SPEECH/01/128 Rede von Romano PRODI Präsident der Europäischen Kommission Zusammenkunft mit den nationalen Abgeordneten Europäisches Parlament Ausschuss für konstitutionelle Fragen Brüssel, den 20. März 2001 Frau Präsidentin, meine Damen und Herren Abgeordnete! Die Erweiterung der Union ist keine Gemeinschaftspolitik wie jede andere. Sie ist vielmehr ein politischer Akt, der voraussetzt, dass wir das politische Bündnis, auf das sich die Union stützt, überdenken und neu begründen. Die Union muss in der Phase der Erweiterung auch in der Lage sein, angemessene Antworten auf die wahren Sorgen unsere Bürger zu geben: ein gesundes und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, eine besser integrierte Agrar-, Nahrungsmittel- und Umweltpolitik, eine ausgewogene und wirksame Lösung für das Zuwanderungsproblem, eine aktivere Rolle der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften sowie der Zivilgesellschaft und eine stärkere Präsenz der Union nicht nur weltweit, sondern vor allem in den angrenzenden Regionen. Dies sind nur einige der großen europäischen und universalen Probleme, denen wir gerade in dem Moment ausgesetzt sind, in dem wir uns anschicken, den europäischen Kontinent auf friedliche Weise und gestützt auf die Werte und Grundsätze zu vereinen, die nunmehr offiziell in der in Nizza verkündeten Grundrechtscharta verankert sind. Ich werde mich heute vor allem einigen institutionellen Aspekten in Verbindung mit dem so genannten Post-Nizza-Prozess zuwenden. Doch eigentlich sind es diese großen Themen der europäischen Gesellschaft, vor deren Hintergrund wir jetzt die Debatte über die Finalität der Union eröffnen müssen. Zunächst aber möchte ich dem Europäischen Parlament und insbesondere dem Ausschuss für institutionelle Fragen dafür danken, dass er die Initiative zu diesem Meinungsaustausch über den Vertrag von Nizza und die Zukunft der Europäischen Union ergriffen hat. Ich freue mich auch, dass die Parlamente der Mitgliedstaaten und der Beitrittskandidaten dieser Einladung so bereitwillig nachgekommen sind. Es ist mir eine besondere Freude, mit den gewählten Volksvertretern der Länder zusammenzutreffen, die den Beitritt zur Union anstreben. Bislang beschränken sich unsere Kontakte mit den Beitrittskandidaten vor allem auf die Regierungsebene. Gerade in der jetzigen Phase – nach Unterzeichnung des Vertrags von Nizza und im Vorfeld der neuen Erweiterung – ist es meiner Ansicht nach aber unerlässlich, dass wir die Kontakte auch auf die Parlamente der künftigen Unionsmitglieder ausdehnen. Lassen Sie mich jetzt den beiden Themen meiner heutigen Ausführungen zuwenden, nämlich dem Vertrag von Nizza und der Debatte über die Zukunft der Union. Der Vertrag von Nizza Wir alle wissen, dass der Vertrag von Nizza trotz seiner Unzulänglichkeiten und Lücken das Verdienst hat, den Weg zur Erweiterung freizumachen. Zusammen mit der Erweiterung wird ein Prozess in Gang gesetzt, der dazu führen soll, die Union durch Verstärkung und Modernisierung der „Gemeinschaftsmethode“ auf eine neue politische und institutionelle Grundlage zu stellen. Mit dieser Methode haben wir in einem halben Jahrhundert der Integration historische Ziele verwirklicht; sie ist zum Modell für alle anderen regionalen Integrationsprojekte in der Welt geworden. Die Kandidatenländer unternehmen zur Zeit gewaltige Anstrengungen, um politisch und wirtschaftlich, aber auch institutionell beitrittsfähig zu werden. 2 Die Union sollte die gleichen Anstrengungen unternehmen, um ihre Fähigkeit zur Aufnahme dieser Länder zu stärken. Die Realität der Erweiterung muss daher in den Mitgliedstaaten einen starken Impuls zur Durchführung der Reformen geben, die unerlässlich sind, wenn sich die erweiterte Union als politische Autorität, wirtschaftliche Macht und aktive Fürsprecherin von Entwicklung und Stabilität in der Welt entfalten soll. Bleiben die mutigen Entscheidungen, die bereits in Nizza hätten getroffen werden sollen, auch diesmal aus, so wird die Gemeinschaft durch die Erweiterung auf ein einfaches Forum zur Schlichtung (oder Nicht-Schlichtung) von Meinungsverschiedenheiten unter den Mitgliedstaaten reduziert. Die Debatte über die Zukunft der Union Bevor ich auf die erforderlichen institutionellen Maßnahmen eingehe, möchte ich die Diskussion über die Ziele und Anforderungen eröffnen, welche die Union verfolgen bzw. erfüllen soll. Denn in Nizza hat die Regierungskonferenz die Notwendigkeit erkannt, eine umfassende und vertiefte Debatte über die Zukunft der Union anzustoßen. Das Jahr 2001 ist also der offenen Diskussion gewidmet, die dem neuen Konstituierungsprozess vorangehen und diesen flankieren muss und bei der den nationalen Parlamenten eine fundamentale Rolle zufällt. In der Erklärung von Nizza heißt es ausdrücklich, dass an der Debatte, die so weit wie möglich auch der Zivilgesellschaft offen steht, die Abgeordneten der nationalen Parlamente teilhaben sollen. Allerdings darf öffentliche Diskussion nicht mit demokratischer Vertretung verwechselt werden: Denn nach Anhörung der tragenden Kräfte der Gesellschaft und der Debatte mit diesen obliegt die Verantwortung für die letztendlichen Entscheidungen den rechtmäßigen demokratischen Organen. Bei der Vorbereitung der neuen Konferenz zur Reform der Verträge müssen also die nationalen Parlamente gemeinsam mit dem Europäischen Parlament eine noch aktivere Rolle spielen, und zwar gemäß den Modalitäten, die der Europäische Rat von Laeken (im Dezember 2001) bei Eröffnung der „strukturierten Debatte“ festlegen wird. Für die Kommission ist es unerlässlich, dass künftig diejenigen, die die Ergebnisse einer Regierungskonferenz zu billigen haben, auch aktiv an der Vorbereitung der entsprechenden Vertragsänderungen mitwirken. Wir sind dabei noch auf der Suche nach dem richtigen Forum, das – egal wie wir es letztlich nennen – die wichtigsten Partner des politischen Dialogs, das heißt das Europäische Parlament, die Regierungen der Mitgliedstaaten und die Kommission vereint. Ein Forum also, das sich an den „Konvent“ anlehnt, der die Charta der Grundrechte der Union verfasst hat. Ich sage bewusst „anlehnt“, denn die Formel des Konvents wäre natürlich an die neuen Bedürfnisse anzupassen: Es würde ein funktionaler ausgerichtetes Forum mit kleinerem Teilnehmerkreis, das auch nicht unbedingt einstimmig beschließen müsste. 3 Die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas Einer der wichtigsten Punkte auf der Tagesordnung des Post-Nizza-Prozesses ist die „Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas”. Die Aufgabe, die wir in dieser Phase der Reflexion zu erfüllen haben, besteht meines Erachtens in erster Linie darin, das politische System der Union im weiten Sinne in Augenschein zu nehmen, um herauszufinden, wie die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in den unterschiedlichen Stadien der gemeinschaftlichen Entscheidungsfindung gefördert und gestärkt werden kann. Allgemein gesagt geht es darum festzustellen, ob das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive im politischen System der Union noch zufriedenstellend funktioniert oder ob es verbesserungsbedürftig ist. Auf der Ebene der Gemeinschaft müssen wir uns demnach fragen, ob der Zeitpunkt gekommen ist, die Rollen der einzelnen Organe – ich denke dabei insbesondere an die Doppelfunktion des Ministerrats als Legislative und als Exekutive – eindeutiger zu bestimmen und im Wege des Mitentscheidungsverfahrens, das heißt in der Zusammenarbeit von Parlament und Rat, einen Rechtsrahmen mit allgemeinen Grundsätzen und Grundzügen aufzustellen, der die Regelung der Einzelheiten der Exekutive überlässt. Gleichzeitig sollten sich die Organe der Gemeinschaft gemäß den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit auf die wichtigen Themen konzentrieren, bei denen ein Handeln auf der Gemeinschaftsebene gefragt ist, so dass den Akteuren auf der nationalen, regionalen und lokalen Stufe noch ein weiter Handlungsspielraum verbleibt. Es ist daher für die einzelnen Staaten zu prüfen, ob die diversen Mechanismen, über welche die Parlamente verfügen, um die im Ministerrat vereinten Regierungen zu kontrollieren, angemessen sind und die demokratischen Anforderungen voll und ganz erfüllen oder ob sie gegebenenfalls noch weiter ausgebaut werden müssen. Möglicherweise liegt hierin eines der Schlüsselelemente, mit dem sich die Position der nationalen Parlamente und die demokratische Kontrolle in der Union verstärken lässt. Zwar kontrolliert das Europäische Parlament die Exekutivtätigkeit der Kommission, doch unterliegt der Ministerrat weder auf der Ebene der Mitgliedstaaten noch auf der Ebene der Gemeinschaft einer ähnlichen Kontrolle. Dies ist unter Umständen ein Teilbereich der institutionellen Architektur, in dem die Aufgabe des Parlaments gestärkt werden kann. Im übrigen habe ich zur Zeit den Eindruck, dass sich die politische Debatte über die Union in den Mitgliedstaaten – vielleicht bis auf einige wenige Ausnahmen – erst entzündet, wenn die Ratifizierung der neuen Verträge bevorsteht. Diese Debatte hat allerdings nicht immer nur die wirklich grundlegenden Fragen zum Gegenstand, denn die Verträge sind so, wie sie jetzt vorliegen, nicht vereinfacht oder neu geordnet, sondern enthalten neben den grundlegenden Vorschriften konstitutioneller Art auch sekundärrechtliche Bestimmungen. 4 Um den nationalen Parlamenten mehr Mitspracherecht bei der politischen Orientierung und demokratischen Kontrolle zu geben, wäre es jetzt vielleicht angebracht, die Verträge in zwei Teile aufzugliedern: einen kurz gefassten, verständlichen und transparenten Katalog grundlegender Vorschriften in Form einer Primärrechtssammlung und einen Teil mit Durchführungsbestimmungen, der alle übrigen Vorschriften enthält. Dies hätte bei Änderungen folgende Konsequenzen: Während im Fall des Primärrechts das klassische Verfahren zum Tragen käme, das die einstimmige Annahme durch die Mitgliedstaaten voraussetzt, könnte beim Durchführungsteil ein vereinfachtes Verfahren angewandt werden, bei dem Beschlüsse mit der Mehrheit der Staaten gefasst werden. Denkbar wäre hier zum Beispiel die Beschlussfassung durch stillschweigende Zustimmung oder im Wege einer den Regierungen von den nationalen Parlamenten vorab erteilten Ermächtigung. Dies sind nur einige der Themen, über die meiner Ansicht nach zu sprechen sein wird. Die Debatte und der Meinungsaustausch müssen offen geführt werden. Außerdem ist es in dieser Phase sehr wichtig, dass möglichst viele Gesprächspartner einbezogen und Gelegenheiten zur Debatte genutzt werden. Um mit den Worten des Abgeordneten Napolitano zu sprechen, ist das, was wir heute erleben, nur der erste Kontakt mit einer neuen historischen Phase im Leben der Union, die wir eingeleitet haben und die uns die helfen soll, neu über diverse grundlegende Fragen einer Gemeinschaft nachzudenken, die sich über den ganzen Kontinent erstreckt. Ihr Beitrag und die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Organen und den nationalen Parlamenten sind daher unverzichtbar. Ich danke Ihnen. 5