I. Beschwerdefähigkeit Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG

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Fall 4: Lösung
Die Verfassungsbeschwerde der N hat Erfolg, wenn Sie zulässig (A.) und
begründet (B.) ist.
A. Zulässigkeit
Die
Verfassungsbeschwerde
der
N
ist
zulässig,
wenn
alle
Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen.
I. Beschwerdefähigkeit Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG
Zunächst müsste N beschwerdefähig sein. Dies ist gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90
I BVerfGG „jedermann“. Also jeder, der Träger eines als verletzt gerügten
Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts ist. Hier könnte problematisch
sein, dass die Beschwerdeführerin, die N-Partei, keine natürliche Person, sondern
eine Organisation ist. Eine solche kann nur im Rahmen des Art. 19 III GG
grundrechtsberechtigt sein. Nach Art. 19 III GG gelten die Grundrechte nur für
inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese
anwendbar sind.
Als juristische Person erkennt Art. 19 III GG Vereinigungen von privaten
Personen an, die über ein Mindestmaß an organisatorischer Verfestigung
verfügen. Jedenfalls genügt die Teilrechtsfähigkeit.1 Parteien verfügen über eine
Binnenstruktur, die entsprechend verfestigt ist. Sie sind daher juristische
Personen i. S. d. Art. 19 III GG.
Anm.: Der Begriff der juristischen Person des Art. 19 III GG
unterscheidet sich damit von dem entsprechenden Begriff des
Zivilrechts. Dort sind juristische Personen begrifflich immer
vollrechtsfähig.
Parteien
sind
in
Deutschland
traditionell
nichteingetragene Vereine (vgl. § 54 BGB) und damit keine juristischen
Personen i.S.d. Privatrechts.
Die N hat ihr tatsächliches Aktionszentrum in Deutschland und ist somit auch
eine inländische juristische Person.
1
Bumke/Voßkuhle, Casebook VerfR, S. 49.
Fraglich ist somit allein noch, ob Art. 8 Abs. 1 GG seinem Wesen nach auf
inländische juristische Personen anwendbar ist.
Art. 8 Abs. 1 GG knüpft nicht an natürliche Eigenschaften des Menschen an,
sodass
die
Anwendbarkeit
auf
juristische
Personen
nicht
grundsätzlich
ausgeschlossen ist.
Bsp.: Juristische Personen haben keine Menschenwürde, keine
körperliche Unversehrtheit und kein (von Art. 2 II 1 GG geschütztes)
Leben.
Als Kriterium böte sich insofern an, danach zu fragen, ob die Bildung und
Betätigung
der
juristischen
Person
Ausdruck
der
freien
Entfaltung
der
dahinterstehenden natürlichen Personen sind, „besonders wenn der Durchgriff
auf
die
hinter
den
juristischen
Personen
stehenden
Menschen
[die
Grundrechtsfähigkeit] als sinnvoll und erforderlich erscheinen lässt“2 (Lehre
vom personalen Substrat). Die Bildung der N-Partei und ihre Tätigkeit sind
Ausdruck der Nutzung der grundrechtlichen Freiheiten der Mitglieder aus Art. 5 I,
8 I, 9 I und 2 I GG. Sie soll gerade die gemeinsame Teilnahme am öffentlichen
Meinungsbildungsprozess ermöglichen. Sollte die N-Partei an der Organisation
der Versammlung gehindert werden, wären die hinter der Partei stehenden
Menschen in der Ausübung dieser Freiheiten beschränkt. Daher ist die N-Partei
diesbezüglich grundrechtsfähig.
Anm.: Die Partei kann im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde nicht
die Verletzung der Rechte aus Art. 21 I GG rügen. Dies ist kein
grundrechtsgleiches Recht. Die Verletzung von Art. 21 I GG kann nur
im Rahmen des Organstreitverfahrens gerügt werden, dann aber auch
nur, wenn die Norm durch ein anderes Verfassungsorgan verletzt wird.
Auch auf das Kriterium der grundrechtstypischen Gefährdungslage ließe sich
abstellen.3 Die Situation muss mit der Lage einer grundrechtsberechtigten
natürlichen Person vergleichbar sein.4 Die Lage einer juristischen Person, die eine
2
3
4
BVerfGE 21, 362 (369); 68, 193 (205 f.); 75, 192 (196).
S. dazu Dreier, in: Ders., GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 19 III, Rn 33.
Pieroth/Schlink, Rn. 168.
Versammlung organisiert, ist mit jener einer natürlichen Person, die dasselbe tut,
vergleichbar. Auch nach dieser Ansicht wäre N also grundrechtsfähig.
Juristische Personen des Privatrechts können sich allerdings nur auf
Art. 8 GG berufen, soweit sie als solche versammlungsspezifische
Verhaltensweisen praktizieren können.5 So können sich juristische
Personen nicht selbst versammeln, allerdings können sie – so wie hier
– Veranstalter oder Organisator einer Versammlung sein.
II. Prozessfähigkeit
Die N kann als juristische Person selbst aber nicht handeln und ist daher nicht
prozessfähig. Sie muss sich daher durch V vertreten lassen.
III. Beschwerdegegenstand Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG
Weiter müsste ein tauglicher Beschwerdegegenstand vorliegen. Ein solcher liegt
gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG in jedem Akt öffentlicher Gewalt.
Gemeint sind damit – anders als in Art. 19 IV GG – Maßnahmen aller drei
Gewalten. Hier wehrt sich die N gegen das letztinstanzliche Urteil, somit gegen
einen Akt der Judikative. Dies ist ein Akt öffentlicher Gewalt, somit liegt ein
zulässiger Beschwerdegegenstand vor.
IV. Beschwerdebefugnis Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG
N müsste auch beschwerdebefugt sein. Die Beschwerdebefugnis ist gegeben,
wenn die Beschwerdeführerin durch den Akt öffentlicher Gewalt möglicherweise
in einem ihrer Grundrechte verletzt sowie selbst, unmittelbar und gegenwärtig
betroffen ist. Die Möglichkeit der Grundrechtsverletzung setzt voraus, dass eine
Verletzung nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Es erscheint möglich, dass
der Schutzbereich des Art. 8 I GG eröffnet ist, N kann sich auf Art. 8 I GG wie
dargelegt berufen. Auch ein Eingriff erscheint dann möglich, der jedenfalls nicht
offensichtlich gerechtfertigt ist. Eine Verletzung des Art. 8 I GG ist also möglich.
Auch eine Verletzung des Art. 5 I 1 GG erscheint nicht ausgeschlossen.
Die N müsste zudem selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. N ist
Adressatin des Urteils, das sie gegenwärtig und unmittelbar betrifft.
Sie ist folglich beschwerdebefugt.
5
Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 8, Rn. 56 m.w.N.
V. Rechtswegerschöpfung
Der Rechtsweg ist laut Sachverhalt § 90 II 1 entsprechend erschöpft.
VI. Form und Frist
Gemäß §§ 23 I, 92 BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde schriftlich und
begründet einzureichen. Dies ist hier mangels anderer Angaben im Sachverhalt
zu unterstellen.
VII. Ergebnis Zulässigkeit
Die Verfassungsbeschwerde der N ist folglich zulässig.
B. Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde wäre auch begründet, wenn N in ihren Rechten
verletzt wäre.
I. Prüfungsumfang des BVerfG
Das Bundesverfassungsgericht ist keine „Superrevisionsinstanz“. Es ist nicht
seine Aufgabe, die Rechtsprechung der zuständigen Fachgerichte bei der
Auslegung des sogenannten „einfachen Rechts“ auf ihre Richtigkeit zu überprüfen
oder gar zu vereinheitlichen. Es kann vielmehr erst dann tätig werden, wenn die
Entscheidung eines Gerichts Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer
grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Reichweite eines
Grundrechts
beruhen
oder
wenn
das
Auslegungsergebnis
mit
den
Grundrechtsnormen nicht vereinbar ist (vgl. BVerfGE 18, 85 (92 f.); stRspr). Die
Verletzung einfachen Rechts wird im Folgenden daher nicht geprüft.
II. Verstoß gegen Art. 5 I 1 GG
N könnte in ihrer Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1 GG verletzt sein.
1. Schutzbereich
Dazu müsste zunächst der Schutzbereich eröffnet sein.
a. persönlicher Schutzbereich
Der persönliche Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG enthält keine Einschränkungen,
als inländische juristische Person kann sich die N auch auf die Meinungsfreiheit
berufen (siehe oben). Der persönliche Schutzbereich ist somit eröffnet.
b. sachlicher Schutzbereich
Fraglich ist, ob auch der sachliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 5 I
1 GG eröffnet ist. Eine Meinung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ist jede wertende Stellungnahme. Kennzeichnend ist ein Element der Stellungnahme, des
Dafürhaltens, des Meinens im Rahmen der geistigen Auseinandersetzung. Eine
Demonstration zum Thema „Gegen Sozialdumping und Massenarbeitslosigkeit“
nimmt zu beiden Phänomenen Stellung, wertet sie als bekämpfenswert und dient
somit der Kundgabe einer Meinung. Auch der sachliche Schutzbereich ist also eröffnet.
2. Eingriff
In diesen Schutzbereich müsste auch eingegriffen worden sein. Ein Eingriff ist
jedes staatliche Verhalten, das die Ausübung einer grundrechtlich geschützten
Freiheit ganz oder teilweise unmöglich macht oder erschwert. Das Verbot einer
Demonstration, das aufgrund der inhaltlichen Ausrichtung der
Demonstration oder der Veranstaltung ergeht, macht die Kundgabe einer
Meinung (rechtlich) unmöglich und stellt damit einen Eingriff in Art. 5 I 1 GG dar.
Anm.: Demgegenüber stellen Auflagen, die aus versammlungsspezifischen Gründen erfolgen (z.B. Änderung der Route) und nur die
Modalitäten der Versammlung betreffen, entweder lediglich einen
Eingriff in Art. 8 GG dar oder Art. 5 I 1 GG tritt jedenfalls im Wege der
Grundrechtskonkurrenz zurück.
3. Rechtfertigung
Der Eingriff könnte jedoch gerechtfertigt sein, wenn eine verfassungskonforme
gesetzliche Grundlage im Einzelfall verfassungskonform angewendet worden
wäre.
a. gesetzliche Grundlage
Mindestvoraussetzung ist jedenfalls das Vorliegen einer gesetzlichen
Eingriffsgrundlage, die nicht nur insgesamt verfassungskonform sein muss,
sondern insbesondere auch mit der Schrankenregelung der Meinungsfreiheit
vereinbar sein muss.
aa. Vereinbarkeit mit Art. 5 II GG
Zweifelhaft ist, ob § 15 I VersG mit Art. 5 II GG vereinbar ist. Dazu müsste er,
weil er weder dem Schutz der Jugend noch der Ehre dient, ein allgemeines
Gesetz sein. Der Begriff des allgemeinen Gesetzes ist umstritten.
Nach der früher vertretenen Abwägungslehre sollen solche Gesetze allgemein
sein, die dem Schutz eines Rechtsgutes dienen, das den Vorzug vor der
Meinungsfreiheit verdient. Diese Lehre ist jedoch veraltet. Heutzutage findet
dieser Gedanke seinen Niederschlag im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der
aber auch jedem einfachen Gesetzesvorbehalt als Schranken-Schranke Grenzen
setzt. Die besondere Regelung des Art. 5 II GG wäre überflüssig.
Nach der Sonderrechtslehre darf sich das allgemeine Gesetz weder gegen die
Meinungsfreiheit als solche noch gegen eine bestimmte Meinung richten.
Diese Idee nimmt das Bundesverfassungsgericht mit seiner Kombinationslehre
auf. Danach ist ein Gesetz allgemein, das sich weder gegen die
Meinungsfreiheit noch gegen eine bestimmte Meinung richtet, sondern
dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte
Meinung zu schützenden Rechtsguts dient. Formal ist §15 I VersG keine
Ausrichtung auf eine bestimmte Meinung zu entnehmen. Allerdings verweist die
öffentliche Ordnung auf ungeschriebene Regeln, die von Mehrheitsauffassungen
definiert werden (vgl. die Definition in Fn. 14), und verlagert das Problem damit
auf diese.
Es gilt: „Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist ein Recht auch zum
Schutz von Minderheiten; seine Ausübung darf nicht allgemein und
ohne eine tatbestandliche Eingrenzung, die mit dem Schutzzweck des
Grundrechts übereinstimmt, unter den Vorbehalt gestellt werden, dass
die geäußerten Meinungsinhalte herrschenden sozialen oder ethischen
Auffassungen nicht widersprechen. Dementsprechend hat der
Gesetzgeber in seiner Rechtsordnung, insbesondere in den
Strafgesetzen, Meinungsäußerungen nur dann beschränkt, wenn sie
zugleich sonstige Rechtsgüter -- etwa die Menschenwürde oder das
allgemeine Persönlichkeitsrecht -- verletzen.“ (BVerfGE 111, 147
<156>)
Der Verweis auf die öffentliche Ordnung in § 15 I VersG genügt daher nicht der
Schrankenregelung
des
Art.
5
II
GG,
soweit
er
Anwendung
auf
die
Meinungsinhalte einer Versammlung findet.
Anm.: Für die Auslegung des § 15 I VersG bedeutet das Gesagte, dass
ein
Erlass
eines
Versammlungsverbots
wegen
eines
Versammlungsinhaltes grundsätzlich nicht auf den Begriff der
öffentlichen Ordnung gestützt werden kann.6 Eine Gefahr für die
öffentliche Ordnung infolge der Art und Weise der Durchführung einer
Versammlung kann beispielsweise bei einem aggressiven und
provokativen,
die
Bürger
einschüchternden
Verhalten
der
Versammlungsteilnehmer bestehen, durch das ein Klima der
Gewaltdemonstration und potentieller Gewaltbereitschaft erzeugt wird.
Ein Anlass für Beschränkungen der Versammlungsfreiheit unter
Berufung auf das Schutzgut der öffentlichen Ordnung kann ferner
gegeben sein, wenn Rechtsextremisten einen Aufzug an einem speziell
der Erinnerung an das Unrecht des Nationalsozialismus und den
Holocaust dienenden Feiertag so durchführen, dass von seiner Art und
Weise Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der
Bürgerinnen und Bürger erheblich beeinträchtigen (vgl. auch BVerfG,
Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2006 – 1
BvQ 3/06 -, NVwZ 2006, S. 585).
bb. Rechtfertigung anhand kollidierenden Verfassungsrechts
Möglicherweise lässt sich der Grundrechtseingriff aber aufgrund kollidierenden
Verfassungsrechts rechtfertigen.
Dazu müsste die Meinungsfreiheit außer den Schranken des Art. 5 II GG auch
noch der Schranke des kollidierenden Verfassungsrechts unterliegen.
Dafür spricht, dass die Rechtfertigung anhand kollidierenden Verfassungsrechts
im Rahmen der Dogmatik zu den vorbehaltlosen Grundrechten allgemein
anerkannt ist und die Möglichkeit von Kollisionen mit verschiedenen anderen
Verfassungsinhalten auch im Rahmen des Art. 5 II GG möglich ist. Dann aber
ließe sich wie bei vorbehaltlosen Grundrechten argumentieren, dass Art. 5 I 1 GG
im Rahmen dieser Kollisionen nicht per se Vorrang zukommen kann, sondern die
6
anders für Auflagen, BVerfG, NJW 2001, 1401.
Kollision im Sinne praktischer Konkordanz derart aufgelöst werden sollte, dass
beide Verfassungswerte zu optimaler Geltung kommen.
Allerdings hat der Verfassungsgeber die Möglichkeit der Kollision der
Meinungsfreiheit mit anderen Schutzgütern gesehen. Deswegen hat er die
Schrankenregelung des Art. 5 II GG geschaffen, die abgesehen von den
Schutzgütern Jugend und persönliche Ehre eben ein allgemeines Gesetz zur
Rechtfertigung des Eingriffs erfordert. Damit kommt zudem ein allgemeines
Prinzip – die Meinungsneutralität – zum Ausdruck, die zunächst eine zusätzliche
formelle Eingrenzung des Gesetzesvorbehalts bedeutet. Der Verfassungsgeber
hat also mit Art. 5 II GG eine abschließende Regelung geschaffen, die nicht unter
Berufung auf allgemeine Prinzipien umgangen werden darf.
Die andere Auffassung ist nicht nur gut vertretbar, sondern
herrschend. Dann wäre hier nach einem (kollidierenden)
Verfassungsgut zu suchen gewesen. Das Problem, worin dieses liegen
könnte, taucht hier im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu
Art. 8 GG wieder auf.
b. Ergebnis Rechtfertigung
Der Eingriff in Art. 5 I 1 GG kann nicht gerechtfertigt werden.
4. Ergebnis Verletzung Art. 5 I 1 GG
Die N ist in ihrer Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1 GG verletzt.
III. Verstoß gegen Art. 8 I GG
Fraglich ist, ob N in ihrer Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG verletzt ist.
0. Verhältnis zu Art. 5 I 1 GG
Fraglich ist zunächst, ob Art. 5 I 1 GG und Art. 8 I GG überhaupt nebeneinander
zur Anwendung kommen können. Insbesondere könnte man auf Grundlage des
engen Versammlungsbegriffs meinen, dass Art. 8 I GG als lex specialis die
Meinungsfreiheit
verdrängt.
Dem
ist
nicht
so:
Beide
Grundrechte
sind
grundsätzlich nebeneinander anwendbar. Ein Eingriff in eine Versammlung
aufgrund ihres Inhaltes ist daher an Art. 8 I GG und an Art. 5 I 1, II GG zu
messen. Geht es dagegen nur um versammlungsspezifische Verhaltensweisen,
nicht um in oder durch die Versammlung kundgegebene Meinungen, ist allein die
Versammlungsfreiheit einschlägig.7
„Der Inhalt einer Meinungsäußerung, der im Rahmen des Art. 5 GG
nicht unterbunden werden darf, kann daher auch nicht zur
Rechtfertigung von Maßnahmen herangezogen werden, die das
Grundrecht des Art. 8 GG beschränken (vgl. BVerfGE 90, 241
<246>).“ (BVerfGE 111, 147 <155>)
Hier kommen demnach Art. 5 und Art. 8 GG nebeneinander zur Anwendung.
1. Schutzbereich
Dazu müsste zunächst der Schutzbereich persönlich wie sachlich eröffnet sein.
a. persönlicher Schutzbereich
Fraglich ist, ob der persönliche Schutzbereich eröffnet ist. Persönlich ist der
Schutzbereich des Art. 8 I GG auf Deutsche beschränkt. Zweifelhaft ist insofern,
ob daraus Folgerungen für die Staatsangehörigkeit, die die Mitglieder haben
müssen, zu ziehen sind. Teilweise wird in der Literatur vertreten, dass
Deutschengrundrechte nur für solche juristischen Personen, die von deutschen
Mitgliedern
beherrscht
werden,
anwendbar
sind.8
Mangels
Angaben
im
Sachverhalt ist aber davon auszugehen, dass die Mitglieder der N-Partei
Deutsche sind ( - die politische Ausrichtung mag ebenfalls dafür sprechen). N
kann sich daher jedenfalls auf die Versammlungsfreiheit berufen. Der persönliche
Schutzbereich ist eröffnet.
b. sachlicher Schutzbereich
Fraglich ist, ob auch der sachliche Schutzbereich eröffnet ist. Art. 8 I GG schützt
das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu
versammeln. Entscheidend ist damit der Versammlungsbegriff. Einigkeit herrscht
insofern
im Ausgangspunkt:
Sich-Versammeln
ist das Zusammenkommen
mehrerer Personen zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks.9
Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl., Rn. 125 zu Art. 8.
Dagegen: Pieroth/Schlink, Rn. 163; Enders, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Edition 17,
Art. 19, Rn. 38.
9 Pieroth/Schlink, Rn. 749.
7
8
Zweifelhaft ist aber zunächst, wie hoch die Anzahl von Menschen für eine
Zusammenkunft i.S.v. Art. 8 I GG sein muss. Zum Teil wird ein Sich-Versammeln
als Zusammenkunft „mehrerer Personen“ bereits bei 2 Teilnehmern für gegeben
angesehen.10
Andere verlangen mindestens 3 Teilnehmer11 oder auch 7
Teilnehmer. Das BVerfG spricht selber von „mehreren Personen“.12
Anm.: Die Ein-Personen-Demonstration fällt schon begrifflich nicht in
den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit.
Zu der Veranstaltung der N soll eine Vielzahl Demonstranten erscheinen, also
jedenfalls mehr als sieben. Eine Streitentscheidung ist daher entbehrlich.
Umstritten ist weiter, welcher Natur der gemeinsame Zweck, den die Teilnehmer
verfolgen, sein muss.

Nach
dem
weiten
Versammlungsbegriff
Persönlichkeitsentfaltung
in
Gruppenform
ist
durch
geschützt
Art. 8 GG
die
(Pieroth/Schlink,
Grundrechte, 23. Aufl. 2007, Rn 692 f.).

Andere fordern vermittelnd, dass der gemeinsame Zweck in der Meinungsäußerung und -bildung liegen müsse.

Der enge Versammlungsbegriff des BVerfG will sogar nur solche Zwecke genügen lassen, die auf die Bildung oder Äußerung einer Meinung in öffentlichen
Angelegenheiten gerichtet sind. Eine Versammlung ist danach eine örtliche
Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe
an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.13 Dies soll sich aus dem Bezug des Art. 8 Abs. 1 GG zum Prozess öffentlicher Meinungsbildung ergeben.14
Die sehr enge Grenzziehung des Schutzbereichs des Art. 8 Abs. 1 GG
durch das BVerfG kommt etwas überraschend, weil zuvor durchaus ein
wesentlich weiterer Versammlungsbegriff in Literatur und Rechtsprechung herrschend war (siehe hierzu die Zusammenstellung der verschiedenen Auffassungen bei Brenneisen, NordÖR 2006, 97, 98;
Laubinger/Repkewitz, VerwArch. 90 [2001], S. 585, 615 ff.) und das
Vgl. z.B. VGH Mannheim, Urteil 25.4.2007 - 1 S 2828/06; wohl auch h.M. in der Literatur Sachs,
in: Stern, Staatsrecht, Bd. IV 1, 2006, § 107, S. 1196 ff., mit umfangreichen Nachweisen (in Fn.
122), auch zur Gegenansicht (in Fn. 123).
11 Vgl. z.B. Wache, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtl. Nebengesetze, Bd. 4, V 55 (Dez. 2005 ), § 1,
Rn. 23 m.N.
12 BVerfGE 104, 92 (104).
13 vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90 u.a. -, BVerfGE 104, 92 (104).
14 Vgl. zum Ganzen Pieroth/Schlink, Rn. 749 ff., die den weitesten Begriff vertreten.
10
BVerfG sich insbesondere auch nicht veranlasst gesehen hat, sich mit
den gegenteiligen Auffassungen - die nicht der Erwähnung wert gefunden werden - näher auseinanderzusetzen.
Hier liegt der Versammlungszweck gerade in der politischen Meinungsbildung.
Somit sind sogar die Voraussetzungen des engsten Versammlungsbegriffs erfüllt.
Folglich liegt eine Versammlung i.S.d. Art. 8 I GG hier vor.
Schließlich muss die Versammlung friedlich und ohne Waffen stattfinden.
Unfriedlich ist eine Versammlung immer dann, wenn die Versammlung als
Ganzes
zu
Gewalttätigkeiten
und
Aufruhr
führt
und
damit
kollektive
Unfriedlichkeit gegeben ist. Hier liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die
Versammlung unfriedlich ablaufen wird.
Der Schutzbereich des Art. 8 I GG ist demnach eröffnet.
2. Eingriff
In diesen Schutzbereich müsste durch das Verbot auch eingegriffen worden sein.
Ein Eingriff ist jede staatliche Maßnahme, die dem einzelnen die Ausübung seiner
Grundrechte ganz oder teilweise unmöglich macht bzw. erschwert. Durch das
Verbot wird die Versammlung gänzlich unmöglich gemacht. Dabei handelt es sich
um einen Eingriff in Art. 8 I GG.
3. Rechtfertigung
Allerdings könnte der Eingriff gerechtfertigt sein, wenn eine verfassungsmäßige
gesetzliche Grundlage (a.) im Einzelfall verfassungskonform angewandt worden
wäre (b.).
a. Verfassungskonforme gesetzliche Grundlage
Zunächst müsste die gesetzliche Grundlage, § 15 I VersG, verfassungskonform
sein.
aa. Übereinstimmung mit Schrankenregelung
Zunächst müsste § 15 I VersG mit der Schrankenregelung des Art. 8 II GG
übereinstimmen.
Dieser
unterstellt
Versammlungen
einem
einfachen
Gesetzesvorbehalt – wenn sie unter freiem Himmel stattfinden. Versammlungen
in geschlossenen Räumen unterliegen dagegen keinem Gesetzesvorbehalt. Zur
Abgrenzung kommt es – dem Wortlaut entgegen – nicht auf die räumliche
Begrenzung der Veranstaltungen nach oben, sondern zur Seite an. Die
Demonstration soll
auf dem Alexanderplatz ohne seitliche Begrenzungen
stattfinden. Es handelt sich also um eine Veranstaltung unter freiem Himmel
i.S.d. Art. 8 II GG, die dem einfachen Gesetzesvorbehalt unterliegt. Diesem
genügt § 15 VersG.
Anm.: Veranstaltungen in nach oben offenen Stadien sind daher keine
Veranstaltungen unter freiem Himmel. „Es geht nicht um die Gefahr
des Nasswerdens durch Regen, sondern darum, dass die räumliche
Offenheit die Versammlung besonders störanfällig und gefährlich
macht.“15
bb. Verfassungsmäßigkeit im Übrigen
Der § 15 I VersG müsste auch im Übrigen verfassungsmäßig sein.
In formeller Hinsicht könnten hier Zweifel bestehen, da sich nach der
Föderalismusreform kein Kompetenztitel mehr für den Bund im GG findet, der
zum Erlass eines Versammlungsgesetzes berechtigt. Allerdings führt der Wegfall
der Gesetzgebungskompetenz nicht zur Nichtigkeit des alten Bundesrechts. Das
Bundesrecht gilt nach Art. 125a I GG bis zur Ersetzung durch Landesrecht fort.
Somit ist § 15 I VersG formell verfassungsgemäß.
§ 15 I VersG müsste auch materiell verfassungsmäßig sein. Bedenken könnten
insoweit bestehen, als dass die Begriffe der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung16 zu unbestimmt sind. Allerdings steht dem offenen Wortlaut eine
Jahrzehnte währende Rechtspraxis gegenüber. In der Rechtsprechung und
Literatur ist der Begriff in dieser Zeit hinreichend konkretisiert worden.17 Selbst
im Grundgesetz (Art. 13 Abs. 7, 35 Abs. 2 GG) wird der Begriff der öffentlichen
Pieroth/Schlink, Rn. 764.
Unter dem Begriff öffentlich Ordnung versteht man die ungeschriebene Regeln, deren Befolgung
nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden
sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten
menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen werden (vgl.
BVerfGE 69, 315 <352>; BVerfGK 2, 1 <6>)
17 A.A. durchaus vertretbar, vgl. zur Kritik z.B. Denninger, in Lisken/Denninger, Handbuch des
Polizeirechts, 3. Auflage, E 26 ff.
15
16
Ordnung neben dem der öffentlichen Sicherheit verwendet. Zudem enthält der
Tatbestand des § 15 I VersG weitere Einschränkungen, die bewirken, dass
Verbote
und Auflösungen im Wesentlichen nur zum Schutz elementarer
Rechtsgüter in Betracht kommen können. Zum einen enthält § 15 I VersG die
Möglichkeit, die Versammlung mit Auflagen zu versehen, so dass Verbote und
Auflösungen nur als ultima ratio in Betracht kommen. Dies ist Ausfluss des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Zum anderen kommen Verbote und
Auflösungen nur bei einer „unmittelbaren“ Gefährdung der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung in Betracht, deren Feststellung auf „erkennbaren Umständen“
beruht. Bloßer Verdacht oder Vermutungen können nicht ausreichen. § 15 I
VersG sieht mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung der
Versammlungsfreiheit beschränkende Verfügungen gegenüber Versammlungen
daher nur für den Fall vor, dass die öffentliche Sicherheit oder Ordnung nach den
zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen bei Durchführung
der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist. Die beschränkende
Verfügung soll Rechtsgütern dienen, deren Schutz im betroffenen Fall der
Ausübung der Versammlungsfreiheit vorgeht, und sie soll den Gefahren auf eine
Weise entgegenwirken, die stärker beeinträchtigende Maßnahmen, etwa ein
Verbot der Versammlung, nicht erforderlich werden lassen. Nicht auf der
Grundlage des § 15 I VersG werden demgegenüber behördliche Maßgaben
erlassen, die nicht eine Abwehr konkret bevorstehender unmittelbarer Gefahren
bezwecken, sondern sich in bloßen Hinweisen auf die allgemeine Rechtslage
erschöpfen, Vorkehrungen für abstrakt gefährliche Tatbestände vorsehen oder im
Sinne
vorsorgender Maßnahmen lediglich den reibungslosen Ablauf einer
Versammlung gewährleisten sollen.18 Das für beschränkende Verfügungen
vorauszusetzende
Sachlage
voraus,
Wahrscheinlichkeit
entgegenstehenden
Erfordernis
die
zu
bei
einer
unmittelbaren
ungehindertem
einem
Schaden
Interessen
führt.19
für
Nur
Gefährdung
Geschehensablauf
die
der
unter
setzt
mit
eine
hoher
Versammlungsfreiheit
Berücksichtigung
der
Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde bei dem Erlass von
vorbeugenden
Verfügungen
keine
zu
geringen
Anforderungen
an
die
Gefahrenprognose stellen. Daher müssen zum Zeitpunkt des Erlasses der
Verfügung
erkennbare
Umstände
dafür
vorliegen,
aus
denen
sich
vgl. dazu BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. März 2007 - 1 BvR
232/04 -, NVwZ 2007, S. 1183 <1184>, und vom 25. Oktober 2007 - 1 BvR 943/02.
19 vgl.BVerfGE 69, 315 (353, 360).
18
die
unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung ergibt. Als Grundlage der
Gefahrenprognose
sind
konkrete
und
nachvollziehbare
tatsächliche
Anhaltspunkte erforderlich.20 Bloße Vermutungen reichen nicht aus.21
Hierdurch wird die Feststellung einer „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung“ im Gegensatz zum allgemeinen Polizeirecht noch einmal stärker
eingeschränkt.
Zudem ist § 15 I VersG eine Ermessensvorschrift, die eine verfassungskonforme
Anwendung im Einzelfall erlaubt.
§ 15 I VersG ist mithin materiell und daher auch ingesamt verfassungsgemäß.
bb. Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes
Das
Verbot
der
Versammlung
müsste
weiter
auch
im
Einzelfall
verfassungskonform sein. Dies ist nur dann der Fall, wenn es verhältnismäßig ist.
Mit dem Verbot bezweckt die Behörde den Schutz des 1. Mai als Feiertag zur
Erinnerung an die Verdienste der Arbeiterschaft für die freiheitliche Demokratie.
Dieser Zweck ist durch die Verfassung nicht verboten und damit zunächst
legitim.
Auch das Mittel des Verbots ist nicht per se verfassungswidrig und daher legitim.
Das Verbot müsste zur Erreichung des Ziels zudem geeignet sein. Geeignet ist
eine Maßnahme, wenn sie das Ziel zumindest fördert. Durch das Verbot der
Versammlung wird die Inanspruchnahme des Feiertags durch Rechtsextreme
geschützt und damit verhindert, dass die Erinnerung an die Beiträge der
Arbeiterschaft zur freiheitlichen Demokratie in den Hintergrund gespielt wird. Die
Maßnahme ist dem Zweck daher förderlich, mithin zu seiner Verfolgung geeignet.
Das Verbot müsste auch erforderlich sein. Dies ist dann der Fall, wenn kein
gleich geeignetes, aber grundrechtsschonenderes Mittel zur Verfügung steht. In
Betracht käme hier eine Verschiebung der Demonstration auf einen anderen Tag.
Allerdings ist auch die Demonstration der N-Partei auf den 1. Mai als
vgl.BVerfGE 69, 315 (353 f.); 115, 320 (361) ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten
Senats vom 29. März 2002 - 1 BvQ 9/02 -, NVwZ 2002, S. 983
21 vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 1998 - 1 BvR 2311/94 -,
NVwZ 1998, S. 834 (835).
20
Veranstaltungstermin angewiesen. Eine Demonstration an einem anderen Tag
wäre wegen der Bedeutung des 1. Mai auch eine andere Demonstration. Sie wäre
daher schon kein milderes Mittel.
Das Verbot müsste auch angemessen sein. Das Mittel dürfte also nicht außer
Verhältnis zum Zweck stehen. Hierbei gilt die Formel, dass je schwerwiegender
der Eingriff ist, desto gewichtiger der Zweck der Einschränkung sein muss.
Konkret geht es somit um die Abwägung zwischen dem Schutz des 1. Mai und
der Versammlungsfreiheit der N-Partei.
Eine besondere Bedeutung des Ziels, Schutz des 1. Mai vor Inanspruchnahme
durch rechtsextreme Bewegungen, ließe sich aus der Verfassung begründen,
wenn
diese
ein
„antinationalsozialistisches
Grundprinzip“
22
enthielte.
Insbesondere das OVG Münster23 hat dies in der Vergangenheit der Sache nach
versucht. Danach stehen das Friedensgebot der Art.1 II, 24 II, 26 I GG und vor
allem die Menschenwürde des Art. 1 I GG, die Strukturprinzipien der Demokratie,
des Föderalismus und der Rechtsstaatlichkeit dem Nationalsozialismus diametral
entgegen.
Die
Ewigkeitsgarantie
des
Art.
79
III
GG
schützt
diese
Wertentscheidungen. Eine Ideologie, die auf Rassismus, Kollektivismus und dem
Prinzip von Führung und unbedingtem Gehorsam aufbaue, sei damit unvereinbar.
Sie sei auch mit den Mitteln des Demonstrationsrechts nicht zu legitimieren.
Jedoch ist zu beachten, dass auch und gerade die rechtsstaatlichen Garantien
des Grundgesetzes eine Reaktion auf den Nationalsozialismus sind.24 Hierzu
gehört
auch
die
Versammlungsfreiheit.
Diese
hat
als
grundlegendes
Funktionselement eines demokratischen Gemeinwesens besondere Bedeutung für
die
demokratische
Willensbildung.25
Die
Versammlungsfreiheit
steht
grundsätzlich auch dem zu, der sich in feindlicher Haltung gegen das
Grundgesetz stellt.26 Solange eine Partei nicht verboten ist, Art. 21 II 2 GG,
stehen ihr die gleichen Rechte zur Verfügung wie allen anderen Parteien.27 Dem
22
23
24
25
26
27
Ausdruck BVerfGE 124, 300 <330> (ablehnend).
Vgl. OVG Münster, NJW 2001, 2111 ff.
BVerfG, NJW 2001, 2076, 2077.
BVerfGE 69, 315 (346).
BVerfG, NJW 2001, 2076, 2077.
vgl. zur Vertiefung: BVerfGE 107, 339 ff. zum gescheiterten NPD-Verbotsverfahren.
Grundgesetz
ist
daher
kein
antinationalsozialistisches
Grundprinzip
zu
entnehmen. 28
In den Worten des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die
Meinungsfreiheit: „Das Grundgesetz gewährt Meinungsfreiheit im Vertrauen
auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung vielmehr
grundsätzlich auch den Feinden der Freiheit. Der Parlamentarische Rat
bekannte sich hierzu auch gegenüber dem soeben erst überwundenen
Nationalsozialismus. In den Art. 9 Abs. 2, Art. 18 und Art. 21 Abs. 2 GG legte
er fest, dass nicht schon die Verbreitung verfassungsfeindlicher Ideen als
solche die Grenze der freien politischen Auseinandersetzung bildet, sondern
erst eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der freiheitlichen
demokratischen Grundordnung (vgl. BVerfGE 5, 85 <141>). Entsprechend
gewährleistet Art. 5 Abs. 1 und 2 GG die Meinungsfreiheit als Geistesfreiheit
unabhängig von der inhaltlichen Bewertung ihrer Richtigkeit, rechtlichen
Durchsetzbarkeit oder Gefährlichkeit (vgl. BVerfGE 90, 241 <247>). Art. 5
Abs. 1 und 2 GG erlaubt nicht den staatlichen Zugriff auf die Gesinnung,
sondern ermächtigt erst dann zum Eingriff, wenn Meinungsäußerungen die
rein
geistige
Sphäre
des
Für-richtig-Haltens
verlassen
und
in
Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen.“29
Im Gegenteil ist gerade die abweichende Meinung, d. h. immer auch die
streitbare und (möglicherweise) falsche, und ihre Kundgabe von Art. 8 I GG und
Art. 5 I GG geschützt. Diese Kommunikationsgrundrechte sind ihrerseits
Grundpfeiler
des
vom
Grundgesetz
geschaffenen
Gegenentwurfs
zum
Nationalsozialismus, Grundpfeiler der freiheitlichen Demokratie.
Ein Verbot der Veranstaltung allein aufgrund eines selbst nicht verbotenen oder
gar strafbaren Inhalts der kundgegebenen Meinungen kann daher auch an einem
Feiertag nicht vor Art. 8 I GG bestehen. Dies gilt zumal, wie gesehen, da der
Feiertag nicht nur die Abwehr der Demonstration argumentativ zu stützen
vermag, sondern auch für deren eigene, grundrechtlich geschützte Sinnhaftigkeit
von immenser Bedeutung ist. Eine Demonstration am 1. Mai kann eben nur am
1. Mai stattfinden.
Das Verbot ist daher nicht angemessen und folglich unverhältnismäßig.
Die Anwendung im Einzelfall verletzt daher Art. 8 I GG.
III. Ergebnis Begründetheit
28
29
BVerfGE 124, 300 <330>
ebd.
Die Verfassungsbeschwerde der N ist begründet.
C. Gesamtergebnis
Die Verfassungsbeschwerde der N hat Erfolg.
Zusatzfrage:
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen
Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr
schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen
Wohl
dringend
geboten
ist.
Dabei
haben
die
Gründe,
die
für
die
Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden,
grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf Eilrechtsschutz hat
jedoch keinen Erfolg, wenn eine Verfassungsbeschwerde
unzulässig oder
offensichtlich unbegründet wäre.30
Bei einem offenen Ausgang eines möglichen Verfassungsbeschwerdeverfahrens
sind gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG die Folgen, die eintreten würden, wenn eine
einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg
hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte
einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der
Erfolg zu versagen wäre31 (doppelt hypothetische Folgenabwägung).
Anm.: Allerdings gibt es Ausnahmen von diesem Grundsatz. So prüft
das BVerfG die Erfolgsaussichten von Verfassungsbeschwerden auch
dann, wenn sich die Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche
Entscheidungen richtet, die ihrerseits im einstweiligen Rechtsschutz
ergangen sind und die die Hauptsache vorwegnehmen. Insbesondere
gilt das, wenn die Rechtsverletzung bei Verweigerung einstweiligen
Rechtsschutzes nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte (vgl.
BVerfGE
111,
147
<153>).
Derartige
Feinheiten
des
Verfassungsprozessrechts sind in der Klausur jedenfalls nicht mehr
relevant. Im kürzlich ergangenen Beschluss zu ESM und Fiskalpakt
prüfte das BVerfG im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung summarisch die Erfolgsaussichten in der Hauptsache
anstelle einer solchen Folgenabwägung (vom 12. September 2012, Az.
2 BvR 1390/12 u.a.). Darin lag ein pragmatischer Kompromiss in
einem Einzelfall, der grundsätzlich nicht verallgemeinerbar ist.
Einerseits brauchte man schnell eine Entscheidung darüber, ob die
30
31
vgl.BVerfGE 71, 158 ,161; 111, 147, 152 f.; stRspr.
Vgl. BVerfGE 71, 158 ,161; 96, 120 ,128 f.; stRspr.
Bundesrepublik Verträge ratifizieren durfte. Andererseits ist die damit
eintretende
völkerrechtliche
Verbindlichkeit
im
Grundsatz
unumkehrbar. Die Hauptsache steht noch zur Entscheidung an
(mündliche Verhandlung am 11. und 12. Juni 2013).
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