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Mai 2004, Neue Zürcher Zeitung
Wie die Feldenkrais-Methode funktioniert
Jahrzehnte nach der Entwicklung neurologisch bestätigt
Vor über 50 Jahren entwickelte der Physiker Moshe Feldenkrais eine
Methode zur Behandlung von chronischen Verspannungen und Schmerzen,
die auf dem Neu-Erlernen von Bewegungen beruht. Feldenkrais war
überzeugt, dass sich so die Verbindungen im Nervensystem verändern
liessen - eine These, die damals wissenschaftlich nicht überprüfbar war.
Doch die neuere Forschung gibt dem Physiker Recht.
Als sich Moshe Feldenkrais, der am 6. Mai seinen 100. Geburtstag feiern würde, in
jungen Jahren die Bänder im Knie riss, stellten ihn die Ärzte vor die damals übliche
Wahl: Entweder das Gelenk operieren - mit dem 50-prozentigen Risiko, dass das
Bein danach steif sein würde - oder ein Leben lang mit einem instabilen Knie
herumlaufen. Der hochbegabte Naturwissenschafter - Feldenkrais hatte
Ingenieurwissenschaften studiert und seinen Doktortitel in Physik an der Sorbonne in
Paris erhalten, wo er bei der Nobelpreisträgerin Joliot-Curie gearbeitet hatte entschied sich gegen die Operation und für den Versuch, die Funktion des Knies
durch entsprechende Übungen selbst wiederherzustellen. Entscheidend schien ihm
dabei, dass das Knie nicht isoliert therapierbar sei, sondern nur als Teil von
vielfältigen Funktionen wie Gehen, Stehen oder Balancieren. Er glaubte auch, man
müsse eine Bewegung in möglichst vielen, mindestens aber in zehn Varianten
ausführen, um eine Verbesserung zu erreichen. Ausserdem müsse jede dieser
Bewegungen in sämtlichen Phasen bewusst gemacht und nicht gedankenlos
abgespult werden.
Hochdynamische Körperkarte im Gehirn
Die Annahme, dass eine Vielfalt von Bewegungen die Beweglichkeit verbessere,
begründete der 1984 verstorbene Physiker mit neurobiologischen Überlegungen, die
jenen des Hirnchirurgen Wilder Penfield ähnelten. Dieser beobachtete in den
fünfziger Jahren bei Operationen am offenen Gehirn, dass durch kurze Stromstösse
in bestimmten Bereichen der Hirnrinde (Kortex) Muskelkontraktionen etwa an
Gesicht, Händen oder Rumpf auftraten. Er folgerte daraus, dass in diesen
Hirnarealen bestimmte, durch Muskelerregung steuerbare Regionen des Körpers
abgebildet seien. Besonders häufig gebrauchte und stark innervierte Körperteile sind
dabei relativ stark im Kortex repräsentiert.
So nehmen etwa die Hände in der von Penfield veröffentlichten «Körperkarte» des
Gehirns einen wesentlich grösseren Bereich ein als der Rumpf.
Von einer ähnlichen Abbildung des Körpers ging auch Feldenkrais aus. Anders als
Penfield sah er eine solche Körperkarte jedoch als hochdynamisch an und
betrachtete sie als Teil eines neuronalen Netzwerkes. Er war überzeugt, dass die
Schlüssel zur Veränderung dieses Netzwerkes bewusst wahrgenommene
Bewegungen seien. Je vielfältiger eine Funktion wie Sitzen oder Balance halten
ausgeübt werde, desto zahlreicher und unterschiedlicher seien die neuronalen
Netzwerke im Kortex verknüpft und desto «stabiler» sei die Funktion. Der heute in
Basel tätige Internist und Feldenkrais-Lehrer Gregor Risi veranschaulicht dies an
einem Beispiel: Wenn ein Mensch gewohnt sei, sein Gleichgewicht nur in wenigen
Handlungen zu halten - Geradeaus-Gehen auf ebenem Boden, Sitzen oder Stehen -,
so sei die Funktion «Gleichgewicht» viel störanfälliger, als wenn er sein
Gleichgewicht in vielen verschiedenen Situationen herstellen könne, etwa auch in
unebenem Gelände, auf allen Vieren oder auf nur einem Bein stehend. Wenige
Bewegungsvarianten für eine Funktion führten zu einer höheren Muskelspannung im
Körper, so Risi. Damit erhöhe sich auch die Verletzungsgefahr. Zudem
verschlechterten monotone Bewegungen, wie sie etwa beim Krafttraining gemacht
würden, die Bewegungsfähigkeit. Durch das Wiederholen ein und derselben
Bewegung werde diese zwar immer fester ins Hirn eingraviert, eine Reorganisation
der Hirnareale bleibe aber aus.
Zu diesem Schluss ist kürzlich auch das Forscherteam des Kanadiers Jeffrey Kleim
anhand von Rattenversuchen gekommen. Die Wissenschafter teilten die Nager in
zwei Gruppen ein, von denen die erste über dreissig Tage eine bestimmte Bewegung
trainierte: Die Tiere mussten ihr Futter mit einem kraftaufwendigen Pfotengriff
brechen, während die Kontrollgruppe kein Training durchlief. Als die Forscher
anschliessend die Körperkarten im Kortex abtasteten, stiessen sie bei den trainierten
Tieren zwar auf vergrösserte Areale für die Vorderpfoten; die Areale für Schultern
und Ellbogen hatten sich indes im Vergleich zu den Kontrolltieren deutlich
verkleinert. Demnach hatte sich die Kraft der Tiere erhöht, ihre generelle
Bewegungsfähigkeit aber verringert, lautete die Schlussfolgerung. Vergleichbares
lasse sich auch bei Menschen beobachten, die häufig repetitive, stereotype
Bewegungen machten, berichtet Risi. So zeigen Untersuchungen zu Sehnenreizungen
im Handgelenk, dass sich durch stereotype Bewegungen die sensorische und
motorische Kontrolle des Gelenks verschlechtert. Dies stütze die Auffassung von
Feldenkrais, dass Probleme des Bewegungsapparats in erster Linie eine Folge
ungenügender sensomotorischer Organisation seien und entsprechend nur über eine
Verbesserung der kortikalen Repräsentation angegangen werden könnten, meint
Risi.
Dass die kortikalen Karten tatsächlich dynamisch sind, haben Michael Merzenich von
der University of California in San Francisco und Kollegen mit einem einfachen
Experiment belegt. Als die Forscher Testpersonen bestimmte Fingerbewegungen
trainieren und ausüben liessen, reichten schon wenige Minuten, um die
entsprechenden Areale im motorischen Kortex messbar zu verändern. Wie
dramatisch die Wandlungsfähigkeit der Netzwerke im Kortex ist, bewies zudem der
Neurophysiologe Tim Pons mit einem denkwürdigen Versuch in den neunziger
Jahren: Er durchtrennte bei Affen die Nervenbahnen, die den Arm mit dem
Rückenmark verbinden. Der Arm war folglich taub und konnte keine Bewegungen
mehr ausführen. Nach dem Eingriff veränderten sich die Aktivitätsmuster im Gehirn
der Tiere deutlich. Jene Bereiche des Kortex, die ursprünglich für Gefühl und
Bewegung der Hand verantwortlich gewesen waren, reagierten nun auf Berührungen
im Gesicht. Werde eine Region arbeitslos, weil sie keine Signale mehr von aussen
bekomme, übernähmen benachbarte Regionen das brachliegende Feld, folgerte Pons
aus seinen Beobachtungen. Dies bestätigten auch die Befunde des Hirnforschers
Vilajanur Ramachandran bei der Untersuchung von Phantomphänomenen bei
amputierten Menschen.
Aufmerksamkeit und Wahrnehmung
Welche Rolle aber spielen nun Aufmerksamkeit und bewusste Wahrnehmung bei der
Umgestaltung der kortikalen Karten? Beide spielen in Feldenkrais' Lernmethode eine
zentrale Rolle, und der Physiker war der Ansicht, dass dadurch die
Bewegungskontrolle aus den gewohnheitsmässigen Strukturen in höhere
Hirnregionen gehoben werden könne. Tatsächlich belegen Studien der Kanadierin
Francine Malouin zur Hirndurchblutung, dass mit zunehmender Komplexität und
Anforderung an die sensorische und kognitive Informationsverarbeitung progressiv
höhere Hirnregionen aktiviert werden. Studien mit professionellen Pianisten zeigen
ausserdem, dass die jahrelange Übung in komplexer Bewegungskontrolle dazu führt,
dass neue Bewegungsmuster sehr viel leichter und mit weniger kortikalem Aufwand
und somit effizienter erlernt werden können. Damit zeigen etwa Musiker das
Phänomen der Metaplastizität, das heisst eine gesteigerte Lernfähigkeit an sich. Für
Moshe Feldenkrais ging es in seiner Methode letztlich genau um dies: ein
grundsätzliches Lernen-wie-man-lernt.
Anne Marowsky
Artikel aus Kinaesthetics.ch von Stefan Knobel (Kinaesthetic-Trainer) zu Thomas
Hanna (Feldenkraislehrer) und Moshe Feldenkrais.
Den ganzen Artikel finden Sie unter folgendem Link.
http://www.kinaesthetics.ch/fachartikel/Macht%20Alter%20unbeweglich%20und%20steif1.pdf
Macht Alter unbeweglich und steif?
In einem Kinästhetik in der Pflege Grundkurs hatten wir hatten die Gelegenheit,
einen Teil des Unterrichts mit den Bewohnerinnen und Bewohnern auf der Abteilung
zu gestalten. Eine dieser Sequenzen hat eine Kursteilnehmerin folgendermassen
ausgewertet: “Ich stelle fest, dass mir diese Menschen, die ich zu kennen glaubte,
ziemlich fremd sind. Sie können viel mehr, haben viel grössere Fähigkeiten in ihrer
Bewegung, als ich angenommen habe. Und ich muss festhalten, dass viele von
Ihnen Steif sind – nicht steif weil sie alt oder krank sind – nein steif wegen mir und
den anderen Pflegenden auf der Abteilung...”
Provokativ gesagt: Alte Menschen sind nicht steif weil sie krank sind – sie werden
steif durch die Art der pflegerischen Unterstützung, welche sie erfahren.
Die Unbeweglichkeit ist erlernt
In unserer Gesellschaft haben die Vorstellung und auch die Erfahrung, dass das
Alter von zunehmender Immobilität und Altersgebrechen begleitet ist. Wir sind
geprägt durch einen jahrhundertealten Altersmythos. Thomas Hanna (1990)
beschreibt in seinem Buch “beweglich sein ein Leben lang” diesen Umstand. Er
erkennt in den meisten Altersgebrechen Funktionsstörungen des sensomotorischen
Systems.
"Funktionsstörungen des sensomotorischen Systems sind eine ernstzunehmende
Angelegenheit, und sie verursachen, wenn sie eintreten, eine grundlegende
Verschlechterung unserer Lebenssituation. Seit Jahrtausenden sind sie mit
Erscheinungen des Alterns in Zusammenhang gebracht und daher für unvermeidbar
und nicht umkehrbar gehalten worden. Aber sie können sowohl verhindert wie auch
rückgängig gemacht werden" (ebd. S. 21).
Die Entstehung solcher sensomotorischer Störungen ist das Ergebnis von jahrelang
wiederholter physiologischer Reaktion auf Stress und traumatische Ereignisse.
Solche belastende Ereignisse prägen die Bewegungsmuster vieler Menschen in
späteren Jahren. Die Folgen sind erhöhter Muskeltonus und einer entsprechenden
Steifheit in ihren Körper- bewegungen wie auch einer schlechten Körperhaltung.
Feldenkrais (1978) begründet die Abnahme der Bewegungsfähigkeit im Alter mit dem
Umstand, dass die meisten Mitglieder unserer Gesellschaft nach der Pubertät
aufhören, wirklich zu lernen. "In der Tat beschränkt sich das Lernen nach der
Pubertät auf das Erwerben praktischer und fachlicher Kenntnisse, während die
eigentliche, d. h. nicht spezialisierte Weiterentwicklung nur zufällig und in
Ausnahmefällen fortgesetzt wird" (S. 39). Mit Weiterentwicklung meint er die
Weiterentwicklung des Ich-Bildes, worunter er Bewegung, Sinnesempfindung, Gefühl
und Denken versteht.
Die Aussage von Hanna und Feldenkrais bedeuten, dass Steifheit und
Unbeweglichkeit nicht durch das Alter bedingt, sondern erlernt sind. Was erlernbar ist
kann auch jederzeit umgelernt werden. Dies Bedeutet, dass Steifheit und
Unbeweglichkeit nicht keinen unveränderlichen Zustand darstellen. Sie sind durch
geeignete Unterstützung zu verändern.
Die funktional-körperliche Kompetenz kann im hohen Alter erweitert werden
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