Thesen zum Vortrag1 Erfahrungen bei der Verhandlung von Zielvereinbarungen Referent: Klemens Kruse Geschäftsführer des BKB Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit e. V. 1. Die in § 5 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) geregelte Zielvereinbarung zur Herstellung von Barrierefreiheit ist eine Form gesellschaftlicher Selbstregulierung. Die Kraft einer Selbstregulierung liegt gerade darin, Lösungen anzubieten, an die bisher noch nicht gedacht worden ist. Dies verträgt sich schlecht mit einem gesetzlich vorgegebenen Modell. Es entspricht der Erfahrung des BKB, dass es neben einer Zielvereinbarung vielfältige, weitere Formen gesellschaftlicher Selbstregulierung der Barrierefreiheit gibt (etwa Leitfäden, Checklisten). Häufig bedarf die Umsetzung einzelner Ziele auch keiner Vereinbarung. 2. Das durch den Gesetzgeber regulierte Modell der Zielvereinbarung ist zu statisch. Es sieht vor, dass ein Ziel und ein Zeitplan zum Erreichen dieses Ziels festgelegt werden. Dabei kommt zu kurz, dass die Verbesserung der Barrierefreiheit ein fortwährender Prozess ist. Es kommt wesentlich darauf an, den Entscheidungsfindungsprozess so zu organisieren, dass Anforderungen der Barrierefreiheit auf allen Ebenen von vorneherein durchgängig mitberücksichtigt werden. Die über das BKB organisierten Zielvereinbarungen sehen eine solche strukturelle Absicherung vor. 3. Soll eine Zielvereinbarung eine steuernde Funktion haben, müssen daneben Anforderungen der Barrierefreiheit möglichst konkret beschrieben werden. Die über das BKB organisierten Zielvereinbarungen beschreiben die mit der Herstellung der Barrierefreiheit verbundenen Aufgaben mit Hilfe eines Bausteinsystems. Die Anforderungen der einzelnen Bausteine sollen ihrerseits in einem Leitfaden konkret, praxisnah und anschaulich erläutert werden. 4. Ein erfolgreicher Vertragsabschluss setzt voraus, dass den Vertragspartnern die Angst vor einer Überforderung genommen werden kann, ohne den hohen Anspruch der barrierefreien Gestaltung zu leugnen. Mit einem Bausteinsystem kann das gelingen, wenn nicht vorgeschrieben wird, mit welchem Baustein anzufangen ist und in welcher Zeit die Bausteine abzuarbeiten sind. Zu verlangen ist aber eine regelmäßige Berichterstattung. 5. Ein erfolgreicher Vertragsabschluss setzt ferner voraus, dass sich die jeweils relevanten Behinderungsgruppen bzw. ihre Verbände an den Verhandlungen beteiligen. Auf diese Weise erlangen die Vertragspartner ein großes Maß an Rechtssicherheit für die umzusetzenden Maßnahmen. Zugleich wird ein hoher Standard der Barrierefreiheit gewährleistet. 6. Einklagbare Rechtsansprüche zur Herstellung von Barrierefreiheit sind in Zielvereinbarungen praktisch nicht durchsetzbar. Ein Zielvereinbarungspartner wird freiwillig keine für ihn rechtlich nachteilige Tagung „Rechtliche Instrumente zur Durchsetzung von Barrierefreiheit“. Vortrag am Donnerstag, 8. November 2012 von 14:00 Uhr bis 14:20 Uhr. Die Thesen geben die Meinung des Vortragenden und nicht unbedingt die des BKB wider. 1 -1- Vereinbarung abschließen. Die über das BKB organisierten Zielvereinbarungen sehen deshalb nicht nur keine solchen Rechtsansprüche vor. Sie schließen sie sogar ausdrücklich aus. 7. Das eigentliche Instrument ist nicht die Zielvereinbarung, sondern der Markt. Die Vorstellung war, dass Unternehmen ein eigenes Interesse am Abschluss von Zielvereinbarung haben, weil sie neue Kunden gewinnen wollen. 8. Der wesentliche Grund für die zögerliche Inanspruchnahme der Rechtsform Zielvereinbarungen liegt in einer Überschätzung des Marktpotentials. Zwar ist die gesamte Zielgruppe von barrierefreien Gestaltungen sehr groß. Sie ist aber nicht homogen, sondern unterteilt sich in vielfältige Untergruppen mit unterschiedlichen, manchmal sogar widersprechenden Anforderungen. Hinzu kommt, dass eine barrierefreie Lösung häufig voraussetzt, dass verschiedene Rechtsträger zusammenwirken müssen. 9. Der Verhandlungsanspruch (§ 5 Absatz 1 Satz 2, Absätze 3 und 4 BGG) kann dann eingesetzt werden, wenn ein potentieller Zielvereinbarungspartner sich Gesprächen zur Herstellung von Barrierefreiheit verweigert. In einer solchen Situation wird die Geltendmachung eines Rechtsanspruches aber eher den vorhandenen Widerwillen stärken, als eine Bereitschaft zu einem Vertragsabschluss gegen ihn erzeugen. In den über das BKB organisierten Gesprächen ist deshalb ausnahmslos auf die Geltendmachung des Verhandlungsanspruches verzichtet worden. 10. Ohne den Anspruch der Sache geltend zu machen sind zum Teil Gespräche mit dem Verhandlungsanspruch begonnen worden. Dies betraf Fälle, in denen der potentielle Zielvereinbarungspartner ohnehin zur Umsetzung von Barrierefreiheit verpflichtet war (zum Beispiel für Kommunen in NordrheinWestfalen - NRW, mit denen nach dem Landesgleichstellungsgesetz Zielvereinbarungen abgeschlossen werden können). Zum Teil sind in NRW auch Zielvereinbarungen im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs abgeschlossen worden, weil der Nahverkehrsplan – anders als gesetzlich vorgesehen - keine konkreten Anforderungen der Barrierefreiheit enthielt. 11. Eine Erweiterung des Verhandlungsanspruches in Richtung eines Abschlusszwanges ist allerdings nicht nur wegen der grundrechtlich geschützten Vertragsfreiheit rechtlich problematisch. Wenn gesellschaftliche Selbstregulierungen nicht ausreichend sind, bieten sich vielmehr unmittelbare gesetzliche Regulierungen an. 12. Wenn Selbstregulierungen gestärkt werden sollen, sollte dem Charakter der Barrierefreiheit als vorbeugendem Diskriminierungsschutz stärker Rechnung getragen werden. Mit der Ratifizierung der UNBehindertenrechtskonvention ist die Versagung angemessener Vorkehrungen in Deutschland ein geltender Diskriminierungstatbestand (vgl. Artikel 2, Definitionen 2 und 3 UN-Behindertenrechtskonvention). Eine nicht „angemessene“ Barrierefreiheit kann daher im Einzelfall heute schon in Deutschland rechtlich als Diskriminierung gerichtlich geltend gemacht werden. Vertragliche Vereinbarungen zwischen anerkannten Behindertenverbänden und den für die Umsetzung der Barrierefreiheit Verantwortlichen könnten verbindlich festlegen, was als „angemessen“ gilt, wenn ihnen durch eine Gesetz eine solche Definitionsmacht zugewiesen werden würde. Derartige Vereinbarungen würden das Risiko mindern, wegen Versagung einer angemessenen Vorkehrung verklagt zu werden. -2-