Z 2: Verbraucherinteressen in der Verhandlungsdemokratie Ökonomisch gesehen ist die Befriedigung des Verbraucherinteresses der einzige Zweck der Wirtschaft. Im Markt konkurrieren die Unternehmen miteinander um die Chance, dem Verbraucher dienen zu dürfen. Zugleich sind die Verbraucher politisch gesehen die größte überhaupt mögliche Gruppierung, die alle Wähler aller Parteien und überdies auch noch alle Nichtwähler einschließt – unvergleichlich viel größer als der Bauernverband oder die IG Chemie. Warum also sollte dieses vom Markt befriedigte Interesse überhaupt einer politischen Vertretung bedürfen? […] Auf dem Markt steht den Anbietern jedoch nicht die kollektive Marktmacht der vereinigten Verbraucherschaft gegenüber, sondern der einzelne Konsument. Anders als das früher von den Konsumgenossenschaften versucht wurde […], können die Letztverbraucher ihre Marktmacht nicht gebündelt einsetzen, um den Anbietern ihre Konditionen zu diktieren. Fundamentale Informationsasymmetrie In einem sich selbst überlassenen Markt könnten die Anbieter den Wettbewerb untereinander zum Nachteil der Verbraucher beschränken. Schon die Sicherung eines ökonomisch ausgeglichenen Preis-Leistungsverhältnisses ist also auf den Staat angewiesen, der gegen Kartellabsprachen und marktbeherrschende Konzentration vorgehen muss. […] Der amerikanische Ökonom Mancur Olson hat gezeigt, dass [...] gerade große Gruppen nicht in der Lage sind, aus sich selbst heraus eine gemeinsame Vertretung ihrer Interessen aufzubauen. [...] Aber die Gründung allein reicht selbstverständlich nicht. Erfolgreiche Interessenverbände brauchen Mitglieder, die bereit sind, den Verbandszweck wenigstens durch einen finanziellen Beitrag und womöglich durch eigene aktive Beteiligung zu unterstützen und gegebenenfalls das eigene Verhalten von den Direktiven des Verbandes bestimmen zu lassen. Das erfordert vielleicht im Einzelfall keinen großen Aufwand, aber ist doch viel verlangt in einer Welt, in der niemand die Zeit und die Mittel hat, sich für alle ihn potentiell interessierenden privaten und öffentlichen Belange einzusetzen. Hier liegen die eigentlichen Ursachen dafür, dass nicht alle gesellschaftlichen Interessen als mitgliedsstarke Verbände organisierbar sind. Moralische und egoistische Motive Zur Erläuterung verwende ich zwei Unterscheidungen zwischen möglichen Mitgliedschafts-Motiven, einerseits die zwischen moralischen und egoistischen Motiven, und andererseits die zwischen konzentrierten und diffusen Interessen. Ein Beispiel für die erste Unterscheidung ist der Vergleich zwischen den Mitgliedern von Amnesty International und den Mitgliedern des Bauernverbandes. Den ersten geht es darum, Menschenrechtsverletzungen in der ganzen Welt anzuprangern, den zweiten geht es um die Verbesserung des eigenen Einkommens. Beide sind auf kollektives Handeln angewiesen. Aber während bei Amnesty der Verbandszweck mit der moralischen [Politischer Entscheidungsprozess und Soziale Marktwirtschaft] 1 Motivation des Mitglieds identisch ist und im Prinzip auch individuelle Opfer rechtfertigen kann, ist beim Bauernverband eine Übersetzung notwendig: Bei egoistischer Motivation lohnt die Mitgliedschaft nur dann, wenn das eigene Wohlergehen durch Unterstützung der Verbandsarbeit mehr gefördert wird als durch andere Möglichkeiten der Verwendung von Zeit und Geld. In dieser Unterscheidung gehören die Motive der Verbraucher grundsätzlich zu den egoistischen Interessen. Aber weshalb sind die Verbraucherinteressen dann offenbar doch schwerer zu organisieren als die ebenso egoistischen Interessen der Bauern, der Handwerker, der Metallarbeiter oder der Zahnärzte? Konzentrierte und diffuse Interessen Zur Erklärung beziehe ich mich auf die zweite Unterscheidung zwischen konzentrierten und diffusen Interessen. Die Konsuminteressen richten sich bei jedem von uns von Zeit zu Zeit auf höchst unterschiedliche Güter und Dienstleistungen. Wenn man gerade ein Haus renoviert, hat man ganz andere Probleme als wenn man eine Trekkingtour im Himalaya oder eine Tagesmutter sucht. Noch größer sind die Diskrepanzen zwischen Konsumentengruppen, die sich nach Einkommen, Bildungsstand, kultureller und ideologischer Orientierung voneinander unterscheiden. Gewiss gibt es auch auf der Konsumseite konzentriertere Interessen. Der ADAC und der Mieterbund profitieren davon. Aber die nicht spezialisierten Verbraucherverbände wollen diffuse Interessen organisieren und sie haben es besonders schwer, ihre potentielle Klientel als zahlende Mitglieder und aktiv Mitwirkende zu gewinnen. […] Das kollektive Verbraucherinteresse kann nur durch eine gemeinwohl-orientierte Politik befriedigt werden. […] Je mehr die Politik [aber] auf die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und die Entwicklung der Beschäftigung Rücksicht nehmen muss, desto schwerer fällt es ihr, Forderungen der Verbraucher oder auch der Umweltverbände gegen den Widerstand der Unternehmen, Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften durchzusetzen. Der Staat muss, wenn er nicht überhaupt auf politisches Handeln verzichtet, nach Lösungen suchen, die das politische Ziel mit möglichst geringen schädlichen Nebenwirkungen für Unternehmen und Arbeitsplätze erreichen können. In der Praxis bedeutet dies, dass Gesetze und Verordnungen, die Wirtschaftsinteressen tangieren [= berühren], in zunehmendem Maße in Verhandlungen mit den betroffenen Unternehmen und ihren Verbänden formuliert werden. Wenn man sich nicht einigt, könnte der Staat zwar immer noch einseitig handeln - andernfalls gäbe es für die Partner ja keinen Grund, sich überhaupt auf Verhandlungen einzulassen. Aber beide Seiten wissen, dass ein solcher Ausgang für die Politik mindestens so unerwünscht wäre wie für die andere Seite. […] Fritz W. Scharpf, Verbraucherinteressen in der Verhandlungsdemokratie, auf: www.energieverbraucher.de vom 21.7.2002 (zuletzt abgerufen am 8.8.2011, http://www.energieverbraucher.de/de/UmweltPolitik/Politik/Verbraucherpolitik/Verbraucherorganisation__1426/) [Politischer Entscheidungsprozess und Soziale Marktwirtschaft] 2