1 Vorlesung im Frühling 2010 Martine Nida-Rümelin Handout 10 Thema: Phänomenales Bewusstsein: Rückblicke und Ausblicke zum Abschluss der Vorlesung. Gedankenexperiment 1 (nach Frank Jackson): Die Neurophysiologin der Zukunft, welche alle das menschliche Farbwahrnehmungssystem betreffenden physikalischen Tatsachen kennt, aber selbst nie Farberlebnisse hatte. Das Argument des unvollständigen Wissens: (1) Mary kennt vor ihrer Freilassung alle das menschliche Farbwahrnehmungssystem betreffenden Tatsachen, die physikalischer Natur sind. (2) Mary erwirbt nach ihrer Freilassung Wissen von Tatsachen, die ihr vor ihrer Freilassung nicht bekannt waren. Also: (3) Es gibt das menschliche Farbwahrnehmungssystem betreffenden Tatsachen, die nicht physikalischer Natur sind. Das Argument des unvollständigen Wissens ist eines von mehreren Argumenten, welche alle phänomenales Bewusstsein betreffen, zugunsten eines Eigenschaftsdualismus. Eigenschaftsdualismus: Der subjektive Charakter (die phänomenalen Eigenschaften) von Erlebnissen ist (sind) in einer rein physikalischen und physikalisch vollständigen Beschreibung eines Organismus nicht erwähnt. Standardsichtweise: - Die fraglichen nicht-physikalischen Eigenschaften sind phänomenale Eigenschaften. - Diese phänomenalen Eigenschaften sind Eigenschaften von Gehirnprozessen. (Einwand: unter phänomenalen Eigenschaften möchte man Merkmale verstehen, die im Erleben direkt gegeben sind. Aber Gehirnprozesse haben keine im Erleben gegebenen Merkmale.)* - Phänomenales Bewusstsein ist nach der herkömmlichen Sichtweise beschränkt auf Wahrnehmungen und Emotionen. (Einwand: es gibt auch eine Phänomenologie des Denkens, es gibt auch eine Phänomenologie des Handelns.)** - Traditionell hat man angenommen, dass die Klasse phänomenaler Eigenschaften und die Klasse intentionaler Eigenschaften sich nicht überlappen. Diese These ist seit ca. 10 Jahren nicht mehr allgemein akzeptiert bzw. wird mehrheitlich abgelehnt.*** *Ausführung dieses Einwands: (1) Phänomenale Begriffe nehmen auf phänomenale Eigenschaften Bezug. (2) Phänomenale Eigenschaften sind im Erleben unmittelbar gegeben. (3) Im Erleben unmittelbar gegeben sind aber nur (a) die Eigenschaften. welche die im Erleben gegebenen Dinge zu haben scheinen (Beispiel: die Eigenschaft, rot zu sein). (b) die Eigenschaften des Erlebenden selbst, welche damit korrespondieren (z.B.: die Eigenschaft, etwas als rot zu sehen). (4) Weder die unter (a) noch die unter (b) genannten Eigenschaften sind Eigenschaften von Gehirnzuständen. 2 **Hinweis auf einen Philosophen, der zu beiden Themen arbeitet: Terence Horgan. Vgl. dessen website http://www.u.arizona.edu/~thorgan/ (Im September diesen Jahres kommt T. Horgan nach Fribourg für eine Vorlesung und einen sich anschließenden workshop zur Diskussion seiner Arbeiten.) ***Unter der Intentionalität von geistig-seelischen Zuständen hat man traditionell der Eigenschaft verstanden, ‚auf etwas gerichtet zu sein’. Oft wird dies in der analytischen Philosophie gedeutet als die Eigenschaft die Welt in einer bestimmten Weise zu ‚repräsentieren’. Zum Beispiel ist die Wahrnehmung eines Tisches insofern intentional, als es dem Wahrnehmenden so vorkommt als sei vor ihm ein Tisch. Wahrnehmungserlebnisse haben in diesem Sinne Angemessenheitsbedingungen („veridicality conditions“). Definitionsversuch: Intentionale Eigenschaften von Erlebnissen sind solche Eigenschaften, die festlegen, wie die Welt beschaffen sein muss, damit das Erlebnis die Welt korrekt darstellt. Heute oft vertretene These (vgl. insbesondere Charles Siewert, „The significance of consciousness“, Princeton University Press, 1998). Der Haupteinwand gegen das Argument des unvollständigen Wissens (und andere antimaterialistische Argumente): Varianten der Strategie phänomenaler Begriffe Grundidee: Der Eindruck, dass der Materialismus falsch ist, ist eine kognitive Illusion. Diese Illusion entsteht durch die Besonderheit der Begriffe, die wir von Bewusstseinszuständen haben. Diese Begriffe werden in der Debatte als ‚phänomenale Begriffe’ bezeichnet. Grob gesagt handelt es sich dabei um Begriffe, die (a) Begriffe von phänomenalen Eigenschaften sind und (b) aufgrund eigenen Erlebens erworben werden. (Beispiel: der Begriff des Schmerzes). Die Strategie phänomenaler Begriffe (etwas genauere Beschreibung der Grundidee) (1) Phänomenale Eigenschaften sind Eigenschaften von Gehirnprozessen, auf die wir mittels phänomenaler Begriffe Bezug nehmen. (2) Unter Voraussetzung von (1) kann eine Theorie phänomenaler Begriffe entwickelt werden, die impliziert: (a) Die Eigenschaften von Gehirnprozessen, auf die sich unsere phänomenalen Begriffe beziehen, sind physikalische Eigenschaften. (b) Phänomenale Begriffe sind kognitiv isoliert. (c) Die kognitive Isolation phänomenaler Begriffe erklärt, dass es (irrtümlich) so scheint als erlerne Mary nach ihrer Freilassung neue Tatsachen (und generell: als sei der Materialismus falsch). (3) Wegen (2) gibt es eine mit dem Materialismus kompatible Erklärung anti-materialistischer Intuitionen. Ein weiteres essentialistisches Argument zugunsten des Eigenschaftsdualismus (entwickelt in meinem Aufsatz „Phenomenal Essentialism“, in Torin Alter & Sven Walter, Phenomenal Concepts and phenomenal knowledge, OUP, 2007: 255-272, ): Prämisse 1 (Phänomenaler Essentialismus): Mittels phänomenaler Begriffe können wir die Natur phänomenaler Eigenschaften erfassen. Prämisse 2 (Zugänglichkeit der Natur physikalischer Zustände in physikalischer Begrifflichkeit) Physikalische Eigenschaften sind im Prinzip mittels physikalischer Begriffe erfassbar. 3 Prämisse 3 (Kognitive Transparenz) Wer die Natur einer Eigenschaft mittels zweier unterschiedlicher Begriffe erfasst, ist unter idealen kognitiven Bedingungen in der Lage zu erkennen, dass die fraglichen Begriffe notwendig koextensional sind. Prämisse 4 (Kognitive Unabhängigkeit physikalischer und phänomenaler Begriffe) Es ist prinzipiell nicht einsehbar, dass ein gegebener phänomenaler Begriff und ein gegebener physikalischer Begriffe notwendig koextensional sind. Bemerkungen zu diesen Prämissen: Prämisse 1 ist verwandt mit Chalmer’s Prämisse, nach welcher bei phänomenalen Begriffen, die primäre und die sekundäre Intension übereinstimmen. Prämisse 2 ist verwandt mit Chalmer’s Prämisse, nach welcher auch bei physikalischen Begriffen (z.B. bei dem Begriff der C-Faser-Reizung) primäre und sekundäre Intention übereinstimmen Prämisse 4 oder etwas sehr ähnliches wird in der Debatte meist akzeptiert. (Vgl. 2b unter ‚Strategie der phänomenalen Begriffe’). (1) Sei P eine phänomenale Eigenschaft. (2) P ist eine physikalische Eigenschaft. (zu widerlegen) (3) Die Natur von P ist mittels eines phänomenalen Begriffs B1 (gemäss Prämisse 1) und mittels eines phänomenalen Begriffs B2 (gemäss Prämisse 2) erfassbar. (4) Dann ist die notwendige Koextensionalität (gemäss Prämisse 3) einsehbar. (5) Aber (4) ist falsch gemäss Prämisse 4. These: diesen Widerspruch muss man durch Aufgabe von (2) vermeiden.