5.– 10. Dezember 2004 Thomas Kienbacher Assessment und Muskelaufbau bei chronischen Wirbelsäulenschmerzen 1) EINFÜHRUNG: Chronische Wirbelsäulenschmerzen sind jene, die länger als 3 Monate dauern und stark genug sind um medizinische Hilfe aufzusuchen und/oder Arbeitsunfähigkeit verursachen. Die Prävalenz beträgt etwa 5%, Häufigkeitsgipfel ist die 5. Lebensdekade. Bei ca 85% der Patienten ist keine eindeutige pathoanantomische Zuordnung der Beschwerden möglich. Funktionelle Ursachen wie Bewegungsmangel, Dysbalancen der Muskulatur und falsche Stereotype werden häufig beobachtet. Die indirekten Kosten durch Arbeitsausfälle überwiegen bei weitem die direkten Behandlungskosten, beides zusammen macht in Österreich jährlich ca Euro 3,5 Mrd aus. 10% der Patienten mit Wirbelsäulenschmerzen sind chronifiziert, sie verursachen 80% dieser Kosten, 5% verursachen 60% (Nachemson et al 1992, Waddell et al 1998). Mögliche Ursachen von chronischen Wirbelsäulenschmerzen sind: Unspezifische (nicht radikuläre Schmerzen): 93-95% Muskuläre Insuffizienz, Blockierungen, ISG-Störung, Über- oder Fehlbelastungen, Fehlhaltung, Facettensyndrom, Instabilität. Radikuläre Schmerzen: 2-5% Bandscheibenvorfall, spinale Stenose, laterale Stenose (Facettengelenke) Spezifische Schmerzen: 1-3% Tu, Entzündung, Fractur (Osteoporose) Die Behandlung chronischer Wirbelsäulenschmerzen stützt sich auf ein multimodales Behandlungskonzept: Psychologische Betreuung (behaviour), berufsspezifisches Training Muskelaufbautraining (exercise). Die 3. Säule ist Thema dieses Vortrages. 2) (industrial rehabilitation) und ASSESSMENT: Anamnese: Spezifische Krankheitsgeschichte, Schmerzcharakteristik und -verteilung, Auslöser Sozialanamnese, insbes. Beschäftigungsstatus und Zufriedenheit am Arbeitsplatz Herz-Kreislauf Risikofaktoren, Medikation und FK Schmerzmessung und Funktion: Schmerzmessung mit VAS, Analgeticaverbrauch Fragebogen-Score Bildgebende Verfahren: Röntgen, CT, MRT (nicht älter als 1 Jahr), Indikation für Röntgen 6 Wochen nach Beginn des akuten Schmerzes oder bei klinischer Op-indikation Klinische Untersuchung: Wirbelsäulenform im Stehen, seitlicher FBA und Schober Test, Bewegungsumfänge von HWS und Hüften Beinlängendifferenz Muskelstatus: Verkürzungen und Abschwächungen, neurologische Untersuchung [Reflexe, Lasegue (SLR), grobe Kraft]. Ausschlußgründe („red flags“): Rückenschmerzen spezifischer Genese (Entzündungen, Tu, rheumatische Erkrankungen) Schwere Deformitäten (Skoliose, Kyphose) Eindeutig radikuläre Schmerzen (durch Vertebrostenosen oder Bandscheibenvorfälle) Indikation für ein operatives Vorgehen Herz/Kreislauferkrankungen Schwere Atemwegserkrankungen Messung der Maximalkraft: isometrisch für Bauch- und Rückmuskeln mit Fixierung des Beckens unter Ausschaltung der Hüft- und Beinmuskulatur (bester aus 3 Versuchen bei 0 Grad). Besprechung der Testergebnisse mit dem Patienten und Festlegung von Therapiezielen. 5.– 10. Dezember 2004 3) PROGRESSIVER MUSKELAUFBAU: Kraftausdauer, Maximalkraft und Koordination sind bei chronischen Kreuzschmerzpatienten vermindert bzw gestört. Dabei ist die Extensorengruppe stärker betroffen als die Flexorengruppe (Mayer et al 1985, Hultman et al 1993, Saur et al 1996, Denner et al 1998). Muskelgruppen (Wirbelsäule und benachbarte stabilisierende Muskelgruppen): Bauchmuskeln (gerade und schräge), Rückenstrecker (obere und untere), Lateralflexion, Rotation, Scapulafixatoren, Hüftabduktoren und -adduktoren, Leg press, leg extension, gastrocnemius, Zugapparat. Aufwärmen: Fahrrad mit 25-50 Watt (5-10min lang). Progressives Muskelaufbautraining: 1.-3. Woche: Beweglichkeit/Kraftausdauer (30 Wh mit 40% MVC, 1 Serie, 2x/Wo) 4.-6.Woche: Kraftausdauer (25 Wh mit 50% MVC, 1 Serie, 2-3x/Woche) 7.-9. Woche: Kraftausdauer/Maximalkraft (20 Wh mit 50-70% MVC, 1 Serie, 2-3x/Woche) 10.-12. Woche: Maximalkraft (15 Wh mit 70-80% MVC, 1 Serie, 2-3x/Woche) Dehnungsübungen bei Verkürzungen. Das Trainings- und Dehnungsprogramm wird auf einem Computerchip in Schlüsselform gespeichert und an Hand der individuellen Testergebnisse modifiziert. Während des Trainingsprogrammes werden Art der Übung, Bewegungsumfänge, Wiederholungszahl visualisiert und ermöglichen ein feed back für Patienten. Gleichzeitig wird das absolvierte Training auf dem Computerchip gespeichert und erlaubt die Erhebung der Trainingsqualität zu jedem Zeitpunkt. Trainingsfehler können so erkannt und behoben werden. Vorgesehene Steigerungen werden dann freigegeben, wenn das Gewicht 20x leicht gehoben werden kann. Ziel ist das Erreichen der alters- und geschlechtsspezifischen Normwerte. Danach wird ein Erhaltungstraining mit 1x/Woche und Reassessment alle 3 Monate empfohlen. Koordinationstraining: Schlechte und unökonomische Koordination, reflektorische Hemmungen, verzögerter Einsatz (verlängerte Reaktionszeiten) und sensomotorische Defizite sind bei chronischen Wirbelsäulenschmerzen vorherrschend (Hodges et al 1999, Radebold et al 2000, Mannion et al 2001). Daher werden bei diesen Patienten auch Koordinationsübungen durchgeführt. Heimübungsprogramm: Übungen auf der Matte für zu Hause zur Verbesserung von Muskelverkürzungen und zur Verbesserung der Koordination. Ergebnis: ErgebnisErgebnis-Kraftentwicklung Ergebnis (n=78) (n=78) Extension Flexion Ausgangswert 150% * 130% * * VAS (Schmerz) * 60 110% 40 90% 20 70% 0 50% 6 * 3 Mo. 3 Mo. (*) p<0,05 Dr. Thomas Kienbacher Ketzergasse 65 1230 Wien 6 Mo. * 4 * 2 * 0 Beginn Beginn RAS (Funktion im Alltag) 6 Mo. (*) p<0,05 3 Mo. 6 Mo. Beginn 3 Mo. 6 Mo.