Wie das Kind hoeren und Sprechen lernt

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Entwicklung vorsprachlicher und sprachlicher
Kommunikationsformen.
Wie das Kind hören und sprechen lernt.
Über die neuesten Forschungsergebnisse zum Thema wie ein Kind
hören und sprechen lernt kommen wir zu einem veränderten
Verständnis vom spracherwerbenden Kind. Erkenntnisse aus der
Säuglingsforschung erhellen das entwicklungsbezogene
Fundament, die Neurophysiologie liefert weitere Informationen
über das Hörenlernen. Weiterreichende technische Hilfsmittel
wie z. B. Hörgeräte erfahren revolutionäre Entwicklungen, neue
Erfindungen wie das Cochlear- Implantat geleichen einem
Quantensprung.
In der Pädagogik der Erziehung und Entwicklungsbegleitung beim
hörgeschädigten Kind ergeben sich daraus Änderungen: Man
spricht nicht mehr von einem Sprachaufbau in einer Situation
eines einseitigen Sender und Empfängermodells sondern vom
Spracherwerb in einem beziehungstheoretischen Handlungsraum.
Die populärwissenschaftliche Aussage, ein Kind lernt dadurch
Sprache, weil die Eltern und andere Bezugspersonen mit ihm
reden ist natürlich richtig, beschreibt aber einen sehr
komplexen und vielschichtigen Vorgang. Sprache erlernen
beginnt mit dem Hörenlernen. Der Hörgeschädigtenpädagoge muß
also Eltern und Kind in dieser Phase begleiten, auf dem Weg
zur Sprache.
Eine Situation in der man sich durchaus auch persönlich
befinden kann, ist vergleichbar mit den ersten Höreindrücken
eines Babys. Beim Urlaub im Ausland erscheint einem die
Sprache des Landes unverständlich. Es ist und nicht möglich,
aus dem Redefluß des Einheimischen einzelne Worte heraus
zuhören, geschweige denn deren Sinn zu erfassen. Babys haben
gegenüber einem Urlauber im Ausland noch einen weiteren
Nachteil zu verkraften. Sie verfügen noch nicht über eine
andere Sprache, in der sie ihre Verwunderung äußern können,
oder mit der sie die Worte des Einheimischen vergleichen
können.
Ist der Spracherwerb genetisch determiniert?
Um Sprache zu erlernen, müssen wir als Kleinkinder deren
Verschlüsselung knacken. Den Nachweis einer dafür bestimmten
genetischen Disposition hat Chomsky schon in seiner
Veröffentlichung aus dem Jahr 1969 geführt. Chomsky spricht
von einem LAD (Language Acquisitation Device). Kinder
entdecken den grammatischen Code einer Sprache der nach
Chomsky aus immer wiederkehrenden Mustern besteht.
Über diese Regelmäßigkeiten bildet sich das Kind Hypothesen
und kommt so zu Regeln und Generalisierungen. In den
vergangenen dreißig Jahren haben sich die Annahmen Chomskys in
weiten Bereichen bewahrheitet, einige Annahmen jedoch sind
noch nicht belegt. Kernannahmen wie die Hypothesenbildung und
deren Bewertung als Motor des Spracherwerbs stehen außer
Frage. So sind die mit dem Baby kommunizierenden Erwachsenen
eine entscheidende Größe im Spracherwerb, denn ihr
Sprachgebrauch stellt die einzige Quelle für „Rohmaterial“ der
kindlichen Hypothesen- und Regelmäßigkeitenbildung dar.
Was wissen Neugeborene über Sprache?
Schon Säuglinge wissen, was die neuere Forschung belegt, eine
Menge über verbal- auditive Kommunikation, noch bevor sie
selber aktiv daran teilnehmen. Ihr Wissen über Sprache beruht
auf auditiven Erfahrungen, das akustische System hat also den
größten Anteil an den frühen Spracherfahrungen.
Wissenschaftler mußten in jüngster Zeit ihre Annahme, daß sehr
kleine Babys die feinen Unterschiede die in Sprachlauten
vorkommen nicht unterscheiden könnten aufgeben. Bereits ein
Monat alte Babys können Laute unterscheiden und haben somit
Wahrnehmungskategorien über Phoneme entwickelt.
Eine weitere Untersuchung hat eine sehr interessante Wendung
ergeben. Ursprüngliche Annahmen über die Festlegung der Babys
auf die Muttersprache mußte korrigiert werden. Ganz junge
Babys können nicht nur die Laute der späteren Muttersprache
unterscheiden, sie unterschieden auch Laute von Sprachen, die
sie bis dahin noch nie gehört hatten.
Nach Untersuchungen von Klinke und Schlote in den 90 er
Jahren und eines Versuches von Kuhl und Meltzoff 1997 lässt
sich sagen , daß Babys und Kleinkinder im Alter zwischen etwa
sechs bis 12 Monaten muttersprachliche Kategorien entwicklen.
Im Versuch von Kuhl / Meltzoff trat der Wechsel in der
unterschiedlichen Wahrnehmung von r und l bei japanischen
Kindern zwischen dem siebten und dem zehnten Monat ein. Nach
Kuhl entstehen in dieser Phase prototypische Laute der
Muttersprache. Mit dieser Prototypenbildung sind die Babys
muttersprachliche Hörer geworden.
Babys wandeln bis zum 12 Monat die für sie chaotische Welt von
Klängen in eine komplizierte aber logische Struktur.
Diese Struktur ist spezifisch für die spätere Muttersprache
des Babys. Sie lernen also zuerst die Laute der Muttersprache
bevor sie deren Wörter lernen. Erste Wörter entstehen aus
diesen schon muttersprachlich festgelegten Strukturen der
Laute. Sie enthalten schon kulturgebundene Eigenheiten und die
Intonationsstrukturen, Betonungen und Lautverbindungen der
Muttersprache.
Eine weitere Einflußgröße, die bisher ungenannt ist, spielt
beim differenzierten erhören der Phoneme zur Prototypenbildung
eine entscheidende Rolle, die Motherese.
Die etwas unglückliche Übersetzung von Motherese mit dem
antiquiert anmutenden Wort Ammensprache zeigt aber doch genau,
um was es sich handelt: Ein das Kind knuddeln und lieb drücken
mittels Sprache, ihm etwas Gutes tun, Zuwendung signalisieren.
Motherese hat eine verspielte, lebendige Simme, warmherzig und
tröstend übermütig und ist außerhalb einer Mutter- KindBeziehung absolut lächerlich.
Die Tonhöhe wird stark angehoben, die Intonation wird
melodisch und wir sprechen langsamer, deutlicher und
akzentuierter. Wir betonen die Vokale und bilden möglichst
kurze Sätze. Quer durch alle Kulturen sprechen Erwachsene auf
diese Weise mit ihren Kindern. Motherese zieht die
Aufmerksamkeit des Kindes an und zentriert sie auf die
sprechende Person. Die von den Eltern intuitiv verwendetet
Motherese ist einer der stärksten Bindungsfaktoren zwischen
den Eltern und ihrem Kind. Motherese ist Beziehungsnahme zum
Kind.
Das Kind lernt aus den langgezogenen Vokalen deren Bedeutung
für Sprache, Wort- und Satzwiederholungen unterstützen die
Worterkennung und die Bildung grammatikalischer Normen.
Eine Mutter bietet dem Kind unbewußt Variationen von Lauten
und grammatikalischen Formen an, um die Bandbreite der
Prototypen anzulegen. Babys erlernen auf Grund von Motherese
die Laute ihrer Mutterprache einfacher.
Forderungen und Konsequenzen für die Pädagogik mit
hörgeschädigten Kindern.
Hörgeschädigte Kinder müssen nach der erfolgten Versorgung mit
Hörgerät oder dem Cochlear-Implantat („CI“)die vorgenannten
Phasen nachholen. Das heißt, diese Kinder müssen Gelegenheit
bekommen, aus genügenden Angeboten in ihrer Muttersprache
prototypische Laute aufzunehmen und unterscheiden zu lernen.
Die Kinder müssen die Prototypenbildung zeitlich versetzt
nachholen.
Auch hörgeschädigte Kinder verfügen über die genetische
Disposition zum Spracherwerb, die Sprachentwicklung von
Kindern die im Alter unter zwei Jahren mit einem CI versorgt
wurden beweist das.
Alle durch Hilfsmittel zum „Hörenden“ gewordenen Kinder können
den Lautbestand der Muttersprache erschließen und deren
Grammatik erlernen. Dies deckt sich mit den Erkenntnissen zur
genetischen Disposition von Chomsky.
Der Erwachsene im Prozess der Förderung oder der pädagogischen
Betreuung muß eine zuversichtliche Grundhaltung leben. Auch
kleinste Kinder spüren, ob der Gegenüber ihnen etwas zutraut
bzw. Vertrauen in das Ziel der gemeinsamen Beziehung hat.
Neben der vertrauensvollen Grundhaltung bedarf es noch einem
weiteren Aspekt, dem der Zeit. Das Baby hat im Schnitt 12
Monate Zeit, bis es sich in seinen Prototypen muttersprachlich
festlegt und bis zum ersten eigenen Wort muß auch dem
hörgeschädigten Kind Zeit eingeräumt werden. Die mit der
Schallanalyse befassten Hirnbereiche müssen, wie auch beim
schon immer hörenden Kind reifen.
Diese genannten Voraussetzungen gehören schon zu einem
Bereich, den Brunner 1987 als LASS (Language Acquisitation
Support System) bezeichnet. Er fasst darin alle
unterstützenden äußeren Hilfen zusammen. Brunner bezeichnet
sein LASS als den unverzichtbaren äußeren Motor des
Spracherwerbsprozesses, der erst das LAD von Chomsky zum
Arbeiten bringt.
Das enge Zusammenwirken von LAD und LASS sichert den
Spracherwerb. Dieser ist also die balancierte Verflochtenheit
intern gegebener Kompetenzen des Säuglings und der extern
gemachten Angebote der Erwachsenen, voran gebracht durch
starke Lernstrategien des Babys.
Teacherese, die Sprache des Förderpädagogen?
Wenn wir nun eine Analogie herstellen, zwischen den den
Spracherwerb unterstützenden Komponenten der Motherese und
einer daran orientierten Sprache des Frühförderers oder des
Lehrers an einer Schule für Hörgeschädigte, ergibt sich daraus
die Teacherese.
Teacherese orientiert sich an den Elementen der Motherese: Sie
ist optimal auf die sich entwickelnden Hörstrukturen der
Kinder ausgerichtet. Das Frequenzspektrum wird angehoben und
die Intonationsstrukturen deutlich ausgeprägt. Die Vokale
werden betont und oder gedehnt. Bewußter gesprochene Sprache
wird angereichert mit emotionalen Befindlichkeiten der Person.
Teacherese ist vergleichbar mit der nicht nur Motherese ein
faszinierendes und fesselndes Angebot zum Hören, es animiert
auch zur Nachahmung
Elternbegleitung
Förderangebote für Babys und Kleinkinder sind logischer Weise
zuerst Angebote, die an die Eltern gemacht werden. Im
Vordergrund stehen hier die Stärkung elterlicher Potenziale
und die Wiederbelebung der elterlichen Kompetenzen, die durch
die schlechte Kommunikation vor der Versorgung der Kindes mit
Hilfsmitteln vernachlässigt und dadurch minimiert wurden.
Elternbegleitung ist ein sich an den individuellen
Begebenheiten der Lebenswirklichkeit der Familie
orientierender Ansatz. Nur diese Art des Ansatzes kann die
Entwicklungsschritte des Kindes genau einordnen um daraus
resultierend passende Förderangebote gemeinsam mit den Eltern
zu entwickeln.
Förderangebote in der Elternbegleitung orientieren sich an den
Entwicklungsstandes des Kindes:
 Aufbau basaler Dialogstrukturen:
Die Dialoge im ersten Halbjahr laufen in einem dyadischen
Kontext ab, Eltern und Kind beziehen sich unmittelbar
aufeinander. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind ist Basis
und Ort für die Organisation kindlicher Entwicklung und
Ausgangspunkt entscheidender Impulse. In diesem Kontext
erworbene dialogische Strukturen sind die Basis weiterer
Lernschritte.
Die erste Verständigungsebene zwischen Eltern und Kind sind
der Blickkontakt, ein weiteres Beziehungsangebot ist das hören
der elterlichen Stimmen, die Motherese. Schon im Mutterleib
hat das Ungeborene Stimmen gehört und konnte erste akustische
Muster erlennen.
Zwischen dem zweiten und dritten Monat kann das Baby
Frequenzen modulieren. Diese veränderlichen Laute und die
dialogisch daran orientierte Resonanz der Mutter auf diese
Lautangebote sind wichtige Schritte zum Erwerb der
phonematischen Prototypen der Muttersprache.
Babys erlernen in diesen anfänglichen Strukturen der
Kommunikation mit den Eltern ein Grundmuster dialogischen
Verhaltens, das Turn- Taking. Die wechselnden Rollen von reden
und zuhören, sprechen und schweigen.
Aus dem dyadischen Kommunikationssystem wird ein triadisches,
wenn die Umwelt mehr und mehr Teil der kommunikativen
Situation wird. Erste Focusierungen auf die Umwelt erfolgen
visuell, gesehene Dinge werden dann zum Inhalt der
Kommunikation.
 Wortschatz und Syntaxerwerb im Dialog
Die Vokalisationsentwicklung des Kindes erfährt einen
wichtigen Impuls mit dem Auftreten kanonoischer Silben. Nach
einer Untersuchung von Papousek kommt es zwischen dem fünften
und siebten Monat zu einem Anstieg dieser Silben von null auf
57% . Diese Silbenbildung erfolgt auf Grund der Integration
mehrerer Teilfähigkeiten: Die Konsonant- Vokal- Verbindung,
das Segmentieren der Stimmgebung während der Ausatmungsphase
sowie die Kontrolle zeitlich- rhythmischer Regeln für
Silbenketten hat das Kind im letzten halben Jahr erprobt.
Im Lauf des zweiten Halbjahres verändert sich auch die
Lautwahrnehmung. Es kommt zu einer Verschiebung hin zu den
muttersprachspezifischen Lauten. Das Kind wird vom hörenden
Weltbürger zum muttersprachgebundenen Hörer.
Durch die typischen Phonemkombinationen kann das Kind im Alter
von neun Monaten einen muttersprachlichen Redefluß, ohne über
semantisches Wissen zu verfügen, segmentieren.
In dieser Phase reduzieren die Eltern die Häufigkeit ihrer
Äußerungen, sie hören dem Kind länger und intensiver zu. Die
Äußerungen der Eltern erfolgen in nicht vollständigen Sätzen,
Inhaltlich wichtige Wörter werden in „elliptischen“ Äußerungen
in leicht verändertem Zusammenhang wiederholt. Die
elliptischen Äußerungen unterstützen den Syntaxerwerb.
 Eigenständigkeit und Autonomie im Spracherwerb
Das spracherwerbende Kind muß sich autonom und eigenständig im
triadischen Kommunikationssystem der Familie bewegen. Eine
Untersuchung hat ergeben, daß direktives Umlenken der
Aufmerksamkeit des Kindes auf einen bestimmten Gegenstand
negativ mit dem Wortschatzerwerb verknüpft ist. Die kindliche
Spontaneität ist bestimmendes Merkmal der Spracherwerbs.
Gegen Ende der zweiten Halbjahres beginnt das Kind, mit einer
Art verzögerter Nachahmung. Gehörte Sprache wird nicht direkt
nachgesprochen, sondern nach zwischenzeitlicher Analyse zum
späteren Zeitpunkt kontextadäquat angewendet.
Schlussfolgerungen für das hörgeschädigte Kind:
In der Förderung hörgeschädigter Kinder verläuft der
Spracherwerb nach den beschriebenen Zwischenstufen. Wichtig
für die Förderung sollte die Erkenntnis sein, das Beziehung
und die dialogischen Strukturen die Basis darstellen.
Lernfortschritte, Wort- und Syntaxerwerb und der triadische
Dialog folgen danach. Es darf aber nicht vergessen werden,
welchen Zeitraum diese Entwicklung im „Normalfall“ einnimmt,
und dem Kind ausreichen Zeit geben und geduldig Motherese und
in elliptischen Sätzen sprechend den Lernweg begleiten.
Literatur
Horsch. U. (2001): Wie das Kind hören und sprechen lernt. In:
Qualitäten des Hörens, BOTA, Heidelberg, S.248 – 278
Horsch, U. (2003): Emotionen - Hörenlernen – Sprache erwerben
In: Sprache Stimme Gehör (3) in Druck
Horsch, U.; Blum, J. ; Breuninger, B. (2002) Frühe Dialoge in
der Förderung hörgeschädigter Säuglinge und Kleinkinder –
Aspekte der Elternbegleitung in einer dialogischen
Hörgeschädigtenpädagogik. In: Sprache - Stimme – Gehör (3)
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