Eröffnungsansprache VdK-Präsident Walter Hirrlinger 8.5.2003

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Eröffnungsansprache
des Präsidenten des Sozialverbandes VdK Deutschland
Minister a. D. Walter Hirrlinger
anlässlich
des Kongresses
„Barrieren vermeiden - Hindernisse abbauen
Barrierefreiheit heute und morgen“
am 8. und 9. Mai 2003 in Karlsruhe
(Es gilt das gesprochene Wort.)
Anrede,
am 1. Mai 2002 – vor fast genau einem Jahr – ist das Behindertengleichstellungsgesetz in
Kraft getreten, das die Schaffung von Barrierefreiheit für behinderte Menschen als Kernziel
nennt. Der heutige Kongress - zu dem ich Sie alle ganz herzlich begrüßen möchte - trägt den
Titel „Barrieren vermeiden - Hindernisse abbauen! Barrierefreiheit heute und morgen“. Er
wird sich also mit dem zentralen Anliegen des Behindertengleichstellungsgesetzes befassen.
Zugleich handelt es sich bei unserem Kongress um die zentrale Veranstaltung zum Thema
Barrierefreiheit, die in Deutschland im Rahmen des Europäischen Jahres der Menschen mit
Behinderungen 2003 stattfindet.
Ich möchte zunächst betonen, welch hohen Stellenwert barrierefreie Lebensumstände für behinderte Menschen besitzen. Ohne eine barrierefreie Umwelt wird vielen Betroffenen eine
Teilnahme am alltäglichen Leben in unserer Gesellschaft bereits dem Grunde nach ganz oder
teilweise versagt. Spreche ich von Betroffenen, dann meine ich damit nicht nur die rund 8
Millionen anerkannten Schwerbehinderten in Deutschland, sondern rund 30 Prozent unserer
Bevölkerung. Denn ungeachtet einer anerkannten Schwerbehinderung werden Menschen in
unserem Land - sei es durch Einschränkungen aller Art, die das Alter mit sich bringt, durch
zeitweise motorische und sonstige Beeinträchtigungen aufgrund eines Unfalls oder einer
Operation, oder auch nur durch Mobilitätseinschränkungen aufgrund des Mitführens eines
Kinderwagens oder schweren Gepäckstücks - in unserem Land an einer selbstbestimmten
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Lebensführung durch vorhandene Barrieren gehindert. Dass sich der Anteil dieser Bürgerinnen und Bürger an der Gesamtbevölkerung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten
allein aufgrund der demographischen Entwicklung noch erhöhen wird, ist hinlänglich bekannt, soll hier aber nicht unerwähnt bleiben, weil nach wie vor oftmals vergessen wird, dass
Barrierefreiheit ein wesentliches Element einer nachhaltigen Zukunftsgestaltung ist.
Seit Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes und seiner Bestimmungen zur Barrierefreiheit ist bereits viel diskutiert und auch schon manches in die Tat umgesetzt worden.
Ich weiß wovon ich rede, denn erst vergangene Woche hat der VdK zusammen mit dem Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen sowie dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen in Berlin einen Kongress über Barrierefreiheit im öffentlichen Personenverkehr durchgeführt. Gleichwohl habe ich den Eindruck, dass sich die Diskussion um Barrierefreiheit sehr stark auf die Bereiche Bauen und Verkehr konzentriert und die gesamte Dimension des Themas ein wenig außer acht gelassen wird.
Lassen Sie mich aus diesem Grund aus dem BGG zitieren: „Barrierefrei sind bauliche und
sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe
zugänglich und nutzbar sind.“
Sie sehen, ich rede hier nicht nur von der einen oder anderen Rampe an öffentlichen Gebäuden oder dem wünschenswerten Hublift an den Fahrzeugen der Deutschen Bahn AG. Ich rede
von umfassender Barrierefreiheit in allen gestalteten Lebensbereichen. Sie müssen ohne Erschwernis und ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar für alle sein.
Umfassende Barrierefreiheit betrifft also neben den Bereichen Bauen und Verkehr auch eine
ungehinderte Information und Kommunikation, die Gebrauchsgüte technischer Produkte und
– sozusagen als Querschnitt all dessen – den Bereich Freizeit und Tourismus. Und weil dies
so ist, haben wir uns für diese einzige zentrale Veranstaltung zum Thema Barrierefreiheit im
Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen in Deutschland vorgenommen, tatsächlich alle Aspekte der Barrierefreiheit zu beleuchten. Sie sehen das an den Arbeitsgruppen des
heutigen und morgigen Tages ebenso wie an den einführenden inhaltlichen Beiträgen, die uns
gleich hier im Plenum erwarten werden.
Lassen Sie mich einige Worte zu den genannten Themenkomplexen sagen, um deutlich zu
machen, wo aus der Sicht des VdK, wo aus der Sicht behinderter und chronisch kranker Menschen Handlungsbedarf auf Bundes-, Länder- oder auch kommunaler Ebene besteht.
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Wenn wir uns den Bausektor anschauen, so müssen wir feststellen, dass nach wie vor tagtäglich mehr Wohnungen und Gebäude errichtet werden, die nicht für alle Menschen zugänglich
und nutzbar sind, als solche, die barrierefrei gestaltet sind. Obwohl es seit Jahrzehnten Planungsgrundlagen und Normen gibt, mit denen für Bauherren und Architekten barrierefreies
Planen und Bauen möglich ist, fehlt es vielfach noch am Wissen der planenden, ausführenden,
aber auch und gerade der bauaufsichtlichen Stellen, wie Barrierefreiheit in diesem Bereich
umzusetzen ist. Hinzu kommen unterschiedliche Bauordnungen und technische Ausführungsbestimmungen in den Ländern, so dass die Wohn- und Lebensverhältnisse behinderter und
älterer Menschen in Deutschland, je nach Wohnort, sehr unterschiedlich sind. Hier bedarf es
einerseits einer Angleichung der Bestimmungen auf hohem Niveau und andererseits noch
zahlreicher gesetzlicher Initiativen, damit die Baubestimmungen in den Ländern dem im BGG
formulierten Anspruch an Barrierefreiheit gerecht werden. Der Bund ist für seine Bauten mit
dem BGG eine Selbstverpflichtung zur Herstellung von Barrierefreiheit eingegangen, die in
den Ländern und Kommunen, aber auch bei privaten Investoren eine Inititalzündung auslösen
muss, damit wir nicht schon bald wieder auf der Stelle treten.
Besonders dicke Bretter zu bohren, gilt es für alle Beteiligten auf dem Feld des öffentlichen
Verkehrs. Zwar wurden durch das Behindertengleichstellungsgesetz mehrere gesetzliche Regelungen geschaffen, die den Aufgabenträgern des ÖPNV, den Empfängern öffentlicher Zuschüsse und den Eisenbahnen die Herstellung weitreichender Barrierefreiheit vorschreiben.
Auch wurde den Vertretern behinderter Menschen ein umfassenden Anhörungsrecht gewährt.
Auf dem bereits erwähnten Kongress zu diesem Thema in Berlin wurde aber auch deutlich,
dass - teils aufgrund fehlender fester Kommunikations- und Konsultationsstrukturen, teils aufgrund tatsächlicher Finanzprobleme insbesondere in den Kommunen, teils aber auch aufgrund
der immer noch vorzufindenden Borniertheit in vielen Unternehmen und Behörden - die längere Wegstrecke hin zu einem barrierefreien öffentlich Verkehr nicht hinter uns, sondern noch
vor uns liegt. Aber auch an die Flugbranche und das private Taxigewerbe richtet sich mein
Appell für die Bereitstellung barrierefreier Beförderungsmöglichkeiten. Nur wenn diese beiden Branchen sich weit mehr als bisher behinderten Menschen öffnen, können tatsächlich geschlossene barrierefreie Reiseketten entstehen.
Zu einer barrierefreien Umwelt gehört - wie schon erwähnt - nicht nur die Beseitigung baulicher, sondern auch kommunikativer Barrieren. Bis heute ist es für viele Menschen in unserem Land noch nicht einmal möglich, ihre staatsbürgerlichen Rechte gegenüber den Behörden
des Bundes, der Länder sowie der Städte und Gemeinden auszuüben. Mit den drei Verordnungen, die das Bundesinnenministerium vergangenen Sommer diesbezüglich herausgegeben
hat, ist aber nun wenigstens eine entscheidende Grundlage geschaffen worden, mit der auch
blinden und sehbehinderten sowie gehörlosen und hörgeschädigten Menschen zukünftig die
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Kommunikation mit den Bundesbehörden und der ungehinderte Zugriff auf deren Informationen ermöglicht werden wird. Auf Länderebene existieren vergleichbare Bestrebungen.
Deren Resultate sind aber noch nicht hinreichend abzusehen, was nicht zuletzt am unterschiedlichen Stand der Gleichstellungsgesetzgebung in den Bundesländern liegt. Eine weitgehend weiße Landkarte finden wir vor, wenn wie uns die privaten Anbieter von Waren und
Dienstleistungen anschauen. Kaum ein Anbieter ist bislang zu der Erkenntnis gelangt, dass
der ungehinderte Zugang zu Informationen und die Nutzung entsprechender Dienste durch
alle, ein Qualitätsniveau darstellt, das nicht nur den potentiellen Nutzern, sondern auch und
gerade dem eigenen Unternehmen Vorteile bringt.
Weitgehend unberührt von der öffentlichen Diskussion um Barrierefreiheit ist seit jeher das
Feld der barrierefreien technischen Produkte. Das war bereits so, als der VdK zusammen mit
einigen wenigen Fachleuten in den 90er Jahren die Erarbeitung von Normungsgrundlagen für
solche Produkte begann, und das ist weitgehend immer noch so, obwohl seit letztem Jahr das
Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit in Form des DIN-Fachberichtes 124 öffentlich vorliegt
und auch in der internationalen Fachwelt zunehmend Beachtung findet. Obwohl also Gestaltungsempfehlungen für Produkte jedweder Art - von den Dingen des täglichen Bedarfs wie
Töpfe und Pfannen, Bügelbretter, Möbel bis hin zu komplexen Produkten wie Waschmaschinen, Herde, Fernsehen oder Computer - vorliegen, ist die Resonanz der Öffentlichkeit und
auch die der politischen Entscheidungsträger eher dürftig. Auch das hoffen wir mit unserem
Kongress ändern zu können. Denn eines ist klar: technische Produkte - nicht zu verwechseln
mit klassischen Hilfsmitteln, aber mit diesen jederzeit kompatibel - technische Produkte, die
barrierefrei gestaltet sind, ermöglichen rund 95 Prozent der Bevölkerung eine einfache, beschwerdefreie und ungeachtet der meisten sensorischen, motorischen oder kognitiven Einschränkungen alltägliche, selbstbestimmte Benutzung. Gerade wenn man an unsere stetig älter
werdende Gesellschaft denkt, ist dieser Bereich geradezu prädestiniert dafür, unternehmerische und auch politische Initiative herauszufordern.
Ohne die Möglichkeit, Freizeitaktivitäten ausüben und in Urlaub fahren zu können, kann von
einer Teilnahme am gesellschaftlichen Leben - das gilt für behinderte wie nicht-behinderte
Menschen gleichermaßen - nur schwerlich gesprochen werden. Ich sprach bereits davon, dass
der Bereich Freizeit und Tourismus sozusagen den Querschnitt der übrigen Themenfelder abbildet, so dass ersichtlich ist, wie viele der vorgenannten Probleme gelöst werden müssen, um
auch auf diesem Feld behinderten und chronisch kranken Menschen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen zu können. Dennoch ist dies nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite besagt, dass nach wie vor auf allen Ebenen der ausgeprägte Wille fehlt, Reise- und Freizeitangebote für behinderte Menschen anzubieten, diese Personengruppe als gleichberechtigten
Teil des Vergnügungsangebotes anzusehen und schließendlich auch das ökonomische Potenzial zur Kenntnis zu nehmen, das behinderte Menschen für diese Branche darstellen. Wenn
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ich von ökonomischem Potenzial rede, dann möchte ich hier aber auch erwähnen, dass es wenig Sinn macht, hiervon zu sprechen und dabei nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass es in
Deutschland auch an fachlicher Reiseberatung für behinderte Menschen in großem Umfang
mangelt. Hier haben sich in der Vergangenheit nicht nur die Reiseanbieter vornehm zurückgehalten, sondern leider auch - das muss ich so deutlich sagen - die Politik und die Ministerien des Bundes und der Länder nicht immer die richtigen Prioritäten gesetzt. Wie aber soll
sich potentielle in wirkliche Reisetätigkeit behinderter Menschen verwandeln, wenn ihnen
noch nicht einmal die bereits vorhandenen Möglichkeiten auf diesem Gebiet angemessen
aufgezeigt werden können.
Anrede,
jetzt habe ich ausführlich über die Probleme gesprochen, die im Hinblick auf Barrierefreiheit
in unserem Land existieren. Als Präsident des Sozialverbandes VdK Deutschland, der Veranstalter dieses Kongresses ist, und als Interessenvertreter von fast 1,3 Millionen Mitgliedern
dieses Verbandes sage ich Ihnen aber auch: hätte sich in den vergangenen Jahren nicht schon
vieles zum Besseren gewendet, wären seit dem Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes nicht bereits viele Dinge in Gang gekommen, dann könnten wird diesen Kongress
nicht so durchführen, wie wir ihn durchführen wollen. Nämlich als konstruktiven Dialog zwischen behinderten Menschen, privaten Unternehmen, Ministerien und anderen Behörden und
nicht zuletzt der Politik.
Nur weil sich schon vieles bewegt hat, werden Sie gleich im Anschluss an meine Rede sowie
heute und morgen in den Arbeitsgruppen und auf dem begleitenden Markt der Möglichkeiten
zahlreiche positive Beispiele aller Art bei der Umsetzung von Barrierefreiheit kennenlernen
können. Ich hoffe, dass der geplante Austausch zwischen den so zahlreich erschienenen an der
Herstellung barrierefreier Lebensverhältnisse beteiligten Fachleuten und fachlich Interessierten im Rahmen unseres Kongresses dazu beiträgt, Barrierefreiheit wo immer und wie immer
nachhaltig zu befördern. Vieles befindet sich bereits auf einem hohen Niveau, vieles ist noch
auf dem Weg, aber vieles muss hier und dort sicherlich auch erst noch angestoßen werden.
Dazu will unser Kongress und will dass Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen
einen wesentlichen Beitrag leisten.
Beides will und wird aber auch einen Beitrag dazu leisten, dass es zu einer Bewusstseinsveränderung in den Köpfen der Menschen kommt. Denn Barrierefreiheit fängt in den Köpfen der
Menschen an. Man muss sie wollen! Nur dann wird sie zur Selbstverständlichkeit. Nachdem
jedoch nur 4,5 Prozent der Schwerbehinderten in Deutschland mit ihrer Behinderung geboren
wurden, alle übrigen im Laufe ihres Lebens die Behinderung erlitten haben, weiß niemand
unter den so genannten Nichtbehinderten, ob er nicht heute, morgen oder übermorgen durch
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Krankheit oder Unfall auch zum Personenkreis behinderter Menschen gehört. Und dann sieht
die Welt völlig anders für ihn aus! Deshalb wollen wir für alle Barrierefreiheit erreichen!
In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine fruchtbare Diskussion und dem Kongress viel Erfolg!
Ich danke Ihnen.
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