"Medienkompetenz": Über den Wandel in Begriffsinhalt und

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"Medienkompetenz": Über den Wandel in
Begriffsinhalt und Bewertung seit Ende der
1960er Jahre
Schwerpunkt: Junge Menschen zwischen 16
und 20 Jahren
Schriftliche Hausarbeit zur Prüfung Baccalaureus Artium
Fernstudienkurs Teilgebiet
"Theorie der Schule und des Unterrichts"
angefertigt im Hauptfach Erziehungswissenschaft
Betreuer: Prof. Dr. Horst Dichanz
Marianne Walz
Johannishofweg 7
64579 Gernsheim
Matrikel-Nr. 4826590
Fristbeginn: 12.Februar 2002
Ich erkläre verbindlich, dass ich die vorliegende Hausarbeit selbständig angefertigt und
dabei keine andere als die unter Quellenangaben angegebene Literatur zitiert und verwendet
habe. Eine Arbeit zu diesem Thema habe ich bisher weder an der FernUniversität Hagen
noch an einer anderen Hochschule als Leistungsnachweis abgegeben.
Gernsheim, 10.05.2002
Gliederung
"Medienkompetenz": Über den Wandel in Begriffsinhalt und Bewertung seit Ende der
1960er Jahre
Schwerpunkt: Junge Menschen zwischen 16 und 20 Jahren
1. Einleitung und theoretische Grundlegung der Begriffe
1. Medien
1. Übergreifender kulturhistorischer Kontext
2. Medien in den 1960-70er Jahren
3. Medien um 2000
2. Kompetenz
1. Der selbstmächtig handelnde Mensch – Grundlegung des
Kompetenzbegriffs
2. Handeln als Interaktion: personales und mediales
Interagieren
3. Das Konzept der kommunikativen Kompetenz
4. Medien im Kontext Handlungskompetenz, Sozialisation und
Interaktion
5. Das Konzept der Entwicklungsaufgabe im Jugendalter:
"Identität finden"
2. Kommunikationshandeln im Wandel: Was ist heute anders als vor 30
Jahren?
1. Mediale Umwelt und Ziel-Intentionen für erzieherisches Handeln
um 1970
1. "Medien-Landschaft" um 1970
2. Kritische Theorie und Kritik an den Massenmedien: Die
Abkehr vom behavioristischen Konzept der Medienwirkung
3. Pädagogische Zielvorstellung: Mündigkeit,
Kritikbereitschaft, Widerstand gegen mediale
Indoktrination
2. Mediale Umwelt und Ziel-Intentionen für erzieherisches Handeln
um 2000
1. Die Neuen Medien: ein "Quantensprung" in der MedienUmwelt
2. ambivalente Bewertung der Neuen Medien zwischen
demokratisch-emanzipatorischem und GefährdungsPotenzial
3. Aspekte der pädagogischen Zielvorstellung vom
kompetenten Medien-Nutzer
3. Entwicklungsaufgabe Identität und Medien im Lebensabschnitt zwischen
16 und 20 Jahren: Zeitvergleich
1. Übergreifender Erklärungszusammenhang
2. Jugend und Jugendkultur
1. Jugendkulturen um 1970
2. Jugendkulturen um 2000
3. Kriterium Mediennutzen: Orientierungsmuster beim Finden des
Selbst
1. Geschlechts-Identität
2. Ablösung und Berufswahl
4. Diskursivität oder Visualität?
1. Der Diskurs als Leitbild für Kompetenz um 1970
2. Visualität als neue Sprache der netzbasierten Interaktivität
um 2000
3. Medienpädagogisches Nachdenken über das Ergebnis der
PISA-Studie: visual literacy, media literacy, reading
literacy?
4. Pädagogischer Handlungsbedarf im Zeitalter der "Wissens- und
Informationsgesellschaft"
1. Medien-"Quantensprung" und Informationsflut in der Lebenswelt
der älteren Erwachsenen (Lehrer, Ausbilder, Eltern von
Jugendlichen)
2. Neues Nachdenken über Erziehung zur Medienkompetenz
3. Neues Verhältnis Erzieher – Zögling gestalten
1. geändertes Berufsrollenverständnis
2. Altersrollenverständnis
3. Andere Lernprozesse in neuer Lernkultur
4.4. Neue Medien: Chance oder Risiko für das
Leitbild vom autonomen Subjekt?
4.5. Wissen und Erfahrung zusammenführen:
Ein integrativer medienpädagogischer Ansatz
5. Zusammenfassung, Stellungnahme
6. Quellen / Literatur
1. Einleitung und theoretische Grundlegung der Begriffe
Kompetenz (von lat. competo = ausreichen, zutreffen, einer Sache mächtig sein) bezeichnet
eine Fähigkeit oder Zuständigkeit. In Verbindung mit Medien ist also die Fähigkeit gemeint,
der Mittel mächtig zu sein, - denn Medien, auch aus dem Lateinischen stammend (Plural von
medium) bedeutet die Mittel. Im heutigen Alltagssprachgebrauch sind damit fast immer die
(technischen) Mittel zum Übertragen und/oder Speichern von Informationen bezeichnet.
1.1. Medien
Im 30-bändigen "Brockhaus"-Lexikon von 1996 sind dem Schlagwort "Medien" und den
dazugehörigen 12 Wortverbindungen 5 Seiten oder 9 ½ Spalten (Kolumnen) eingeräumt – ein
Umfang an "Speicherplatz", der diesem Begriff heute offenbar aufgrund seiner
gesellschaftlichen Bedeutsamkeit zukommt. 28 Jahre zuvor, in der 1968er Ausgabe, nimmt
eben dieser Begriff Medien und seine 3 Wortverbindungen (-hierarchie, -pädagogik und verbund) gerade 3% dieses Platzes, nämlich 1/3 Kolumne, ein.
Dieser Einstieg in das Thema Medienkompetenz, gewählt über das quantitative Darstellen des
Begriffes in einem verbreiteten und konstant publizierten, repräsentativen Printmedium, weist
im Vergleich über den Zeitraum von weniger als 30 Jahren deutlich auf raschen und
grundlegenden Wandel hin. Der Begriffsinhalt Medien scheint innerhalb des historisch kurzen
Zeitraumes um das 25fache komplexer und erklärungsbedürftiger geworden zu sein; das der
Medien Mächtig-Sein entsprechend komplizierter und schwieriger...
In der vorliegenden Arbeit geht es vor allem um die qualitative Seite des Phänomens Medien
im gesellschaftlichen Wandel: Was war Medienkompetenz vor 30 Jahren, und was ist es
heute? Was folgt daraus für das pädagogische Handlungsfeld in der Arbeit mit Jugendlichen
und jungen Erwachsenen?
1.1.1. Übergreifender kulturhistorischer Kontext
Das Übermitteln, das Austauschen von Botschaften heißt, dass Individuen oder Gruppen aktiv
miteinander in Beziehungsgefüge eintreten. Aus diesen interindividuellen
Beziehungsnetzwerken entsteht Gesellschaft. Kommunizieren mittels der Zeichen und
Symbolen gemeinsam zugeschriebenen Sinn- und Bedeutungsinhalte sind der Stoff, aus dem
Kultur entsteht. Kommunikation ist ein weiterer zentraler Begriff im Erklärungskontext
Medien. Somit führt das Thema Medien mitten in anthropologisch-philosophische,
sozialwissenschaftliche und politisch-weltanschauliche Bereiche hinein.
Eine die pädagogische Relevanz überschreitende Annäherung an den Begriff Medien soll hier
zunächst über einen knappen historischen Überblick versucht werden. Welcher Mittel
bedienten sich Menschen, um sich mitzuteilen?
"Die Geschichte der Kommunikation ist verbunden mit der Geschichte menschlichen Lebens."
konstatiert Dieter Baacke. (Baacke 1973 S.12.- Dieser Autor hat zum Thema Medien und
Kommunikation im erzieherischen Bereich besonders innerhalb des hier relevanten
Betrachtungszeitraums mit intensiver theoretischer und Forschungsarbeit Wichtiges
beigetragen und viele andere Wissenschaftler inspiriert. Er wird deshalb in dieser Arbeit noch
öfter in Zitaten zu Wort kommen.)
Baacke bezieht sich auf Arbeiten von Harry Press. Press unterscheidet in der geschichtlichen
Entwicklung der Medien die primären und die sekundären Medien. Primäre Medien seien
diejenigen, deren sich Menschen zum Kommunizieren innerhalb von kleinen Gruppen
bedienen: "Gestik, Mimik, Demonstration, Zeremoniell (sind) Kommunikation durch Zeichen,
die der Einzelne als physikalischer Träger an andere übermittelt." (A. a. O. S.12) Sie
markieren wahrscheinlich den Beginn der phylogenetischen Menschwerdung. "Zu diesen
Zeichen gehört auch die gesprochene Sprache, die neben dem Gedächtnis die bisher längste
Zeit der Menschheitsgeschichte hindurch das vorrangige Mittel für kommunikativen
Austausch und Tradierung darstellt." (A. a. O. S.12)
Kommunikativer Austausch und Tradierung sind es, die Sozialität und Kultur hervorbringen.
Meilensteine sind die Entstehung der Schrift vor etwa 7000 Jahren: Schreiben ermöglichte das
Dokumentieren und Nachprüfen des Überlieferten – und die Erfindung des Buchdrucks vor
450 Jahren: Multiplikation und Distribution des Geschriebenen machte die verschriftlichten
Informationen vielen Kommunikationspartnern zugleich zugänglich. Nach Pross sieht Baacke
in der Buchkultur das Initial der sekundären Medien. Der Charakter des Sekundären entstehe
dadurch, dass "das Signal (...) sich als eigene Größe zwischen Sender und Empfänger
(schiebt). " Nicht mehr die körpereigenen kommunikativen Werkzeuge des Menschen,
sondern ein künstliches Gerät trage nunmehr die Nachricht: "Auf das Gerät und die darin
investierte Arbeit kommt es an." (A. a. O. S.13)
Damit ist Medialität – Mittelbarkeit – benannt.
Medienkritik und Medienkompetenz, die die nachfolgenden Betrachtungen dieser Arbeit
thematisieren, sind an dieser Charakteristik der Vermitteltheit bzw. des Vermitteltseins sowie
an der Gerätehaftigkeit der Mittel orientiert. Inwieweit verselbständigt/entfremdet sich das
Kommunikationsmittel dem Menschen, so dass seine Fähigkeit, es menschengerecht zu
nutzen, des Fragens würdig/fragwürdig wird?
Baacke erkennt noch tertiäre Medien: "Telegrafie, Nachrichtenagenturen (Fernschreiber),
Telefon, Schallplatte, Tonband, Film, Radio, Fernsehen, Film- und Videokassetten. Sie sind
nicht nur technisch kompliziert, sondern erfordern auch – wie sonst nur Buch und Presse –
eine komplexe Organisation auf der Seite der Produktion." (A. a. O. S.13)
1.1.2. Medien in den Jahren 1960er-70er Jahren
Massenmedien bedienen ein massenhaftes Publikum zugleich. Sie stellen in der
sozialwissenschaftlichen und medienpolitischen Auseinandersetzung um 1970, initiiert durch
die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, einen Schlüsselbegriff dar.
Gesellschaftspolitischer Hintergrund der medienkritischen Initiativen zur polemischen
Auseinandersetzung war das Bewusstsein der überlebten Katastrophe Naziherrschaft.
Massenhafte Gleichschaltung der Menschen in Deutschland mittels Radiosendungen,
Zeitungen, Kinofilmen sowie Massen-Propagandaveranstaltungen (aufwändige Ton-, Lichtund Bildprojektionstechnik) hatten z. T. eine Bedingung der Möglichkeit solcher
verderblichen manipulativen Gleichschaltung dargestellt und bildeten nun den Anlass, Wert
und Unwert der Technizität von Massenkommunikation zu hinterfragen.
Autoren wie Oskar Negt, Alexander Kluge, Dieter Prokop und andere analysieren die sozialen
und medienpolitischen Strukturen der bundesrepublikanischen Gegenwart um 1970 aus
marxistischer Position und kennzeichnen die Medien-Produkte in ihrem Warencharakter, der
dem Herrschaftsanspruch der Kapitalistenklasse und ihren Ausbeutungsinteressen entspricht.
Warum die arbeitende Klasse ihren Freiheits- und Selbstverwirklichungsbedürfnissen
entfremdet ist und scheinbar willig der medialen Massen-Manipulation unterliegt, erklärt
Oskar Negt so: "Die Aufsplitterung des Menschen im Arbeitsprozess, seine Isolierung durch
die Konkurrenz, die Zerschlagung der Lebenszeit in bloße Arbeits- und Freizeitanteile
machen einen triebökonomischen ideologischen Ausgleich notwendig. Es entstehen
Harmoniebedürfnisse. (...) In relativen Ruhelagen der Gesellschaft sind die
Sozialisationsaspekte der Arbeit und der Familie vorherrschend (...). In ihr gehen dann die
aus dem Produktionsprozess und der Familie synthetisch vereinigten Ideologiebedürfnisse mit
allem, was unter den Begriffen Kultur, Bildung, nationale Symbole, ethnozentrisches
Weltbild, Fremdenhass, bürgerliche Utopie überliefert ist, eine trübe, aber außerordentlich
wirkungsvolle Verbindung ein." (O. Negt, in Baacke 1974 S.43). Solcherart produziertes
Schein-Bedürfnis schafft Nachfrage und begründet Warencharakter: "Alle Fernsehsendungen,
gleichgültig ob Unterhaltung, Nachricht, kritische Dokumentation, haben einen
Gebrauchswert und einen Warencharakter." (Negt, a. a. O. S. 46)
"Der materielle Kern des Scheins" überschreibt Oskar Negt diesen Teil seiner
medienanalytischen und medienkritischen Ausführungen. Ansätze zum Überbrücken dieses
Gegensatzes zwischen Schein und Sein zeigen die marxistischen Medienkritiker um 1970 auf,
indem sie den Grundwiderspruch zwischen gesellschaftlichem Charakter der (Medien-)
Produktion und deren kapitalistischer Aneignung (Verwertbarkeit mittels manipulativer
Entfremdung) lösen wollen. So schlägt Dieter Prokop vor, der manipulierten ScheinÖffentlichkeit eine spontane Gegenöffentlichkeit entgegen zu setzen: Vertreter der
emanzipierten Bewegungen, Bürger-, Studenten- und Basisgruppen sollten gemeinsam mit
kritischen Künstlern und Journalisten die Macht der herrschenden Institutionen in Frage
stellen; " dem Interesse der Parteien-, Verbands- und Produktionsöffentlichkeit an formal
ausgewogener Repräsentanz ein qualitativ anderes Interesse entgegen (stellen): das nach
freier Artikulation und Verarbeitung von Ereignissen, Erfahrungen, Bedürfnissen und
Interessen, ein Interesse also an lebendiger Produktion statt an Legitimation." (D. Prokop, a.
a. O., S.131)
Autoren wie F. W. Räuker und D. Schwarzkopf widersprechen diesen Ideen und Projekten.
Sie verneinen vor allem die marxistische Grundlegung und die Ideologie des Klassenkampfes
sowie die praktische Machbarkeit innerhalb der pluralistischen Medienlandschaft. Dabei
argumentieren sie u. a. mit dem offen diktatorischen Charakter des realen kapitalistischen
Gegenmodells: In den kommunistisch regierten Staaten seien die Massenmedien im
Herrschaftsinteresse der politbürokratischen Kaste instrumentalisiert (A. a. O. S.226-249).
Medien sind in Gestalt der Massenmedien (zunehmende Mediatisierung der Gesellschaft) und
den damit zusammenhängenden Widersprüchen zwischen Aneignung und Entfremdung,
zwischen manipuliertem und "wirklichem" Bedürfnis, zwischen Schein und Sein ein Thema
engagierter Debatten geworden und bis heute geblieben. Das Wort Medien in seinem heutigen
Begriffsinhalt ging in den Alltagssprachgebrauch ein. Das Herstellen sozialer Netze, die die
Sozietät von solcher Komplexität und Reichweite wie die der modernen Industriegesellschaft
von 1970 überspannen, können nur Medien mit Massen-Kapazität leisten. Massenmedien sind
in der Industriegesellschaft unverzichtbar: Rundfunk, Fernsehen und Massenpresse. Dem
emanzipatorischen Interesse aller Gesellschaftsmitglieder, daran gleichberechtigt und
selbstbestimmt teilzuhaben, entspricht der Begriff Kommunikative Kompetenz. (Vgl. 1.2.3.)
1.1.2. Medien um 2000
Um 1990 konstatieren Medientheoretiker wie z. B. Thomas Heinze eine qualitativ neue
Erscheinung: Die sg. Neuen Medien. "(Sie) ... stellen ein totales Phänomen dar, das den
ganzen Menschen erfassen und seine Persönlichkeitsstruktur, seine Lebensumstände
verändern dürfte. (...) Das zeichnet sich etwa im Ausbau der Netzinfrastruktur ab bzw. in der
geplanten, (...) Installierung eines breitbandigen Fernmeldenetzes, das außer Sprach-, Datenund Textkommunikation auch noch Bewegtbilder im Dialogverkehr zu übertragen erlaubt."
(Th. Heinze 1990 S. 5) Diese abermalige explosionsartige Zunahme an Mediatisierung, also
an Technologie-haftigkeit beim Kommunizieren macht das Thema Medien ab 1990 erneut
zum Zentrum sozialtheoretischer und politischer Debatten: Mit dem Netz-Charakter der
Medien und der technologischen Machbarkeit geht eine Potenzierung der Informationsmenge
einher – ein Aspekt, warum Sozialität herstellendes Kommunizieren erneut und auf Dauer
problematisch geworden ist. "Wir wissen aus der Fernsehforschung, dass steigender
Mediengebrauch mit einer Abnahme der verbalen und interaktiven Kontakte einhergeht und
zur Verarmung der Sprache, des Gefühlslebens, der Kreativität und Phantasietätigkeit führen
kann. (...) Mehr Wissen, aber weniger Sinnverstehen. Die Schere zwischen
Informationsgeschwindigkeit und Sinnbildung, deutendem Verstehen, wird sich in Zukunft
noch weiter öffnen." (A. a. O. S.9) bezieht sich Heinze auf ein Dokument der medienpolitisch
zuständigen Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages. In der Praxis netzgestützten
Kommunizierens ist die Grenze zwischen Wirklichkeit (Lebenswelt) und Medien (Werkzeug,
Gerät) aufgelöst. Menschen kommunizieren und bewegen sich in virtuellen Räumen (z. B.
Chat-Rooms, Cyber-Space), arbeiten auf virtuellen Arbeitsplätzen, befriedigen sogar intime
und spirituell-religiöse Bedürfnisse virtuell. Das Medium selbst wird Lebenswelt. Die 150
Jahre alte Industriegesellschaft, und mit ihr die Nationalökonomien, die Arbeiter- und die
Kapitalistenklasse, die industrielle Produktion der Fließbänder, die Büroarbeitsplätze und
selbst das Lernen in den Schulen scheinen im Zurückweichen, im Sich-Auflösen begriffen
oder wandeln sich total unter den Bedingungen des www, der Informationsgesellschaft und
der Globalisierung.
Aber auch die um 1970 scharf kritisierte Kluft zwischen Medienindustrie und MedienKonsument scheint sich zu verkleinern: Im Internet kann prinzipiell jeder vernetzte
Teilnehmer publizieren und Nachrichten von beliebigen anderen vernetzten
Kommunikationspartnern empfangen: Text und Tonsignale, Stand- und Bewegtbilder
digitalisierten Formats. Ein Indivialisierungsschub, eine neue Chance zur Emanzipation
contra Massen-Manipulation? Neben den "Neuen" existieren die verschiedenen "alten"
Medien wie Bücher, Zeitschriften, Fernsehen, Telefon weiter und verschmelzen in der
Vernetzung. Ist der Mensch der Medien mächtig – oder bemächtigen sich die Medien seiner?
Der Begriff Medienkompetenz taucht in den polemischen Debatten auf. Er verheißt wiederum
die Vision und Zielvorstellung vom kritischen, technologisch wie musisch-kreativ gebildeten
und aktiv gestaltenden Bürger der modernen Kommunikations- und Informationsgesellschaft.
Das scheinbare Abhängigsein vom Medium (z. B. Computer-Netzwerk) lässt auch
oberflächliches Reduzieren des Begriffs Medienkompetenz auf seine technologischen
Aspekte zu: Medienkompetenz sei damit eingegrenzt z. B. auf (Grund-)Fähigkeiten wie das
Einsetzen erfolgreicher Suchstrategien im Internet, netzgestützt zu kommunizieren und im
beruflichen Bereich schnell und intrinsisch motiviert die relevanten Anwenderprogramme zu
lernen. Medienkompetenz als Teilhabe an Gesellschaft vorausgesetzt, macht AusgrenzungsGefahren sichtbar. Wer nicht medienkompetent ist, marginalisiert sich. "Knowledge gap"
bezeichnet die sich vertiefenden Kluft zwischen Menschen mit guter und denen mit nicht
ausreichender Medienkompetenz. Jetzt hat der Begriff (Medien-) Kompetenz einen anderen
Schwerpunkt als 1970: Statt mehr Distanz zur Technologie soll es mehr einsichtiges Kennen
und Verstehen der Technologie sein, das der mündige Teilnehmer an gesellschaftlichen
Kommunikationsprozessen braucht.
1.2. Kompetenz
Kompetent, d. h. fähig und "berufen" ist der Mensch, innerhalb seiner jeweiligen Lebenswelt
selbstmächtig zu handeln – sich verwirklichend als Individuum wie als Mitglied seiner
sozialen Gruppe. Selbst-Werden (Individualisierung) und Mitglied-Werden
(Vergesellschaftung) des Menschen (Sozialisation) sind miteinander verflochten.
"Sozialisation wird (...) verstanden als unter empirischen Bedingungen stattfindende
Entfaltung einer Handlungskompetenz." (D. Geulen in Hurrelmann / Ulich 1998, S.48) fasst
Dieter Geulen die interaktionistisch-konstruktivistischen Sozialisationstheorien (Mead,
Piaget, Ericson, Oevermann, Habermas et alt.) zusammen. Gelungene Sozialisation wäre dann
die Genese eines handlungs-kompetenten Subjekts. Der neugeborene Mensch ist zunächst
noch nicht handlungskompetent, aber ausgestattet mit Anlagen zur primären Kommunikation.
Er hat nach konstruktivistisch-interaktionistischer Grundlegung damit prinzipiell die
Möglichkeit (und die Bestimmung), Handlungsfähigkeit zu erwerben.
1.2.1. Der selbstmächtig handelnde Mensch: Grundlegung des
Kompetenzbegriffs
In Abgrenzung z. B. von verhaltenstheoretischen (behavioristischen) Konzepten betonen die
Vertreter interaktionistisch-konstruktivistischer Theorien den Eigenanteil des aktiven
Menschen an seiner Entwicklung. Der Mensch selbst sei es, der sich in aktivem Handeln, in
Kognitions- und Kommunikationsprozessen (Probleme lösend) seine dingliche wie soziale
Umwelt aneignet; sie sich konstruiert. - Diese Grundhaltung kennzeichnet ein Paradigma, das
für das Beschreiben pädagogischer Ziel-Intentionen gut geeignet scheint. Erziehung hat es
immer mit Zielvorstellungen zu tun; mit Werten und Normen, mit Sollens-Setzungen.
Bestimmend und maßgeblich in der Grundlegung des weltanschaulichen kollektiven
Selbstverständnisses in den Nationalstaaten Mittel- und Westeuropas und speziell
Deutschlands sind die philosophischen Vertreter der europäischen Aufklärung und des
deutschen Idealismus. Sie begründeten den Wert und die Würde des Menschen an sich (I.
Kant) und den von Entwicklung (Werden als Versöhnung des Nicht-Seins mit dem Sein – G.
F. W. Hegel) philosophisch. Das Ideal der bürgerlichen Aufklärung beeinflusste das
Erziehungswesen über 2 ½ Jahrhunderte nachhaltig. Es hat nach der Nazi-Diktatur die
Kritische Theorie der Frankfurter Schule inspiriert, diese Ideale zu hinterfragen und ihre
Einlösung einzufordern.
Naturwissenschaftlich-technischen Wissensinhalten hingegen scheint die positivistische
Grundhaltung angemessener. Ein technischer Zusammenhang ist vollständig und in
lückenlosen Kausalketten beschreibbar; ein menschlich-kommunikativer nicht. Medien in
ihrer Technizität sind Apparate, erfunden und konstruiert von Technikern, die zunächst beim
"Tüfteln" nicht an Probleme des menschengerechten Kommunizierens oder an unabsehbare
soziale Folgen dachten. Das taten dann erst im Nachhinein Politiker und Erzieher, als das
jeweils neue Medium bereits gesellschaftliche Wirklichkeit geworden war.
Das humanistisch-aufklärerische und das positivistische Weltbild – jeweils für
sozialwissenschaftliche einerseits und naturwissenschaftlich-technische Fragestellungen
andererseits paradigmatisch – stehen sich bei Kommunikation und Medien scheinbar
unversöhnlich gegenüber. Ein Grund dafür, warum viele engagierte Erzieher in der
Bundesrepublik Deutschland Probleme mit der Akzeptanz der neuen Medien haben (in den
USA dagegen weit weniger), könnte sich daraus herleiten lassen.
Thomas B. Seiler untersucht interaktionistische Entwicklungs- und positivistische
Sozialisationsmodelle und erkennt ein Brückenkonzept in der strukturgenetischen Sichtweise.
Beide hätten "... denselben Gegenstand und (verfolgten) dieselbe Zielsetzung, nämlich
zusammenhängende und längerfristige Veränderungen der Persönlichkeit zu erfassen. (...)
Dem sich entwickelnden Subjekt (ist) ein hochdifferenziertes Arsenal an Strukturen,
Fähigkeiten, Bereitschaften (vorgegeben), die es vom ersten Augenblick seines Daseins dazu
befähigen, mit seiner Umwelt in Interaktion zu treten. (...) So erwirbt es fortlaufend neue,
komplexere Kompetenzen der Umweltbewältigung und Problemlösung." (Th. B. Seiler, a. a.
O. S.101).
Interaktion (weitgehend kongruent mit dem Begriff Kommunikation) und Kompetenz sind
damit als sich wechselseitig bedingend und konstituierend für die sich entwickelnde
Persönlichkeit benannt.
1.2.2. Handeln als personales und mediales Interagieren
In dem prinzipiellen Bejahen von Überbrückbarkeit der interaktionistisch-konstruktivistischen
mit den sozialisationstheoretischen Konzepten betonen die Vertreter der strukturgenetischen
Erklärungsmodelle weder einseitig die "Wirkung" der Gegenstände auf den Menschen noch
seine idealtypische Selbstmächtigkeit, sondern setzen den Fokus auf das Rekonstruieren der
zugrunde liegenden Struktureinheiten und ihr Zusammenspiel. "Entwicklung ist also (...)
durch die Eigengesetzlichkeit und die Dynamik der Strukturen zu erklären, ihre Formen und
Inhalte aber sind der Umwelt und dem soziokulturellen Angebot entnommen. (...) Die
Wirkung der Gegenstände, der sozialen Vorbilder und Einflüsse kommt nicht durch sie selbst
(...) zustande, sondern hängt davon ab, mit welchen Strukturen das Subjekt sie aufnimmt und
verarbeitet" (...) In zunehmendem Maße wird (...) die kollektive Rekonstruktion der
Wirklichkeit durch soziokulturelle Umwelt zum ersten und wichtigsten Gegenstand. (...) (A. a.
O. S.114-116). Dieser Ansatz eignet sich zum Erklären und Beschreiben der mediatisierten
Lebenswelt nicht nur dadurch, dass er idealistische mit positivistischen Konzepten "versöhnt",
sondern auch durch seinen Praxisbezug: "Je differenzierter und vielfältiger das Strukturgefüge
einer Person (...) ist, je mehr vernetzte Erfahrungs- und Handlungsweisen und je mehr
übergeordnete Beurteilungs-, Generalisierungs- und Problemlöseregeln sie (...) besitzt, umso
umfassender und effektiver wird sie sich mit einem entsprechenden Angebot auseinander
setzen." (A. a. O. S.116) – Das scheint wie eine Programmatik für Medien-Erziehung. Es
beinhaltet die Aufforderung an Eltern und Erzieher, dem Sozialisanden (Zögling) vom ersten
Lebenstag an und sogar pränatal ein möglichst vielfältiges Angebot an
Interaktionsmöglichkeiten in hoher Bandbreite bereit zu stellen. Dann habe er optimale
Chancen, handelnd und interagierend sich Kompetenzen anzueignen und sein Selbst zu
aktualisieren – lebenslang. Primäre, sekundäre, tertiäre und Neue Medien in Reihenfolge,
Ausgewogenheit und Vielfalt, Angemessenheit, Qualität und Vollständigkeit. Fast wie ein
Ratschlag zur gesunden Ernährung, bezogen auf geistige Nahrung. Allerdings steckt in
diesem Ansatz auch medien- und sozialpädagogischer Pessimismus: Es erklärt kumulative
Wirkungen medialer Einflüsse und begründet, dass primär-sozialisatorisch erworbene
kontraproduktive Strukturen, z. B. in ungünstigem familiärem Milieu nur schwer
aufzubrechen sind. Solche Menschen auf der "schlechten" Seite des Knowledge gap seien z.
B. empfänglich für die schädliche Wirkung von Gewaltdarstellungen, während soziokulturell
begünstigte Kinder mit frühzeitig angelegten funktionstüchtigen struktursequenziellen
Sinndeutungsmustern (kritische Distanz) auch aus gelegentlich aufgenommenen "Schund"
ihren strukturellen Gewinn der erweiterten Kompetenz zögen.
1.2.3. Das Konzept der kommunikativen Kompetenz
Der Begriff Kompetenz, eingangs schon etymologisch hergeleitet, kommt aus dem
naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch und bezeichnet die Aufnahmebereitschaft von
Embryonalzellen, Reize als Initial zum Wachsen und sich Entwickeln aufzunehmen. Analog
angewandt auf die Bereitschaft bzw. Fähigkeit von Menschen zum Entfalten ihrer
Entwicklungspotenziale kommt er im Bedeutungsgehalt dem alten Wort von der
"Bestimmung" des Menschen nahe.
In seiner Arbeit "Kommunikation und Kompetenz" nimmt Dieter Baacke den
Kompetenzbegriff des Soziologen Jürgen Habermas, einem der Vertreter der "Frankfurter
Schule", auf. Habermas wiederum bezieht sich auf den Linguisten Chomsky (Chomsky stellte
empirische Daten zusammen, die seine Theorie von der universellen Grammatik aller
Sprachen stützen, wonach die Fähigkeit zu sprechen, die Sprachkompetenz, im menschlichen
Erbgut verankert sei). Habermas untersucht die Situationen des Sprechens und des
Interagierens zwischen Menschen analytisch auf der Grundlage der Systemtheorie und
erkennt Strukturen von Herrschaft in den Sprechakten. Er fordert programmatisch die
"Vernunft" im Kommunizieren ein. In der idealen Sprechsituation, dem Diskurs, seien
Gerechtigkeit und Demokratie möglich. Wahrheit entwickele sich dialogisch-dialektisch im
Diskurs der vernünftigen Sprecher. Kommunikative Kompetenz sei nach Habermas identisch
mit Vernunft. Damit ist der direkte Bezug zur alten, aufklärerischen Antwort auf die Frage
nach der Bestimmung des Menschen hergestellt.
Dieter Baacke stellt fest, dass anders als zu Zeiten Kants mehr Öffentlichkeit nicht
gleichzeitig mehr Aufklärung bedeutet (Phänomen Massenkommunikation und
Manipulierung). Er untersucht seinerseits die kommunikativ-interaktiven Prozesse zwischen
Menschen und fragt nach universellen Gesetzmäßigkeiten (Regelstrukturen) und Axiomen der
verschiedenen Kommunikationsformen. Seine theoretische Grundlage ist die Systemtheorie
(Gesellschaft als selbst regulierendes System – analog der Kybernetik). In Abgrenzung zu den
positivistischen System-Soziologen kehrt Baacke jedoch die Priorität um: Seine
Kommunikationstheorie erklärt nicht strukturell-funktional, sondern funktional-strukturell. In
dieser Konstellation seien Menschen nicht in Strukturen eingezwängt, sondern regelten ihre
kommunikativen Beziehungen selbst, indem sie kreatives Problemlöse-Verhalten übten
(Selektion von Alternativen). Damit seien sowohl gesellschaftlicher Wandel und soziale
Mobilität als auch relative strukturelle Konstanz und Beharrungstendenzen erklärt. Auch das
Phänomen Massenmedien und ihre Organisation beschreibt der Autor systemanalytisch mit
Zweckrationalität.
Für massenmediale Kommunikationsprozesse auf der Rezipientenseite vergleicht er
verschiedene psychologische Erklärungsansätze. Baacke kommt zu dem Schluss, dass
menschliches Handeln der Bezugspunkt für Kommunikation sei, nicht die zweckrationale
Systemreferenz. "Kommunikationsbeziehungen determinieren den Menschen nicht im Sinne
einer Unterwerfung, vielmehr können gerade sie dazu dienen, Unterwerfung aufzuheben.
Darauf zielt pädagogisches Handeln. (Baacke 1973, S.254) Der kommunikations-kompetente
Mensch habe die Möglichkeit, "sprachlich neuen Sinn zu produzieren, (...) Sprache befördert
die Variation vorhandener Sinnmuster (und) auch die Chance, von ihnen Abweichendes zu
inaugurieren. (...) Der Kompetenz des Menschen zu variablen und innovativen
Verhaltensweisen entspricht die Struktur der Sprache. (..) In (ihr ist) die Verfügung über den
Sinn und die Intention von Aussagen (angelegt). (A. a. O. S.260-261) Veränderbare
Sinnstrukturen sind es, die die Zwanghaftigkeit sozialer Strukturen prinzipiell auflösbar
machten – denn aus gemeinsam geteilten Bedeutungsinhalten sind Gesellschaften konstruiert.
So kommt Baacke zu einem aufklärerisch-programmatischen, medienpädagogisch
optimistischen Ausblick. Die kommunikationsfreundliche Gesellschaft sei machbar und
lernbar : "Das Zu-sich-selbst-Kommen in der kommunikativen Kompetenz begründen
Freiheitsgrade von Sprechen und Verhalten, (...) setzt eine Organisation von Gesellschaft und
ein soziales Lernen voraus, die kommunikativ verlässlich und entlastend sind, dem Menschen
aber nicht die Nutzung seiner Kompetenzen vorenthalten. (A. a. O. S.272)
1.2.4. Medien im Kontext Handlungskompetenz, Sozialisation und
Interaktion
Bernd Schorb, Erich Mohn und Helga Theunert (veröffentlicht 1998) sehen sich im Einklang
mit Baackes Ansatz (hg.1973) und beziehen Sozialisation auf Medien. Auch sie distanzieren
sich von monokausalen Erklärungsmustern, halten historischen Rückblick auf die mediale
Kommunikation und stellen fest, dass Medien Bestandteil der konkreten Lebenswelt sind.
"Mediale Sozialisation findet statt und ist nur erklärbar im historisch-gesellschaftlichen
Kontext unter Einbezug der individuellen Adaption und Variation dieses Kontextes." Zum
Wechselverhältnis Medien, soziale Realität und Verhalten resp. Generierung von
Handlungskompetenz konkretisieren Schorb, Mohn und Theunert: "Das Individuum ist
ebenso in die Gesellschaft und ihre formenden wie informellen Grenzen eingebettet und
unterliegt auch dem Einfluss der Medien. Es bestimmt jedoch in der Auswahl der Medien und
in der Verarbeitung medialer Inhalte, welche Effekte diese haben können und es wirkt (...)
auch auf diese ein. (...) Als besonders intensiv wird diese Beeinflussung bei Kindern und
Jugendlichen gesehen, da hier die Medien und ihre Inhalte in den Prozess der affektiven und
kognitiven Entwicklung eingreifen. (...) (B. Schorb, E. Mohn, H. Theunert in
Hurrelmann/Ulich 1998, S.494-495) Die Problematik der Neuen Medien benennen die
Autoren u. a. so: (...) dass Computerwelten nicht mehr von den foto- oder videografischen zu
unterscheiden sind, und die vielen unterschiedlichen Formen der Computeranwendung
bedingen stets neue Probleme, die der öffentlichen Kontrolle entgleiten oder ihr auch bewusst
entzogen werden." (A. a. O. S. 494)
Dieser Zwiespalt zwischen Freiheit einerseits und Verführungsgewalt andererseits bestimmt
die gegensätzlichen Positionen in der medienpädagogischen Diskussion. Sie setzt sich seit der
ideologiekritischen Initiative der Frankfurter Schule fort und hat heute einen neuen Aspekt
hinzu gewonnen: Den der zunehmenden Verschmelzung von Medienwelt mit Lebenswelt und
die schärfer formulierte Frage nach Sein und Schein, Wert und Unwert, Fortbestand oder
Wandel des humanistischen Ideals vom aufgeklärten Bürger (, der jetzt zeitgemäß als
kommunikations- bzw. medien-kompetent bezeichnet wird). Der medienkompetente Mensch
sei die Lösung des Dilemmas. Sind Grundkenntnisse in IT-Technologien erstrangig oder
hinter den allgemein sozialkommunikativen Fähigkeiten zweitrangig? Die genannten Autoren
beziehen ihre Stellung in der Nähe von Baacke: "..weg von den Medien, hin zu den
Rezipienten (...) (einer) Sicht, Medienrezeption als soziales Handeln zu verstehen." (A. a. O.
S.501-504).
In welcher konkreten Lebenswelt primärer und mediatisierter sozialer Bezüge sich
Jugendliche um 1970 und um 2000 jeweils befanden, ist in Punkt 2 noch vergleichend und
detaillierter zu erörtern.
5. Das Konzept der Entwicklungsaufgabe im Jugendalter:
"Identität finden"
Die in dieser Arbeit ins Blickfeld gerückte Gruppe der 16-20jährigen steht im dargelegten
Kontext der Sozialisation / Entwicklung in besonders schwierigen und tiefgreifenden
Spannungen. Im letzten Drittel des zweiten Lebensjahrzehnts vollziehen Menschen den
wichtigen Status-Übergang hin zum Erwachsenen. Die Konzeption der Entwicklungsaufgaben
von E. H. Ericson ist geeignet, diesen Lebensabschnitt zu beschreiben. Es ist ein
entwicklungstheoretischer Ansatz in der Traditionslinie der Psychoanalyse, der das
Bewältigen von Krisen des Schwellen-Überschreitens als konstituierend für Sich-Entwickeln
kennzeichnet. Diese Theorie beschreibt lebenslange Entwicklungsprozesse aus der
biografischen Sicht des Sozialisanden im Allgemeinen und des Adoleszenten im Besonderen.
Nach Ericson kommt dem Adoleszenten die Aufgabe zu, die Krise der Statuspassage hin zum
Erwachsenen zu managen. Er müsse seine berufliche Identität finden, verwirklichen und
wirtschaftlich unabhängig von der Herkunftsfamilie werden (Arbeit und Beruf). Er müsse des
weiteren seine geschlechtliche Identität realisieren, sich vom Elternhaus emanzipieren und
den Lebenspartner wählen (Liebe, Zuwendung, Partnerschaft in qualitativ neuen Beziehungen
leben lernen). In der Tradition Siegmund Freuds kennzeichnet Ericson damit sowohl
Trennungs- und Ablösungsprozesse wie auch Bindung als bestimmend für die Konstitution
der personalen Identität. Beides bedeutet intensivierten kommunikativen Austausch
(Beziehungsmanagement) und ist mit dem Durchstehen von krisenhaften Konflikten
verbunden. Die Adoleszenzkrise sei neben der ödipalen die wichtigste im Menschenleben. In
der Diskussion um die Neuen Medien sind wiederholt Verschiebungen des Machtgefälles als
Konfliktpotenziale zwischen älterer und nachwachsender Generation thematisiert. Auch
mangelnde bzw. "zweifelhafte" Identifikationsangebote für junge Menschen stellen
Diskussionsstoff dar. Der zentrale Platz, den die Lebensaufgabe "Identität finden" in Ericsons
Konzept einnimmt, verspricht solche wesentlichen Erscheinungen einordnen zu helfen.
Kompetenz erwerben könnte in Ericsons Terminologie übersetzt heißen, die Lebensaufgabe
"Berufliche und geschlechtliche Identität herstellen" erfolgreich zu lösen. Die
Prozesshaftigkeit, Dynamik und prinzipielle Offenheit des Begriffsinhaltes Kompetenz sind
damit gekennzeichnet. Die normative Komponente des Ericsonschen Konzepts gestattet
zudem ein Vergleichskriterium: Wie nutzen Jugendliche die soziokulturellen Angebote der
Medien für das Lösen ihrer Entwicklungsaufgabe "Identität finden" um 1970 und um 2000
(Siehe Punkt 3)?
1. Kommunikationshandeln im Wandel: Was ist heute anders
als vor 30 Jahren?
1. Mediale Umwelt und Ziel-Intentionen für erzieherisches Handeln
um 1970
Die soziale Umwelt, in deren Bezugsrahmen Jugendliche um 1970 in der Bundesrepublik
Deutschland ihren Entwicklungsschritt zu vollziehen hatten, ist von den Massenmedien
repräsentiert. Nur über die hohe Kapazität massenmedialer Kommunikation nahmen sie sich
wahr und erlebten sich als Teil eines nationalstaatlich föderal organisierten
Gesellschaftssystems, das damals ca. 60 Mio. Menschen umfasste und das sich abgrenzte
gegenüber Nachbarstaaten.
Die Wirtschaft des Landes war durch eine hoch leistungsfähige kapitalistische
Industrieproduktion geprägt und bedingte die soziale Schichtung der Gesellschaftsmitglieder
in Arbeiter, Angestellte, Mittel- und Oberschichtsangehörige. Die Schichtzugehörigkeit der
Herkunftsfamilie, die jeweilige Arbeits- und Alltagskultur der Eltern bestimmte weitgehend
das Herausbilden von strukturgenetischen Sequenzen in der familialen Sozialisation der
Heranwachsenden, beeinflusste nachhaltig ihren Bildungsweg und ihre Lebenschancen. Der
Monotonie in tayloristisch organisierten Produktionsbetrieben entsprach die Entfremdung der
Industriearbeiter von ihrer Arbeit. Vertreter der kritischen Theorie und Aktivisten der
Studentenbewegung prangerten um 1968 diese fragwürdigen sozialen Zustände öffentlich an.
Die Massenmedien seien im Interesse des Fortschreibens von Herrschaft und Ausbeutung
instrumentalisiert. Das Einfordern von gleichen Bildungschancen für alle überschnitt sich mit
dem sg. Sputnikschock: Wirtschaftlich und politisch Mächtige in der BRD befürchteten
technologisches Zurückbleiben bzw. bildungs- und sozialpolitische Vorbildwirkungen der
Länder des feindlichen "Ostblocks". (Dort waren Bildungsbarrieren eingeebnet bzw.
andersherum aufgerichtet). In einer groß angelegten Bildungsinitiative ("Bildungsboom")
wurden Tausende neuer Lehrer eingestellt und umfangreiche Mittel in die Modernisierung des
Bildungssystems investiert.
Außenpolitisch waren die Beziehungen der BRD durch feindliche Konfrontation mit den
Ländern des "Ostblocks" geprägt. Existenzielle Gefahren gingen vom Wettrüsten
insbesondere mit Nuklearwaffen der Militärblöcke NATO und Warschauer Pakt aus.
1. "Medien-Landschaft" um 1970
Bücher-, Tageszeitungs- und Zeitschriftenverlage, Rundfunk, Film und
Fernsehen waren die wichtigsten Massenmedien-Organisationen. Sie
leisteten das Überspannen der 60 Mio. Menschen mit dem Netzwerk
sozialer Kommunikation. Offiziell waren publizistische Freiheit und
das Verbot von Zensur grundgesetzlich garantiert. Rundfunk- und
Fernsehanstalten sind der privaten Vermarktung (noch) entzogen und
unterstehen der öffentlich-rechtlichen Aufsicht mit dem Anspruch,
weltanschauliche Pluralität, objektive Berichterstattung und kulturell
hohe Qualität zu gewährleisten. Daten über den Rückgang der Zahlen
selbständiger Zeitungen und Buchverlage verweisen jedoch auf
zunehmende Medienmacht-Konzentrationen. Die Axel-Springer-
Gruppe bringt 30% der Gesamtauflage der Tagespresse (MassenBlätter) heraus (!) Eine differenzierte und vollständigere Beschreibung
der Massenmedien mit Zahlen und Daten (Teilnehmerzahlen,
Entwicklung und Verbreitung, Auflagen, Anzahl der Publikationen, zu.
a. m.) ist innerhalb dieser Arbeit nicht zu leisten. Daten darüber sind z.
T. veröffentlicht in Brockhaus 1968, Bd. 4, S.633-634.
In der Auswahl der Medien und den Rezeptionsgewohnheiten
unterschieden sich die Rezipientengruppen, die stark mit der
Schichtzugehörigkeit korrelierten. Ein Merkmal der Zugehörigkeit zu
einer höheren Sozialschicht ist z. B. die Teilhabe an der Hochkultur der
Literatur, des Theaters, der Bildenden Kunst u. a. Medien. Je niedriger
die Sozialschicht, desto geringer der Anteil von Teilhabe an Hochkultur
und desto höher der von "Massenkultur" und Produkten der
"Bewusstseins-Industrie". Eine weitere schichtsspezifische
Differenzierung macht B. Bernstein um 1970 am primären Medium der
Sprache fest. B. Bernstein beschreibt das Reproduzieren
gesellschaftlicher Ungleichheit mittels schichtspezifischer Sprachcodes.
Dabei entspreche ein restriktiver Sprachcode, angenommen in
restriktiv-autoritären Kommunikationsformen am elterlichen
Arbeitsplatz, der beim Unterschichtkind sich bildenden
strukturgenetischen Sequenz. Denn eingeschränkte Sprache sei
begrenzte kommunikative und Handlungskompetenz.
So stellt sich die "Medienlandschaft" um 1970 in differenzierter
Struktur dar, die der geschichteten Struktur der Industriegesellschaft
entspricht.
2. Kritische Theorie und Kritik an den Massenmedien: Die Abkehr
vom behavioristischen Konzept der Medienwirkung
Theoretische Wortführer der kritischen Theorie, M. Horckheimer und
Th. W. Adorno, nennen den Ursprung der Entfremdung der arbeitenden
Massen von ihren "wahren" Bedürfnissen mit aller möglichen Schärfe:
" Der technische Gegensatz weniger Herstellungszentren zur
zerstreuten Rezeption bedinge Organisation und Planung durch die
Verfügenden. (...) In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und
rückwirkendem Bedürfnis, (...) auf dem die Technik Macht über die
Gesellschaft gewinnt. (...) Technische Rationalität ist heute die
Rationalität der Herrschaft selbst." (Horckheimer, M., Adorno, Th. in
Heinze 1990, S.102) und an anderer Stelle: "Der kategorische
Imperativ der Kulturindustrie hat, im Unterschied zum Kantischen, mit
der Freiheit nichts mehr gemein. Er lautet: Du sollst dich fügen. (...)
Der Gesamteffekt der Kulturindustrie ist der einer Anti-Aufklärung (...)
Fortschreitende technische Naturbeherrschung wird zum
Massenbetrug, zum Mittel der Fesselung des Bewusstseins. Sie
verhindert die Bildung autonomer, selbständiger sich entscheidender
Individuen." (A. a. O. S. 15-16).
Solcherart generalisiertes Ablehnen der Massenmedien, ihre
Kennzeichnung als Ursache von Entmündigung, haben viele der
Anhänger der einflussreichen kritischen Theorie in sich aufgenommen.
Zum Teil ist sie heute noch in den Köpfen vieler Sozialwissenschaftler
und Lehrer als allgemeine Technikfeindlichkeit präsent. Das stellt
wahrscheinlich eine der begünstigenden Bedingungen für die
skeptische, abwertende, ablehnende Haltung vieler Erzieher gegenüber
den neuen Medien um 2000 dar.
Auf der Gegenseite stehen 1970 nach wie vor technokratisch bestimmte
Welt- und Menschenbilder. So stellt der US-Amerikaner J. K.
Galbraith, unbeeinflusst vom deutschen Idealismus, die Forderung auf,
die gesellschaftlichen Strukturen müssen zweckrational der streng
technologisch ausgerichteten Struktur der tayloristisch organisierten
Industrieproduktion angepasst und untergeordnet sein. Er bezeichnet
die Zielvorstellung als "Technostruktur der Gesellschaft": "Die
Notwendigkeit, Aufgaben immer weiter zu unterteilen, dann
Spezialwissen auf die Teilgebiete anzuwenden und schließlich die
fertigen Elemente wieder zu einem Gesamtprodukt zusammenzufügen,
ist der Ausgangspunkt fast aller Konsequenzen der Technologie und
bestimmend für das Bild der modernen Industrie." (Galbraith, J. K,
1968, S. 26). "Die moderne Kapitalgesellschaft hat sich den
Erfordernissen fortschrittlicher Technologie (...) und der notwendigen
umfangreichen Planung angepasst. Sie spiegelt das Verlangen ihrer
Technostruktur wider, sich von äußeren Einflüssen zu befreien." (A. a.
O. S.104) Dieses Bild vom Menschen als funktionierendes Rädchen der
Maschinerie am Fließband forderte den scharfen Widerspruch der
Kritischen Theoretiker heraus.
Die beiden konträren Meinungen zum Verhältnis Mensch und
Technologie spiegeln die Schärfe der Gegensätze wider und lassen
einen Blick auf die Polarität der in Klassen gespaltenen Gesellschaft zu.
Der Publizist H. M. Enzensberger relativiert die Kritik an den
Technologien und begrenzt sie auf Kritik an deren
Undurchschaubarkeit: "Sichtbar ist nur das Undurchsichtige: erst wenn
sie industrielle Maße annimmt, wird die gesellschaftliche Induktion und
die Vermittlung von Bewusstsein zum Problem." (H. M. Enzensberger
in Heinze 1990 S. 69). Und: "Jede Kritik an der BewusstseinsIndustrie, die deren Abschaffung fordert, ist hilf- und sinnlos. Sie läuft
auf den selbstmörderischen Vorschlag hinaus, Industrialisierung
überhaupt rückgängig zu machen." (A. a. O. S.71)
Baacke zeigte einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen TechnologieVerherrlichung und Technokratie einerseits und Technikfeindlichkeit
andererseits auf. Bezogen auf die Rolle der Kommunikationsmedien
und ihre "Wirkungen" wendet er sich vom positivistischen
Erklärungsmodell ab. Wirkungs- Modelle entsprächen eher der
"Technostruktur" eines berechenbar funktionierenden, reagierenden
Menschen. Baacke hält menschengerechtes Kommunizieren über
Massenmedien für lernbar. Sein Konzept ist es, das Entfremdende, das
nach Enzensbergers Interpretation Undurchsichtige sichtbar zu
machen.: Massenmedien seien unverzichtbar. "(Sie) leisten die
Kommunikation der Gesellschaft als einer übergreifenden
Bezugseinheit menschlichen Lebens", sieht sich Baacke mit
Enzensberger einig. (Baacke 1973, S.180). Probleme mit dem
angemessenen Rezipieren entstünden beim Überwinden der Differenz
zwischen öffentlichem und privatem Erleben. "Massenkommunikation
(kann) diese Divergenz nicht aufheben. Der Rezipient
massenkommunizierter Inhalte muss nicht nur lernen, ihm mitgeteilte
gesellschaftsrelevante Ereignisse auf seine Privatlage zu beziehen,
sondern gleichzeitig die Differenz seiner persönlichen Bedürfnisse
gegen die mögliche Konformität von Informationen und
Informationsweisen aufrecht zu erhalten. (A. a. O. S.181) Im
Ermuntern zum Herstellen dieser kritischen Distanz mit Hilfe
planvollen erzieherischen Einflusses sieht Baacke den Schlüssel zum
Lösen des Problems massenmedialer Manipulation.
3. Pädagogische Zielvorstellung: Mündigkeit, Kritikbereitschaft,
Widerstand gegen mediale Indoktrination
Damit erscheint die alte aufklärerische Zielvorstellung vom kritischen, mündigen Menschen
in aktualisierter Gestalt in der Programmatik der Erzieher. Tausende junge Lehrerinnen und
Lehrer, die um 1970 im Zuge des Bildungsbooms aus den studentenbewegten Milieus der
Universitäten in die bundesrepublikanischen Schulen einziehen, schickten sich an, die Vision
vom distanzierten, aufgeklärten Menschen in die Wirklichkeit des Bildungswesens zu
transferieren – nach dem neu entdeckten Kantschen Motto: Wage es, dich ohne Furcht deines
Verstandes zu bedienen. Kommunikative Kompetenz ist das Wort für Selbstbestimmtheit und
Mündigkeit. Kompetenz haben heißt, zum Errichten einer spontanen Gegenöffentlichkeit wider die Allmacht der institutionalisierten Medien - in der Lage zu sein. Es fordert auf zur
kritischen Distanz.
1. Mediale Umwelt und Ziel-Intentionen für erzieherisches Handeln
um 2000
Um 2000 haben sich nicht nur außen- und wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen in der
BRD geändert, sondern globale Wandlungen haben sich vollzogen und schreiten fort.
Der "Ostblock" ist zerfallen, die BRD hat jetzt 81 Mio. Einwohner, davon ca. 10%
nichtdeutscher Nationalität. Bedrohliche außenpolitische Spannungen bestehen weiter. Sie
gehen von den zunehmenden Gegensätzen zwischen den Ländern mit entwickelten Industrieund Kommunikationsgesellschaften einerseits und den verarmenden, wirtschaftlich
unterentwickelten Ländern Afrikas, Lateinamerikas, Zentralasiens u. a. Weltregionen aus.
Existenzielle Gefahren bilden auch Verschiebungen im sensiblen ökologischen Gleichgewicht
der Erde, ausgelöst vom Raubbau an Naturressourcen. Wachsende Migrationsströme und die
Gefahr von Terror sind Folgeerscheinungen. In den hoch entwickelten Ländern besteht die
alte Industriekultur und Nationalökonomie nur noch in Resten. Die Arbeiterbewegung ist im
Untergang begriffen, denn Industriearbeitsplätze sind drastisch reduziert. Produzierende
Betriebe fertigen in voll automatisierten Taktstraßen (Industrieroboter), von wenigen
spezialisierten Facharbeitern (Systemregulierern) elektronisch überwacht. Die
Kapitalistenklasse ist kaum noch auszumachen. "Global Players" beherrschen den Weltmarkt
und konkurrieren weltweit um die besten Köpfe. Wissen und der organisierte Zugang zum
Wissen der Hoch-Technologie (Micro- und Opto-Elektronik, Biotechnologie,
Nanotechnologie) ist die entscheidende Ressource der globalisierten Wirtschaft geworden.
Paradox, denn gewaltige Massen von Daten und Informationen sind jederzeit von
jedermann/jederfrau im world-wide web abzurufen. "Informationsflut" ist das bezeichnende
Wort für die Unsicherheit, die Menschen in Orientierungsnöten empfinden.
36% aller Privathaushalte und nahezu alle Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen und
Behörden sind an das weltweite Computer-Netzwerk angeschlossen. Es gibt fast keinen
Bereich in der Arbeits- und Berufswelt mehr, der ohne den verändernden Einfluss der Neuen
Medien geblieben ist. Auch die Auflagen der Printmedien steigen weiter, mehr als 60
Fernsehkanäle und noch mehr Rundfunkkanäle stehen den Teilnehmern zur Verfügung. Über
38% der Bürger besitzen Mobilfunkanschluss (Handy).
Von den erwerbstätigen Menschen der BRD ist ein immer mehr wachsender Anteil in
Dienstleistungsberufen beschäftigt: Handel, Banken, Versicherungen, Gastgewerbe,
Gesundheits- und Sozialberufe, Öffentliche Verwaltung u. a. Die Freizeitindustrie boomt.
Neue Medien bestimmen auch sie. Der Wert der Freizeit steht konkurrierend neben dem Wert
der Arbeit als sinnstiftender Lebensinhalt. Daneben gibt es unübersehbar viele andere Werte,
Normen, Lebensformen und Sinn-Alternativen, die prinzipiell alle lebbar und machbar den
Menschen als Entwurfs-Angebote zur Verfügung stehen. Soziale Kontrolle sowie auch die
regulierenden Möglichkeiten des Staates nehmen tendenziell ab. Der Arbeitsmarkt ist auf
Dauer gespalten in Sektoren; einerseits "gute" Arbeitsplätze, d. h. solche mit komplexen,
anspruchsvollen und potenziell befriedigenden Tätigkeiten, relativ gut bezahlt und sicher, und
andererseits "schlechten", d. h. solchen mit gegenteiligen Eigenschaften. Auf nunmehr
zehnjährige Dauer suchen über 4 Mio. Menschen einen Erwerbsarbeitsplatz. Demografische
Verschiebungen größeren Ausmaßes kündigen weitere, z. T. unabsehbare Veränderungen in
Sozialstruktur und Arbeitswelt der BRD an.
2.2.1. Die Neuen Medien: ein "Quantensprung" in der Medien-Umwelt
Das Beschreiben sozialer Wirklichkeit in 2.2. muss lückenhaft und subjektiv bleiben; es lässt
Entwicklungszeiträume, auslösende Momente und viele andere wichtige Aspekte außer acht.
Deutlich wird allerdings: In der Lebenswirklichkeit, bestimmt durch Wirtschafts- und
Arbeitswelt, stehen die Medien mit der abermals und unabsehbar hohen
Informationsverarbeitungs-Kapazität nunmehr nicht bloß vermittelnd zwischen Menschen,
sondern Medialität selbst ist intergraler Bestandteil von Wirklichkeit geworden. Wie
navigieren Menschen in der Informationsflut, wie orientieren sie sich in der "Neuen
Unübersichtlichkeit"? Soziologen wie Lyotard nennen die neue soziale Epoche das
"postmoderne Zeitalter" und verkünden das Ende der Moderne (Aufklärung): "In dieser
allgemeinen Transformation bleibt die Natur des Wissens nicht unbehelligt. Es kann die
neuen Kanäle nur dann passieren und einsatzfähig gemacht werden, wenn die Erkenntnis in
Informationsquantitäten übersetzt werden kann (...) und dass die Orientierung (...) sich der
Bedingung der Übersetzbarkeit etwaiger Ergebnisse in die Maschinensprache unterordnen
wird. (Lyotard 1986, S.23). Hat Lyotard mit seiner Interpretation recht, so bedeutete das die
Umkehr des modernen Leitbildes vom Menschen als das Maß für die Technologie in die
postmoderne Wende. Aufkündigung des Bildungsideals? - Lyotard findet zahlreichen
Widerspruch, auf den noch einzugehen sein wird.
2. Ambivalente Bewertung der Neuen Medien zwischen
demokratisch-emanzipatorischem und Gefährdungs-Potenzial
Schicht- und Geschlechtszugehörigkeit bestimmen um 2000 noch immer Lebenschancen,
jedoch die soziale Mobilität ist größer geworden. Normierende Vorgaben und
Kontrollinstanzen, aber auch Sicherheit und Orientierungen nehmen ab. GeschlechtsrollenStereotype zeigen deutliche Auflösungstendenzen. Davon ist u. a. die traditionelle
Familienstruktur betroffen.
Wilfried Ferchhoff unternahm den Versuch, Jugend unter den veränderten Bedingungen des
Aufwachsens in Familie, Schule, Beruf, Freizeit und Peergroup zu beschreiben – mit dem
Ziel, daraus Richtungen für pädagogisches Handeln und Kriterien für "Medienkompetenz"
herzuleiten. Er konstatiert zunächst, dass sich die gesellschaftliche Wahrnehmung und
Thematisierung des Phänomens "Jugend" im Zuge der tiefgreifenden sozialen, politischen und
kulturellen Wandlungsprozesse insgesamt verändert habe und "... Jugendliche auf ihre Weise
antworten. Sie unterwerfen und entziehen sich". Er formulierte 10 Thesen (Ferchhoff in
Schell, Stolzenburg, Theunert S. 200-219):

"Jugend ist Schul- und Bildungsjugend (...) Immer mehr Lebenszeit wird von der
Schule beschlagnahmt." (Bildungsexpansion, Qualifikationsparadox)

"Jugend ist arbeitsferne Jugend. (...) Ausgrenzen der Jugend aus der Arbeitssphäre
der Eltern", damit Begrenzen des jugendlichen Erfahrungshorizonts, aber neben der
Ausbildung Gelderwerb, "vor allem um marktgerecht und sozial verpflichtend an den
(...) Glücksversprechen der Medien und des Konsums teilnehmen zu können."

"Jugend ist Gegenwartsjugend". (...) Die Zielspannung Erwachsenwerden hat
nachgelassen (...), denn der traditionelle Sinn des Jugendalters (Anstrengung, (...)
Gratifikationsaufschub (...) ist brüchig geworden."

"Jugend ist Leitbild- und Expertenjugend. (...) Die Machtbalance zwischen Jüngeren
und Älteren hat sich enorm gewandelt. (...). Medien vermittelten das Leitbild
erfolgversprechender Jugendlichkeit. "Jugendliche (...) sind (...) Erwachsenen
gegenüber in Technikbeherrschung, Computer (...) und Lebensstilfragen die
Expertinnen und Lehrmeister der Älteren."

"Jugend ist alltagspragmatisch familiale Versorgungs- und Mutterjugend." Das
Aufweichen der Rollenmuster Frau / Mann geht mit Aufwertung der Mütterlichkeit
einher. Jugendliche nehmen die Vorteile mütterlicher Fürsorge an und entweichen
dennoch weitgehend der elterlichen Kontrolle.

"Jugend ist Gleichaltrigenjugend." In den Lebensbereichen Jugendlicher herrsche
das Prinzip der Altershomogenität, das die Herausbildung von Jugend-Subkulturen
fördere. Gleichaltrigengruppen mit nicht-formalisierten Strukturen seien daher für die
Lebensbewältigung der meisten Jugendlichen enorm wichtig, denn "sie eröffnen (...) in
sozialkultureller Hinsicht kompetente Teilnahme- und Selbstverwirklichungschancen."

Jugend ist (...) liberalisierte, aber auch permissive (Erziehungs-)Jugend" Ferchhoff
spricht hier die Dauerpräsenz der Medien als heimliche Miterzieher neben Familie und
Schule an, die Pluralismus von Zielvorstellungen vermittelten. Damit sei die "stetige
Abnahme einer eindeutigen Erziehungsmoral und -haltung seitens der Eltern"
verbunden. Neue Erziehungsideale dominierten über die älteren: Mehr
Unabhängigkeit und Selbstbestimmung statt "Dasein für Andere"; mehr Kognitivität,
weniger Emotionalität.

Jugend ist Multi-Media-Jugend. (...) Die Bilderwelten der Medien ersetzen immer
mehr die ehemaligen Weltbilder. (...) Medien aller Art sind ein lebensweltlich
zentrales Element im Prozess des Heranwachsens." In Punkt 8 benennt Ferchhoff
auch problematische Seiten der Mediatisierung jugendlicher Lebenswelt: Rasante
Bildwechsel und Fragmentierungen veränderten, veroberflächlichten die
Wahrnehmung, Fiktion und Wirklichkeit mischen sich.

Jugend ist Patchwork-Jugend. (...) Identität besitzt keine stabilen Wesenskern im
Sinne eines stabilen Sinn-Mittelpunkts." Die Pluralität der Werte, die sich auflösenden
Grenzen zur Erwachsenenwelt verwiesen identitätssuchende Jugendliche auf das
Ausprobieren mit Patchwork-Elementen bzw. Bricolagen. Inszenierte, virtuelle Welt
verunmögliche das Entstehen einer geschlossenen Sinngestalt des Selbst. Jugendliche
vollzögen "patchworkartig und bastelbiografisch (...) einen schnellen Wechsel von
Identitätsmontagen."

"Jugend ist ego- und ethnozentrische Jugend. Auf identitätssuchenden Jugendlichen
laste unter den dargelegten Bedingungen hoher Druck. In Fragen des Dazugehörens
und sich Abgrenzens (Mitgliedschaftsentwürfe) weitgehend auf altershomogene
Peergroups angewiesen zu sein, begünstige Vorurteile und Ablehnung gegenüber
allem Fremden und z. T. eine Verrohung des Umgangstones. "Die Differenzierung
und Pluralität der Jugendszenen führt (..) gerade nicht zur (...) propagierten
kulturellen Bereicherung und Toleranz."
Ferchhoff zeigt somit verschiedene einander entgegenlaufende Tendenzen auf. Jugendliche
heute haben eine unübersehbare Auswahl von Chancen. Sie sind Leitbild einer Kultur der
Leistungsfähigkeit, gleichzeitig sind ihnen wichtige Erfahrungsmöglichkeiten z. B. in der
Arbeitswelt weitgehend versperrt. Jugendliche leben in einer Welt der sich auflösenden
Rollenmuster und der grenzenlosen Vielfalt - und haben es damit schwer, ein konsistetes IchModell zu entwerfen. Medienprofis instrumentalisieren Jugendkulturen als Ideenpools zwecks
Imagetransfer "Jugend". Das den Heranwachsenden in der komplex arbeitsteiligen
Gesellschaft zugestandene psychosoziale Moratorium, die Jugendphase, birgt die Gefahr, zum
Ghetto bzw. zum Daueraufenthalt zu werden.
Die ambivalente Rolle der Medien ist Ausgangspunkt und Bedingung dieser Realität.
Mediatisiertes Kommunizieren heißt die mediatisierte Welt annehmen und sie gestaltend zu
verwirklichen – oder ihr unterliegen. Neue Medien sind Chance und Risiko für das
kompetente Subjekt zugleich.
2.2.3. Aspekte der pädagogischen Zielvorstellung vom kompetenten
Mediennutzer
Ferchhoffs Beschreibung und Interpretation der Lebenswelt Jugendlicher im Informationsund Medienzeitalter könnte auch geeignet sein, resignativ alle normierenden Sinn- und
Zielvorgaben, generiert aus der Bildungstradition, fahren zu lassen. Diese Konsequenz
verneinend, fordert sie das Hinterfragen der tradierten Struktur von institutionalisierten
Bildungseinrichtungen bis hin zum alten statischen Berufsrollen-Verständnis des Lehrers
heraus. Vorausgesetzt, dass staatlich-diktatorisch reglementierte Medienzensur und
Bewahrpädagogik als realistische Alternativen ausscheiden, kann die Antwort auf die Frage
nach erzieherischer Zielvorstellung wiederum "Kompetenz" lauten; konkreter:
Medienkompetenz. Im Unterschied zu 1970 hat der Inhalt des Begriffs allerdings davon
abweichend und zusätzlich eine Tendenz hin zum Technischen bekommen. Kompetenz steht
inzwischen im Alltagssprachgebrauch für Professionalität und hohe Fachkenntnis schlechthin:
Wortverbindungen wie Kompetenzzentrum, Kompetenzfeld, Kernkompetenz und
Kompetenznetz transportieren die Botschaft von Vertrauen in die "seetüchtigen" Navigatoren
in der Informationsflut.
Wie dargelegt, haben die Neuen Medien keines der alten gelöscht bzw. getilgt, sondern zu
Bedeutungs-Verschiebungen geführt. An komplexen Kommunikationsprozessen
selbstbestimmt teilzuhaben, heißt unter der Bedingung der IT-Gesellschaft, sich in allen
Medien kompetent zu verständigen. Ferchhoffs Analyse lässt den Schluss zu, dass ältere
Erwachsene, (Eltern, Lehrer, Ausbilder) gegenüber Jugendlichen ein Defizit an Computerund IT-Sozialisation aufwiesen. Umgekehrt beklagten ältere Lehrer und Erzieher an
Jugendlichen das Verflachen des deutenden Sinnverstehens und das Verrohen der primären
Kommunikation (Egoismus, Oberflächlichkeit). Somit hätten sowohl Angehörige der älteren
Erzieher-Generation wie auch Jugendliche Lernbedarf in Sachen Medienkompetenz.
Unter der Voraussetzung, dass Schule nicht das gesamte soziale System wird ändern können,
wird sich die Vorstellung über Chancen des förderlichen Sich-Änderns auf die Institutionen
des staatlichen bzw. Berufsbildungssystems beziehen müssen.
2. Entwicklungsaufgabe Identität und Medien im Lebensabschnitt
zwischen 16 und 20 Jahren: Zeitvergleich
3.1. Übergreifender Erklärungszusammenhang
Die Modellvorstellung von Ericson, wonach kompetent sein heißt, lebenslang
Entwicklungsaufgaben zu lösen, bezieht reife Erwachsene ausdrücklich ein. Die These, dass
die Entwicklungsphase der Adoleszenz die Art der Erfahrung von Krisenbewältigung
entscheidend sei für spätere Selbstverwirklichungs-Muster im reifen Erwachsenenalter, weist
Analogien auf zum Modell der strukturgenetischen sequenziellen Ganzheiten: Erfahrungen
dieser Zeit intensivsten Gefordert-Seins in Problembewältigungs-Situationen wirken fort als
gelernte individuelle Deutungsmuster von kommunizierten Sinn-Inhalten.
Die Bedingungen, unter denen Jugendliche um 1970 und um 2000 ihre Entwicklungsaufgabe
"Geschlechts- und Berufsidentität" lösen mussten/müssen, unterscheiden sich voneinander
wie oben dargelegt. Überlagert ist die Problematik z. T. davon, dass die Eltern, Lehrer und
Ausbilder der Jugendlichen von heute die Jugendlichen von 1970 waren; also "alte",
sequenziell-ganzheitlich strukturierte Deutungsmuster kommunizieren (vorleben). Sind die
von Eltern und Lehrern gelebten Vorbild-Angebote für Jugendliche heute überhaupt
annehmbar?
3.2. Jugend und Jugendkultur
Die Entwicklung hin zu immer differenzierteren und komplexer arbeitsteiligen
Organisationsformen der Gesellschaft ließ "Jugend" als Institution entstehen: Sich in hoch
organisierten Gesellschaftsstrukturen zu orientieren, sich auf die Übernahme einer Berufsrolle
vorzubereiten brauchten Heranwachsende Zeit. Am kürzesten war diese Phase in bäuerlichen
Kleinbetrieben. Dort hatte der/die Heranwachsende Beruf und Lebensentwurf seit früher
Kindheit "erlernt", während in Handwerker-, Kaufmanns- oder Akademiker-Familien den
Jugendlichen entsprechend ihrer erwartbaren Lebensentwürfe zum Vorbereiten jeweils
längere Moratorien zugestanden waren. Sozialschichts- und Geschlechtszugehörigkeit gab
Norm- und Rahmenbedingungen für die Gestalt der Lebensphase "Jugend" vor. Jugend ist in
die soziale Entwicklung und ihre jeweiligen konkreten Bedingungen eingebunden. Mit dem
Verlängern und Institutionalisieren der Ausbildung geht das Verstetigen von Gruppenbildung
altershomogener Zusammensetzung einher. In diesen Gruppen entstehen von der
Erwachsenenwelt tendenziell entkoppelte Erfahrungsräume, die zum Ausprägen eigener,
"jugendspezifischer" Interaktionsmuster und Symbolsysteme führen. Im Ausfüllen des den
Jugendlichen vorbehaltenen sozialen Erprobungsraumes entstehen "Jugendkulturen". In ihnen
schaffen Heranwachsende alternative Modelle zur herrschenden Kultur und setzen
Innovationspotenziale frei. Das Bewerten dieser jugendkulturellen Bestrebungen unterliegt
wiederum kulturell gebildeten Leitmotiven zwischen Jugend-Verherrlichung und
"Verwahrlosungs"-Gefahr. Diese Leitbilder sind in den hochorganisierten komplexen
Gesellschaften medial vermittelt.
3.2.1. Jugendkulturen um 1970
In der Beat- und Popkultur lebten jugendliche Unterschichtsangehörige ihr Bedürfnis nach
Abgrenzen von den Erwachsenen aus. Ursprünglich eine Protest-Bewegung und Gegenkultur
(Hippie-Kult), war diese "Szene" um 1970 schon weitgehend in Erwachsenen-Lebensstile
integriert: Massenmedien und Werbung kommunizierten Musik und Mode gewordene
Jugendlichkeit. Jugend-Sendungen in Rundfunk und Fernsehen, Jugend-Zeitschriften-,
Schallplatten- und Bucheditionen vermarkten das jugendliche Lebensgefühl des Frischen,
Neuen, Farbigen erfolgreich, das einmal als Protest gegen das starre Establishment begonnen
hatte. Symbole wie lange Haare bei Jungen, extrem kurze Röcke bei Mädchen, Hosen mit
"Schlag" und andere Zeichen des Probierens mit der (tabuisierten) Körperlichkeit sind immer
noch geeignet für Provokationen. Sie werden jedoch zunehmend von den Massenmedien
vereinnahmt, als Sinn- und Leitbild des Jungseins "verkauft". Die Beat- und Popkultur
nehmen Schüler und Azubis an zum Artikulieren ihrer Gruppen-Identität und zum Abgrenzen
von der "skeptischen" (Schelsky 1973) und der "Flakhelfer-Generation"(Bude 1987) der
Eltern und älteren Lehrer.
Die Beat- und Popkultur, gelebt, musiziert und getanzt in Diskotheken, gesprochen und
"gemixt" von DJs, hat Jugendlichen auch das Ausgestalten einer von der der Erwachsenen
verschiedenen, freieren Körperlichkeit und Sexualität ermöglicht. Auch diese Absage an die
"altvordere" Prüderie (entstanden in der strengen Askese der Arbeitsethik) begann bereits
vereinnahmt zu werden: Die Werbung entdeckte den "progressiven" freien Lebensstil für sich
und verkaufte Bilder sexuell attraktiver jugendlicher Körper gewinnträchtig. Typografie und
Bildsprache der Comics und der Beat-Plattencovers tauchen bald als Symbole von Innovation
farbenfreudig reizend in der Werbung und im kommerziellen (Trick-)Film wieder auf.
Um 1970 formuliert die Pop- und Beatkultur unter 16-18jährigen Schülern und Azubis kaum
noch den Anspruch auf bewusstes Ändern der sozialen Zustände. Mit dem Eintritt ins
Berufsleben der Arbeiter und Angestellten nehmen die jungen Menschen ihre erworbene
Identität in Gestalt adoleszenter Erfahrungen und "ihrer" Jugendkultur mit ins etablierte
Erwachsenenleben hinein.
Die Jugendkultur in studentischen Gruppen um 1970 war die von Heranwachsenden, die seit
dem Eintritt in die Gymnasien (also seit dem 10. Lebensjahr) einen längeren Lebensabschnitt
in alters- wie sozial homogenen Peergroups verbracht hatten. Damit hatten sie weitgehend
sich ähnelnde Erfahrungen mit der vorgefundenen etablierten Erwachsenenwelt, in die
hineinzuwachsen ihnen angetragen und zugemutet war: Der relativ klare Werte- und
Normenkatalog der ökonomisch und politisch herrschenden Mittelschicht waren ihnen aus
Elternhäusern kollektiv vertraut, desgleichen die tradierten Ideale des Bildungsbürgertums aus
den Gymnasien (in denen damals Arbeiterkinder noch weitaus seltenere Ausnahmen
darstellten als heute). Die sozialisatorisch erworbene Bildungsnähe dieser Jugendlichen
erschloss ihnen große kognitive wie allgemein-kommunikative Möglichkeiten und förderte
ziel-adäquates, erfolgreiches Eindringen in die von Bildungsbürgern dominierte
Öffentlichkeit. Die Art, ihre Jugendkultur zu kommunizieren, war "kompetent" und bediente
die Herrschaftssprache der Gebildeten so wie sie auch neue Formen hervorbrachte (z. B. das
Modell der außerparlamentarischen Opposition, das der spontanen Gegenöffentlichkeit
entsprach). Darin unterschied sie sich von der Jugendkultur der Arbeiterkinder. Verkrustete
Institutionen waren den studentischen Protestlern Sinnbild amoralischer überlebter,
systemgewordener Machtansprüche und Ziel ihrer verbalen wie in Aktionen umgesetzten
Angriffe. Diese Angriffe zielten auf alles, was "herrschte": Starre monogame Sexualmoral,
ethnozentristische Orientierung, funktionalisierte, system-rationalistische, also
"spätkapitalistische" Lebensäußerungen generell und soziale Kontrolle der Beherrschten
mittels Massenmedien besonders. In den marxistischen Theorien der Frankfurter Schule
fanden sie ihre Protesthaltung gegen das Establishment formuliert. Allerdings gelang die
Mobilisierung des proletarischen Selbst- und Klassenbewusstseins nicht. Die studentische
Bewegung blieb in sich isoliert. Die Jugendkultur des studentischen Protestes, mitgenommen
auf den "Marsch" durch die bundesrepublikanischen Institutionen von Wirtschaft und
Verwaltung, hat dennoch hohes innovatives Potenzial entfaltet. Die ehemaligen Studenten
erlangten entsprechend ihres großen persönlichen "Kapitals" wiederum einflussreiche
Positionen und damit Macht, sozialkulturelle Wirklichkeit für die Nachwachsenden
entscheidend vorzuformen.
Die Toleranz den Heranwachsenden gegenüber ist deutlich größer geworden.
Gegenöffentlichkeit - Öffentlichkeit generell - kann als demokratischer Faktor Macht legitim
verändern. Autonomie ist möglich, kommunikative Kompetenz macht Sinn, lebten die
"Frankfurter Schüler" vor. Aber gilt das so auch noch für ihre Nachkommen heute?
Heranwachsende aller Sozialschichten finden eine andere Wirklichkeit für ihr psychosoziales
Moratorium vor als die Eltern.
3.2.2. Jugendkulturen um 2000
Die Ergebnisse einer Studie zum Medienumgang 12-19jähriger (JIM 2002) weisen aus, dass
primäre Kommunikationsmedien wie "Treffen mit Freunden und Gleichaltrigen (...) mit
Abstand am wichtigsten seien. (...) Freundschaft rangiert bei nahezu allen an erster Stelle.
(...) Auf das Fernsehen wird nach wie vor am wenigsten verzichtet. (medien+erziehung Nr. 2
April 2002, S.70) Das verweist auf Kontinuität.
Unterschiede zu 1970 zeigen sich im Vergleich quantitativer Daten zum Gebrauch von
Computer, Handy und Internet – und im Verschieben von Zeitverbrauch und Bedeutung
sowie Rezipientengewohnheiten beim Nutzen der anderen Medien. "Das Freizeitmedium
Fernsehen verzeichnet (...) einen starken Anstieg an Reichweite und Sehdauer. Allerdings hat
es in den vergangenen Jahren deutliche Bindungsverluste erlitten." (A. a. O. S.71)
Die Bestandsaufnahme von Ferchhoff (2.2.3.) ist geeignet, grundsätzliche weitere, vor allem
auch qualitative Unterschiede aufzuzeigen.
Die explosionsartig gewachsenen Komplexität und Unübersichtlichkeit der Gesellschaft ist
möglich und entstanden mit Hilfe vernetzter Kommunikationssysteme. Sie wiederum
bewirken rückkoppelnd, dass im Zuge der sich potenzierenden technologischen
Möglichkeiten weiteren komplexen Vernetzens die Unübersichtlichkeit und Unsicherheit
noch zunehmen wird.
Innovation, Lust am Risiko, Lern- und Leistungsfähigkeit sind zum Programm des
Progressiven schlechthin; zum Wert an sich geworden. Jugend als dem Träger dieser
Eigenschaften wird Leitbildfunktion zugeschrieben.
Zumal in einer Gesellschaft, die im öffentlichen Raum und über die Massenmedien stündlich
ihr Problem mit der auf dem Kopf stehenden Alterspyramide thematisiert, gilt Jugendlichkeit
als gesucht und begehrt. In immer schnellerer Folge eignet sich die Werbewirtschaft die von
Jugendkulturen kreierten Symbolsysteme an und vermarktet sie massen-medial und
zielgruppenspezifisch als "jugendgemäß". Jugendliche selbst sind wichtige Zielgruppe der
Werbewirtschaft geworden.
Die Geburtskohorten 1980-1985 sind in die sich entwickelnde Welt der Neuen Medien hinein
sozialisiert. Das unterscheidet sie von den älteren Erwachsenen, die nachträglich und oft mit
Mühe und Fleiß unter dem Druck des Arbeitsmarktes sich den Computerumgang aneignen
"mussten". Jugendliche um 2000 haben Neue Medien mit Selbstverständlichkeit anzunehmen
gelernt. In welcher Weise sie sie rezipieren, hängt von ihrer jeweiligen individuellen
Rezipienten-Geschichte ab. Schicht- und Geschlechtszugehörigket, Lern- und
Bildungsgeschichte sind wichtige Faktoren beim Aufbau von strukturgenetischen Mustern des
Kommunizierens und Sinndeutens.
Dieser Differenziertheit entspricht eine (Erwachsenen und anderen Outsidern) unübersehbare
Vielzahl von Jugendkulturen. Jenseits formeller Organisationen angesiedelt, realisieren
Jugendlich ihre Tests mit eigenen Zugehörigkeits- und Ausgrenzungsritualen, denen sie
jeweils Zeichen und Symbole (Wörter und Wendungen, Piktogramme, Figuren, Abzeichen,
Gesten und vor allem Kleidung und Körperschmuck) zuordnen.
Waldemar Vogelsang benennt ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen den
Jugendkulturen um 1970 und 2000: " Die Verankerung von jugendlichen Lebensformen in
klassenspezifischen Stammkulturen wird abgelöst durch individualitäts- und marktbezogene
Jugendszenen." (W. Vogelsang in Schell, Stolzenburg, Theunert 1999, S.238).
3.3. Kriterium Mediennutzen: Orientierungsmuster beim Finden
des Selbst
Identitätsstiftende Kraft entsteht aus der Mannigfaltigkeit von Zeichen als dem kreativen
Material sowie aus "(der) Dynamik des Stilmarktes und (der) Temporalität der Stilsprachen",
mit dem Jugendliche auf den "allseits tobenden Stil- und Distinktionskampf reagierten." (A. a.
O. S.238). Jugendliche nutzten Medien kreativ für das Finden einer Stilsprache als
Kristallisationspunkt für "jugendeigene Lebenswelten, die sich durch einen hohen
Freiheitsgrad im Selbstentwurf und in der Handlungsdramatik ihrer Mitglieder auszeichnen.
(...) Informelle Sozialisationsinstanzen setzen sich in den Medien-Spezialkulturen (...) fort und
finden eine stilgebundene Steigerung. Sie repräsentieren somit einerseits `Identitätsmärkte`,
wo Jugendliche frei von (...) ihren sonstigen Rollenverpflichtungen
Selbstdarstellungsstrategien erproben und einüben. (...) Andererseits sind sie aber auch
`Kompetenzmärkte`, auf denen eine spezifische Sozialisierung und Formierung des
Mediengebrauchs stattfindet. (...) Ihre Partizipation am kollektiv geteilten Wissensspektrum
und Bedeutungskosmos vertieft und festigt dabei eine Form von Medienkompetenz und einen
Spezialisierungsgrad, der weit über das mediale Alltagswissen hinausreicht." (A. a. O.,
S.239)
Das Stichwort Medienkompetenz in diesem Zusammenhang genannt, meint die von Baacke
definierte kommunikative Kompetenz (s. 1.2.4. Baacke 1973), nach der Menschen die
Verfügungsgewalt über das Produzieren von Sinnstrukturen hätten. Die Deutungsmacht zu
verändern läge im Bereich ihrer Möglichkeit. Diese Möglichkeit innovativer
Verhaltensweisen ergreifen und nutzen Jugendliche kreativ. Sie bewegen sich spielerisch
zwischen Medialität und Realität.
In die Jugendszenen einzudringen, mag Aufgabe spezialisierter forschender Soziologen und in
Fällen jugendlicher Delinquenz von Kriminalisten bzw. Kriminologen sein. Erzieher, Lehrer
und Eltern sollten den "Media-Kids" ihren Freiraum lassen. Individuelle psychische
Probleme, die aus dem rigiden informellen Regelwerk innerhalb der Gruppendynamik
entstehen, können Erzieher meist nicht mit dem Eindringen in die Spezialkulturen lösen
helfen.
Eine "ganz grundsätzliche Verschiebung im gesellschaftlich vorherrschenden
Wahrnehmungsmodus von der erwachsenentypischen Dominanz des Diskursiv-Begrifflichen
hin zu einer jugendtypischen Dominanz des visuell-Bildhaften" (A. a. O., S.241) wird in 3.4.2.
und 4.1. noch zu diskutieren sein.
3.3.1. Geschlechts-Identität
Ein weiterer Schub in der Akzeleration unterscheidet Jugendliche um 2000 von denen um
1970. Dem Vorverlagern der Geschlechtsreife ins 11. Lebensjahr bei Mädchen und ins 13.
Lebensjahr bei Jungen steht ein Hinauszögern der wirtschaftlichen Selbstständigkeit (siehe
Ferchhoff in 2.2.3.) gegenüber. Damit sind Jugendliche einer wachsenden Spannung
ausgesetzt. Ihre Entwicklungsprobleme innerhalb dieser Spannung mit dem Körper einerseits
und dem sozialen Anforderungsdruck andererseits zu lösen verweist sie wiederum auf den
medial präsentierten Markt der Möglichkeiten. Der Körper, den die zu Frauen und Männern
heranwachsenden Jugendlichen in seiner veränderten Gestalt anzunehmen lernen müssen,
wird ihnen Kommunikationsmedium der primärsten Art. Aufgewachsen in der von der
Protest-Generation bereiteten Atmosphäre sexueller Freiheit und Toleranz haben sie dabei
prinzipiell mehr Chancen als die Eltern sie hatten, ihre Körperlichkeit und Sexualität
auszuleben und zu kommunizieren. Aber auch Sinnlichkeit und Körperkult sind weitgehend
bereits vereinnahmt von mächtigen Agenturen des Marketing und der Verkaufsförderung. In
einer nach wie vor männerdominierten Gesellschaft hat das Versprechen sexuellen Genusses
"ohne Reue" Hochkonjunktur, und die Werbewirtschaft bringt das männergemachte Bild von
weiblicher Attraktivität gezielt "an den Mann". Jugendlich frisches "Körperkapital" hat hohen
Marktwert, Körper sind Vehikel für Imagetransfer. Dass medial vermittelte Körper-Idole
Ausgangspunkt schwerer Problemlagen gerade bei Jugendlichen sein könnten, lassen Studien
über die wachsende Zahl von schweren Ess- und Ernährungsstörungen (Übergewicht, Bulimie
und Magersucht, letztere besonders bei Mädchen) vermuten.
Beim Ausprobieren jugendlicher Selbstentwürfe stehen Experimente mit der körperlichen
Seite des Selbst im Vordergrund.
Leitbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit haben die Jugendlichen individuell in der
Familie und in ihrer spezifischen Rezipientengeschichte internalisiert. Während sich die
1970er Jugendlichen-Generation noch mit der Zumutung rigid stereotyper Geschlechtrollen
konfrontiert sah, sind diese Mustervorstellungen von Frausein und Mannsein heute zwar noch
beherrschend, aber nicht mehr verbindlich. Indem weibliches Emanzipationsinteresse
verstärkt öffentlich kommuniziert wird, produziert diese Kommunikation Wirklichkeit.
Christa Bast zeigt um 1989, also bereits im letzten Drittel des Vergleichszeitraumes, für
Chancen, weibliche Autonomie während der Adoleszenzphase zu entfalten eine
pessimistische Perspektive auf - sowohl vermittelt in den primären Medien der Familie und
der Schule, den herrschenden Massenmedien wie auch den Jugendszenen (Ch. Bast 1989). Sie
alle kommunizierten subtil-verdeckt oder offen Männerherrschaft. Schichtspezifisch
differenziert, lernten Mädchen dort frühzeitig und fast unentrinnbar, ihre Entwürfe auf die
Beziehung zu einem Mann zu richten, weiblich-sexuelle Attraktivität bzw. Mutter-Qualitäten
zum Zentrum ihres Selbst-Seins zu machen bzw. auf die männliche "Zielgruppe" hin zu
instrumentalisieren. Christa Bast unterscheidet familienorientierte und szene-orientierte
Mädchen. Letztere nähmen die Szene als Fluchtmöglichkeit aus frustrierenden
Elternbeziehungen an und liefen dort Gefahr der jungen-dominierten Sprache der Gewalt und
des Sexismus zu unterliegen. Für viele Mädchen sei das Einsteigen in bestimmte
Jugendszene-Cliquen eine Falle. (A.a.O., S. 106-131). Bast fordert daher das Bereitstellen von
für Mädchen reservierten Erfahrungsräumen, abgeschlossen von jungendominierter Schulund Freizeit-Alltagswelt.
Einige den Jugendlichen zum Ausprägen der geschlechtlichen Seite des Selbst angebotenen
Orientierungshilfen, präsentiert im Neuen Medium www, hat die Autorin dieser Arbeit
angesehen. Angesichts der von Christa Bast festgestellten einseitigen, für Mädchen
nachteiligen Beziehungs-Orientierung stand dabei die Frage im Blickpunkt: Ermutigen die
dort angebotenen Orientierungshilfen heranwachsende junge Frauen, eine auf das eigene, vom
Mann getrennte Selbst gerichtete weibliche Autonomie zu entfalten? - Deutliche positive
Ansätze dazu lassen sich in den von offiziellen Vereinen und Organisationen angebotenen
Internetseiten, also in der Seriosität des Netzes (vgl. Zitat Faßler in 3.3.2.) auffindbaren
Erfahrungsräumen, zeigen. Sogar bei "Dr. Sommer" in bravo.de finden Sie sich neben dem
von dieser Zeitschrift kontinuierlich seit 30 Jahren dargebotenen Star-Kult und LifestyleInfomix. Zu untersuchen bliebe, inwieweit die Angebote geeignet sind, die Leitbilder der
übermächtigen Sozialisationsinstanzen zu verändern – und ob sie angenommen werden!
Eine Presse-Information vom 5.3.2002 von der Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung (www.bzga/aktuell/presse.php3?idx=110) fasst Tendenzen zu Entwicklungen in
der Jugendsexualität zusammen, die sich aus Studien und Erhebungen ergaben: Demnach
habe sich das sexualberaterische Verhalten der Eltern geändert. Sie konzentrierten sich nicht
mehr auf die Aufklärung der Töchter: "In den neunziger Jahren stieg die Zahl aufgeklärter
Jungen auf 55%, und im Jahr 2001 erfahren zwei Drittel (65%) Beratung von elterlicher Seite
- eine Steigerung um nochmals 10%. 1980 wurde nicht einmal die Hälfte der Jungen von den
Eltern selbst aufgeklärt, Mädchen schon damals zu 61%."
Zu anderen Medien der Kommunikation sexualitäts-relevanter Inhalte sagt die angegebene
BZGA-Presseinformation: "Im Jahr 2001 ist die flächendeckende Sexualerziehung auch in
den (...) Schulen erreicht. (...) Der Schulunterricht ist die meistgenannte Quelle für Kenntnisse
über Sexualität. (...) Experten und Expertinnen in Beratungsstellen sind von Jungen und
Mädchen gleichermaßen als Auskunftspersonen akzeptiert - 19% der Mädchen und 16% der
Jungen würden gern aus diesem Kreis Antworten auf offenstehende Fragen erhalten.
Tatsächlich sind nur 10% der Mädchen und 12% der Jungen schon einmal in einer
Beratungsstelle gewesen, die Hälfte davon auf Initiative der Schule."
Zur eigenen körperlichen Erfahrung der Sexualität nennt die Quelle folgende Zahlen: "Jede(r)
dritte Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren hat Geschlechtsverkehr gehabt, das
entspricht in etwa den Zahlen von 1998. Das Durchschnittsalter für den ersten
Geschlechtsverkehr beträgt 15,1 Jahre bei den Mädchen und 14,8 bei den Jungen."
Daraus geht nicht hervor, dass Jugendliche seriöse Beratungsangebote des Netzes in
wesentlichem Maße nutzen. Vielmehr bevorzugen sie zum Erobern des Erfahrungsraumes
Sexualität die primären Kommunikationsmedien: Eltern, Lehrer, Sexualberater, Ärzte - und
nicht zuletzt den Körperkontakt zu Sexualpartnern.
3.3.2. Ablösung und Berufswahl
Berufliche Sozialisation, also das Formulieren eines Berufswunsches, das Finden einer
Ausbildungsstelle und das Besetzen eines Arbeitsplatzes, schließlich das Meistern der
beruflichen Startphase findet heute vor dem Hintergrund des beschriebenen segmentierten
Arbeitsmarktes statt. Selektionsprozesse "regeln" den Eintritt in den begehrten ersten
Teilarbeitsmarkt. Wer ihn nicht bereits frühzeitig möglichst mit der richtigen Ausbildung
schafft, hat zunehmend schlechtere Chancen, ihn jemals irgendwann später zu erreichen.
Jugendliche von 2002 haben es anders als die Altersgefährten um 1970 mit dem
"Qualifikationsparadox" zu tun, d. h. eine gute Ausbildung ist Voraussetzung für das
erfolgreiche Einsteigen in den Beruf, garantiert ihn aber nicht. Je höher der
Bildungsabschluss, desto besser die Chancen. Realschüler und Abiturienten sind
Hauptschülern, Jungen den Mädchen (betr. das Duale System) im Bewerbungs-Run voraus; in
Hochschul-, Fachhochschul- und Universitätsstudiengängen wird zunehmend neben dem
Abitur ein Praktikumsnachweis, besser eine Berufsausbildung erwartet. Jugendliche haben
anspruchsvolle Wünsche an ihre Laufbahn: Einkommen, Spaß am Job und Klima am
Arbeitsplatz müssen stimmen. Um sich Chancen möglichst lange offen zu halten, sammeln sie
Zertifikate, nehmen "Maßnahmen" des Arbeitsamtes an, gehen in "Warteschleifen", holen
Qualifikationen nach, verbringen zusätzliche Schuljahre im Ausland, jobben zwischendurch.
Sie bleiben damit weit länger als die Jugendlichen von 1970 in Schule und Ausbildung
"hängen". Den wirtschaftlichen Druck, der in Arbeiterfamilien um 1970 solche
Abwartehaltung zumeist verunmöglichte, fangen heute die Elternhäuser, das Sozialsystem
und die staatlich organisierte Arbeitsverwaltung ab. 1970 wie 2000 bestimmt vor allem der
Beruf das Oben oder Unten in der geschichteten Gesellschaft.
Das Wissen darüber, dass der richtige Einstieg in den Arbeitsmarkt entscheidend sei, lässt die
meisten Eltern das ausgedehnte Try-and-Error-Testverhalten der Kinder auf dem
Ausbildungs- und Arbeitsmarkt akzeptieren. War um 1970 der von den Eltern vorgelebte Weg
aus Ausbildung, Berufsausübung und Ruhestand noch bruchlos realisierbar und das seit dem
19. Jahrhundert tradierte Ideal von der Arbeit als verpflichtende sinnstiftende Maxime noch
präsent, so gelten heute Leitbilder von Lebensgenuss und Freizeit neben sinnerfüllter Arbeit
als erstrebenswert. Brüche im Erwerbsleben haben heute die meisten Jugendlichen im
Familienkreis der Eltern und Verwandten erlebt. Wie die Betroffenen damit umgingen und die
Krise bewältigten (kreativ oder resignativ) hat wiederum Orientierungswert. Walter R. Heinz
sieht schichtenspezifische (primäre) Sozialisation nach wie vor als Weichen stellend für
Schulerfolg und Berufseinstieg. Die von den Eltern vermittelten Erfahrungen seien
strukturierend für das Wissen, das Kinder von Berufsarbeit aufbauen. Es forme sich in der
Art, Berufswelt zu kommunizieren: Die Arbeitsstelle als ein Ort des konstruktiven ProblemeLösens im Team oder der erzwungenen Unterordnung und Frustration? Das erstere Bild
entspricht dem primären Sektor, das zweite eher dem sekundären Sektor des Arbeitsmarktes.
Daraus sind die Deutungsmuster gemacht, mit denen Jugendliche ihre vorberuflichen und
beruflichen Entwürfe organisieren und realisieren. Ihre Kompetenz, berufliches
Handlungswissen aufzubauen, ist demnach im Jugendalter bereits vorstrukturiert.
Ablehnungsbescheide bei Bewerbungen nehmen Jugendliche nicht als strukturelle
Fremdbestimmung wahr, sondern bauen auch solche Erfahrungen in ihr Selbstbild ein. Sie
arrangieren sich in aktiver Auseinandersetzung Schritt für Schritt mit ihren "Lernergebnissen"
auf dem Arbeitsmark.
Heinz nennt das Konzept von Schlüsselqualifikationen als Programm. Es soll statt fertigen,
dem Verfall unterliegenden Berufswissens die Fähigkeit des Selbst-Aneignens vermitteln:
Grundlegende anschlussfähige Fachkompetenz, Arbeitstugenden und soziale Kompetenz sind
wichtige Schlüsselqualifikationen. W. Vogelsang nennt auch Medienkompetenz eine
Schlüsselqualifikation: " Medienkompetenz (...) wird für jeden eine unabdingbare Forderung.
(...dabei muss) medientechnisches Know-How und Handlungswissen immer einhergehen mit
der systematischen und kritischen Reflexion seiner Nutzung und Anwendung." (Vogelsang in
Schell, Stolzenburg, Theunert 1999, S.241). Manfred Faßler führt diesen Gedanken weiter aus
und ergänzend den Begriff Netzkompetenz ein. Er unterscheidet die Individualitäts-Referenz
der Spiele, denen die Erprobungsräume der Jugendkulturen angehören, von der
Seriositätsreferenz des Netzes als ernst zu nehmender öffentlicher Raum. "Unbeschadet der
Spielemöglichkeit im Netz werden im kommunikativen Feld des Netzes Wirklichkeitsangebote
gesucht, die bedeutend sind für Schule, Biografieplanung, politische Orientierung und
Verlässlichkeit." (Faßler a. A. O. S. 248) Nach Faßler muss Medienkompetenz Jugendlicher,
soweit sie ihnen bei der beruflichen Orientierung dienstbar sein soll, "diesen Doppelbezug
aufweisen: Sie muss anschlussfähig sein an die bereits entwickelten Medialitäten und (...)
lernfähig in Richtung auf eine fortschreitende Erschließung kybernetisch-elektronischer
Räume als immer wichtiger werdende soziale Räume." (A. a. O. S.250)
Bezug nehmend auf 3.3.1. und die für Mädchen nachteilige Beziehungsorientierung bleibt
anzumerken, dass das Aneignen von Medien- und Netzkompetenz eine Möglichkeit darstellt,
Chancengerechtigkeit zwischen jungen Frauen und jungen Männern in der beruflichen
Sozialisation zu verwirklichen. Dieses Ziel sei jedoch fern, meint Walter R. Heinz noch 1993
(Heinz KE 3, S. 39) Demnach seien "die Lehrstellen junger Frauen vor allem in den freien
Berufen, der Hauswirtschaft und im öffentlichen Dienst zu finden (95; 97; 52%)" (A. a. O.) In
Industrie, Handel und Handwerk seien sie jedoch deutlich unterrepräsentiert, aber in den
sozialpflegerischen Berufen mit 80% vertreten. So konzentriere sich die verberuflichte
weibliche Arbeit in Feldern, wo "weibliche" Beziehungs-Orientierung verwertbar sei. Diese
Daten stützen Ch. Basts These von der frühzeitigen Fixierung der Mädchen hin zur
Beziehungs-, weg von der Sach-Orientierung, welche eine Ursache setzten für die
Benachteiligung junger Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Dort seien die sachorientierten, also
Männer-Berufe eindeutig besser bewertet als die frauentypischen personorientierten.
Personen- und Sach-Orientierung schlössen einander sozialisationsbedingt aus, da beide
jeweils frühzeitig geschlechtsrollenkonform konträr bestätigt/verstärkt bzw. "bestraft"
würden. Ausgerichtet an frauen-spezifischer Doppelorientierung "Familie+Beruf" sei eine
Vereinbarung kaum leistbar.
Um 2001-02 ist immerhin ein gewachsenes öffentliches Bewusstsein für die Bedingungen der
Problematik junger Frauen zum gleichberechtigten Eintritt in den Arbeitsmarkt zu erkennen.
So stellt z. B. der VDI Verein Deutscher Ingenieure, größte Interessenvertretung der
technologisch-akademisch ausgebildeten Berufstätigen, eine ähnliche Forderung auf wie
Christa Bast: Um das technologisch-kreative Potenzial begabter junger Frauen für deren
gleichberechtigtes Wahrnehmen beruflicher Chancen zu nutzen, soll "Teilweise
Schulunterricht in Naturwissenschaft und Informatik ausschließlich für Mädchen" gehalten
werden (VDI, April 2002: "Ingenieurinnen und Ingenieure in Deutschland – Situation und
Perspektiven", S.20). So könne die kreativitätshemmende Wirkung von Gruppendruck und
Stereotypen, wie sie in gemischten Lerngruppen oft herrsche, aufgelöst werden. In seiner
Publikation stellt der VDI vor dem Hintergrund dramatischen Ingenieurnachwuchs-Mangels
einen 19-Punkte-Forderungskatalog auf, in dem Punkt 13 das Erschließen der
nachgewiesenen guten Technikbegabung junger Frauen zum Rekrutieren von
Fachkräftenachwuchs enthält.
"Während die Erwerbsquote in Deutschland insgesamt zwischen 1991 und 2000 leicht
gesunken ist, stieg die Erwerbsquote der Frauen. Noch nie waren Frauen so gut ausgebildet
wie heute. Die jungen Frauen haben, was die Qualität ihrer Abschlüsse angeht, die jungen
Männer mittlerweile überholt." informiert www.girls-day.de, eine Webseite zu einer Initiative
der Aktionsgemeinschaft des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), des deutsche
Gewerkschaftsbundes (DGB), der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
(BDA) und der Bundesanstalt für Arbeit (BA). Dabei geht es an einem bundesweiten
Informationstag um Angebote an Mädchen in der Berufsfindungsphase und darum, den Trend
zum Gender Mainstream aufzuhalten.
Der "Girs Day" am 25.4.2002 ist eins von vielen offiziellen Angeboten. Daneben stehen
weitere Gesetzesinitiativen und -Entwürfe sowie viele bereits geltende Gesetze zur
beruflichen Förderung junger Frauen. Da jedoch der Gender-Mainstream auch für die
technologische Seite der Medien- und Netzkompetenz fortwirkt, ist das Ziel wahrscheinlich
nur langfristig und zunächst teilweise zu erreichen: "Designerin wollten 35% der Mädchen
werden, Ärztin 35%, Journalistin 25%, Stewardess 22%, Architektin 25%. Bei den Jungen
sind die Vorlieben eindeutiger: 33% wollen Software entwickeln, 30% Informatiker werden,
24% EDV-Fachmann, 24% KFZ-Mechaniker", beziehen sich die Publizisten der GirlsdayWebseite auf eine Allensbach-Befragung von Teenagern zu "Traumberufen" aus dem Jahre
1999. Und: "... fehlt den Betrieben gerade in technischen Bereichen zunehmend der
qualifizierte Nachwuchs. " lässt allerdings handfeste wirtschaftliche Interessen an der
Verwertung fachlich-qualifizierter weiblicher Berufstätigkeit vermuten – eine
erfolgversprechendere Bedingung als bloße Politiker-Verlautbarungen es wären (vgl. auch
VDI-Forderung). Das könnte ein deutliches Signal für die allmähliche Auflösung des GenderMainstreaming in der beruflichen Sozialisation sein. Medienkompetenz als
Schlüsselqualifikation kann jungen Frauen lebenslang Selbstverwirklichungschancen
eröffnen, die Altersgefährtinnen um 1970 höchstens in einigen akademischen Berufen
gleichberechtigt wahrzunehmen möglich war.
4. Diskursivität oder Visualität?
In der Diskussion um die Neuen Medien spielt der Gesichtspunkt veränderter Wahrnehmung
eine wichtige Rolle. Die Menschen "reagierten" auf die sie überströmende
Informationsflutwelle mit dem rationierten Zuteilen ihrer knappen Ressource
Aufmerksamkeit. Da das Bild als analoger Reiz schneller rezipiert würde als der zu
entschlüsselnde Text, würden Bilder-Botschaften bevorzugt ausgewählt. Jugendliche seien
darin Erwachsenen gegenüber überlegen. Sie hätten keine Probleme mit schnellen
Schnittfolgen z. B. in Videoclips und Werbespots. Das Leitbild der Aufklärung, auch der
"Neo-Aufklärung" der Frankfurter Schule, ist am reflexiven, deutenden Sinnverstehen
festgemacht, am idealen Diskurs der vernünftigen Sprecher und an der Struktur der Sprache
als einem codiertem Symbolsystem (vg. Habermas und Baacke in 1.2.4.). Die neue Visualität
in der Wahrnehmung Jugendlicher erscheint damit vielen Päd-agogen als Gefahr für das
Sinnverstehen überhaupt, die sich verändernde Wahrnehmungsstruktur als eine Bedrohung
tradierter kultureller Werte.
1. Der Diskurs als Leitbild für Kompetenz um 1970
Huber und Mandl qualifizieren das Lesen als prinzipiell förderlich für
kognitive Entwicklung und verschieden von z. B. Fernsehkonsum: "Ein
Autor hat (...) sein Wissen (...) als semantische Struktur im Text
vergegenständlicht, (...) die sich ein Leser mittels
Verstehensoperationen aneignet." (Huber, Mandl in Hurrelmann/Ulich
(Hg) 1998). Schreiben und Lesen jedoch bedeutet Zeitverbrauch, und
"(...) es setzt auch voraus, dass ein bestimmter Umgang mit der Zeit des
Lesens in Übung bleibt, anerkannt ist als Wert und weitervermittelt
wird."- die Muße, ein Buch linear durchzulesen, Schriftzeichen zu
Wörtern, Wörtern zu Sätzen, Sätze zu Sinneinheiten fügen, zu
verweilen, zu betrachten ist Voraussetzung seinen Inhalt zu verstehen.
Das Lesen ähnelt dem Diskurs: Reflektieren des kommunizierten
Inhaltes, ihn weiterdenken in neue, eigene Ideen, - und antworten. Es
erfordert das Kennen des Hintergrundes (Text = "Gewebe")
verschiedener Beziehungen und Bezüge, um sich die Deutung
verstehend zugänglich zu machen. Lesen und Schreiben seien somit die
basalen Kulturtechniken. Somit war Bildung vor allem Belesenheit. Ein
belesener Mensch sei fähig zum (idealen) Diskurs, zum Finden der
Wahrheit und zum Verwirklichen von Demokratie. Im Verständnis der
Vertreter der Kritischen Theorie verhinderten die Produkte der
Bewusstseinsindustrie, wozu sie auch die grell bebilderten
Presseerzeugnisse zählten, bei ihren Rezipienten das autonome
Selbstdenken.
Für Jean Paul Sartre stehen Lesen, Kreativität und Freiheit in einem
untrennbaren Zusammenhang: "Der Leser hat das Bewusstsein,
gleichzeitig zu enthüllen und zu schaffen. (...) Lesen ist gelenktes
Schaffen. (...) Und da dieses gelenkte Schaffen ein absoluter Anfang ist,
wird es also durch die Freiheit des Lesers bewirkt, durch die Freiheit
in ihrer reinsten Form." (Sartre 1958 in Brackert / Lämmert, hg. 1976,
T.1, S.20-21). Auch Rolf Grimminger schreibt dem Lesen und der
Literalität hohen humanistischen Bildungswert zu: "Jede Reflexion
über Texte, jede Interpretation hat zur Voraussetzung, dass die vom
Leser entworfenen und psychisch existierenden Deutungen wieder mit
dem Text verglichen und somit kontrolliert werden können. (...) Der
literarische Diskurs (konnte) nur deshalb als Raum humaner
Selbstbestimmung und Freiheit begriffen werden." (Grimminger 1972
a. a. O. S.27) Texte sind also Sinn-Gewebe, gemacht aus einem
geradlinig zu verfolgenden "roten" Faden, der das Auffordern zum
Weiterspinnen und Weiterweben kommuniziert.
2. Visualität als Sprache der netzbasierten Interaktivität um 2000
Im Verständnis vieler lese- und schriftsprachlich sozialisierter Lehrer und Erzieher scheint die
neue Art der Rezipierens diesem humanistischen Ideal entgegen zu stehen. "Die Allgegenwart
der Medien veroberflächlicht die Wahrnehmungen, intensiviert die Gegenwartsorientierung.
(...) Schnelles Signalentziffern findet (...) vornehmlich symbolträchtig an der Oberfläche statt
(...) so scheint sich nichts mehr hinter dem Gezeigten zu verbergen, das ehemals noch
tiefenstrukturell im historischen Wissen und in Traditionen verankert war." (Ferchhoff in
Schell, Stolzenburg, Theunert, S. 214) Jugendliche, in der Welt der neuen Medien und mit
neuen Sehgewohnheiten aufgewachsen ("MTV-Generation") jedoch machen eben gerade das
andere Rezipientenverhalten zum Feld ihrer eigenen, abgegrenzten Erfahrungen. Ferchhoff
erkennt darin Bedarf für pädagogisches Handeln, aber auch jugendgemäßes Ablöseverhalten:
"(...) heutige Bilderfluten und audiovisuelle Räusche (sind) das blanke Gegenprogramm zum
geduldigen Abwarten-Können (...) und zum analytisch-tiefenstrukturellen Aufsuchen eines
"roten Fadens" (...), verbunden mit der Diskursivität der Sprache. (...) Und dieser mediale,
vor allem audiovisuelle Informationsvorrat an jugendkulturellen Ressourcen,
Deutungsangeboten und Signalen steht uns (...) mit unserem zuweilen gestörten Verhältnis
zum vorgesetzten (...) Bild nicht zur Verfügung." (A.a.O. S.214). Auch Baacke, der 1973 noch
die Tiefenstruktur und Diskursivität der Sprache als Quelle sozialer Innovation bezeichnet
hatte (vgl. 1.2.3.), stellt 1999 ähnliches wie Ferchhoff fest: "(Jugendliche) wenden sich beim
Sehen und Hören Angeboten zu, die sich insbesondere durch Schnelligkeit, raffinierte
ästhetisch bricolierte Vergegenwärtigungen und höchst komplexe Wahrnehmungsmuster
auszeichnen – alles Dinge, die zum pädagogischen Denken und Handeln querstehen (das),
gelenkt und (...) orientiert an Rationalitätskriterien und immer wieder überführt in die
Diskursivität (etwa von Begriffen). Die Wahrnehmungszukünfte der neuen Mediengeneration
orientieren sich an einem neuen Zeitalter des visuellen Denkens, in den Formen analoger
Wahrnehmungen. (Baacke, Opladen 1999). Hier wird deutlich, dass das Machtgefälle
zwischen Älteren und Jüngeren, dass Machtfragen auch im Klassenzimmer die theoretische
Problematik überlagern und eine ideologische Komponente hinzufügen. Machtinteressen
(Verwertbarkeit der "bereitgestellten" Arbeitskräfte) sind auch im Spiel, wenn
Wirtschaftsverbände z. B. fordern, die Schule von althumanistischem Ballast zu befreien und
die Medienkompetenz allein an IT-Technologiebeherrschung festmachen wollen.
Einige Theoretiker regen an, die neue, schnelle, visualisierte und analoge Wahrnehmung,
verknüpft mit Grundlagenwissen an Informationstechnologie, als vierte Kulturtechnik zu
lehren und zu lernen: "Je vielfältiger die medialen Welten werden, desto größerer
Anpassungsleistungen bedarf es, sich (...) zurecht zu finden. Die Decodierung von
Bildinformationen gehört hier genauso zu den notwendigen Kompetenzen wie die
Kommunikation in Datennetzen." (R. Stang in v. Rein (Hg) S.150)
A. Müller Maguhn schließlich bringt auch die Sprache der Neuen Medien in einen
emanzipatorischen Kontext: "Das Internet (...) zeigt sehr gut, warum es nötig ist, Lesen und
Schreiben noch einmal neu zu lernen. (...) dass (...) sich ein Teil des gesellschaftlichen Lebens
in den Netzwerken abspielen wird. Das Recht, als Informationssender in frei zugänglichen
Netzwerken auftreten zu können, stellt ein fundamentales Selbstverwirklichungsrecht in der
Informationsgesellschaft dar." (Müller Maguhn a. a. O. S.167). Hier ist nicht nur die Sprache
schnell wechselnder Bildzeichen, sondern auch das Lesen von Hypertext gemeint. Hypertext
ist nicht geradlinig, sondern je nach individuellem Informationsbedarf zu lesen. Er ist kein
Gewebe, sondern eher ein unverbindliches Angebot, längere und kürzere, verschiedenfarbige
Fäden unterschiedlicher Material-Beschaffenheit zu engem oder weitem Netz miteinander zu
verknüpfen - oder lose liegen zu lassen.
Baacke erweitert und aktualisiert sein Konzept der kommunikativen Kompetenz 1998 und
definiert "Medienkompetenz (...) als Teilmenge der kommunikativen Kompetenz (...), als
Aufgabe lebenslangen Lernens." (Baacke 1998) Sie sei lernbar und operationalisierbar.
Dimensionen der Operationalisierung von Medienkompetenz umfasse

Medienkritik,

Medienkunde,

Mediennutzung und

Mediengestaltung.
Damit ist ein pädagogisches Konzept des aktiven Aneignens vorgestellt, das auf Integration,
auf Vernetzung der Medien zielt. Es sei der sich verändernden vernetzten Gesellschaft
angemessen. Dem "Sinngewebe" (Text) als Symbol für (schrift)sprachliche Diskursivität wäre
somit das Netzwerk über- und zugeordnet. Patchwork und Bricolage machen sich Jugendliche
zu eigen, um sich Vorgefundenes anzuverwandeln. Die Metaphorik der textilen Techniken
(für basale Kulturtechniken) schließt ein, dass als Grundmaterial flexible Fäden gemacht
werden: "Spinnen" von Gedanken und Ideen liegt allem Weben und Knüpfen, Wirken und
Patchworking voraus.
Der pädagogischen Konzeption von Baacke entspricht die Theorie der
Medienwissenschaftlerin Carmen Luke. Sie fordert das Integrieren der "Reading"- und der
"Visual Literacy" in eine übergreifende Medien-Lesefähigkeit: Multiliteralität. "A
multiliteracy of digital electronic `texts` is based on notions of hybridity and intertextuality.
Meaning making from the multiple linguistic, audio, and symbolic visual graphics of
hypertext means that the cyberspace navigator must draw on a range of knowledges about
traditional and newly blended genres or representational conventions, cultural and symbolis
codes, as well as linguistically codes and software driven meanings."
(C. Luke 2001)
Walther C. Zimmerli führt an: "Nicht mehr das in sich autonome und kognitiv autarke
Individuum zählt, sondern dieses nur zusammen mit seiner technologischen Verknüpfung zu
anderen Individuen und zu externen Wissensbeständen (...) Gebildet ist, wer weiß wie und mit
welcher technischen Hilfe man sucht, was als latentes Wissen im Netz steht." (Zimmerli 2002,
S.33) Der Autor hält das visuell-technologische mit dem diskursiv-dialogischen Wahrnehmen
für miteinander vereinbar: "Das aber heißt, dass Bildung in einer technologischen
Wissensgesellschaft nicht anachronistisch und überflüssig, sondern zeitgemäß,
zukunftweisend und absolut notwendig ist. (...) Damit (...) erhält auch die klassische
Bildungsidee ihre alte Funktion zurück: Sie stellt den Rahmen für das bereit, was unsere
gemeinsame Identität ausmacht." (a. a. O. S.33)
3.4.3. Medienpädagogisches Nachdenken über das Ergebnis der PISAStudie: visual literacy, reading literacy oder media literacy?
In diesem Sinne wird deutlich, dass das stufenweise aufeinander Aufbauen und netzartig
Aufeinander Bezogensein der verschiedenen Medien hierarchisch mit den primären Medien
während der Primärsozialisation beginnt.
In der öffentlich stark beachteten PISA-Studie 2001 wurden Ergebnisse zu Untersuchungen
kognitiver Fähigkeiten bei 15-Jährigen vorgelegt. Dieser Studie zu Folge schnitten Schüler
der BRD im OECD-Vergleichsmaßstab eher schlecht ab:

unterdurchschnittliche Fähigkeit, gelesene Texte verstehend zu interpretieren

überdurchschnittlich große Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen in der
Lesefähigkeit / umgekehrtes Verhältnis bei mathematischen Fähigkeiten

überdurchschnittlich hohe Korrelation hoher Leistungen mit hohem Sozialstatus der
Eltern und entsprechend niedrige Leistungen mit niedrigem Sozialstatus, Defizite
besonders bei ausländischen Schülern
Es liegt nahe, diese Ergebnisse im Blickwinkel der bisher dargelegten Schwerpunkte in der
Medien-Sozialisation zu interpretieren. Demnach ist das Bildungsziel "Multiliteralität" noch
entfernt. Defizitär stellt sich besonders die Lesefähigkeit ("alte" Medien) dar.
Immerhin gibt die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Hildegard Bulmahn, in ihrer
Rede vor dem Kongress Forum Bildung am 10. Januar 2002 einige Richtlinien für
notwendige Konsequenzen an. Sie nennt (1.) die Wichtigkeit besserer Bildung der Sprachund Lesefähigkeit in den ersten Lebensjahren, verlangt (2.) die bessere Unterstützung der
beim Bildungszugang Benachteiligten und fordert (3.) "den Grundsatz des lebensbegleitenden
Lernens konsequent in unserem Bildungssystem zu verankern." Dies müsse durch das
Bereitstellen "einer zweiten und einer dritten Chance" (z. B. für Jugendliche und Erwachsene
ohne Berufsabschluss) flankiert werden. Die Ministerin kündigt weitere Initiativen zur
systematischen Einbindung neuer Medien und IT-Technologien in die Lehr- und
Lernprozesse an sowie zur Vernetzung von Schulen mit anderen öffentlichen Institutionen
sowie wirtschaftsnahen Organisationen ("Lernende Region") an.
(http://www.bmbf.de/pub/mr-20020110.pdf)
Eine der zentralen Schlussfolgerungen von "PISA" und "TIMSS" betrifft die Aus- und
Weiterbildung von Lehrern und Erziehern: "Eine stärkere Praxisorientierung und die
konsequente Weiterbildung sind ein absolutes Muss." Die Politikerin fasst die Erkenntnisse
zusammen "dass Bildung eine Hauptrolle in der Gesellschaft von morgen spielen wird." und :
"Das Leben muss in die Schule zurückkehren." (A. a. O.).
Aus dieser Stellungnahme spricht u. a., dass die unbequeme Einsicht in die Mangelhaftigkeit
gerade des institutionalisierten deutschen Bildungswesens die politische Entscheidungsebene
endlich erreicht hat. Eine Bildungstradition, gewachsen in über zwei Jahrhunderten staatlich
organisierten Schulwesens, initiiert von den progressiven Impulsen der Aufklärung sowie der
Kritischen Theorie und vermeintlich beispielhaft für andere Länder, ist offenbar den
Anforderungen der IT-Gesellschaft nicht gewachsen. Es ist vielmehr reformbedürftig –
braucht dringend ein "Update", um wieder lebensnah zu sein. Am 6.3.2002 berichtet dieselbe
Politikerin u. a. von verschiedenen Initiativen zur Ausstattung aller Schulen und der
berufsbildenden Einrichtungen sowie der öffentlichen Bibliotheken mit netzfähiger Hardware
und verweist auf die erhebliche Investitionen für Aktionen wie "Anschluss statt Ausschluss"
oder "Frauen ans Netz" zur Integration Benachteiligter. Sie betont, dass die Entwicklung
sinnvoll aufbereiteter multimedialer Lernsoftware die materielle Ausstattung der
Bildungseinrichtungen mit Computern begleiten muss. (http://www.bmbf.de/pub/mr20020306.pdf) Diese Richtung der Aktivitäten verweist darauf, dass Defizite auch in der
"Media literacy" verortet werden. Damit im Zusammenhang sind mediendidaktische
Voraussetzungen (Lernsoftware) aktualisierungsbedürftig.
Als notwendige politische Konsequenz ist ein besseres, zeitgemäßes, sozialschichts-, altersund geschlechtsübergreifendes Fördern der Medienkompetenz erkannt. Diese
Medienkompetenz schließt sowohl die diskursförmige, geradlinige Lese-, Schreib- und
Verstehenskompetenz als auch die neue, netzförmige Form des Lesens ein. Somit ist
"Multiliteralität" in bildungspolitisch großem Maßstab "ins Visier" genommen.
3. Pädagogischer Handlungsbedarf im Zeitalter der Wissens- und
Informationsgesellschaft
Vom erfolgreichen Umsetzen der erkannten Ziele werden u. a. die Lebenschancen der heute
16-20Jährigen abhängen.
Die Sichtweise "lebenslanges Lernen" wird für diese jungen Menschen u. a. für die berufliche
Sozialisation, die familiale und die staatsbürgerlich-politische Sozialisation Weichen stellen.
1. Medien-"Quantensprung" und Informationsflut in der Lebenswelt
der älteren Erwachsenen (Lehrer, Ausbilder, Eltern von
Jugendlichen)
Die professionellen Erzieher, mehrheitlich im reifen Erwachsenenalter, sind entscheidende
"Schnittstelle" für das Verwirklichen des anspruchsvollen Ziels. Es ist sinnvoll, auch
Menschen dieses biografischen Abschnittes in ihrer Lebenswirklichkeit zu betrachten (vgl.
3.1. Lebensaufgaben-Konzept Ericson).
Beruflich sozialisiert in einer Zeit, als der versprachlichte, verschriftlichte und
professionalisierte Diskurs noch uneingeschränktes Leitprogramm von Erziehung zur
Demokratie war, identifizieren viele pädagogisch Berufstätigen diese ihre hohe Qualifikation
als einen bestimmenden Teil ihres Selbstverständnisses.
Ein grundlegender Wandel des gesellschaftlichen Umfeldes, wie der in den letzten 10 Jahren
vollzogene, setzt Menschen unter Anpassungsdruck und ist mit psychischer Beanspruchung
(Stress) verbunden. Antje von Rein thematisiert Ängste und Unsicherheiten der älteren
Erwachsenen in der Welt der Neuen Medien und fordert ein offensives Auseinandersetzen.
Das bedeutet ein um die Neuen Medien erweitertes Verständnis von kommunikativer
Kompetenz. Erwachsenenbildung müsse den spezifischen Lernbedürfnis und der Lebenslage
von nachholend Lernenden Rechnung tragen. Ihr Aneignen der Sprache der Neuen Medien
vollziehe sich in anderen biografischen Zusammenhängen als das der "Hineingewachsenen".
"Wenn Medienkompetenz unter pädagogischen Gesichtspunkten nicht nur eine
Anpassungsleistung erbringen und eine nachvollziehende kognitive Seite haben soll, dann
bedeutet Medienkompetenz im Kontext Erwachsenenbildung insbesondere die Entwicklung
von Dialogfähigkeit gerade auch über neue Medienentwicklungen." (v. Rein 1996 S.15) – so
fasst die Autorin die Grundlage erfolgreichen Lernens des Umgangs mit den neuen Medien
zusammen. Für Lehrer und Erzieher bedeutet es ein Aktualisieren ihres beruflichen
Handlungswissens. Das zu akzeptieren und in die berufliche Identität zu integrieren, steht an
Bedeutsamkeit der Lebensaufgabe "Identität finden", recht nahe.
Pädagogisch beruflich Tätige, deren "Zöglinge" im Entwicklungsabschnitt 16.-20. Lebensjahr
stehen, sehen sich mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert: Einerseits müssen sie
die Sprache der Neuen Medien nachholend und meist berufsbegleitend lernen, andererseits
müssen sie Fragen von Herrschaft und Autorität im Klassenraum neu überdenken. Zählt doch
die Macht des gesprochenen Wortes nicht mehr allein. Vielmehr steht ein junges Expertentum
der "visual literacy" ihnen frontal gegenüber.
Zu diesen den ohnehin schon psychisch anspruchsvollen Erzieher-Beruf erschwerenden
Bedingungen kommt weiterer Druck. Er geht z. T. von der Elternschaft, besonders aber von
der medialen Öffentlichkeit aus. Zielgruppenorientiert arbeitende Publizisten und Politiker
bedienten und bedienen mit z. T. tendenziösen Interpretationen der PISA- und der TIMSSStudie ein Publikum, das für komplexe Zusammenhänge einfache Erklärungen vorzieht:
Lehrer seien zu gut versorgt, schlecht motiviert oder unfähig. Dabei bleibt außen vor, dass
Lehrer hoffnungslos überfrachtet sind mit der Forderung, die Konflikte einer multiethnischen, multikulturellen, multimediatisierten Gesellschaft des gespaltenen
Arbeitsmarktes, des beschleunigten Wertewandels und der verschärften sozialen Gegensätze
allein zu lösen. Vielmehr reflektieren sich all diese vielfältigen gesamtgesellschaftlichen
Konfliktpotenziale in der Schul- und Ausbildungswirklichkeit.
Die Wissensangebote der Medienwelt sind prinzipiell unendlich; die Deutungsmacht in
Gestalt öffentlicher Kontrolle nimmt ab.
4.2. Neues Nachdenken über Erziehung zur Medien-Kompetenz
Helga Theunert kennzeichnet die offensive Haltung reifer erwachsener, diskursiv gebildeter
Erzieherpersönlichkeiten, diese Anforderungen zu meistern: "Wie auch immer die
Multimedia-Welt sich realisieren wird, die Medienpädagogik muss mit den Fakten umgehen,
und zwar vorausschauend. (...) Zentrale Aufgabe von Erziehung und Bildung ist es, für das
Leben unter zukünftigen Bedingungen zu befähigen und die Menschen zugleich in den Stand
zu versetzen, inhumanen, irreführenden, ausbeuterischen, verdummenden Zumutungen zu
widerstehen. (...) Es geht (auch) darum, die Symbiose verschiedener Medien, das Mediennetz,
in den Blick zu nehmen. Und es geht darum, herauszufinden, (...) welche Kompetenzen sie
brauchen, um mit diesem Netz Sinnvolles zu tun." (Theunert a. a.O. S.61-62)
Die Diskursivität bleibt "Kernkompetenz" der beruflich handlungsfähigen
Erzieherpersönlichkeit. Medienkompetenz ist verstanden als Teilmenge der kommunikativen
Kompetenz, nicht umgekehrt. Die in beruflicher Sozialisation erworbene Fähigkeit zum
analytischen wie intuitiven hermeneutischen Entschlüsseln und Sinndeuten kann aktiven
Erziehern Schlüssel sein zum Verstehen auch der sich wandelnden Wirklichkeit, des
"Zöglings" wie des eigenen Selbst in der Problemlage.
3. Neues Verhältnis Erzieher – Zögling gestalten
Der Erzieher nimmt eine neue Rolle als ein Lernender an – und das im Spannungsfeld der
sich wandelnden Alters-, Geschlechts- und Berufsrollenmuster. Wie dargestellt, haben
Heranwachsende den älteren Erwachsenen ein Stück selbstverständliche Umgangserfahrung
mit den Neuen Medien voraus. Erzieher mit ihrer ihnen gegenüber überlegenen diskursiven
Kompetenz sollten soweit professionellen Überblick haben, das pädagogische Verhältnis zum
Zögling nicht zum Feld für Medien-"Kompetenzgerangel" degenerieren zu lassen. Die
Jugendlichen würden das falsch verstandene Autoritätsbestreben herausspüren. Anerkennt der
Lehrende die frühzeitig erworbene, netzgemäße visuelle Wahrnehmungsweise bei
Jugendlichen und signalisiert ihnen Lernbereitschaft, so kann das die Grundlage eines
partnerschaftlichen Verhältnisses Lehrer-Schüler werden. Der/die Jugendliche wird eher
bereit sein, den Berater in Fragen der diskursiven Sprachlichkeit und "reading literacy" zu
akzeptieren. Auf diese Weise kommt dem Jugendlichen ein Stück vorgelebte "Lernende
Organisation" sowie unmittelbarer, lebendiger Erfahrungswert in Sachen "long life learning"
in der Multi-Media-Welt zugute, "und zwar beginnend in der Kindheit und fortwährend
begleitend durch alle Altersstufen, auch (und vielleicht vor allem) im Erwachsenenalter." (A.
a. O. S. 63)
4.3.1. Geändertes Berufsrollenverständnis
Als Akteur in einer "Hauptrolle in der Gesellschaft von morgen" (vgl. Zitat Bulmahn in
3.4.3.) ist dem Erzieher ein neues Berufsrollenverständnis, verbunden mit höherer
gesellschaftlicher Wertschätzung angemessen. In einer Welt, in der sich tendenziell viele
Grenzen zugleich auflösen, kann Erziehung nicht ein organisatorisch und institutionell
weitgehend abgegrenzter, von Erziehern allein zu bearbeitender und zu verantwortender
Bereich bleiben.
Im diskursiven Denken, Sprechen und Schreiben Erfahrene sind in der Lage, ihre Interessen
zu wahren, z. B. dem durch Medien geformten Bild des Lehrers in der Öffentlichkeit offensiv
und innerhalb demokratischer wie Medien-Organisationen korrigierend entgegen zu treten.
Die Frage, warum die in den legislativen Gremien überdurchschnittlich vertretene Gruppe der
Lehrer das nicht in stärkerem Maße praktiziert, bleibt der Autorin dieser Arbeit offen. Sie hält
es für unabdingbar, die verschärften erzieherischen Probleme innerhalb der mediatisierten
Welt stärker im öffentlichen Raum zu kommunizieren.
Bessere, vor allem praxisbezogenere Aus- und Weiterbildung sind erforderlich. Das betrifft
auch Lehrer der Sekundarstufe und besonders der Berufsschulen, Berufsfachschulen,
Gymnasien sowie die betrieblichen Ausbilder.
Der Schwerpunkt muss mehr als bisher auf der pädagogischen Kompetenz statt vorwiegend
auf unterrichtsfachlicher Spezialisierung liegen.
Den "PISA"-Ergebnissen zufolge lassen sich bei zu vielen Schülern deutliche Defizite in einer
ganzheitlichen Erziehung zur Medienkompetenz (verstanden als Teilmenge kommunikativer
Kompetenz) erkennen. Sie jedoch setzt bei Menschen im 2. Lebensjahrzehnt relativ spät ein,
vor allem bei denen mit ungünstiger Primärsozialisation.
Offenbar fehlt bei überdurchschnittlich vielen Schülern nicht die "visual literacy", sondern
"reading literacy", das verstehende Lesen. Verwiesen auf die Szene der Jugendkulturen mit
ihrer oft reduziert-oberflächlichen Wahrnehmungsweise und intolerant-stereotyper
Ausgrenzungs-Tendenz, brauchen soziokulturell Benachteiligte ergänzende Erfahrungsräume,
in denen sie alternativ das Muster diskursiv-demokratischen Aushandelns kennen und leben
lernen. Schule und Ausbildungseinrichtung jedoch vergeben statuszuweisende Zertifikate.
Lehrer sind den Schülern nicht nur Partner, sondern üben Selektions-Macht aus. Ergänzend
zum Lern- und Selektionsfeld Schule sind also jugendgemäße Räume zu schaffen, in denen
die Heranwachsenden professionell betreut ansatzweise Primärsozialisation nachholen
können: Aushandeln von gegensätzlichen Positionen, das gewaltfreie Verarbeiten von
Konflikten, Sprechen einer der Achtung und Toleranz adäquaten Sprache. (Sprachliche)
Kommunikation kreiert Wirklichkeit. Sie sollte prinzipiell "besser" sein als die der
Gewaltvideos und anderer zweifelhafter Überangebote, denen Schüler mit ungünstig
entwickelten struktursequenziellen Deutungsmustern (vgl. 1.2.2.) oft distanzlos gegenüber
stehen. Das Schulmodell der "Just Community", entwickelt von Lawrence Kohlberg speziell
zur demokratischen Erziehung, fordert als überdenkenswertes Beispiel zum Realisieren auf.
Heranwachsende, die frustrierende Erfahrungen in vielen kommunikativen Beziehungen
gleichzeitig verarbeiten müssen (Schule/Ausbildung, Eltern, Gleichaltrigengruppe,
Geschlechtspartnerschaft), brauchen spezielle Betreuung zum Bestehen der krisenhaften
Situation – und Angebote gewaltfreier Problemlösemuster. Nach der Tragödie von Erfurt ist
professionelle Sozialarbeit in den Schulen und Ausbildungseinrichtungen speziell für
Adoleszenzkrisen-Klienten aktueller denn je.
Die Realität der städtischen Lebensräume, die Geist- und Kopflastigkeit der westlichen Kultur
lässt Jugendlichen wenig Raum für Körpererfahrung. Öffentliche Sport- und
Freizeiteinrichtungen sind oft von anderen Gruppen dominiert bzw. besetzt.
Sozialpädagogisch kreatives und jugendgemäßes Eingehen auf die Körper-Bezogenheit der
Entwicklungsphase Adoleszenz kann Defizite abbauen helfen und AggressivitätsGefährdungen entschärfen. Das Reservieren von Räumen für Mädchen und junge Frauen ist
bereits erwähnt.
Baackes Operationalisierungs-Konzept entspricht auch, Heranwachsenden mehr
Möglichkeiten zum kreativen Medien-Gestalten alternativ zu denen in den eigendynamischen
Peegroups einzuräumen. Sich die Synthese der verschiedenen Medien anzueignen, fordert
fächerübergreifendes Lernen. Die didaktischen Materialien sollen selbstverständlich und
kreativ Neue und "alte" Medien miteinander verbinden. Projektunterricht auch in der
Sekundarstufe kann das vorzugsweise leisten. Darüber hinaus braucht der Unterricht in den
musischen Fächern Bildende Kunst, Musik und Literatur sowie im Sport wieder angemessene
Bewertung im Fächerkanon: Das Deuten von visuellen Bildern, audiotiver Klänge, das
Verstehen literarischer Texte sowie der Körpersprache sind unverzichtbare Bestandteile der
Erziehung zur Multiliteralität.
2. Altersrollen-Verständnis
Die soziale Gegenwart um 2000 zeigt das Bild einer "alternden
Gesellschaft".
In Ferchhoffs Analyse kommt das Sich-Auflösen auch traditioneller
Altersrollen zur Sprache. Er thematisiert besonders das Verschieben
des Machtgefälles hin zu den Jüngeren. Ältere neigten dazu, sich auf
"sichere" Positionen wie Titel und Besitzstände zurückzuziehen bzw.
sie zu verteidigen. Vor diesem Hintergrund ist der Aspekt Alterstruktur
in der die Berufsgruppe der Lehrer überdenkenswert. Das
Durchschnittsalter der hauptberuflich tätigen Lehrkräfte an
Allgemeinbildenden und beruflichen Schulen beträgt 47,3; an
beruflichen Schulen 47,7 Jahre. Die Gruppe der über 50-Jährigen ist
mit 44% überdurchschnittlich vertreten (Angaben Statistisches
Bundesamt v. 3.5.2002 zum Datenstand 2000/01). Es sind die im
Schuldienst bewährten Emissäre des Siebziger-Bildungsbooms.
Professionelle Erzieher von Trägern der image-befrachteten
Jugendkultur sind gefordert, sich mit dem medial vermittelten
Jugendkult offensiv auseinander zu setzen – und ihr Selbstverständnis
als Altersrollen-Inhaber vor diesem Hintergrund zu reflektieren. Ihre
Stellung im Spannungsfeld zwischen Identifizierung mit den
Jugendlichen einerseits und Abgrenzen bzw. Sichern der eigenen
Altersrollen-Identität andererseits müssen sie kritisch und jeder für sich
hinterfragen. Kollegiale Selbsthilfe-Gruppen und professionell betreute
Supervision können zusätzlich Unterstützung in allen
Konfliktsituationen leisten.
3. Andere Lernprozesse in neuer Lernkultur
Wie dargelegt, ist Faktenwissen zunehmend schnellerem Verfall und zudem unter der
Bedingung der "Informationsflut" inflationärer Entwertung unterworfen. Die Menge des
Wissens wird immer unübersichtlicher. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Wissen in
prinzipiell offener Form zu vermitteln, um Wissensbestände anschlussfähig und die
Wissensträger (Schüler) navigationstüchtig und ich-stark zu machen.
Alte Unterrichtsmodelle wie die des "Einprägens", Abfragens, Zensuren- und PunkteVerteilens für Faktenwissen bedürfen der Überprüfung, ob sie den neuen Anforderungen noch
entsprechen.
Die Geschichte des deutschen Bildungswesens wurzelt in preußischer Tradition, dem Streben
nach (hierarchischer) Ordnung und Perfektion. Falsch/Richtig = Gut/Schlecht entspringt dem
(unerfüllbaren) Wunsch, in einer eindeutig und übersichtlich strukturierten, perfekten, eher
geschlossenen statt offenen Welt zu leben. Es ist das Denkschema vieler Lehrer bis heute. Es
verzerrt zudem die Lernmotivation, indem es die hierarchische Machtstruktur zwischen
Lehrer und Schüler herauskehrt. Den Anforderungen der Multi-Media-Welt eher entsprechen
würde ein didaktisch neues Denken: Weg von der einbahnstraßenartigen Vorstellung richtigfalsch, hin zu einem mehrdimensionalen Denken in vielen netzartig verknüpfbaren
Möglichkeiten. Nicht nur das Zulassen verschiedener Lösungswege, sondern das bewusste
Fördern kreativer Ansätze beim Herangehen an die Aufgaben ist gefragt. Das Trainieren von
Problemlöse-Fähigkeit bei den Schülern erfordert vom Lehrenden, dass er die Relativität des
Wissens prinzipiell anerkennt. Fehler sind nicht mehr nur sanktionierend mit Rotstift
"anzukreiden", sondern dem Lernenden als eine produktive Herausforderung nahe zu legen.
Dazu muss der Lehrer u. U. auch bereit sein, ein Stück seiner "Stärke", d. h. ein vermeintlich
sicherndes System überlegenen Fach- und Faktenwissens dieser Relativität anheim zu geben.
Das bedeutet eine neue Kultur der Kommunikation im Lernprozess – und ein prinzipiell neues
Verständnis für nachhaltig anwendbares Wissen.
Der Vorrat an scheinbar bewährtem didaktischem Material einschließlich multimedialer
"neuer" Lernsoftware muss kritisch gesichtet werden. Bestand haben sollte das, was die
Lernenden nicht von vornherein auf eine oder wenige Lösungen hinlenkt, sondern die Weite
und Offenheit der Wirklichkeit widerspiegelt. Das Modell der einen, richtigen Lösung
dauerhaft im Lernprozess zu verfestigen bedeutet, den Lernenden ein unbrauchbares,
trügerisches Wirklichkeitsbild zu kommunizieren. Auch die Form der Kommunikation im
Unterricht ist bedeutsam: Gesprächs-Kreis oder frontal ist nicht egal. Dieie Diskursgestalt
aller auf Beziehungsebene relevanten Kommunikationsprozesse (wie in Kohlbergs
Schulmodell der Just Community) für den Unterricht ist ein Angebot für das Lernen von
kommunikativer Kompetenz.
Friedrich Schönweis fasst das Ziel einer neuen Lernkultur so zusammen: "Eine große Chance,
dieses fatale Missverständnis von Bildung aufzubrechen, es würde sich nur um einen reinen
Paukstoff handeln, sehe ich auf zwei Ebenen:
1. einmal im Bezug auf Fehler
2. darin, sich mit Hilfe der Elektronik darum zu bemühen, (...) jene Momente der Bildung
einzufangen, für die sich im normalen Unterricht (...) kein Raum findet (...): Öffnung
der Schule, fächerübergreifendes Lernen, Forschen und Studieren, Integration vorund außerschulischer Interessen, Berücksichtigen individueller Lernbedürfnisse etc."
(F. Schönweis in Gogolin/Lenzen 1999, S. 392)
3. Neue Medien – Chance oder Risiko für das Leitbild
vom autonomen Subjekt?
In den insbesondere ab 4. dargelegten Zusammenhängen wird deutlich, dass es
keine sinnvolle Alternative dazu gibt, die Neuen Medien zu akzeptieren. Die
multimediale Informations-Gesellschaft vereint Chancen und Risiken in sich.
Es geht nicht für oder wider Neue Medien, sondern darum, Heranwachsende
für das Leben in der Multi-Media-Welt zu befähigen. Das aufklärerische
Bildungsideal Humboldts und auch das Ideal des herrschaftsfreien Diskurses
Habermas` sind nicht ad acta, sondern aktualisierungsbedürftig.
Innerhalb des Themenschwerpunktes "Bildung und Erziehung zur
Medienkompetenz 16-20Jähriger" ist bisher der Aspekt Wirtschaft und Politik
in der Multi-Media-Gesellschaft wenig beachtet. Unter der Blickrichtung
"autonomes Subjekt" kommt es jedoch auch und gerade darauf an, wie sich der
junge Mensch als Kunde auf dem umkämpften Käufermarkt und als Wähler im
poltischen Spektrum verhält: Autonom-souverän oder willig manipulierbar?
Als Kunde wie als Wähler ist er umworben und besetzt Machtpositionen.
Beide Felder, das marktwirtschaftlich organisierte wie das demokratischpolitische sind als Wirklichkeit vor allem medial repräsentiert und
kommuniziert. Um diese soziale Tatsache herum hat sich die
kommunikationswissenschaftlich und marktorientierte Public Relation (PR)Professionalität als Dienstleister für effizienten Zugang zum Entscheider
etabliert. Auf dem Frankfurter Kongress (April 2002) der Deutschen Public
Relations Gesellschaft DPRG, der Berufsorganisation der PR-Profis, stellte
Christian Blümelhuber fest: "Die alte Vorstellung vom aktiven, offensiven
Unternehmen und den passiven, lediglich konsumierenden Kunden ist
endgültig passé. Die Aktivitäten drehen sich in vielen Märkten um. Und auch
die Macht in den Beziehungsgeflechten wird neu verteilt. Es sind in
zunehmendem Maße die Kunden (...), die den aktiven und offensiven Part
einnehmen und sich ins Zentrum der Kommunikation rücken. (...) Knapp ist
nicht die Information, sondern die Aufmerksamkeit. (...) Die Kunden schlüpfen
also in die Rolle des (...) Anbieters von Aufmerksamkeit, einer zwingend an den
Menschen gebundenen, nicht vermehrbaren und (...) deswegen so wertvollen
Ressource. (...) Das verlangt eine learning relationship, also den Ausbau und
die Pflege einer engen Beziehung zum Kunden."
(http://www.dprg.de/dprg/index.htm.)
Der ehemalige Politiker Peter Radunski vermerkt: "Politik muss visualisiert,
emotional unterhaltend und anschaulich inszeniert sein, wenn Aufmerksamkeit
erregt werden soll. Tempo, Bilder, Inszenierung (...) und Unterhaltung sind der
Rohstoff effektiver politischer Kommunikation. Der Eindruck und der Schein,
den Politik vermittelt, steht im Vordergrund." (A. a. O., Hervorhebung.: MW)
Diese Zitate stellen klar: Der Medienrezipient ist Entscheidungsträger, den zu
beeinflussen sich die gesamte mächtige Kommunikationsbranche zum Ziel
setzt. Dem Heranwachsenden innerhalb der Operationalisierungs-Dimensionen
Medienkunde/Medienkritik diese seine Machtposition als Entscheider
verantwortungsbewusst annehmen zu lehren, kann naheliegenderweise nicht
den Medien-Mächtigen überlassen bleiben. Es ist das vornehmliche
Kompetenzfeld der öffentlichen Bildungsinstitutionen. Hartmut v. Hentig sagt
dazu: "Die Schule (muss) vor allem lehren, was das Leben nicht lehrt, was
aber für seine Erhaltung und Würde notwendig ist. (...) Die Schule muss und
darf das Gemeinte – ideale Verhältnisse – im Sinn haben, wenn sie auf das
Wirkliche – reale Verhältnisse - vorbereitet. Sie muss die Schwäche der
Medienwelt (...) aufwiegen – beide: den Schein und den Schrott." (H. v. Hentig
in Gogolin/Lenzen 1999 S. 39)
Zwei optimistische Tendenzen weist Blümelhubers Beitrag immerhin aus:
Erstens: PR-Profis stellen sich darauf ein, es mit autonomen, kommunikativ
kompetenten Subjekten zu tun zu haben. Zweitens: Kommunikative
Kompetenz mit dem Schwerpunkt Beziehungs-Management wird zunehmend
wichtige Schlüsselqualifikation in einer Wachstums-Branche. Das lässt hoffen,
dass diese bisher vorwiegend weibliche Kompetenz Markt-Nachfrage, also
Aufwertung erfährt.
Der Risikofaktor, der sich hier präsentiert, liegt vor allem in der erwartbaren
zunehmenden Aggressivität bzw. schleichenden Subtilität von Taktiken, die
Aufmerksamkeit zu gewinnen und in dem fortgesetzten Trend hin zum
Oberflächlichen, schnellstmöglich Eingängigen.
4. Wissen und Erfahrung zusammenführen:
Ein integrativer medienpädagogischer Ansatz
Christian Doelker stellt einen medientheoretischen und -pädagogischen Ansatz vor, der
Erklärungswert für die erzieherische Verantwortung in der Informationsflut aufweist:
Doelker bezieht sich ähnlich wie Baacke 1973 (vgl. Zitat in 1.1.1.) auf die über
Jahrzehntausende alte Geschichte der Medien und sieht der Erfindung der Schrift einen
Meilenstein. Er markiere den Beginn der in der Kultur folgenreichen Spaltung von tradierten,
vorrätigen Wissensbeständen einerseits und gelebtem, internalisierten und persönlichen
(Erfahrungs-)Wissen andererseits. Menschen lebten mit der Erfahrung im Vordergrund ihrer
aktuellen Lebenswelt und griffen bei Bedarf auf die gespeicherten Wissensvorräte im
Hintergrund zurück. Dieser Spaltung entspricht die Beschreibung von Pross (vgl. 1.1.1.) von
der Schrift als einem vom Menschen losgelösten Signal, dass sich zwischen Sender und
Empfänger schiebt und "Mediatisierung", Entfremdung erzeugt. Nach Doelker habe der
Wissens-Hintergrund im Zeitalter der Neuen Medien eine nicht mehr zu durchdringende Tiefe
erreicht. Alltagswelt besteht aus Medienprodukten. Die Medienbetreiber konkurrieren darum,
möglicht viel ihrer spezifischen Informationen in den gelebten Vordergrund ihrer jeweiligen
Zielpersonen zu platzieren – und das in sich steigernder Intensität und Aggressivität (vgl. 4.4.)
Der erfahrbare Alltag gestalte sich auf diesem Wege härter, rauer, werde zum Markt- und
Kampfplatz der Medienmächtigen und verwandle damit den Alltag zurück in das Feld eines
Darwinschen Struggle for Life: Dort verdrängten schrille visuelle und auditive Zeichen die
Wortbeiträge wie z. B. Argumentationsketten, hergeleitete diskursive Begründungen, auf
Tradition reflektierende diffizilere Zeichen von der "Bild"-Fläche.
Diesem kulturpessimistischen Ausblick stellt Doelker eine pädagogische Handlungs- und
Zielperspektive als mögliche Alternative entgegen:

Dem Menschen die Möglichkeit zu lehren, "Daten dieses Hintergrunds selber
abzurufen, aus eigener Entscheidung und eigener Initiative" (Doelker 2001 S. 395400), statt sie sich fremdbestimmt aufdrängen zu lassen.

Ein zweiter medienpädagogischer Handlungsbedarf sei "auf die Medien Einfluss
nehmen lernen, als Bürger oder Bürgerin für die Gestaltung der Medienlandschaft
besorgt sein.", d. h. staatsbürgerliche Verantwortung kennen und wahrnehmen lernen.

"... ein dritter Handlungsbedarf (ergibt sich), aus der medialen Umweltüberlastung
hinsichtlich Vordergrund/V-Horizont und der sich explosiv entwickelnden
Datenproduktion im Hintergrund/H-Horizont die richtigen und wichtigen
Informationen auswählen zu lernen. (...) Im Hinblick auf eine lebensvernünftige
Informationsselektion müssen wir die Erfahrungsperspektive einführen. Erfahrung ist
Wissen, das lebensweltlich umgesetzt wird (und) zur Lebenstüchtigkeit beiträgt."

Vierter Schwerpunkt medienpädagogischen Handlungsbedarfs sei das effektive
Nutzen der Möglichkeit, Fremderfahrung für die Gestaltung des eigenen
Erfahrungshorizonts einzubeziehen.

Doelker leitet daraus einen fünften Handlungsbedarf ab: "Es geht darum, dass auch
eine Spaßgesellschaft gewisse zentrale Botschaften und Anliegen ernst zu nehmen
lernt, bevor ihr durch äußere Ereignisse das Lachen schlagartig vergeht, (...) also
nicht `Amusing to death`, sondern `training for life`." (A. a. O.)
In Doelkers Formulierung aktuellen medienpädagogischen Handlungsbedarfs zeigen sich
inhaltliche Parallelen zur Analyse Baackes von 1973 (vgl. auch Zitate in 1.2.3. und 2.1.3) Das
Individuum müsse lernen, zu den von Massenmedien vermittelten Botschaften Distanz
herzustellen und sie auf seine persönliche Erfahrungswelt zu beziehen. "Kompetenz soll dabei
meinen die Verfügbarkeit über Strategien zur Lösung von Problemen aus eigener Kraft"
(Baacke 1973, S. 238).
Die Operationalisierungen des Medienkompetenz-Lernens, die Baacke 1999 ergänzte, gelten
analog auch für Doelkers Ansatz: Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und
Mediengestaltung.
4. Zusammenfassung, Stellungnahme
Während Baacke um 1970 mit kommunikativer Kompetenz eine Forderung nach Freiheit und
Autonomie des "Homo Communicator" erhebt, stellt Doelker im Jahre 2002 seine
Ausführungen zusätzlich in den Kontext einer Überlebensfrage tradierter kultureller Werte
und der menschlichen Species in ihrer hochentwickelten Form.
Im Multi-Media-Zeitalter hängt von der Frage, ob die heranwachsenden Generationen
kommunikativ inclusive medien-kompetent seien, der ganzheitliche Zusammenhalt der
tradierten mit der neuen Medienkultur ab.
Die medienwissenschaftliche bzw. -pädagogische Begriffsbestimmung von Medienkompetenz
hat sich innerhalb der miteinander verglichenen historischen Bezogenheit seit 1970 inhaltlich
nicht gravierend verändert:
War sie um 1970 eine Forderung nach Erhalt der Selbstbestimmungsrechte aller Menschen in
einer von Massenmedien beherrschten Lebenswelt, so ist sie um 2000 zu einer Forderung
nach Erhalt der ganzheitlichen menschlichen Existenzweise geworden. Medienkompetenz
stellt sich heute nicht mehr nur als Programmatik einer linken Bewegung dar, sondern sie
betrifft alle, denen es um die lebendige überlieferte Kultur, um die Synthese der tradierten mit
den Neuen Medien geht. Damit erfasst sie zusätzlich und gerade konservative Interessenlagen.
Medienkompetenz als Teilmenge kommunikativer Kompetenz ist nicht mehr nur die Idee
einer linksrevolutionären Minderheit, sondern gesellschaftlich konsensstiftend im Sinne von
Not-wendig:
Ivan Ilichs Buch mit dem Titel "Entschulung der Gesellschaft", zuerst erschienen 1970,
kündigt Hartmut von Hentig in seinem Vorwort als revolutionierend und "gefährlich" an; es
"würde einschlagen wie eine Bombe" (Hentig in Ilich 1973 S.10). Ilich stellt die
neomarxistische Programmatik gegen die überlebte, institutionalisierte instrumentalisierte
Schule von 1970 vor – und ist um 2002 politisch übergreifend aktuell: Er verlangt eine
Öffnung und ein neues Verständnis von Schule: "dass wir uns auf selbstmotiviertes Lernen
stützen können, (...) dass wir dem Lernenden neue Verbindungen zur Welt erschließen können,
anstatt alle Bildungsprogramme durch den Lehrer zu leiten". (A.a.O. S.81) D. Baacke zitiert
1998 mit ebendiesen Gedanken schulübergreifenden, erfahrungsnahen, lebenslangen Lernens
das Landesinstitut für Schule und Weiterbildung Soest: "Die (medienpädagogischen)
Bemühungen sind angesichts der Herausforderungen der Medien- und
Informationsgesellschaft als völlig unzureichend zu bewerten, wenn sie nicht ergänzt und
fortgeführt werden durch außerschulische und weiterbildende Maßnahmen (...) Die
Vermittlung von Medienkompetenz muss (...) zu einem wichtigeren und notwendigerem Teil
von Allgemeinbildung werden." (Baacke 1998).
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v
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