bin der Ansicht, daß er hier die ‘moralische Freiheit’ anspricht und nicht die ‘Handlungsfreiheit’, denn das oberste Ziel der Erziehung ist Moralität. Der Gebrauch der ‘moralischen Freiheit’ bedeutet, daß der Mensch aus einer ‘inneren Nötigung’ heraus die Freiheit des anderen achtet. Die ‘innere Nötigung’ treibt ihn dazu, seine Maximen am "Sittengesetz" auszurichten. Die Anwendung der ‘willkürlichen Freiheit’ oder ‘Handlungsfreiheit’ bedeutet dagegen, daß er die Freiheit des anderen nur aus Furcht vor dem äußeren Zwang oder aus egoistischen Gründen - um beispielsweise seine Bedürfnisse und Triebe zu befriedigen - anerkennt, also "mechanisch" handelt. Ein Problem, das sich hier stellt, läßt sich - praktisch gewendet - in der Frage formulieren: Wie kann und darf ich gegenüber einem Zögling, gerade einem Kinde, einen Zwang ausüben, ihn zu einem Mittel für einen Zweck machen er mag noch so edel und verdienstvoll sein wie die Einübung in die sittliche Ordnung, wo doch der "Praktische Imperativ" des "Sittengesetzes" vorschreibt, niemals einen Menschen bloß als Mittel zu einem Zweck zu gebrauchen, sondern ihn immer als Zweck an sich zu sehen (vgl. GMS Bd. VII, BA 66/67 u. RITZEL 1964, S. 161/162). Jede Pädagogik, jeder mit Erziehung betraute, sofern er Selbstbestimmung, ermächtigung und -verantwortung als maßgebliche Ziele der Erziehung auffaßt, muß sich aber diesem Problem, dieser Frage immer wieder stellen. Sie durchzieht die pädagogische Problematik seit der Aufklärung und läßt sich so möchte ich behaupten - als eine ‘regulative Fragestellung’ der Pädagogik bezeichnen. 4.4.5 Die Einteilung der Erziehung Da Kant mehrere Einteilungen in seiner Schrift vornimmt, die er aber inhaltlich nicht klar zu Ende führt, möchte ich nun versuchen, eine Strukturskizze seiner "Erziehungslehre" zu geben. Am Schluß dieses Unterkapitels fasse ich den Aufbau des Kantischen Erziehungsmodells schematisch zusammen (s. Kap. 4.4.5.3). In einem ersten Zugang läßt sich Kants "Erziehungslehre" in zwei ‘Epochen’ aufteilen: in eine "p o s i t i v e" und eine "n e g a t i v e". In der ‘positiven Epoche’ muß der Zögling - das Kind - das tun, was ihm vorgeschrieben wird, da er noch nicht selbst in der Lage ist, zu urteilen. In der ‘negativen Epoche’ muß der Zögling - der Heranwachsende - das tun, was andere von ihm wollen, damit andere auch etwas für ihn tun (vgl. Päd Bd. XII, A 31). Deutlicher und detaillierter wird die Einteilung, wenn Kant seine "Erziehungslehre" in zwei Erziehungsabschnitte aufteilt: zum einen "in die "physische Erziehung" und zum anderen in die "praktische Erziehung"50. Die "physische Erziehung" ist die "erste Erziehung" (ebda. A 46 u. A 59/60) und die darauf folgende, die "praktische Erziehung", ist die "späteste" (ebda. A 37) oder ‘zweite’ Erziehung. Die "physische Erziehung", die mit der Geburt einsetzt, dauert bis etwa zum 11./12. Lebensjahr und geht von da in die "praktische Erziehung" des Heranwachsenden über, die bis ungefähr zum 16. Lebensjahr währt (vgl. ebda. A 31). Weiterhin besteht die Kantische Erziehungslehre aus drei Teilen "...1) aus der s c h o l a s t i s c h - m e c h a n i s c h e n Bildung, in Ansehung der Geschicklichkeit; […], 2) aus der p r a g m a t i s c h e n, in Ansehung der Klugheit […], 3) aus der m o r a l i s c h e n, in Ansehung der Sittlichkeit" (ebda. A35/36/ vgl. a. Kap. 4.4.2.2). Die scholastisch-mechanische Bildung übt der "Informator", d. i. der Lehrer, aus, die pragmatische führt der "Hofmeister", d. i. der Erzieher, durch und die moralische muß jeder einzelne selbst initieren51. Zurück zum Text In den beiden Kapiteln der "Abhandlung" (ebda. A 35 ff.) - "Von der physischen Erziehung" und "Von der praktischen Erziehung" - erläutert Kant den Aufbau seiner "Erziehungslehre" näher. Er lehnt sich dabei an die Definitionen an, die ich unter Kapitel 4.4.1.2 dargelegt habe. 4.4.5.1 Die "physische Erziehung" Die "physische Erziehung" (oder "die erste Erziehung") beginnt beim Säugling mit der "Verpflegung" (ebda. A 38), die Kant ja auch "Wartung" oder "Unterhaltung" nennt (vgl. ebda. A 6); darauf folgt beim Kleinkind und Kind die "Disziplin", auch die "Gemütsbildung" genannt (ebda. A 58). Diese beiden ersten Stufen der Erziehung gehören zur "negativen" (ebda. A 53) oder ‘natürlichen’ Erziehung, "....d. h. daß man nicht, über die Vorsorge der Natur, noch eine neue hinzutun müsse, sondern die Natur nur nicht stören dürfe" ( ebda. A 44/45). Die natürliche Entwicklung des Kindes soll nicht oder nur sehr wenig gestört werden. Für Kant ist es wichtig, "...daß die Disziplin nicht sklavisch sei" (ebda. A 58); das Kind solle immer seine eigene Freiheit fühlen, allerdings ohne die der anderen zu hindern; es müsse daher Widerstand finden. Er bemerkt später: "Brechung des Willens bringt sklavische Denkungsart, natürlicher Widerstand dagegen Lenksamkeit zuwege" (ebda. A 97). Durch die Disziplinierung soll das Kind in die Bereitschaft eingeübt werden, die es ihm später ermöglicht, den "Gesetzen" freiwillig Folge zu leisten. Im Zusammenhang mit diesen ersten Stufen der Erziehung spricht Kant auch von "harter Erziehung" (ebda. A 58) und "Abhärtung" (ebda. A 45 u. A 55), ohne dabei einer willkürlichen und autoritäten Erziehung das Wort zu reden. Ganz im Sinne der Philantropen ist er gegen eine "Verzärtelung" in der Erziehung. Auf diese beiden Stufen der "negativen" physischen Erziehung folgt der "... positive Teil der physischen Erziehung"; das ist die "K u l t u r" oder "Unterweisung (ebda. A 62 u. A 28). Sie teilt sich auf in die ‘Körpererziehung’, wozu die Übung und Bildung der Muskeln sowie der Sinne der Kinder durch Spiel und Sport gehören (vgl. ebda. A 64 ff.) und die "Kultur der Seele" (ebda. A 71), die Kant auch die "p h y s i s c h e Kultur des Geistes" (ebda. A 72) nennt. Die "p h y s i s c h e Kultur des Geistes" unterteilt sich in die ‘intellektuelle’ und die ‘moralische Bildung’. Sie kann sowohl "f r e i e" als auch "s c h o l a s t i s c h e" Kultur sein: frei, wenn sie ohne Zwang ist und dem "Spiele" und der "Muße" dient; scholastisch, wenn sie unter Zwang steht und der "Arbeit" dient (ebda. A 72/73). Die ‘intellektuelle Bildung’ dient der Schulung der "u n t e r n K r ä f t e des Verstandes", als da sind "die Kultur des Erkenntnisvermögens, der Sinne, der Einbildungskraft, des Gedächtnisses, der Stärke der Aufmerksamkeit, und des Witzes" (ebda. A 87) sowie der "o b e r n V e r s t a n d e s k r ä f t e" - das sind " die Kultur des Verstandes, der Urteilskraft und der Vernunft" (ebda. A 88). Untere und obere Verstandeskräfte sollen nicht einzeln, sondern nur in Beziehung aufeinander kultiviert werden (ebda. A 78). Die "moralische" Bildung oder Kultur umfaßt die Charakterbildung. Sie "...muß sich gründen auf Maximen, nicht auf Disziplin" (ebda. A 98). "Der Charakter besteht in der Fertigkeit, nach Maximen zu handeln" (ebda. A 100). So müssen das Kind und der Schüler sich nach vorgegebenen Regeln und Gesetzen ("Schulmaximen") gezwungenermaßen richten, sich gleichsam an ihnen üben und vorbereiten; später, als Jünglinge, sollen sie den Anordnungen freiwillig folgen und als Erwachsene, als "Bürger", geben sie sich selbst Gesetze ("Maximen der Menschheit"). Auf der Stufe der "moralischen" Bildung gilt es nach Kant besonders den "Gehorsam" (ebda. A 101 ff.), die "Wahrhaftigkeit" (ebda. A 107 ff.) und die "G e s e l l i g k e i t" (ebda. A. 109 ff.) bei den Kindern zu fördern und zu entwickeln. 4.4.5.2 Die "praktische Erziehung" Die "physische Erziehung" dient der Vorbereitung auf die "praktische Erziehung". Das wichtigste Ziel der "praktischen Erziehung" ist die Bildung einer sittlichen Persönlichkeit oder wie Kant schreibt: "die Gründung des Charakters". Eine sittliche Persönlichkeit ist ein Mensch, der frei handelt, sich selbst erhält, in der Gesellschaft ein Mitglied ist und für sich selbst einen inneren Wert hat (ebda. A 35). Ein solcher Mensch mäßigt seine Neigungen und Leidenschaften, kann Entbehrungen ertragen und ist fest in seinen Grundsätzen. Für Kant gehören zur "praktischen Erziehung": "1) Geschicklichkeit, 2) Weltklugheit, 3) Sittlichkeit" (ebda. A 112). Dies entspricht der Einteilung in 1) scholastisch-mechanische, 2) pragmatische, 3) moralische Bildung (vgl. Kap. 4.4.5). Die "Geschicklichkeit gehört für das Talent. […]. Die Weltklugheit für das Temperament. S i t t l i c h k e i t ist für den Charakter" (Päd Bd. XII, A 112-114). Kant teilt die "praktische Erziehung" in die "p r a g m a t i s c h e" und die "m o r a l i s c h e" ein (vgl. ebda. A 72). So gehören die "Geschicklichkeit" und die "Weltklugheit" zur "p r a g m a t i s c h e n" und die "Sittlichkeit" zur "m o r a l i s c h e n" Erziehung. Der Kern und das oberste Ziel der "praktischen Erziehung", die "Sittlichkeit", entfaltet Kant in der "Idee der Pflicht"52 (ebda. A 123). Er unterscheidet: "a) die Pflichten gegen sich selbst", d. i. die Bewahrung der "... Würde der Menschheit in seiner eigenen Person ...." (die innere Würde) und "b) Die Pflichten gegen andere. [Das sind B. K.] Die Ehrfurcht und Achtung für das Recht der Menschen" (ebda. A 118 ff.). Die Würde des Menschen, drückt sich in seiner Freiheit und in der Achtung der Freiheit der anderen aus. Das bedeutet für den Menschen, daß er das "Sittengesetz" achten und "aus Pflicht" handeln soll, auch gegen die Anfechtungen seiner Neigungen und Triebe, seiner Selbstliebe und Selbstsucht. "Aus Pflicht etwas tun heißt: der Vernunft gehorchen" (ebda. A 106). In seiner "Tugendlehre" schreibt Kant: "Es ist ihm [dem Menschen B. K.] Pflicht: sich aus der Rohigkeit seiner Natur, aus der Tierheit (quod actum), immer mehr zur Menschheit, durch die er allein fähig ist, sich Zwecke zu setzen, empor zu arbeiten: ..." (MST Bd. VIII, A 15). Das Kapitel "Von der praktischen Erziehung" endet mit der ‘religiösen Erziehung’, einigen Bemerkungen zur ‘Sexualerziehung’ und ‘Standeserziehung’ sowie letzten Maßregeln und Ermahnungen. Für den Abschluß des Kantischen Erziehungsmodells ist die ‘religiöse Erziehung’ von besonderer Wichtigkeit. Nach Kant soll die Moral der Theologie vorangehen. "Moralität muß also vorhergehen, die Theologie ihr dann folgen, und das heißt Religion" (Päd. Bd. XII, A 134). "Religion ist das Gesetz in uns; in so ferne es durch einen Gesetzgeber und Richter über uns Nachdruck erhält; sie ist eine auf die Erkenntnis Gottes angewandte Moral" (ebda. A 132). Daß der Mensch den Geboten Folge leistet, soll nach Einsicht der Vernunft geschehen und nicht, weil der allmächtige Gott es will. Erst wenn die göttlichen Geboten zu autonomen Geboten werden, besitzt der Mensch ein Gewissen. 4.4.5.3 Schematische Darstellung des Aufbaus von Erziehung Um eine vereinfachende Übersicht über das ‘Stufenmodell der Erziehung’ zu geben, möchte ich es wie folgt schematisch zusammenfassen53: PHYSISCHE ERZIEHUNG ‘erste’ Erziehung 1.) Verpflegung 2.) Disziplin 3.) Unterweisung (Kultur) "negative" physische Erziehung Erziehung "positive" physische Kultur des Leibes (Körpererziehung) Kultur der Seele/des Geistes Intellektuelle Bildung Moralische Bildung PRAKTISCHE ERZIEHUNG ‘zweite’ Erziehung 1.) Geschicklichkeit 4.) Religiösität 2.) Weltklugheit "p r a g m a t i s c h e" Erziehung Erziehung 3.) Sittlichkeit (oberstesZiel der Erziehung) "m o r a l i s c h e" 4.4.6 Transzendentalphilosophische Pädagogik oder Empirische Pädagogik 4.4.6.1 Die wissenschaftstheoretische Begründung der Erziehung 4.4.6.1.1 Die "Idee einer Erziehung" In der "Einleitung" der Schrift "Über Pädagogik" stehen die aus meiner Sicht zentralen Aussagen Kants zu einer wissenschaftstheoretischen Begründung der Pädagogik (ebda. A 9 - A 28). Eine wichtige Passage dort lautet: "Ein Entwurf zu einer Theorie der Erziehung ist ein herrliches Ideal, und es schadet nichts, wenn wir auch nicht gleich im Stande sind, es zu realisieren. […]. Eine Idee ist nichts anderes, als der Begriff von einer Vollkommenheit, die sich in der Erfahrung noch nicht vorfindet. Z. E. die Idee einer vollkommenen, nach Regeln der Gerechtigkeit regierten Republik! Ist sie deswegen unmöglich? Erst muß unsere Idee nur richtig sein, und dann ist sie bei allen Hindernissen, die ihrer Ausführung noch im Wege stehen, gar nicht unmöglich. Wenn z. E. ein jeder löge, wäre deshalb das Wahrreden eine bloße Grille? Und die Idee einer Erziehung, die alle Naturanlagen im Menschen entwickelt, ist allerdings wahrhaft" (ebda. A 9/10). Und ein Stück weiter bemerkt Kant, daß "...die Pädagogik ein Studium werden ..." und sie "... in Wissenschaft verwandelt werden ..." muß (ebda. A 17). Hier werden Begriffe verwandt, die grundlegend sind für Kants Verständnis von Wissenschaft. Ein sehr wichtiger Begriff ist "Idee"; aber auch "Ideal", "Wissenschaft" und "Zweck" sind zentrale Begriffe der Kantischen Philosophie. Ich möchte nun ihre Bedeutung und wechselseitige Bezogenheit darlegen. Zurück zum Text Der Verstand ordnet mittels Regeln ("Kategorien") und der "Urteilskraft" die vielfältigen Erscheinungen, die uns über die Sinne vermittelt werden; die Vernunft wiederum versucht, die Verstandesregeln unter Prinzipien ("Vernunftbegriffe") zu fassen. Die Vernunft erhebt sich vom "Felde der Erfahrungen" und schwingt sich allmählich "bis zu diesen erhabenen Ideen" hinauf (KrV Bd. IV, A 463), zu eben jener "Vollkommenheit, die sich in der Erfahrung noch nicht vorfindet" (Päd Bd. XII, A 10). Das "Ideal" entfernt sich noch weiter von der objektiven Realität als die "Idee". Kant illustriert dies anschaulich an einem Beispiel: "Tugend, und, mit ihr, menschliche Weisheit in ihrer ganzen Reinigkeit, sind Ideen. Aber der Weise (des Stoikers) ist ein Ideal, d. i. ein Mensch, der bloß in Gedanken existiert, der aber mit der Idee der Weisheit völlig kongruieret. So wie die Idee die R e g e l gibt, so dient das Ideal in solchem Falle zum U r b i l d e der durchgängigen Bestimmung des Nachbildes" Bd. IV, A 569). Kant nennt "das I d e a l […] worunter ich die Idee, nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding, verstehe" (ebda. A 568). "Idee" und "Ideal" gehören eng zusammen. Die "Idee" - ein abstraktes Gebilde, das dann "richtig" ist, wenn es sich widerspruchsfrei denken läßt bestimmt das "Ideal". Das "Ideal" ist im Gegensatz zur "Idee" konkreter, anschaulicher - ‘(vor)bildhaft’. In der Vorrede zu seiner Schrift "Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" (erschienen 1786) erläutert Kant seinen Wissenschaftsbegriff anhand der Naturwissenschaft. Er bemerkt: "Eine jede Lehre, wenn sie ein System, d. i. ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis sein soll, heißt Wissenschaft" (MAN Bd. IX, A IV). Kant unterscheidet die (Natur-)Wissenschaft in "eigentliche" und "uneigentliche" Wissenschaft. "E i g e n t l i c h e Wissenschaft kann nur diejenige genannt werden, deren Gewißheit apodiktisch [notwendig B. K.] ist; Erkenntnis, die bloß empirische Gewißheit enthalten kann, ist nur uneigentlich so genanntes W i s s e n" (ebda. A V). Die "e i g e n t l i c h e Wissenschaft" - oder der "r e i n e" Teil einer jeden Wissenschaft - befaßt sich nur mit den Prinzipien a priori von Erkenntnis. "E i g e n t l i c h e Wissenschaft" ist Metaphysik im kritischen Sinne (s. a. Kap. 3.2.1). Die "u n e i g e n l i c h e" Wissenschaft ist "a n g e w a n d t e Vernunfterkenntnis" nach Erfahrungsgesetzen (MAN Bd. IX, A V - VII). "Uneigentliche" Wissenschaft ist nicht apodiktisch, sondern kontingent, d. h. zufällig. So liegt der "reine" Teil der Wissenschaft dem empirischen Teil zu Grunde und ermöglicht ihn erst. Für Kant ist der systematische Aufbau von Erkenntnissen zu einem Ganzen nach a priorischen Prinzipien das maßgebliche Kriterium einer Wissenschaft. Er weist auch darauf hin, daß die Teile der Wissenschaft klar und deutlich voneinander abgetrennt sein sollen, um ein Ineinanderlaufen zu verhüten (vgl. ebda. A XIV). In der "Kritik der reinen Vernunft" bringt Kant die Begriffe "Wissenschaft", "Idee" und "Zweck" in einen Zusammenhang: "Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen so wohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird. Der szientifische Vernunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des Ganzen" (KrV Bd. IV, A 832). Die Idee einer Wissenschaft entspringt dem der Vernunft a priori aufgegeben Zweck. Der "Zweck" der Vernunft ist die "systematische Einheit" aller Erfahrungen und Erkenntnisse unter Ideen, d. i. Prinzipien. Die Prinzipien von Wissenschaft sind: 1. die Ermittlung des Gleichartigen unter dem Verschiedenen ("Homogenität"); 2. die Bestimmung der Verschiedenheiten unter dem Gleichartigen ("Spezifikation") und 3. Die Verbindung - das Zusammenwirken ("Kontinuität") von "Homogenität" und "Spezifikation" (ebda. A 657 ff.)54. Kant betont, daß niemand versuchen solle, eine Wissenschaft zu begründen, ohne daß er eine Idee zugrunde lege (vgl. ebda. A 833). Der Endzweck, so bemerkt Kant schließlich, "...ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral" (ebda. A 840). Und die "Moral" ist die "Wissenschaft", " ... die […] lehrt, nicht wie wir glücklich, sondern der Glückseligkeit würdig werden sollen" (Theorie Bd. XI, A 208/209). Die Begriffe "Idee", "Ideal", "Wissenschaft" und "Zweck ergänzen sich wechelseitig und ergeben erst in ihrer ‘systematischen’ Geschlossenheit die Kantische Wissenschaftstheorie. Die Begründung dieses ‘Systems‘ erfolgt a priorisch, d. h. transzendentalphilosophisch. Ich möchte die dargelegten Gedankengänge jetzt zusammenfassen und dabei auf die Pädagogik beziehen: Wissenschaft - und damit auch die Pädagogik als Wissenschaft - entspringt einer Idee und dieser liegt der a priorische Zweck der Vernunft, nämlich die "systematische Einheit" aller Erfahrungen und Erkenntnisse unter Ideen, d. i. Prinzipien, zugrunde. Der Endzweck einer Pädagogik "ist die ganze Bestimmung des Menschen"; und das ist "das Weltbeste und die Vollkommenheit" (Päd Bd. XII, A 18) ‘Vollkommen’ ist der Mensch erst als Vernunftwesen, das als "Zweck an sich" zu beliebigen - nur von ihm selbst gesetzten - Zwecken tauglich ist (vgl. WINKELS 1984, S. 60 ff.). Der moralische Endzweck, den sich Menschen setzen können, ist der des "höchsten Gutes" (s. a. Kap. 3.2.3.2.2), d. h. sich der Glückseligkeit als würdig erweisen. Die Idee entspringt aus diesem Endzweck. Kant bezeichnet sie als die "Idee einer Erziehung" (Päd Bd. XII, A 11), d. i. die vollkommene, proportionierliche und zweckmäßige Entwicklung aller Naturanlagen des Menschen und als die "Idee der Menschheit" (ebda. A 121), d. i. die Achtung der Würde des Menschen sowohl in der eigenen Person als auch in jeder anderen. Er formuliert daraus ein "Prinzip der Erziehungskunst […]: Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit [d. i. die Würde des Menschen B. K.], und deren ganzer Bestimmung [d. i. die vollkommene, proportionierliche und zweckmäßige Entwicklung aller Naturanlagen des Menschen B. K.] angemessen, erzogen werden" (ebda. A 17). Die "Idee einer Erziehung"55 und die "Idee der Menschheit"56 lassen sich in der Idee des "höchsten Guts" zusammenfassen: Die Führung eines sittlichen (d. h. tugendhaften) Lebens macht den Menschen würdig und begründet die Hoffnung, daß er seine Bestimmung auch erreicht und glückselig wird57. Diese Ideen sind "wahrhaft" (ebda. A 10). Das heißt, sie sind möglich, weil die praktische Vernunft genötigt ist, die Möglichkeit der Gegenstände dieser Ideen in der Wirklichkeit vorauszusetzen, damit es Sittlichkeit und Glückseligkeit, Tugend und Würde im menschlichen Leben überhaupt geben kann. Das Ideal der Erziehung deutet Kant an, wenn er schreibt, daß der Mensch ein "Original in seiner Idee" hat und sich damit vergleicht. Dieses "Original" ist die "Idee der Menschheit" (ebda. A 121). Im Zusammenhang mit seiner Geschichts- und Moralphilosophie läßt sich der mündige, gebildete und gesittete - aber auch nützliche - "Weltbürger" als Ideal ausmachen (vgl. a. "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" Bd. XI, A 385 ff.). 4.4.6.1.2 Der "Mechanismus in der Erziehungskunst" Der Pädagogik als Wissenschaft liegt eine Idee zugrunde! Kant schreibt aber auch: "Die Erziehung ist ein Kunst" (Päd Bd. XII, A 13), "...weil die Entwicklung der Naturanlagen bei dem Menschen nicht von selbst geschieht" (ebda. A 16). Der Weg zur Selbstbestimmung führt also erst einmal über die Fremdbestimmung (näheres dazu im Kap. 4.4.6.2). "Kunst" ist für Kant die "Geschicklichkeit des Menschen"; er unterscheidet sie von der "Natur", vom "Handwerk" und auch von der "Wissenschaft". "K u n s t als Geschicklichkeit des Menschen wird auch von der W i s s e n s c h a f t unterschieden (K ö n n e n vom W i s s e n), als praktisches vom theoretischen Vermögen, als Technik von der Theorie ..." (vgl. KU Bd. X, A 171-174). Mit dem Terminus "Erziehungskunst" stellt Kant den Bezug zur pädagogischen Praxis her. Etwas weiter schreibt er: "Der Ursprung sowohl, als der Fortgang dieser Kunst ist entweder m e c h a n i s c h, ohne Plan, nach gegebenen Umständen geordnet, oder j u d i z i ö s. Mechanisch entspringt die Erziehungskunst bloß bei vorkommenden Gelegenheiten, wo wir erfahren, ob etwas dem Menschen schädlich, oder nützlich sei. Alle Erziehungskunst, die bloß mechanisch entspringt, muß sehr viele Fehler und Mängel an sich tragen, weil sie keinen Plan zum Grunde hat. Die Erziehungskunst oder Pädagogik muß also judiziös werden, wenn sie die menschliche Natur so entwickeln soll, daß sie ihre Bestimmung erreiche. Schon erzogene Eltern sind Beispiele, nach denen sich die Kinder bilden, zur Nachachtung. Aber wenn diese besser werden sollen: so muß die Pädagogik ein Studium werden, sonst ist nichts von ihr zu hoffen, und ein in der Erziehung Verdorbener erzieht sonst den andern" (Päd Bd. XII, A 16/17). Erziehung soll planmäßig und systematisch verfahren. Eine Erziehung, die bloß "mechanisch" verfährt, kennt nicht ihren Gegenstand und ihr Ziel, sondern achtet nur auf den momentanen Nutzen oder Schaden des Menschen; sie verfährt planlos, da sie nicht die "Bestimmung" des Menschen als verbindlichen Zielpunkt vor Augen hat. Der "Plan" der Erziehung muß sich an der "Idee der Erziehung" orientieren. Der "Plan" enthält empirisch-pragmatische Aspekte, indem er - mit dem Ziel der Verbesserung der Praxis - für die jeweilige pädagogische Praxis entworfen, in ihr angewandt und an ihr überprüft wird. "Daher kann die Erziehung auch nur nach und nach einen Schritt vorwärts tun, und nur dadurch, daß eine Generation ihre Erfahrungen und Kenntnisse der folgenden überliefert, diese wieder etwas hinzu tut, und es so der folgenden übergibt, kann ein richtiger Begriff von der Erziehungsart entspringen" (ebda. A 14). Der "Begriff von der Erziehungsart" bedarf der "Erfahrungen" und "Kultur" der Generationen; allerdings nicht "ohne Plan nach gegebenen Umständen", sondern mit "Einsicht" und dem Ziel " ... eines zukünftig bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, .." (ebda. A 17). Kant schließt dann: "Der Mechanismus in der Erziehungskunst muß in Wissenschaft verwandelt werden, sonst wird sie nie ein zusammenhängendes Bestreben werden, und eine Generation möchte niederreißen, was die andere schon aufgebaut hätte" (ebda. A 17). So soll die "m e c h a n i s c h e" Erziehungkunst in "j u d i z i ö s e" Erziehungskunst, d. h. in eine planmäßig und systematisch verfahrende Wissenschaft überführt werden. Daß die auf Wissenschaft hin orientierte "Erziehungskunst" auch empirischanalytisch verfahren soll, wird aus folgendem Zitat Kants deutlich: "Man bildet sich zwar insgemein ein, daß Experimente bei der Erziehung nicht nötig wären, und daß man schon aus der Vernunft urteilen könne, ob etwas gut, oder nicht gut sein werde. Man irret hierin aber sehr, und die Erfahrung lehrt, daß sich oft bei unsern Versuchen ganz entgegengesetzte Würkungen zeigen von denen, die man erwartete. Man sieht also, daß, da es auf Experimente ankommt, kein Menschenalter einen Erziehungsplan darstellen kann" (ebda. A 26/27). Hier spricht Kant eine empirisch orientierte Pädagogik an: er fordert "Experimente bei der Erziehung" - und Experimente bedürfen der systematischen Beobachtung. Er erläutert die "Experimente bei der Erziehung" am Beispiel von "Normalschulen" und "Experimentalschulen". An den österreichischen "Normalschulen" werde in "blinden Mechanismus" nach einem rational entworfenen Erziehungs- und Unterrichtsplan erzogen und gelehrt. Am "Dessauischen Institut" als "einziger Experimentalschule" werde hingegen das Experiment in der Erziehung gewagt. Zwar seien auch dort viele Fehler gemacht worden - Kant weist auf Probleme einer empirischen verfahrenden Pädagogik hin, aber: "Erst muß man Experimentalschulen einrichten, ehe man Normalschulen errichten kann" (ebda. A 26/27). Nach dem bisher Ermittelten möchte ich zweierlei über die Kantische "Erziehungslehre" aussagen: die Begründung ihres Ursprungs, Zweckes und Zieles erfolgt transzendentalphilosophisch; ihre Vorgehensweise, ihre Methode, ist empirisch-analytisch orientiert. Oder: die ‘Theorie’ ist transzendentalphilosophisch und die ‘Praxis’ (die "Kunst") ist empirischpragmatisch. Wie lassen sich transzendentalphilosophische Begründung und empirisch-analytische Methode miteinander verknüpfen? 4.4.6.1.3 Die Verbindung von transzendentalphilosophischer Begründung und empirischer Methode In seiner Schrift "Über Pädagogik" gibt Kant im Zusammenhang mit dem eben erläuterten Beispiel von "Normalschulen" und "Experimentalschulen" einen Hinweis auf die Verbindung zwischen transzendentalphilosophischer Begründung und empirischer Vorgehensweise der Pädagogik. Er schreibt dort: "Die Erziehung und Unterweisung muß nicht bloß mechanisch sein, sondern auf Prinzipien beruhen" (ebda. A 26). Dies ist ein Hinweis auf die Transzendentalphilosophie, deren Aufgabe und Ziel in der Ermittlung und dem Aufweis von Prinzipien besteht (s. a.Kap. 3). Kant schreibt weiter: "Doch darf sie [die Erziehung B. K.] auch nicht bloß räsonierend, sondern gleich, in gewisser Weise, Mechanismus sein " (ebda. A 26); das bedeutet, sie muß praktisch werden. Der "Mechanismus" in der "Erziehungkunst", kann "ohne Plan", rein mechanisch ablaufen, oder mit Plan, "j u d i z i ö s", also auf die "Bestimmung" des Menschen hin orientiert sein. Beides geschieht in der erzieherischen Praxis58. Sofern der "Mechanismus" in "Wissenschaft verwandelt" wird, entspricht er - wie oben dargelegt - einer planmäßig und systematisch verfahrenden Pädagogik. Wie er diese Verbindung zwischen "Prinzipien" und "Experiment" - zwischen Transzendentalphilosphie und Empirie - ‘gewichtet’, das macht Kant in der "Vorrede zur zweiten Auflage" der "Kritik der reinen Vernunft" deutlich. So schreibt er dort: "Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien,nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt" (KrV Bd. III, B XIII). Die hier erfolgte Verknüpfung zwischen Prinzipien- und Erfahrungswissenschaft geschieht nach Maßgabe der Prinzipien: Experiment und Beobachtung dienen dazu, die zuvor von der Vernunft ermittelten Ideen und die daraus abgeleiteten Theorien zu beweisen. Das "Experiment" wird nach Vorgabe der Prinzipien ‘ausgedacht’. 4.4.6.1.4 Einschub: Kants Verständnis von Theorie und Praxis Die Verbindung zwischen Transzendentalphilosophie und empirisch verfahrender Pädagogik kommt - nach dem bisher Dargelegten - unter dem Primat der Transzendentalphilosophie zustande. Dieser Primat wird auch durch das Kantische ‘Theorie-Praxis-Verständis’ unterstützt. Kant spricht in seinen Vorlesungen über Pädagogik von einem "Entwurf zu einer Theorie der Erziehung" (Päd Bd. XII, A 9). Er unterscheidet in seiner Schrift "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" (erschienen 1793) die Theorie von der Praxis in folgender Weise: "Man nennt einen Inbegriff selbst von praktischen Regeln alsdann T h e o r i e , wenn diese Regeln, als Prinzipien, in einer gewissen Allgemeinheit gedacht werden, und dabei von einer Menge Bedingungen abstrahiert wird, die doch auf ihre Ausübung notwendig Einfluß haben. Umgekehrt, heißt nicht jede Hantierung, sondern nur diejenige Bewirkung eines Zwecks P r a x i s , welche als Befolgung gewisser im allgemeinen vorgestellten Prinzipien des Verfahrens gedacht wird" (Theorie Bd. XI, A 201). Kant unterscheidet im folgenden zwischen Theorien, welche nahe an den Gegenständen der Erfahrung sind - also ‘praxisnah’ verfahren, und solchen, deren Gegenstände nur Begriffe sind (Beispiel "Mathematik" und "Philosophie"). Er räumt ein, daß die letztgenannten Theorien " ... vielleicht ganz wohl und ohne Tadel (von Seiten der Vernunft) g e d a c h t , aber vielleicht gar nicht g e g e b e n werden können, sondern wohl bloß leere Ideen sein mögen, von denen in der Praxis entweder gar kein, oder sogar ein ihr nachteiliger Gebrauch gemacht werden würde" (ebda. A 204/205). Er hält die nur mit Begriffen verfahrenden Theorien trotzdem für die maßgebenden, denn allein in einer solchen Theorie, " ... welche auf dem P f l i c h t b e g r i f f gegründet ist, fällt die Besorgnis wegen der leeren Idealität dieses Begriffes ganz weg. Denn es würde nicht Pflicht sein, auf eine gewisse Wirkung unsers Willen auszugehen, wenn diese nicht auch in der Erfahrung (sie mag nun als vollendet, oder der Vollendung sich immer annäherend gedacht werden) möglich wäre; ..." (ebda. A 205). Die Betonung des Pflichtbegriffs macht deutlich, daß der hier verwendete Theoriebegriff beim Gebrauch der "praktischen Vernunft" Anwendung findet. So schreibt Kant ein paar Zeilen weiter: "Denn hier ist es um den Kanon der Vernunft (im Praktischen) zu tun, wo der Wert der Praxis gänzlich auf ihrer Angemessenheit zu der ihr unterlegten Theorie beruht, .." (Theorie Bd. XI, A 2061). 4.4.6.2 Das Stufenmodell der Erziehung Nach dem bisher in Kapitel 4.4 Erläuterten läßt sich Kants Erziehungsmodell kurz und prägnant in drei Entwicklungsstufen darlegen und zwar als ein Fortschreiten von der ‘natürlichen’ Stufe über die ‘kultivierte’ zur ‘vernünftigen’ Stufe. Der Mensch als Naturwesen - im "rohen Naturzustand" - muß "gezähmt" werden. Erst wenn er seiner "Wildheit" benommen ist, kann er ein Kultur-, Geschichts- und Zivilisationswesen werden, indem seine vielfältigen Fähigkeiten und Begabungen im Verbund mit anderen Menschen entwickelt, gefördert und zum gegenseitigen Nutzen eingesetzt werden. Das Ziel, die letzte Stufe der Entwicklung, ist die Moralität. Hier erst wird der Mensch durch seinen eigenen Entschluß zu einem sittlich handelnden Vernunftwesen. Den Gegensatz zwischen der Natur und der Kultur des Menschen, an dem Rousseau so nachdrücklich seine Pädagogik entwickelt, überwindet Kant durch die Vernunft des Menschen. 4.4.6.2.1 Die "physische Erziehung" als Fremderziehung Der größte Teil der Ausführungen Kants zur Pädagogik entsprechen den zeitgenössischen Gedanken der Aufklärungspädagogik; in weiten Teilen seiner Schrift erweist sich Kant als typischer Vertreter dieser Pädagogik - sei es bei seinen Bemerkungen zur "Gesundheitslehre der Aufklärung", zu der "Natürlichkeitspädagogik Rousseaus" oder zum "Fortschrittsglauben" der Epoche (vgl. KANT 1961, S. 7). Die Begriffe "Natur", "Naturanlagen", "Naturtrieb", "Keime" tauchen immer wieder in seiner Schrift auf. Seine Beispiele, die er besonders zur Beschreibung der "physischen Erziehung" einsetzt, sind sehr anschaulich und lebensnah; so erläutert er unter anderem die Vor- und Nachteile der "Muttermilch" (Päd Bd. XII, A 38 ff.) des "W i n d e l n s" (ebda. A 43 ff.), des "L e i t b a n d e s" und "G ä n g e l w a g e n s" (ebd. A 51 ff.), er erwähnt den Umgang mit den Schlaf- und Essenszeiten der Kinder (vgl. ebda. A 56 ff.), den Nutzen von Scheltworten und "Liebkosen" (vgl. ebda. A 59 ff.), die Anwendung von Sport (Laufen, Ringen, Springen), Spiel (Blindekuhspiel, Kreisel, Schaukel, Papierdrache) (vgl. ebda. A 65 ff.) und "Arbeit" (vgl. ebda. A 74 ff.) in der Erziehung und die Schädlichkeit des "Romanlesens" bei Kindern (vgl. ebda. A 81). Diese recht praktischen Erläuterungen und Anweisungen sind ganz im Sinne der realistisch orientierten Philantropen und ihres Erziehungsziels - der gesellschaftlichen Nützlichkeit - geschrieben. Der "Hofmeister", d. i. der Erzieher, benötigt diese Kenntnisse besonders bei der Erziehung von Kleinkindern und Kindern (vgl. ebda. A 38). Erziehung wird hier als "Mechanismus" - in heutigem Verständnis als ‘Erziehungstechnologie’ - aufgefaßt59. Kant bemerkt dazu einschränkend: "Der Mensch kann entweder bloß dressiert, abgerichtet, mechanisch unterwiesen, oder würklich aufgeklärt werden. Man dressiert Hunde, Pferde, und man kann auch Menschen dressieren. […]. Mit dem Dressieren aber ist es noch nicht ausgerichtet, sondern es kommt vorzüglich darauf an, daß Kinder d e n k e n lernen" (ebda. A 24). Zurück zum Text Die "physische Erziehung" ist Fremderziehung. Diese Form der Erziehung umfaßt gemeinhin das, was unter ‘Erziehung’ verstanden wird: daß Menschen und ihre gesellschaftlichen Institutionen - seien dies Eltern, Geschwister, Verwandte, Lehrer, Erzieher, Geistliche, Vorgesetzte, Freunde und Partner oder Kindergarten, Schule, Kirche, Verein, Betrieb und Armee - auf andere Menschen - in der Regel Kinder, Jugendliche, Auszubildende, aber auch Erwachsene - einen bewußten (geplanten) und/oder unbewußten (ungeplanten) Einfluß ausüben, um deren Einstellungen und Verhalten zu verändern60. Es geht dabei, damals wie heute - und da bildet Kants Schrift keine Ausnahme - um die Disziplinierung, die Kultivierung und Zivilisierung des Menschen durch den Menschen, damit er in die Gesellschaft eingefügt und in ihr ein nützliches Mitglied wird. Aber - und da weicht Kant vom gängigen Erziehungspradigma ab - seine "Erziehunglehre" geht weiter: sie fordert die geistige und moralische Selbständigkeit des Menschen: die sittliche Autonomie. 4.4.6.2.2 Die "praktische Erziehung" als Selbsterziehung Als Naturwesen ist der Mensch erziehungsbedürftig und erziehbar. Ebenso ist der Mensch als Vernunftwesen der Erziehung bedürftig. Aber ist er als Vernunftwesen auch erziehbar? Kann der Mensch von anderen Menschen zu einem Vernunftwesen erzogen werden? Mit seinen Gedanken zum dritten Punkt der "praktischen oder "moralischen" Erziehung - der "S i t t l i c h k e i t" (s. Kap. 4.4.5.3) - sprengt Kant den Rahmen der Aufklärungspädagogik sowie jeder rein empirisch orientierten Erziehung. Hier geschieht der Umbruch von der Fremd- zur Selbsterziehung - oder besser Selbstbildung. Kant geht im letzten Drittel seiner Schrift weniger auf die "Natur", sondern verstärkt auf die "Freiheit" des Menschen ein. Er betrachtet den Menschen als "Vernunftwesen", als "intelligiblen" Charakter. "Man muß aber Natur und Freiheit von einander unterscheiden. Der Freiheit Gesetze geben ist ganz etwas anderes, als die Natur bilden". Die "physische Erziehung" zielt auf die "Natur" ab, die "praktische Erziehung" auf die "Freiheit". So kann ein Mensch "...physisch sehr kultiviert sein; er kann einen sehr ausgebildeten Geist haben, aber dabei schlecht moralisch kultiviert, doch dabei ein böses Geschöpf sein" (ebda. A 71/72). Die Fremderziehung oder der Fremdzwang führt zu "pflichtgemäßen Handeln", zu einem lediglich legalen Handeln; erst die Selbstbildung oder der Selbstzwang führt zu einem Handeln "aus Pflicht": zu einem tugendhaften Handeln aus "Achtung fürs Gesetz" (vgl. GMS Bd. VII, BA 8 ff.). Die "moralische" Erziehung zielt nicht mehr auf das Machbare, auf das, was Erziehung aus einem Menschen machen kann, sondern auf das Mögliche, auf das, was der Mensch in freiem Selbstentschluß aus sich selbst machen kann und soll. Hier geht es nicht mehr um die gesellschaftliche Nutzbar- und Verfügbarkeit des Menschen, sondern um seine Sittlichkeit, um seine ‘Unverfügbarkeit’. Kant schreibt: "Ob aber der Mensch nun von Natur moralisch gut oder böse ist? Keines von beiden, denn er ist von Natur gar kein moralisches Wesen; er wird dieses nur, wenn seine Vernunft sich bis zu den Begriffen der Pflicht und des Gesetzes erhebt. […]. Er kann daher nur moralisch gut werden durch Tugend, also aus Selbstzwang, ..." (Päd Bd. XII, A 128). Und in seiner Schrift "Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft" bemerkt er ganz klar: "Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er s i c h s e l b s t machen, oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder m o r a l i s c h gut noch böse sein." (Religion Bd. VIII, A 45). Die böse Gesinnung, die der bösen Tat zu Grunde liegt, entspringt genau so einer freien Entscheidung des Menschen, wie die gute. Für Kant gibt es da keine Ausreden, seien es "... Unvermögen, Temperament, Erziehung, Umstände der Zeit und des Ortes, die in Versuchung führen, ..." (ebda. A 34). Der Mensch ist verantwortlich für seine Gesinnung, sie mag gut oder böse sein. Kant spricht von einer "R e v o l u t i o n in der Gesinnung" (ebda. A 50), einer "Umwandlung der Denkungsart", (ebda. A 52), um ein "neuer", ein ‘guter’ Mensch zu werden61. Ein ‘guter’ Mensch ist ein Mensch, der seine Neigungen, sie mögen noch so edel sein, nicht zu "Triebfedern" seiner Handlungen macht, sondern das "moralische Gesetz". In der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" bezeichnet Kant diesen ‘Akt der Selbstbildung’ auch als "Wiedergeburt" und "Explosion": "Der Mensch, der sich eines Charakters in seiner Denkungsart bewußt ist, hat ihn nicht von der Natur, sondern muß ihn jederzeit e r w o r b e n haben. Man kann auch annehmen: daß die Gründung desselben, gleich einer Art der Wiedergeburt, eine gewisse Feierlichkeit der Angelobung, die er sich selbst tut, sie und den Zeitpunkt, da diese Umwandlung in ihm vorging, gleich einer neuen Epoche, ihm unvergeßlich mache. - Erziehung, Beispiele und Belehrung können diese Festigkeit und Beharrlichkeit in Grundsätzen überhaupt n i c h t n a c h u n d n a c h , sondern nur gleichsam durch eine Explosion, die auf den Überdruß am schwankenden Zustande des Instinktes auf einmal erfolgt, bewirken" (AH Bd. XII, B 268/269). (Fremd-)Erziehung und ihre Methoden und Mittel können zwar sukzessive und kontrollierend auf diesen ‘Akt’ hinarbeiten - aber das reicht nicht aus, um ihn sicher zu bewirken, sondern er geschieht - wenn er überhaupt geschieht explosionsartig. Das heißt, aus Sicht der Pädagogik geschieht er unerwartet und unkontrolliert. KUNZ beschreibt ihn so: "Die Konzeption einer Explosion der Denkungsart, die ausbruchartig, von innen heraus, immer wieder erneuernd, also nicht als einmaliges Ereignis zur Verfestigung führend, erfolgt, hat ein Erziehungsverständnis zur Folge, das alle Menschen, unabhängig von ihrem Alter, zur Aufgabe der ständig zu erneuernden Selbstbildung auffordert" (KUNZ 1996, S. 264). 4.4.6.2.3 Pädagogik der "transzendentalen Freiheit" Mit dem Bereich der Selbstbildung erreicht Kant jene ‘Phase der Erziehung’, die sich jeder ‘direkten’ pädagogischen Einflußnahme, jeder Fremderziehung, entzieht. So ist für Kant zwar eine ‘indirekte’ Erziehung zur Sittlichkeit durch "Beispiele und Anordnungen" (Päd Bd. XII, A 118) - er bemerkt: " ... denn hier [bezogen auf die Eltern B. K.], wie überall, ist das Beispiel allmächtig, und befestigt oder vernichtet die gute Lehre." (ebda. A 112) - und durch einen "Katechismus des Rechts" (ebda. A 122) möglich und auch hilfreich, aber zu einem sittlichen Menschen gereicht sie nicht hin62. Ein ‘guter’ Mensch kann der Mensch nur durch freien Entschluß zum Guten, durch "eine Umwandlung der Denkungsart", werden. Die Selbstbildung - die "Selbstermächtigung" (DICKOPP 1983, S. 31) - entzieht sich dem empirischen Zugriff63. Dieser Bereich läßt sich nur transzendental begründen und rechtfertigen. Mittels des "transzendentalen Freiheitsbegriffs" (vgl. WINKELS 1984, S. 10 u. NIETHAMMER 1980, S. 11) läßt sich Selbstbildung und damit Sittlichkeit begründen. Obwohl er diese Begründung in seiner Schrift "Über Pädagogik" nicht näher ausführt, liegt sie seinen pädagogischen Gedanken zu Grunde; sie kann daher aus anderen Schriften Kants geschlossen werden (vor allem der "Grundlegung der Metaphysik der Sitten"). Die Idee der "Freiheit" ist zentral für die transzendentalphilosophische Begründung der Erziehung: Der Mensch soll das "Sittengesetz" achten und sich nach Maßgabe des "Kategorischen Imperativs" seine Lebensgrundsätze (Maximen) setzen. Weil er trotz der Anfechtungen seiner Neigungen und Triebe seine Pflicht aus Achtung vor dem Sittengesetz tun soll, muß er es auch können. "Denn, ungeachtet jenes Abfalls [in das Böse B. K.], erschallt doch das Gebot: wir s o l l e n bessere Menschen werden, unvermindert in unserer Seele; folglich müssen wir es auch können, .." (Religion Bd. VIII, A 46). Und der Mensch kann dies, weil er frei ist! Freiheit ist die Bedingung der Möglichkeit, damit sich jeder Mensch Maximen nach Maßgabe des "Kategorischen Imperativs" setzen kann. Ohne Freiheit ist ein Achten des Sittengesetzes nicht möglich. In der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" schreibt Kant: "Nun behaupte ich: daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle. Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d. i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat. Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdenn würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe, die Bestimmung der Urteilskraft zuschreiben. Sie muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden; d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein, und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden" (GMS Bd. VII, BA 101). Die Entscheidung für das "moralische Gesetz" ist ein Akt der "transzendentalen Freiheit" (NIETHAMMER 1980, S. 76). Der ‘gute’ Mensch ist gleichzeitig auch der ‘freie’ Mensch. Ohne Freiheit ist keine Sittlichkeit, keine gute Gesinnung möglich. Da Sittlichkeit das oberste Ziel der Erziehung der ‘regulative’ Zielpunkt - ist, ist ohne Freiheit auch keine Erziehung im Kantischen Sinne möglich. Die "Erziehungslehre" bedarf der Idee der "Freiheit" als Bedingung ihrer Möglichkeit. Mit einer Pädagogik, die sich auf die "transzendentale Freiheit" gründet, hat Kant viele namhafte Kritiker gefunden (vgl. NIETHAMMER 1980, S. 84 ff.). Umgekehrt ist eine transzendentalphilosophische Begründung der "Erziehungslehre" in Kants Schrift "Über Pädagogik" vermißt worden (vgl. ebda. S. 81 ff.). Beide Kritikstandpunkte sind durchaus nachvollziehbar: die Selbstbildung bzw. "-ermächtigung" durch den Akt der "transzendentalen Freiheit" entzieht sich jeder direkten erzieherischen Einflußnahme auf die Genese des Menschen; "Umwandlung der Denkungsart", "Wiedergeburt" und "Explosion" sind Bezeichnungen, die sich den Vorwurf der Realitätsferne gefallen lassen müssen. Ebensowenig läßt sich eine Begründung der "transzendentalen Freiheit" aus Kants pädagogischer Schrift eindeutig nachweisen. Erst durch die Hinzuziehung seiner weiteren Schriften - besonders die der kritischen praktischen Philosophie - ist dies in einem gewissen Maße möglich. Kapitel 5: Fazit und Ausblick Abgesehen von der unsicheren Quellenlage (vgl. Kap. 4.2.4) hat Kant die Begründung einer Pädagogik als Wissenschaft in seiner Schrift "Über Pädagogik" nicht detailliert und schlüssig ausgeführt, sondern nur skizzenhaft angelegt. Die Bemerkungen zu einer wissenschaftlichen Grundlegung der Pädagogik sind nicht sehr ausführlich64. Kant weist in seinen erkenntnistheoretischen Schriften immer wieder auf den empirischen und den reinen (a priorischen) Teil der Wissenschaften hin. Er unterscheidet in seiner Schrift "Über Pädagogik" allerdings nicht klar und deutlich zwischen dem empirischen Teil (der "Erziehungskunst") und dem reinen Teil der Pädagogik (der "Idee der Erziehung" und der "Idee der Menschheit"). So war für mich nicht immer deutlich, wo Kant ganz im Sinne der Aufklärungspädagogik, also empirisch, verfährt oder wo er a priorisch, also ‘prinzipiell’ argumentiert. Durch den Rückgriff auf Teile seiner kritischen Werke habe ich versucht, sowohl die Scheidung zwischen Empirischem und Transzendentalem als auch deren notwendige Verbindung klarer zu akzentuieren, als es die Schrift selber leistet. Für Kant ist der Entwurf eines wissenschaftlichen Gesamtsystems und dessen konsistente Begründung und Legitimation durch eine umfassende und rücksichtslose Kritik, die sich auf die a priorischen Bedingungen jeder Erkenntnis und Erfahrung gründet, die Aufgabe seines der Philosophie verpflichteten Denkens gewesen. Die Pädagogik findet bei ihm ihren Platz in einem weiten Begründungzusammenhang, der vor allem von Erkenntnistheorie und Metaphysik, von Ethik, Anthropologie und Religion, von Geschichte und Politik bestimmt wird. In seinem transzendentalphilosophisch bestimmten und begründeten ‘Wissenschaftskosmos’ nehmen die empirisch verfahrenden Wissenschaften keinen minderwertigen Platz ein oder werden gar aus ihm verdrängt. Gerade die "Kritik der reinen Vernunft" macht deutlich: Kant war kein ‘Verächter’ der Empirie! Jegliche Wissenschaft ist notwendigerweise auf sie angewiesen. Der erste Satz der "Einleitung" zu seiner "Kritik der reinen Vernunft" lautet: "Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; […] D e r Z e i t n a c h geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an" (KrV Bd. III, B 1). So enthält auch seine Schrift "Über Pädagogik" zum größten Teil ‘Erfahrungen’ (s. Kap. 4.4.6.2.1). Erziehung beginnt - wie jede Erkenntnis - mit der Erfahrung. Dabei bleibt Kant allerdings nicht stehen: "Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle a u s der Erfahrung" (KrV Bd. III, B 2). Wenn Erziehung nicht nur bei der Erfahrung - bei der oftmals ‘blinden’, der Gewohnheit und dem Nutzen gehorchenden "Mechanik" - stehen bleiben will, muß sie Prinzipien ermitteln. "Denn wo wollte selbst Erfahrung ihre Gewißheit hernehmen, wenn alle Regeln, nach denen sie fortgeht, immer wieder empirisch, mithin zufällig [d. h. nur ausgerichtet an den jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Anforderungen und Gewohnheiten B. K.] wären; daher man diese schwerlich für erste Grundsätze gelten lassen kann" (ebda. B 5). Kant verbindet in seinem Wissenschaftsverständis Empirie und Rationalismus, Erfahrung und Prinzip; ebenso verfährt er auch bei der Pädagogik. Ich möchte diese Notwendigkeit der Verbindung einmal mit Kantischen Worten beschreiben: ‘Die Erziehungspraxis ohne Prinzipien und darauf zurückgehende Normen und Werte ist blind’. ‘Die Prinzipien ohne die erzieherische Praxis sind leer’. "Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen" (ebda. A 51). Erst diese Vereinigung, diese Wechselbeziehung, zwischen Erfahrung und Prinzipien, zwischen der empirisch verfahrenden Praxis und der transzendentalphilosophisch begründeten Theorie, ermöglicht Erkenntnis und stößt den Fortschritt der Menschheit immer wieder an. Die Einordnung des pädagogischen Ansatzes Kants zwischen der zeitgenössischen Aufklärungspädagogik und seiner Transzendentalphilosophie ist deutlich der Transzendentalphilosophie zugeneigt. Es ist auffällig, daß die Verbindung zwischen der Pädagogik als Erfahrungswissenschaft und der Pädagogik als Prinzipienwissenschaft stark auf die ‘prinzipielle’ Begründung hin orientiert ist. Für das Kantische Wissenschaftsverständnis ist es grundlegend - ich habe wiederholt darauf hingewiesen (vgl. Kap. 3 u. Kap. 4.4.6.1.) - daß die Erfahrung auf die von der Vernunft hervorgebrachten Prinzipien ausgerichtet ist, da " ... die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, […] und die Natur nötigt […], auf ihre Fragen zu antworten, .." (ebda. B XIII). Die Vernunft unterstellt mittels der von ihr "hervorgebrachten Prinzipien", "als ob" die Erfahrung nach ihnen verfahre. Die von Kant so häufig gebrauchten Begriffe "Ziel", "Zweck" und "Absicht" die er zur Klärung seiner Wissenschaftstheorie heranzieht ( s. Kap. 4.4.6.1.1) basieren nicht auf Erfahrung: Sie sind nicht aus der Natur ‘entlehnt’, sondern sie sind Annahmen der Vernunft. Auch die Idee der "Freiheit", die die ermöglichende Bedingung für Erziehung und deren Ziel ist, nämlich selbstbestimmtes sittliches Handeln, ist eine Annahme, die nicht durch Erfahrung bewiesen werden kann. Eine solches Wissenschaftsverständnis enthält ‘konstruktivistische’ Elemente. Ohne Kant nun als einen ‘Stammvater des Konstruktivismus’ hinstellen zu wollen, möchte ich zum Abschluß Elemente seines transzendentalphilosophischen Wissenschaftsverständnis ‘konstruktivistisch’ gewendet aufgreifen und einen Blick auf eine aktuelle pädagogische Diskussion werfen (vgl. WERNING 1998, S. 39-41). Nach konstruktivistischer Auffassung " ... sind Individuen durch folgende grundlegende Merkmale gekennzeichnet: Sie sind strukturdeterminiert, selbstreferentiell und nicht-trivial". "Strukturdeterminiert" sind Individuen, weil die subjektiv vorgegebene Struktur ihres Erfahrungs- und Erkenntnisvermögens, die Konstruktion von Erfahrungen und Erkenntnisse allererst ermöglicht; "... die interne Struktur der Person bestimmt ..." (ebda. S. 40) die Wirklichkeit. "Selbstreferentiell" sind Individuen, " .. weil jede ihrer Handlungen auf ihre Struktur zurückwirkt und diese bestätigen oder verändern kann" (ebda. S. 40). Das Individuum ist für jede "Wirklichkeitskonstruktion" verantwortlich; es entwirft sie ‘autonom’. Und Personen sind "nicht-triviale Organismen", das heißt, sie " ... sind durch Geschichtlichkeit und strukturelle Dynamik gekennzeichnet" (ebda. S. 40); was bedeutet: sie sind nicht nur festgelegt auf die ‘Kausalität aus Naturgesetzen’. Für das aktuelle pädagogische Denken bedeutet dies: "Vielfalt zulassen, entwickeln und unterstützen, Entscheidungen verantworten" (ebda. S. 41); und ganz konkret: das Öffnen von Schule, Unterricht und Erziehung für die Vielfalt von "Wirklichkeitskonstruktionen". Die Pädagogik muß eine Wissenschaft werden! Das ist die zentrale Forderung Kants. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert sind vielfältige Versuche unternommen worden, die Pädagogik als eine eigenständige Wissenschaft zu begründen. Kants Schrift "Über Pädagogik" ist einer der ersten Versuche und zeigt schon deutlich die beiden wissenschaftstheoretischen ‘Eckpunkte’: Prinzipienwissenschaft (seine Transzendental-philosophie) und Erfahrungswissenschaft (die zeitgenössische Aufklärungspädagogik). Eingespannt zwischen Prinzipienwissenschaft (der Philosophie) und Erfahrungswissenschaft (Anthropologie, Psychologie, Soziologie, ....) bemühen sich seither die verschiedenen pädagogischen Ansätze um Begründung und Legitimation. Kant versucht das Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Empirie zugunsten der Philosophie - der Transzendentalphilosophie - aufzulösen. LITERATURVERZEICHNIS ARISTOTELES (1984): Metaphysik. Stuttgart. Reclam BAUMANNS, Peter (1989): Die Ethik Kants. Hagen (=Studienbrief 3309) BAUMGARTNER, Hans Michael (1984): Anleitung zur Lektüre: Kant, »Kritik der reinen Vernunft«. Hagen (=Studienbrief 3306) BALLAUF, Theodor (1981): Pädagogik. Eine Geschichte der Bildung und Erziehung. Bd. II. Freiburg BASEDOW, Johann B. (1979): Das Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker. Vaduz/Liechtenstein BECKMANN, Jan P. (1983): Einführung in die allgemeine Metaphysik. Hagen (=Studienbrief 3314-8-02) BLANKERTZ, Herwig (1981): Geschichte der Pädagogik. Hagen (=Studienbrief 3076) BREZINKA, Wolfgang (1971):Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. Weinheim BREZINKA, Wolfgang (1997): Moralerziehung in einer pluralistischen Gesellschaft. In: TREML Alfred K. (Hrsg.): Natur der Moral? Edition ethik kontrovers 5 (1997) CAVALLAR Georg (1996): Die Kultivierung von Freiheit trotz Zwang (Kant). In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik (72. Jg) (1/96) S. 87-95 DICKOPP, Karl-Heinz (1983): Einführung in die pädagogische Theoriebildung. Hagen (= Studienbrief 3003) FUNKE, Gerhard (1979): Von der Aktualität Kants. Bonn GRAZ, Detlef: (1989): Paradigmenschwund und Krisenbewußtsein. Zum gegenwärtigen Stand erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung. In: Pädagogische Rundschau(43) (1989) S. 17-35 GUDJONS, Herbert, TESKE, Rita und Rainer WINKEL (Hg.) (1991): Erziehungswissenschaftliche Theorien. Hamburg HEITGER, Marian (1989): Normative Pädagogik - Recht und Grenze. In: Pädagogische Rundschau (44) (1989) S. 515-526 HEITGER, Marian (1985): Normkritik und Normbegründung in transzendental philosophischer Sicht. In: PLEINES, Jürgen Eckhardt (Hg.) (1985): Kant und die Pädagogik. Würzburg HERRMANN, Ulrich (Hg.) (1981): "Das pädagogische Jahrhundert" Weinheim; Basel HOBMAIR, Hermann (Hg.) (1989): Pädagogik. Köln HÖFFE, Ottfried (1983): Immanuel Kant. München HOFFMEISTER, Johannes (Hg.) (1955): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg HOLZ, Harald (1973): Einführung in die Transzendentalphilosophie. Darmstadt HORKHEIMER, Max (1974): Kant und die Wissenschaften. In: KOPPER, Joachim und Rudolf MALTER (Hg.) (1974): Immanuel Kant zu ehren. Frankfurt a. M. 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Kants Stellung zum Wert utopischen Denkens. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik. (51. Jg.) (1975) S. 19-36 NIETHAMMER, Arnolf (1980): Kants Vorlesung über Pädagogik. Frankfurt a. M. NIETHAMMER, Lutz (1984): Einführungskurs in die neuere Geschichte. Hagen (=Studienbrief 4111/3/01) PETZELT, Alfred (1957): Pädagogik als Wissenschaft. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik (33. Jg.) (1957) S. 233-241 RATKE, Heinrich (1991): Systematisches Handlexikon zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Hamburg RITZEL, Wolfgang (1964): Kant und die Pädagogik. In: Pädagogische Rundschau (1964) S. 153-167 RITZEL, Wolfgang (1985): Wie ist Pädagogik als Wissenschaft möglich? In: PLEINES, Jürgen-Eckardt (Hg.) (1985): Kant und die Pädagogik. Würzburg ROUSSEAU, Jean-Jacques (1995): Emil oder über die Erziehung. Paderborn RUHLOFF, Jörg (1985): Pädagogik ohne praktisch-philosophisches Fundament? In: PLEINES, Jürgen-Eckardt (Hg.) (1985): Kant und die Pädagogik. 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München WULF, Christoph (1977): Theorien und Konzepte der Erziehungswissenschaft. München WULF, Christoph (Hg.) (1989): Wörterbuch der Erziehung. München 1 Die in dieser Arbeit mit doppelten Anführungszeichen ("...") versehenen Worte und Sätze stammen von bestimmten Autoren, auf die ich jeweils hinweisen werde. Mit dem Gebrauch von einfachen Einführungszeichen (‘...’) möchte ich ein mir wichtig erscheinendes Wort oder einen Begriff hervorheben. 2 Beim Verfassen der Arbeit war ich sowohl als Erzieher in einem katholischen Kinderhort tätig (das Alter der von mir betreuten Kinder lag zwischen sechs und zwölf Jahren) als auch als Sozialhelfer in einer von einem christlichen Orden getragenen Notschlafstelle für Drogenabhängige (die Gäste sind Erwachsene vom 18. Lebensjahr an aufwärts). 3 In der griechischen Antike wurden nur die Knaben der "Freien" (Adlige, wohlhabende Bürger) von Lehrern erzogen und unterrichtet. 4 Das durch die jeweiligen historischen und sozio-ökonomischen Bedingungen beeinflußte und bestimmte Umfeld mit den darin agierenden Menschen. Hierbei bestimmt sich die "Erziehungswirklichkeit" (oder das "Erziehungsfeld") maßgeblich durch die wechselseitigen Bezüge und Prozesse zwischen Educandus, Erzieher, dem Erziehungsinhalt (Vermittlungsobjekt), der Situation und den verschiedenen Relationen (vgl. TSCHAMLER 1983, S. 94-96) 5 Unter den "drei Hauptsträngen" versteht der Autor die Geisteswissenschaftliche Pädagogik, die erfahrungswissenschaftliche Pädagogik (oder Pädagogik des Kritischen Rationalismus) und die gesellschaftskritische Erziehungswissenschaft (oder Pädagogik der Kritischen Theorie). Die normative bzw. prinzipienwissenschaftliche Pädagogik erwähnt er nicht (ebda. S. 17). 6 Die genannten Aspekte erscheinen mir beachtenswert, zeigen sie doch, wie sehr eine theoretische Betrachtung der Dinge auch eine ‘innere, geistige Schau’ ist. Wichtig für das moderne Wissenschaftsverständnis ist allerdings die intersubjektive Überprüfung der durch ‘innere, geistige Schau’ gewonnenen Theorien. 7 Die hermeneutische Methode zeichnet sich durch den Versuch aus, das menschliche Dasein aus seinen geschichtlichen, sozio-kulturellen und individuellen Faktoren heraus zu interpretieren, zu ‘verstehen’. Dabei wird davon ausgegangen, daß der Forscher " ...immer schon über bestimmte Vermutungen, Thesen, Hypothesen .." (RUPRECHT 1974, S. 9) verfügt, die sein Erkenntnisinteresse bestimmen und mit denen er an den Forschungsgegenstand herantritt ("hermeneutischer Zirkel"). Die ‘Verstehensbemühungen’ um den Kantischen Text in dieser Arbeit stehen der hermeneutische Methode nahe. 8 Im Laufe unseres Jahrhunderts haben sich noch weitere pädagogische Ansätze herausgebildet. Es gibt daher heute eine Vielfalt von Modellen. Ich bin der Meinung, daß sich jeder pädagogische Ansatz - er sei nun empirischanalytisch, transzendentalphilosophisch, dialektisch-hermeneutisch, konstruktiv-normativ, phänomenologisch-deskriptiv, marxistisch-lenistisch, ... - auf einer ‘Geraden’, deren Endpunkte durch das empirische und das normative Paradigma bestimmt sind, einordnen läßt. 9 So schreibt Brezinka in einem neueren Aufsatz: "Wenn man mit dem Wort »Erziehung« - wie üblich - Handlungen und Handlungssysteme meint, dann sind erzieherische Handlungen grundsätzlich Mittel zu Zwecken (BREZINKA 1997, S. 42). 10 Gerade die neuen Ansätze in der Medienpädagogik orientieren sich an konstruktivistischen Modellen. 11 Das sog. "Zeitalter des Barock" war politisch durch den Absolutismus, wirtschaftlich durch den Merkantilismus und philosophisch durch die rationale Philosophie (verstanden als Metaphysik) bestimmt. 12 Das war vor allem die "neue Philosophie", die besonders die Mathematik und Naturwissenschaften sowie die Autonomie der Vernunft in den Vordergrund stellte, im Gegensatz zur aristotelischen-scholastischen Philosophie, die im Repetieren und Dogmatischen erstarrt war. 13 Der moderne (aufgeklärte) Absolutismus und der Merkantilismus waren im 18. Jahrhundert die bestimmende Staats- und Wirtschaftsform; eine Industrialisierung mit Ansätzen zu einer starken Massenverelendung war in Deutschland noch nicht zuerkennen; der Staat wurde als vernünftige Anstalt zur Sicherung des allgemeinen Wohls verstanden und vernünftige, nützliche Bürger als die besten Garanten für den Wohlfahrtsstaat angesehen. 14 Der Pietismus steht in einer gewissen Nähe zur calvinistischen Prädestinatinslehre, wonach in der Art der Lebensführung, die göttliche Gnadenwahl bestätigt werden kann (vgl. BLANKERTZ 1981 S. 66 ff.). 15 Das in Dessau im Jahre 1774 gegründete Philantropin, gleichermaßen eine Anstalt zur Erziehung von Heranwachsenden und Stätte zur Ausbildung einer Generation von ‘neuen’ Lehrern, wurde von den Zeitgenossen recht unterschiedlich beurteilt. Es verschließ etliche Kura- toren und Lehrer. Großer Enthusiasmus stand neben schroffer Ablehnung. Die stellenweise negative Beurteilung, häufige finanzielle Schwierigkeiten und teilweise zu geringe Schülerzahlen führten im Jahre 1793 - fast unbemerkt von der Öffentlichkeit - zur Schließung des Philantropins. Für mich als ‘Erzieher’ ist es interessant zu wissen und darauf hinzuweisen, daß Basedow als einer der ersten neben dem Lehrer den "Educator" fordert, der die "moralische Erziehung" vorzunehmen hat (s. BASEDOW 1979, S. 111/112). Der Lehrer hat allerdings nach wie vor im öffentlichen Bewußtsein seine Stellung sowohl als ‘Unterrichter’ als auch ‘Erzieher’ behalten. 16 Nach der Elementarmethode soll in der Erziehung vom Leichten zum Schweren und vom Nahen zum Fernen fortgeschritten werden. 17 Campe wirkte am Dessauischen Philantropin und am Braunschweiger "Schuldirektorium"; er verfaßte umfangreiche Literatur zum Philantropismus (auch Kinderbücher) und war Herausgeber (z. B. des 16bändigen "Revisionswerkes") und Verleger. Im Alter betätigte er sich als Linguist und schrieb das "Wörterbuch der Deutschen Sprache". 18 Das von Campe 1785 - 1792 in 16 Bänden herausgegebene Revisionswerk "Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens" zeigt dieses Bemühen um fachliche Rezeption. 19 Ernst Chr. Trapp war von 1779 - 1783 erster Lehrstuhlhaber für Pädagogik an der Universität in Halle; er fordert in seiner Schrift auch die Anfertigung von Beobachtungsprotokollen. 20 In dieser Arbeit habe ich die zwölfbändige suhrkamp Taschenbuchausgabe von W. Weischedel, Hrsg., Kants Werke, verwendet. Alle Schriften werden nach den Seitenangaben der ersten (A) bzw. späterer Auflagen zitiert. Die Taschenbuchausgabe ist textund seitengleich mit der Theorie-Werkausgabe Immanuel Kant, Frankfurt 1968, hrsg. von W. Weischedel Ich gebrauche folgende Abkürzungen: AH = Anthroplogie in pragmatischer Hinsicht GMS = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Idee Absicht = Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher KpV = Kritik der praktischen Vernunft KrV = Kritik der reinen Vernunft KU = Kritik der Urteilskraft MAN = Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft MST = Metaphysik der Sitten in zwei Teilen: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre MSR = Metaphysik der Sitten in zwei Teilen: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre Päd = Über Pädagogik Rel = Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft Streit = Der Streit der Fakultäten Theorie = Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis Päd Bd. XII, A 8 u. 9, A 27, A 64/65 bedeutet also: Kant, Über Pädagogik, Seite 8 u. 9, 27 und 64/65 der ersten Auflage. 21 Was setze ich beispielsweise in dem Urteil ’Das ist ein Baum‘ stillschweigend voraus? Welche Bedingungen muß ich voraussetzen, um diesen Satz mit dem Anspruch, daß er wahr ist, zu behaupten? 22 Die dominierende Metaphysik war die sogenannte "Schulmetaphysik". Sie ist eng mit Namen des Philosophen und Mathematikers Christian Wolff (16791754) verknüpft. Diese Art der Metaphysik geht davon aus, daß die Dinge der Welt rational strukturiert und daher von Vernunft zu erfassen sind. Dabei nimmt die "Schulmetaphysik" vor allem mathematisch- logische Methoden zu Hilfe und gelangt so zu normativ-dogmatischen Sätzen über die Wirklichkeit. 23 Ein ‘transzendenter’ Gebrauch von Begriffen übersteigt die Grenzen jeder möglichen Erfahrung und damit auch jeder Erkenntnis. Es ist zwar möglich Begriffe wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu denken, aber es ist keine Erkenntnis von ihnen möglich, da es zu diesen Begriffen keine sinnliche Anschauung gibt. Ein ‘transzendentes’ Philosophieren übersteigt die engen Grenzen sicherer Erkenntnis und betritt den Bereich des Glaubens (vgl. Kap.3.2.2 ff.). 24 "...so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse" (KrV Bd. III, B XIII). 25 Die ‘Skeptiker’ gehen davon aus, daß nur die erfahrbaren Einzeldinge und Sachverhalte erkennbar und metaphysische Sätze, da nicht erfahrbar, reine Spekulation sind. 26 Objektive Erkenntnis ist nach Kant a priorische Erkenntnis; sie muß zwei Kriterien erfüllen: strenge Notwendigkeit, das heißt, etwas kann nicht anders sein als es ist und uneingeschränkte Allgemeinheit, das heißt, eine Ausnahme ist unmöglich (vgl. KrV Bd. III, B 4). 27 In seinem erkenntnistheoretischen Grundlagenwerk "Die Kritik der reinen Vernunft" erläutert Kant die "reinen Anschauungsformen" in dem Kapitel über die "transzendentale Ästhetik" und die "reinen Verstandesbegriffe" in dem Kapitel über die "transzendentale Analytik". 28 Für die Synthese von Anschauung und Denken führt Kant noch weitere Vermögen ein, die ich - ohne sie jetzt zu erklären - der Vollständigkeit halber kurz benennen möchte: die Urteilskraft, die Einbildungskraft, die Apprehension (d. i. die Zusammensetzung des Wahrnehmungsmaterials). 29 Kant spricht von dieser a priorischen Bedingung auch als von der "r e i n e n" oder " t r a n s z e n d e n t a l e n A p p e r z e p t i o n". "Nun können keine Erkenntnisse in uns stattfinden, keine Verknüpfung und Einheit derselben untereinander, ohne diejenige Einheit des Bewußtseins, welche vor allen Datis der Anschauungen vorhergeht und worauf in Beziehung alle Vorstellung von Gegenständen allein möglich ist. Dieses reine, ursprüngliche, unwandelbare Bewußtsein will ich nun die t r a n s z e n d e n t a l e A p p e r z e p t i o n nennen" (KrV Bd. III, A 107). 30 Das Kapitel "Die transzendentale Dialektik" in der "Kritik der reinen Vernunft" behandelt die Vernunft und die Ideen. 31 Ideen sind keine realen Tatbestände; realisierbar ist lediglich der Anspruch der Ideen, leitendes Prinzip bei allen theoretischen und praktischen Bemühungen des Menschen zu sein. 32 Für die folgenden Ausführungen ist besonders der II. Teil der "Kritik der reinen Vernunft" wichtig: die "Transzendentale Methodenlehre" (KrV Bd. IV, A 707-856) 33 Unter "E t h i k" versteht Kant die "S i t t e n l e h r e" . Das ist die " ... Lehre von den Pflichten, die nicht unter äußeren Gesetzen stehen, ...". Kant nennt diese auch "T u g e n d - l e h r e" (MST Bd. VIII, A1). Sofern die Pflichten unter "äußeren Gesetzen stehen", nennt er diese "R e c h t s l e h r e" . Die Kantische Ethik im engeren Sinne befaßt sich mit der "T u g e n d l e h r e". 34 Die Idee der "Freiheit" wird besonders für die transzendentalphilosphische Begründung der Kantischen Pädagogik wichtig werden. Kant unterscheidet "Freiheit" in zweifacher Bedeutung: die ‘moralische’ oder ‘transzendentale’ Freiheit, die er in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", der "Kritik der praktischen Vernunft" und im zweiten Teil der "Metaphysik der Sitten " - der "Tugendlehre" - darlegt und die ‘Handlungsfreiheit’, die er in im ersten Teil der "Metaphysik der Sitten" - der "Rechtslehre" - erläutert. Ich werde in dieser Arbeit besonders auf die ‘moralische’ oder ‘transzendentale’ Freiheit eingehen. 35 Das "moralische Gesetz" ist das "praktische Gesetz" oder das "Sittengesetz".Das "Sittengesetz", das der Vernunft a priori gegeben ist, drückt sich als rein formale und abstrakte Regel im "Kategorischen Imperativ" aus, dessen bekannte Grundformel lautet: "h a n d l e n u r n a c h d e r j e n i g e n M a x i m e, d u r c h d i e d u z u g l e i c h w o l l e n k a n n s t, d a ß s i e e i n a l l g e m e i n e s G e s e t z w e r d e" (GMS Bd. VII, BA 52). 36 Kant nennt die Vernunft auch ".... das Vermögen, nach der Autonomie, d. i. frei (Prinzipien des Denkens überhaupt gemäß) zu urteilen, ..."(Streit Bd. XI, A 25). 37 Kant setzt das "Sittengesetz" allerdings vor die "Freiheit". "Daß der Begriff der Freiheit der Willkür nicht vor dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes in uns vorhergehe, sondern nur aus der Bestimmbarkeit unserer Willkür durch dieses, als ein unbedingtes Gebot, geschlossen werde: ..." (Rel Bd. VIII, A 55 Anmerkung) 38 Heute würden wir sagen: als Natur- und Sozialwesen (vgl. RUHLOFF 1975, S. 5) 39 "Tugend" bedeutet für Kant ein Handeln aus Pflicht. "T u g e n l e h r e" ist " ... die allgemeine Pflichtenlehre in dem Teil, der nicht die äußere Freiheit, sondern die innere unter Gesetze bringt, ..." (MST Bd. VIII, A 4). 40 Wie damals üblich für weniger bemittelte Studenten ging Kant nach Verlassen der Universität als Informator (Hauslehrer) aufs Land. Er unterrichtete die Kinder von Predigern und Landadligen und hat - soweit bekannt ist - nur Knaben unter zwölf Jahren betreut. Nach eigenen Aussagen scheint Kant von seinen Tätigkeiten als praktischer Pädagoge nicht sonderlich angetan gewesen zu sein (vgl. KANT 1982, S.179). 41 Da die Ausarbeitung seiner pädagogischen Gedanken wohl eher am Ende der Phase seiner pädagogischen Vorlesungstätigkeit (1776 -1787) geschah, besteht eine besondere zeitliche Nähe zu den Werken seiner kritischen praktischen Philosophie ("Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, erschienen 1785, "Kritik der praktischen Vernunft", erschienen 1788) 42 Es seien hier folgende Maßnahmen der preußischen Regierung genannt: die Verordnung der allgemeinen Unterrichtspflicht (1717), die Gründung eines staatlichen Schullehrerseminars (1732), der Erlaß des GeneralLandschulreglements (1763), die Zentralisierung der Schulverwaltung (1787) und der Erlaß des Allgemeines Landrechts (1794) 43hier sind zu erwähnen: Halle (gegründet 1694), Göttingen (gegründet 1737) und Erlangen (gegründet 1743) 44 Dieses Elementarwerk sollte neben dem "Methodenbuch" aus einem Elementarbuch für Kinder, aus einer Kupfersammlung (Anschauungsmaterial) und aus Hilfsbüchern über besondere Teile des Elementarbuches bestehen (vgl. WEISSKOPF 1970, S. 121). 45 F. S. Bock (1716 - 1785) war ab 1754 ordentlicher Professor der griechischen Sprache und Aufseher der Schloßbibliothek in Königsberg. Von 1766 bis 1772 war Kant Subbibliothekar unter Bock. 46 aus Bruchstücken einer Ethikvorlesung (WEISSKOPF 1970, S. 243 ff), aus Entwürfen für die Anthropologie bzw. für eine «Beobachtungslehre» (ebda. S. 253 ff) und aus Exzerpten aus Rousseaus «Emil oder über Erziehung» (ebda. S. 287 ff). 47 Kant gesteht nur dem Guten eine "Anlage" in der menschlichen Natur zu", das heißt es ist angeboren. "Die Anlage für die P e r s ö n l i c h k e i t ist die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, .." (Rel Bd. VIII, A 16). Das Böse ist dagegen ein "Hang" in der menschlichen Natur (ebda. A 18 ff.). Der "Hange zum Bösen", das sind die "Triebfedern der Sinnlichkeit", die der Mensch in "freier Willkür" in seine Maxime aufnimmt (vgl. ebda. A 2931) und sie willentlich über das "moralische Gesetz" stellt. Böse sind nicht die Triebfedern der Sinnlichkeit, sondern böse ist der Mensch, der " ...die Triebfeder der Selbstliebe und ihrer Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, ..." (ebda. A 31). So gibt es für Kant " ...keine Bosheit aus Grundsätzen, sondern nur aus Verlassung derselben" (AH Bd. XII, A 269). 48 In der "Kritik der reinen Vernunft" unterscheidet Kant zwischen dem "empirischen" und dem "intelligiblen Charakter" des Menschen. Nach seinem "empirischen Charakter" ist der Mensch sinnlichen, empirischen Antrieben und damit den Naturgesetzen, der Kausalität, unterworfen. Nach seinem "intelligiblen Charakter" steht der Mensch nicht unter dem Naturgesetz; er ist unabhängig und frei (KrV Bd. IV, A 539 ff.) Und in der "Kritik der praktischen Vernunft" definiert Kant "einen Charakter" als die "(praktische konsequente Denkungsart nach unveränderlichen Maximen)..." zu handeln (KpV Bd. VII, A 271). 49 Durch Lebensgrundsätze legt der Mensch beispielsweise fest, ob er hilfsbereit oder gleichgültig, groß- oder kleinmütig, ehrlich und offen oder verschlagen und hinterhältig sein will. 50 Die "p r a k t i s c h e" Erziehung ist die "m o r a l i s c h e" Erziehung und das heißt, "...alles dasjenige, was Beziehung auf Freiheit hat" (Päd Bd. XII, A 35). 51 WEISSKOPF bemerkt zu dieser Dreiteilung der "Erziehungslehre": "Bei dieser Darstellung ist nicht einwandfrei festzustellen, ob sich die drei genannten Erziehungsformen nur auf die praktische Seite der Pädagogik beziehen oder ob damit wieder eine neue Einteilung versucht wird" WEISSKOPF 1970, S. 151). Ich halte diese Dreiteilung für eine Einteilung, die sich quer über die "physische" und die "praktische Erziehung" schiebt. Sowohl in der "physischen" als auch in der "praktischen Erziehung" finden die drei Erziehungsformen ihre Anwendung; allerdings in ausgeprägterer und nachhaltigerer Weise in der "praktischen Erziehung" (vgl. Päd Bd. XII, A 112 ff.). So ist zwischen "physischer" und "praktischer Erziehung" auch keine tiefe Kluft zu sehen, sondern ein fließender Übergang und "praktische Erziehung" findet schon in der "physischen" statt. Kant schreibt: "Die moralische Bildung, […], ist die späteste; in so ferne sie aber nur auf dem gemeinen Menschenverstande beruht, muß sie gleich von Anfang, auch gleich bei der physischen Erziehung beobachtet werden, ... (ebda. A 37). 52 Für Kant kann nur ein Handeln "aus Pflicht" einen sittlichen Wert haben. "Pflichtgemäßes Handeln" (d.h. legales Handeln) aus eigennütziger Absicht (z. B. aus Eitelkeit oder Gewinnsucht) oder aus unmittelbarer Neigung (z. B. aus Liebe oder Mitleid) sind ohne sittlichen Gehalt (GMS Bd. VII, BA 8 ff.). "Eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, ... (ebda. BA 13). Kant folgert daraus: "Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz" (ebda. BA 14). Also: der Mensch soll nur nach denjenigen subjektiven Maximen (Lebensgrundsätzen) handeln, die dem objektiven Gesetz ("Sittengesetz") entsprechen. Mittels des "Kategorischen Imperativs" kann die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer subjektiven Maxime mit dem objektiven Gesetz überprüft werden. Allerdings - und das gilt es auch zu erwähnen - ein Handeln "aus Pflicht" bedeutet nicht, unbeeinflußt von allen sinnlichen Neigungen und Wünschen zu handeln - wie sollte das auch für einen Menschen möglich sein sondern nur, daß das Handeln nicht hauptsächlich und prinzipiell von persönlichen Neigungen und Interessen bestimmt ist (vgl. RUHLOFF 1975, S.7). Und daß ein Handeln "aus Pflicht" nicht nur eine spröde, gefühllose Angelegenheit ist, zeigt das "moralische Gefühl": ein Handeln "aus Pflicht" löst sowohl eine "negative Wirkung aufs Gefühl" aus, indem sie die "Selbstliebe" und den "Eigendünkel" des Menschen demütigt, als auch eine "positive" Wirkung, indem die "Achtung fürs moralische Gesetz" das menschliche Gefühl erhebt; beide Wirkungen auf das Gefühl ergeben das "moralische Gefühl" (vgl. GMS Bd. VII, "Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft" A 126 ff.). 53 Weisskopf gibt in seinem umfangreichen Werk mehrere Schematas an, um die Kantische "Erziehungslehre (WEISSKOPF 1970, S. 144-165) darzustellen. In der Form gleicht das folgende Schema zwar denen von Weisskopf, inhaltlich stammt es aber von mir. 54 Ich möchte die Prinzipien wissenschaftlichen Forschens an einem Beispiel veranschaulichen: Unter den vielerlei Gegenständen der Sinnenwelt zeichnen sich Bäume durch etwas Gleichartiges aus: Blätter, Zweige, Äste, Stämme, Festigkeit, eine bestimmte Form und Farbe, ein bestimmter Geruch, etc. ... Dieses Gleichartige wird mit dem Begriff ‘BAUM bezeichnet ("Homogenität"). Die Bestimmung der vielen Unterschiede - der Arten - unter dem Gleichartigen ‘BAUM’ führt zu Unterbegriffen, z. B. die Esche, der Nußbaum, die Buche, ... ("Spezifikation"). Diese beiden Leistungen des menschlichen Denkens finden nicht isoliert voneinander statt, sondern wirken zusammen, ergänzen sich gegenseitig und bilden einen systematischen Zusammenhang ("Kontinuität"). 55 Die "Idee einer Erziehung" ist die immer differenziertere Einteilung der menschlichen Anlagen und Fähigkeiten und die immer vollkommenere Ausschöpfung der menschlichen Möglichkeiten. Im Laufe seiner Entwicklung schreitet sowohl die ‘Spezifizierung’ als auch die ‘(Ver)besserung’ des Menschen weiter voran. 56 Die "Idee der Menschheit" ist die Zusammenfassung der vielfältigen und verschiedenartigen menschlichen Anlagen und Fähigkeiten unter einer letzten, einer unbedingten Idee: der Würde des Menschen. Die Würde zeichnet den Menschen grundsätzlich aus, unabhängig von seinen Anlagen, Fähigkeiten und Begabungen. Der Mensch verhält sich jedoch nicht immer gemäß seiner unveräußerlichen Würde; oft ist seine Verhalten ‘würdelos’, das heißt, er achtet seine eigene oder die Würde der Anderen nicht. 57 Trägerin dieser einzigartigen und unveräußerlichen Würde ist die Vernunft des Menschen. Jede Einschränkung der Würde - wie sie durch die Beschränkung der Freiheit geschieht - ist eine ‘Beleidigung’ der Vernunft. Jeder Mensch - unabhängig von seiner Erziehung und Bildung - spürt, wenn seine Würde beleidigt wird. 58 Das läßt sich in der Praxis durch die Begriffe ‘intentionale’ Erziehung (also geplante Erziehung) und ‘nicht intentionale’ Erziehung (also nicht geplante, ‘zufällige’ Erziehung) ausdrücken. 59 Als Beispiel für einen solchen "Mechanismus" weist Kant auf das "Vokabelnlernen" bei Fremdsprachen hin (ebda. A 79); auch für das Erlernen der Geographie ist ein "gewisser Mechanismus [d. i. das Memorieren] am besten" (ebda. A 80). 60 Als Erzieher bin ich ein professioneller Vertreter der Fremderziehung; gleichzeitig soll ich aber auch die Bedingungen zur Ermöglichung von Selbsterziehung bzw. -bildung schaffen (s. dazu das folgende Kapitel 4.4.6.2.2). 61 Es ist interessant, daß Kant in der "Vorrede zur zweiten Auflage" der "Kritik der reinen Vernunft" auch von der "Revolution der Denkart" (KrV Bd. III, B XI) in der Erkenntnistheorie (der heutigen Wissenschaftstheorie) spricht (vgl. a. Kap. 3.2.1). 62siehe dazu die "Ethische Methodenlehre" in der "Metaphysik der Sitten" (MST Bd. VIII, A 167- A 176), wo Kant u. a. als Erziehungsmittel das ‘vorbildliche Beispiel’ erwähnt. Die "Ethische Methodenlehre" zeigt wie eine empirische Vorgehensweise (das ‘vorbildliche Beispiel’ als Mittel) mit dem transzendentalen Hintergrund (‘Sittlichkeit’ als Zweck) verknüpft werden kann. Aus meinen pädagogischen Erfahrungen halte ich das ‘vorbildliche Beispiel’ (sei es eine Person aus Geschichte oder Gegenwart oder man/frau selber) für das angemessenste Mittel, um Selbsterziehung und damit Sittlichkeit zu ermöglichen. Nur eine ‘vorgelebte’ Haltung - durch die der ernsthafte Versuch eines Menschen deutlich wird, allen Widrigkeiten, Anfeindungen, Versuchungen und Mißerfolgen zum Trotz, ein Leben ‘aus Grundsätzen’, die den Menschen nie als Mittel zum Zweck, sondern immer als Zweck an sich betrachten, zu führen - vermag aus meiner Sicht eine "Umwandlung der Denkungsart" anzuregen. Allerdings: auch das vorbildliche Beispiel ist unsicher, da die Lebensgrundsätze eines Menschen nie zweifelsfrei an seinen Handlungen und Taten abgelesen werden können (so mag eine Handlung, die aus einer bösen Absicht heraus erfolgt, gute Folgen für die Beteiligten und Taten aufgrund einer guten Gesinnung, schädliche Folgen haben). Empirisch läßt sich die Gesinnungsart eines Menschen nicht beweisen; sie ist nur dem Individuum selbst zugänglich. 63 Erziehung zur sittlichen Persönlichkeit geschieht in einem langwierigen Lernprozeß, der zwar empirisch bedingt ist, dessen Zielpunkt sich aber der Empirie entzieht. Das Ziel der Erziehung, die Sittlichkeit, läßt sich durch Zweck-Mittel Relationen allenfalls ansteuern, aber nicht erreichen. Die Sittlichkeit ist das ‘regulative Ziel’, an dem sich der Erziehungsprozeß immer wieder auszurichten und zu korrigieren hat, die aber in Raum und Zeit nie erreicht wird; allenfalls eine gewisse Annäherung an diesen Zielpunkt ist im Laufe der Geschichte feststellbar - ein gewisser Fortschritt zum Besseren. 64 Nach der Analyse seiner Schrift erscheint es mir zweifelhaft, ob Kant eine abschließende Begründung einer Pädagogik als Wissenschaft.