Bischof WS06/07, 4/1 N. Bischof: Einführung in das Studium der Psychologie 4. Wirklichkeit und Wahrheit (I) Erkenntnistheorie, Epistemologie (vom griechischen episteme = Erkenntnis) Deutungen des Begriffs "Wirklichkeit" 1. Materielle Welt (vs. das "Innenleben" der anderen) Wirklich ist das Materielle, das Physische, das Öffentliche, das worüber man sich mit anderen verständigen kann. Fremde Subjektivität läßt sich nicht nachweisen (Zombie-Argument)! 2. Phänomenale Welt (vs. das "Ding an sich") Nur das unmittelbar Gegebene, das mir als Erscheinung gegenübertritt, ist wirklich unbezweifelbar. Eine angebliche Welt "hinter" meiner unmittelbaren Erfahrung muss Spekulation bleiben. 3. Das Angetroffene (vs. das Vergegenwärtigte) Die gesamte phänomenale Welt ist eine Repräsentation der bewusstseinsjenseitigen Welt. Innerhalb der phänomenalen Welt trennen wir aber nochmals zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen Phänomenologisch unterscheiden sich beide insofern, als Wahrnehmungen nicht als Abbildung, sondern als die Wirklichkeit schlechthin erlebt werden. Wahrnehmung wird erfahren als ein Akt der Begegnung, das Wahrgenommene ist aus eigener Kraft, ohne unser Zutun da, es ist öffentlich, wir und andere müssen uns mit ihm auseinandersetzen. Vorstellungen hingegen werden als abgeleitet und repräsentierend, als bezogen auf etwas anderes erlebt – allerdings nicht bezogen auf die bewußtseinsjenseitige Welt, sondern auf phänomenale Wahrnehmungsinhalte. Die Elementenpsychologie unterstellte irrigerweise, der Unterschied ließe sich auch physiologisch definieren: Basis der Wahrnehmungsinhalte (der "Empfindungen") müsse eine Sinnesreizung sein. Gegenbeispiele: Halluzination, Traum, unwahrnehmbar Vorhandenes (z.B. Rückseite der Objekte, Wand hinter meinem Rücken). Um diesen Missverständnissen vorzubeugen, zieht die Gestalttheorie eine explizit phänomenologische Terminologie vor: das Angetroffene und das Vergegenwärtigte. 4. Anschauliche Realität (vs. Anschaulicher Schein) Die zentralnervöse Repräsentation der Umwelt basiert auf einem Prozess der Signalübertragung. Diese kann durch Hindernisse beeinträchtigt und durch Störungen verfälscht werden. Das Gehirn versucht, solche Mängel auszugleichen; die dabei angewandten Methoden sind aber nicht unfehlbar und produzieren ihrerseits unvermeidbare Missweisungen (z.B. perspektivische Verzerrungen). Als "Warnung" versieht der kognitive Apparat seine Produkte daher mit dem Attribut unterschiedlicher Evidenz, dem phänomenalen Charakter des mehr oder minder "Ernstzunmehmenden". Diesen bezeichnet man auch als den Grad der anschaulichen Realität. Interessanterweise bleibt diese Erlebnisdimension nicht auf Angetroffenes beschränkt: Wir machen den Unterschied auch im Vergegenwärtigten. Bischof WS06/07, 4/2 angetroffen vergegenwärtigt anschaulich real Anschaulich irreal Strafzettel an der Windschutzscheibe perspektivische Konvergenz der Straße am Horizont Ärger des Gesprächspartners gespielter Affekt des schlechten Mimen fester Plan, im Oktober zu heiraten unverbindliches Schwelgen in einem Tagtraum Epistemologische Positionen Objektiv (Ontologischer Begriff): Status der subjektunabhängigen Welt. Alles, was der Fall ist, unabhängig davon, ob irgendwer es zur Kenntnis nimmt. Evident (Phänomenologischer Begriff): Gefühl, dass wir es bei einem Phänomen mit einer ernstzunehmenden Tatsache zu tun haben. Wahr, "veridikal" (Epistemologischer Begriff): Übereinstimmung des Phänomens mit dem Objekt. AUSSEN BEIDE INNEN ↓ ↓ Idealismus Kantianismus Solipsismus ↓ Physikalismus Kritischer Realismus Naiver Realismus ↓ ↓ ↓ Behaviorismus Evolutionäre Phänomenologie Konstruktivismus Erkenntnistheorie 1. Beschränkung auf den Außenstandort Physikalismus: Es gibt nur Wirklichkeit im ersten Sinn (materielle Welt). Jedenfalls ist allein sie Gegenstand der Wissenschaft. In dieser Wirklichkeit ist für Bewusstseinsinhalte kein Platz, sie "gibt es gar nicht", sie sind Metaphysik. Daraus zog der Behaviorismus den Schluss, dass allein das Verhalten Gegenstand der Psychologie sein kann, allenfalls noch dessen physiologische Begleitprozesse, aber nie das Erleben. Wissenschaftlich könne nur eine "Psychology of the Other One" sein. 2. Beschränkung auf den Innenstandort Ausgangspunkt aller Erkenntnis ist das Cartesianische "Cogito, ergo sum". Die eigentliche Erfahrungsgrundlage, auf die man sich persönlich verlässt, wenn man wissenschaftliche Aussagen macht, können nur die eigenen privaten Bewusstseinsinhalte sein kann. Alles, was ich überhaupt unmittelbar vorfinde, ist Phänomen. Woher will ich wissen, wie das beschaffen ist, was außerhalb meines Bewusstseinshorizontes liegt, ja ob da "draußen" überhaupt noch irgendetwas existiert? Idealismus: Alles Sein ist Bewusstsein. Das Leben ist ein gemeinsamer Traum aller Seelen. Solipsismus: allein das eigene Subjekt ist wirklich. Bischof WS06/07, 4/3 Kantianismus: Es gibt zwar jenseits der Phänomene eine Transzendenz (das "Ding an sich"), diese ist aber in ihrem Sosein unzugänglich. Ihr erlebtes Eigenschaftsprofil ist das Werk von Kategorien und Anschauungsformen, die meine Vernunft dem Rohmaterial der Sinnesdaten aufprägt. Radikaler Konstruktivismus (Ernst von GLASERSFELD, Heinz von FOERSTER, Paul WATZLAWICK Humberto MATURANA, Francisco VARELA). Popularisierter Kantianismus. Es gibt gar keine objektive Wirklichkeit, jeder konstruiert sich seine Welt selbst. Das Sensorium wird zwar ständig von Reizen bombardiert; aber diese bedeuten nichts, sind sinnloses Rauschen, haben keine andere Funktion, als den Organismus zu eigenschöpferischer Aktivität anzuregen. 3. Kontamination beider Standorte Naiver Realismus: Alltägliche Haltung, in der wir die phänomenale Welt und das bewusstseinsjenseitige Ding-an-sich schlicht identifizieren. Phänomenologische Philosophie (Edmund HUSSERL, Martin HEIDEGGER). Anliegen: Überwindung des sogenannten Psychologismus. Dies war eine im Gefolge des englischen Empirismus aufgekommene Tendenz, auch noch Logik und Mathematik gewissermaßen metapsychologisch herzuleiten, als empirische Belege für die Weise, in der wir denken. Hinzukam, dass die psychologischen "Gesetze", aus denen das Denken erklärt werden sollte, mit elementenpsychologischen Konstrukten (Empfindungen, Assoziationen) operierten, also massiv das phänomenologische Postulat verletzten. Aus dieser geistigen Gemengelage heraus entstand das Programm, auf eine transzendentale Perspektive überhaupt zu verzichten und die Erkenntnis der Welt ohne Umwege aus der Intuition der Phänomene selbst zu gewinnen. "Kant nennt es 'einen Skandal der Philosophie', dass der zwingende und jede Skepsis niederschlagende Beweis für das 'Dasein der Dinge außer uns' immer noch fehle. … Der 'Skandal der Philosophie' besteht (aber) nicht darin, dass dieser Beweis bislang noch aussteht, sondern darin, dass solche Beweise immer wieder erwartet und versucht werden. … Das recht verstandene Dasein widersetzt sich solchen Beweisen, weil es in seinem Sein je schon ist, was nachkommende Beweise ihm erst anzudemonstrieren für notwendig halten." (HEIDEGGER, Sein und Zeit §43a) Bischof WS06/07, 4/4 4. Synthese beider Standorte kritischer Realismus (Gestalttheorie). Flexibler Wechsel zwischen Außen- und Innenstandort. Akzeptanz zweier Wirklichkeiten: der erlebnisjenseitigen, physischen Welt und der phänomenalen Welt des betreffenden Subjekts, die jene andere Wirklichkeit repräsentiert. Evolutionäre Erkenntnistheorie (Konrad LORENZ, Gerhard VOLLMER). Es trifft zu, dass die Kategorien, mit denen unser kognitiver Apparat die Erfahrungswelt strukturiert, apriorisch (vor aller Erfahrung) sind – sofern man vom einzelnen Individuum redet. Phylogenetisch betrachtet erscheinen sie jedoch als aposteriorisch, als Ergebnis einer überindividuellen "Erfahrung", die unsere Species mit dem Ding an Sich gemacht hat, nämlich der natürlichen Selektion. An Dimensionen der Wirklichkeit, die wir nicht verstehen mußten, um zu überleben, (Makro- und Mikrokosmos) brauchte sich unsere Kognition jedoch nicht anzupassen, sondern nur an den Kosmos mittlerer Größenordnung (VOLLMER "Mesokosmos"). Wir müssen damit rechnen, dass auch das Leib-Seele-Problem nicht zum Mesokosmos gehört und sich daher mit unseren Denkkategorien nicht anschaulich bewältigen lässt (Willensfreiheit!). Frage fürs Arbeitsblatt Nehmen Sie zu der folgenden These von Klaus HOLZKAMP Stellung: "Nach Ansicht des Kritischen Realismus müsste sich die Welt in meinem Kopfe befinden. Das kollidiert aber mit der phänomenologisch unabweisbaren Tatsache, dass gerade umgekehrt ich mich in ihr vorfinde!"