Artikel 9 I GG

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Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Köln
Staatsrecht (Frau Retterath)
Artikel 9 I GG
1.) Schutzbereich
a) Persönlicher Schutzbereich
Bürgerrecht, also
- alle Deutschen i.S.d. Art. 116 I GG
- Vereine (h.M.: direkt aus der Verfassung, nicht über Art. 19 III GG)
b) Sachlicher Schutzbereich
Vereinigung: Freiwilliger Zusammenschluss einer Mehrheit von
natürlichen oder juristischen Personen für längere Zeit zu einem
gemeinsamen Zweck (Definition aus § 2 VereinsG)
- gilt nach h.M. nur für privatrechtlich organisierte Vereinigungen
- für eine Mehrheit von Personen genügen zwei Personen,
ausgeschlossen sind damit nur z.B. Einmann-GmbHs
gemeinsamer Zweck: jeder Zweck, egal ob Sport, Wissenschaft,
Geselligkeit, Religion, Musik, Kunst, Wohltätigkeit oder Politik, nach
h.M auch ein (erwerbs-)wirtschaftlicher Zweck
Zusammenschluss: Vereinigungen bedürfen, anders als Versammlungen,
einer gewissen Festigkeit durch organisierte Willensbildung, der sich
alle Mitglieder unterwerfen müssen. Die Form der Willensbildung ist
aber der Vereinigung frei überlassen (z.B. e.V., oHG)
Umfang des Schutzes: Gründung, Betätigung und Bestand einer
Vereinigung, Eintritt in eine bereits bestehende Vereinigung, die
negative Vereinigungsfreiheit (Fernbleiben, Austritt)
- (P) Zwangsmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Verbänden (IHK,
Handwerkskammer, etc) ist nach h.M. von der neg. Vereinigungsfreiheit
nicht umfasst, weil Art. 9 I GG auch nicht die Gründung solcher
Verbände schützt
- (P) Aufnahmeanspruch: in Verbindung mit §§ 242, 826 BGB kann bei
Vereinigungen mit faktischer Monopolstellung und großer Bedeutung
eine direkte Drittwirkung des Art. 9 I GG abgeleitet werden, z.B. der
Anspruch eines Arbeitnehmers auf Aufnahme in die IG-Metall.
- die Vereinigung kann sich nicht auf Art. 9 I GG berufen, wenn sich
ihre Tätigkeit außerhalb des vereinsspezifischen Bereichs bewegt
(ggfs. greift ein anders Grundrecht der Vereinigung, sofern über Art.
19 III GG anwendbar, z.B. Art. 2 I, 5 I, 8 I, 12I, 14 I GG)
2.) Eingriff in den Schutzbereich
a) Hoheitsakt, der den Schutzbereich berührt und die Verwirklichung des
Grundrechtes (auch nur faktisch) beeinträchtigt
b) kein Grundrechtsverzicht
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Staatsrecht (Frau Retterath)
3.) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
a) Grundrechtsschranken
(1) Verfassungsunmittelbare Schranke aus Art. 9 II GG:
- wenn Zweck oder Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen (z.B.
Hells Angels)
- wenn Vereinigung gegen die verfassungsmäßige Ordnung richtet,
wobei „verfassungsmäßige Ordnung“ (enger als in Art. 2 I GG) sich
nur auf die elementaren Grundsätze der Verfassung, also auf die
Grundsätze der freiheitlich demokratischen Grundordnung* (Art.
18, 21 GG) bezieht (z.B. Wiking-Jugend)
- wenn sie sich gegen Gedanken der Völkerverständigung richtet.
Hier bedarf es der Störung des Friedens unter den Völkern und
Staaten, die Ablehnung von Kontakten zu anderen Völkern oder die
bloße Kritik an fremden Staaten genügen nicht
(2) Außerdem gelten die verfassungsimmanenten Schranken, z.B.
Funktionsfähigkeit des Strafvollzugs (Vereinigung von
Strafgefangenen), Wettbewerbsfreiheit (Fusionsverbote)
Artikel 9 III GG
1.) Schutzbereich
a) Persönlicher Schutzbereich
Menschenrecht, also
- jede natürliche Person
- Arbeitgeber, unabhängig von ihrer Rechtsform (direkt, nicht über Art.
19 III GG)
- die Arbeitnehmer-/-gebervereinigung selbst (lt. BVerfG)
- bei Arbeitskampf auch Außenseiter, die mit organisierten
Arbeitnehmern oder Arbeitgebern ein „Kampfbündnis“ schließen
b) Sachlicher Schutzbereich
Koalition: frei gebildete, gegnerfreie, unabhängige, überbetriebliche
Vereinigung, die das Ziel der Wahrung der mitgliedschaftlichen
Interessen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und der tarifpolitischen
Tätigkeit hat (also nur Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und deren
Spitzenverbände Deutscher Gewerkschaftsbund und Bundesvereinigung
der deutschen Arbeitgeber)
Wirtschaftsbedingungen: haben einen wirtschafts- oder
sozialpolitischen Bezug (Verringerung der Arbeitslosigkeit,
Arbeitsplatzgarantie)
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Staatsrecht (Frau Retterath)
Arbeitsbedingungen: ergeben sich aus dem Arbeitsverhältnis selbst
(Lohn, Urlaub, Arbeitszeiten, Arbeitsschutz)
Umfang des Schutzes: Gründung und Bestand einer Koalition, Eintritt in
eine bereits bestehende Koalition, die negative Koalitionsfreiheit
(Fernbleiben, Austritt)
- (P) Streikrecht umfasst nicht: politische, wilde und Solidaritätsstreiks
2.)
Eingriff in den Schutzbereich
a) Hoheitsakt, der den Schutzbereich berührt und die Verwirklichung des
Grundrechtes (auch nur faktisch) beeinträchtigt
b) kein Grundrechtsverzicht
3.)
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
b) Grundrechtsschranken
(1)
verfassungsimmanente Schranken
- Grundrechte anderer: z.B. Koalitionsfreiheit der Gegenseite, Art.
2 II 1 GG – Streik in lebensnotwendigen Bereichen
- Werte mit Verfassungsrang: z.B. Art. 20 I GG – Sozialstaatprinzip
und Lohnabstandklausel, Art. 33 V GG – weder Streikrecht noch
Tarifautonomie bei Beamten, Art. 20 III GG – Verhältnismäßigkeit
von Arbeitskampfmaßnahmen
(2) Schrankenvorbehalt Art. 9 III 2, 3 GG
Hinweis: Art. 9 III GG enthält außerdem eine Institutsgarantie für ein
Tarifvertragssystem und eine objektive Schutzpflicht des Staates.
*zur Erinnerung: Freiheitlich-demokratische Grundordnung ist eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung, die jegliche Gewalt und Willkürherrschaft
ausschließt und sich nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit richtet. Hierzu
gehören demnach die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten
Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und
freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der
Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen
Parteien mit dem Recht auf Verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer
Opposition. (Rolf Schmidt, Grundrechte)
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