P2Y12-Hemmung bei ACS: Neue Dosen und neue Wirkstoffe - regionale Gesichtspunkte von der EuroPCR 2010. In Paris trafen sich Kardiologen aus der ganzen Welt, um die neuesten Techniken, Geräte und Therapeutika zu diskutieren. Wenngleich auf dieser Messe keine neuen klinischen Studien zu P2Y12-Hemmern vorgestellt wurden, gab es weitere heftige Diskussionen über die einige Monate vorher auf der Jahrestagung der European Society of Cardiology (ESC) in Barcelona vorgelegten Pivotstudien. Die klinische Praxis bei der Versorgung von Patienten mit akutem Koronarsyndrom (ACS) hat sich durch die auf der ESC als "LateBreaker" präsentieren Studien verschoben, einschließlich der Studien, die darauf hinweisen, dass höhere Sättigungsdosen von Clopidogrel bei Patienten, die sich perkutaner Koronarinterventionen (PCI) unterziehen, bessere Ergebnisse erzielten. Darüber hinaus hat eine Studie zu Ticagrelor, einem neuen NichtThienopyridin-(Cyclo-pentyl-triazolo-pyrimidin)-Thrombozyten-P2Y12-Hemmer, das Interesse an einem reversiblen Wirkstoff für die Prävention thrombotischer Komplikationen bei Patienten mit ACS geweckt. Dieser heutige Themenschwerpunkt "Focus On" konzentriert sich darauf, aufzuzeigen, was über die Thrombozyten-P2Y12-Hemmung bekannt ist, welche Auswirkungen diese neuen Studien auf die Klinik haben und was sich am Horizont so abzeichnet, einschließlich einer Videoaufzeichnung regionaler Gesichtspunkte führender Kardiologen aus der ganzen Welt. [Subheader] P2Y12-Hemmung Thrombozytenaktivierung und Aggregation an der Stelle einer zerrissenen atherosklerotischen Ablagerung (Plaque) sind Vorboten einer Thrombusbildung, die zu einem ACS führen.[1] 1 In seinem begleitenden Kommentar zum Video diskutiert Dr. Robert Storey von der medizinischen Fakultät der Universität Sheffield die Rolle des P2Y12Rezeptors bei der Thrombozytenaktivierung: "Mittlerweile wissen wir eine ganze Menge über die Rolle des Thrombozyten-P2Y12-Rezeptors in der Thrombozytenbiologie. Wir wissen, dass er eine wichtige Rolle bei der Verstärkung aller Thrombozytenantworten spielt. Aus diesem Grund stellt er so ein ausgezeichnetes Ziel für eine Hemmung durch Medikamente und somit für die Prävention einer Thrombose dar." Robert Storey, MD <<insert slide [1]>> Abbildung 1 Mechanismus der Thrombozytenaktivierung PAR = Protease-aktivierter Rezeptor, TP = Thromboxan A2/Prostaglandin H2, ADP = Adenosindiphosphat, ATP = Adenosintriphosphat Aus: Storey R.F., Curr Pharm Des. 2006;12:1255-1259.[2] Thienopyridine, Ticlopidin, Clopidogrel und Prasugrel gehören zu einer Klasse P2Y12-Antagonisten, die sich irreversibel an den Rezeptor binden. Ticlopidin, wenngleich in einigen Teilen der Welt immer noch in Gebrauch, wird aufgrund von Sicherheitsbedenken (Neutropenie und thrombotisch-thrombozytopenische Purpura) nur noch selten verordnet und wurde weitgehend von Clopidogrel abgelöst.[3,4] Prasugrel, das neueste Thienopyridin, hat sich in einer PCI-behandelten Population der Studie TRITON TIMI-38 in der Wirksamkeit als überlegen erwiesen, doch sind aufgrund vermehrter Blutungen bei bestimmten Subpopulationen Sicherheitsbedenken laut geworden.[5] Reversible P2Y12-Hemmer umfassen den oral einzunehmenden Wirkstoff Ticagrelor (mit dem bereits eine pivotale klinische Phase-III-Studie 2 abgeschlossen wurde), den intravenösen Wirkstoff Cangrelor sowie den oralen und intravenösen Wirkstoff Elinogrel (derzeitig in der Phase-II-Entwicklung). [2] Unter den P2Y12-Hemmern gilt Clopidogrel auch weiterhin als Goldstandard und bildet zusammen mit Aspirin die duale Antithrombozytentherapie, die für Patienten mit ACS weithin anerkannte Behandlungsmethode.[6–13] Allerdings zeigen ungefähr 15-48 % der Patienten auf Clopidogrel eine schlechte Thrombozytenantwort. [14–17] Es hat sich erwiesen, dass Träger des CYP2C19Allels mit reduzierter Funktion (bis zu 30 % der Population) einem erhöhten Risiko Thrombose assoziierter Ereignisse wie Stentthrombose und klinischen Ereignissen wie KV-Tod, MI oder Schlaganfall ausgesetzt sind. [18] <<insert slide [2]>> Abbildung 2 CYP2C19 und Ergebnisse: Clopidogrel. Aus: Mega JL, et al. N Engl J Med. 2009;360:354-362.[18] [Subheader] Kann eine Dosiserhöhung von Clopidogrel diese Resistenz brechen? Eine der großen brandaktuellen klinischen Studien, die beim ESC 2009 in Barcelona vorgestellt wurden, versuchte die Frage zu beantworten, ob ein Verdoppeln der Sättigungs- und Erhaltungsdosis an Clopidogrel eine stärkere und schnellere Antithrombozytenwirkung erzielt und damit zu besseren Ergebnissen bei ACS-Patienten kommt, die sich einer frühen invasiven Behandlungsstrategie unterziehen. Die Studie CURRENT OASIS-7 wurde vorgestellt (im Juli 2010 noch nicht veröffentlicht). Abbildung 3 zeigt die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie. [19] <<insert slide [3]>> 3 Abbildung 3 Clopidogrel: Primäres Ergebnis und Komponenten von doppelter gegenüber Standarddosis Aus: Mehta SR. European Society of Cardiology 2009 Congress; August 30, 2009; Barcelona, Spain.[19] Die Prüfärzte kamen zu dem Schluss, dass eine doppelte Dosis (600 mg Sättigungsdosis gefolgt von 150 mg/Tag über 7 Tage, dann 75 mg/Tag) Clopidogrel eine Stentthrombose und wichtige KV-Ereignisse (KV-Tod, MI oder Schlaganfall) bei Patienten, die sich einer PCI unterziehen, signifikant reduziert. Bei Patienten ohne PCI zeigte die doppelte Dosis Clopidogrel keinen signifikanten Unterschied zur Standarddosis (300 mg Sättigungsdosis gefolgt von 75 mg/Tag). Sie stellten ebenfalls einen mäßigen Anstieg an CURRENTdefinierten schweren Blutungen fest, aber keinen Unterschied zu schweren TIMIBlutungen, intrakranialen Blutungen, tödlichen Blutungen oder CABG-bezogenen Blutungen. [19] Die Prüfärzte betonten, dass Patienten, die sich keiner PCI unterziehen, weiterhin die Standarddosis Clopidogrel (300 mg Sättigung und 75 mg/Tag Erhaltung) erhalten sollten. [19] In seinem begleitenden Kommentar zum Video warnt Dr. Robert Storey davor zu glauben, dass ein einfaches Verdoppeln der Clopidogrel-Dosis das Problem der Antwortvariabilität unbedingt löst: "Selbst mit einer höheren Sättigungs- und Erhaltungsdosis Clopidogrel bestehen auch weiterhin Probleme mit schlechten Respondern, was das Problem der Antwortsvariabilität nicht vollständig löst. Das bezieht sich sowohl auf genetische Faktoren, wie z. B. das CYP2C19*2 Loss-of-function-Allel, sowie auch auf klinische Faktoren bezüglich der Aktivität der CYP-Enzyme in der Leber, die Clopidogrel in seinen aktiven Metaboliten umwandeln. Krankheiten wie Diabetes, Niereninsuffizienz--diese wirken sich auf die Clopidogrel-Antwort aus, auch bei Gabe dieser höheren, wie in dieser Studie untersuchten Dosen." Robert Storey, MD 4 [Subheader] Sind die neueren P2Y12-Hemmer die Lösung? Im Herbst 2007 wurde die TRITON TIMI-38-Studie veröffentlicht. Diese Pivotstudie mit über 13.000 Patienten verglich Clopidogrel mit Prasugrel, einem neuen Thienopyridin, bei ACS-Patienten, die sich einer PCI unterzogen. [5] Die Ergebnisse zeigten bei den Patienten, die Prasugrel zugeordnet waren, eine signifikante Reduzierung ischämischer Ereignisse einschließlich Stentthrombose (früh und spät). Der Unterschied in der Mortalität war zwischen den beiden Gruppen allerdings nicht signifikant.[5] <<insert slide [4]>> Abbildung 4 TRITON TIMI-38 Wirksamkeitsendpunkte CABG = koronare Bypass-Operationen Aus: Wiviott SD, et al. N Engl J Med. 2007;357:2001-2015.[5] Dieser Anstieg in antiischämischer Wirksamkeit ging auf Kosten einer erhöhten Inzidenz schwerer Blutungen (einschließlich tödlicher Blutungen). [5] <<insert slide [5]>> Abbildung 5 TRITON TIMI-38 Sicherheitskohorte Blutungsereignisse TIA = transitorische ischämische Attacke, ARD = absolute Risikodifferenz Aus: Wiviott SD, et al. N Engl J Med. 2007;357:2001-2015.[5] Die im September 2009 veröffentlichte Studie "PLATelet inhibition and patient Outcomes" (PLATO) untersuchte bei ungefähr 18.000 Patienten mit ACS mit oder ohne ST-Hebung die Hypothese, dass der reversible P2Y12-Hemmer 5 Ticagrelor bei der Prävention vaskulärer Ereignisse (Tod durch vaskuläre Ursachen, MI oder Schlaganfall) Clopidogrel überlegen wäre. [20] Wie bei der TRITON TIMI-38-Studie fanden die PLATO-Prüfärzte heraus, dass die Behandlung mit Ticagrelor gegenüber Clopidogrel zu einer signifikanten Reduzierung ischämischer Ereignisse, einschließlich Stentthrombose, führte. Allerdings trat hier ebenso eine signifikante Reduzierung von Todesfällen durch vaskuläre Ursachen auf. [20] <<insert slide [6]>> Abbildung 6 PLATO: Kaplan-Meier-Schätzung der Zeit bis zum ersten primären Wirksamkeitsereignis (Zusammensetzung aus KV-Tod, MI oder Schlaganfall) Aus: Wallentin L, et al. N Engl J Med. 2009;361:1045-1057.[20] Ein ähnlicher Nutzen wurde bei STEMI und Non-STEMI-ACS beobachtet, der für Patienten mit und ohne invasive Behandlungsstrategien vergleichbar war. [20] Auch wenn es keinen Anstieg in der Gesamtzahl schwerer Blutungen gab, konnte ein Anstieg an verfahrensunabhängigen Blutungen (Blutungen, die nicht CABG-bezogen waren) verzeichnet werden. [20] <<insert slide [7]>> Abbildung 7 PLATO - schwere Blutungen insgesamt Schwere Blutungen und schwere bzw. leichte Blutungen gemäß der TIMI-Kriterien beziehen sich auf nicht adjudizierte Ereignisse, die mithilfe eines Statistikprogramms gemäß den in Wiviott SD et al. N Engl J Med. 2007;357:2001-2015 beschriebenen Definitionen analysiert wurden. *Anteil Patienten (%); NS = nicht signifikant Aus: Wallentin L, et al. N Engl J Med. 2009;361:1045-1057.[20] 6 In seinem begleitenden Kommentar zum Video fasst Dr. Robert Storey den möglichen Wert neuer Wirkstoffe gegenüber Clopidogrel, ganz besonders bei ACS-Patienten mit STEMI, zusammen: "Der schnelle Wirkungseintritt von Prasugrel und Ticagrelor ist ganz eindeutig ein wichtiger Vorteil bei der Behandlung von STEMIPatienten, die sich einer Erst-PCI unterziehen, und ich denke, dass sich unter diesen Gesichtspunkten der Behandlung diese Medikamente, in Anbetracht der Antwortvariabilität verglichen mit Clopidogrel, zukünftig als Therapie der Wahl etablieren werden." Robert Storey, MD [Subheader] Regionale Gesichtspunkte Eine Stichprobe regionaler Gesichtspunkte wird hier von vier Fachärzten dieser Disziplin aus drei Kontinenten vermittelt. Siehe ihre Kommentare auf Video, die dieser Besprechung beigefügt sind. Vereinigtes Königreich Robert F. Storey, MD, diskutiert die wachsende Eingliederung des neuen Thienopyridins Prasugrel in die klinische Praxis in England, dabei ganz besonders bei Patienten mit STEMI, bei denen eine Erst-PCI geplant ist. "Im Augenblick schwankt die gängige Praxis bezüglich P2Y12Hemmung je nachdem, ob es sich um einen Patienten mit einem ACS mit ST-Hebung handelt, der sich einer Erst-PCI unterzieht. In dieser Gruppe wird vermehrt Prasugrel als Sättigungsdosis und üblicherweise als Erhaltungsdosis nach Stentimplantation wegen STEMI verordnet, wohingegen in der Population mit ACS ohne STHebung die meisten Patienten eine Sättigungsdosis von 300 mg Clopidogrel erhalten, die vor der Koronarangiografie, und bei Patienten, die sich zur Behandlung ihres akuten Koronarsyndroms 7 einer Stentimplantation unterziehen, auf insgesamt 600 mg Clopidogrel erhöht wird." Robert Storey, MD Niederlande Dr. Robbert J. de Winter, MD, Professor für klinische Kardiologie am akademischen Lehrkrankenhaus der Universität Amsterdam, bespricht neueste Praktiken in der Behandlung von Patienten mit STEMI und zwar den präklinischen Einsatz antithrombotischer Wirkstoffe in Form von Antikoagulanzien und Antithrombozytenwirkstoffe. "Wenn man sich den derzeitigen Stand in den Niederlanden anschaut, denke ich, dass bei einem ST-Hebungsinfarkt die meisten Patienten medikamentös mit Aspirin, Clopidogrel und Heparin-IV behandelt werden. Aufgrund des niederländischen Gesundheitssystems werden die meisten dieser Patienten vor Ort durch die Sanitäter triagiert. Die verabreichen auf dem Weg ins Katheterlabor intravenös die Medikamente Aspirin und Heparin und dann Clopidogrel." Robbert de Winter, MD Dr. de Winter äußert sich darüber hinaus zum optimalen Timing von Interventionen, was Auswirkungen auf die Auswahl und Dosierung von Antithrombotika hat. Brasilien Dr. Expedito Ribeiro vom InCor The Heart Institute der Universität Sao Paulo erläutert, dass in Brasilien derzeit größtenteils nach den ESC und US-Leitlinien für die Antithrombozytentherapie behandelt wird. Der Einsatz höherer Dosen Clopidogrel, deren positive Wirkung in CURRENT OASIS-7 gezeigt wurde, hat es in die klinische Praxis geschafft. "In Brasilien . . . werden Thrombozyteninhibitoren derzeit wie folgt eingesetzt: Hier gibt man 600 mg Clopidogrel als Sättigungsdosis, danach wird der Patient auf 75 mg gehalten. Patienten mit PCI 8 erhalten gemäß des DES Euro-Standards für bis zu einem Jahr Clopidogrel." Expedito Ribeiro, MD Japan Dr. Satoshi Takeshita von der Abteilung für Kardiologie am Shonan Kamakura General Hospital in Kanagawa bemerkt einen relativen Mangel an verfügbaren antithrombozytären Wirkstoffen in Japan. "Der Gebrauch von Antithrombotika in Japan unterscheidet sich stark von dem anderer Länder. Vor allem gibt es keine IIb/IIIaHemmer. . . . Zum zweiten ist der Gebrauch von Antithrombotika begrenzt. Ticlopidin ist beispielsweise in Japan erhältlich, doch wurde es erst 2004 von den Behörden zugelassen. Damals wurde der medikamentenfreisetzende Stent CYPHER eingeführt und anschließend wurde es offiziell zugelassen. Clopidogrel wurde 2007 zugelassen, doch ist der Gebrauch von Clopidogrel auf akute Koronarsyndrome ohne ST-Hebung beschränkt. . .” Satoshi Takeshita, MD Des Weiteren kommentiert Dr. Takeshita die Unterschiede der japanischen Patientenpopulation, die vielleicht erklären, warum vor der Zulassung neuer antithrombozytärer Wirkstoffe getrennte Studien mit ausschließlich japanischen Patienten erforderlich sind. Eine Stentthrombose kommt beispielsweise in Japan weniger häufig vor, was möglicherweise auf die Verwendung von intravaskulärem Ultraschall (IVUS) zurückzuführen ist, der bei einem wesentlichen Teil der PCI-Fälle eingesetzt wird, sowie aufgrund möglicher Unterschiede in der Thrombozytenaggregation bei der japanischen Bevölkerung. [Subheader] Schlussfolgerungen Wenngleich auf der EuroPCR 2010 keine neuen klinischen Studien zu P2Y12Inhibitoren vorgestellt wurden, waren die Konsequenzen der auf dem größeren 9 ESC-Kongress im August 2009 präsentierten Studien zweifellos spürbar. Der Gebrauch höherer Sättigungsdosen von Clopidogrel, besonders bei der PCIbehandelten Population der ACS-Patienten, wurde schnellstens in die klinische Praxis umgesetzt und an den neueren P2Y12-Hemmern lässt sich ein rasch wachsendes Interesse verzeichnen. ACS-Patienten sind von der ersten ärztlichen Konsultation an über den Krankenhausaufenthalt und darüber hinaus dem Risiko thrombosebedingter schwerer unerwünschter kardiologischer Ereignisse (MACE) einschließlich Tod, MI, Notfallrevaskularisierung und Schlaganfall ausgesetzt. Diese Komplikationen treten trotz verbreiteter Anwendung gängiger antithrombotischer Therapien weiterhin auf. Klinische Studien, welche darauf ausgerichtet sind, den Gebrauch vorhandener antithrombotischer Wirkstoffe zu verbessern, sowie Studie neuer Wirkstoffe sind vielversprechend und lassen auf verbesserte Ergebnisse hoffen. 10