Räumliche Disparitäten in Ostmitteleuropa Von Frank-Dieter Grimm Mit dem Zusammenbruch des Sowjetsozialismus, den Transformationen zur Demokra tie und Marktwirtschaft und den Vorbereitungen auf die Osterweiterung der Europäischen Union sind das östliche und westliche Europa einander wieder näher gerückt, ist das Interesse des „Westens" für den „Osten" wie auch umgekehrt sprunghaft angestiegen. Dies gilt aus der deutschen Sicht in besonderem Maße für das unmittelbar östlich an die Bundesrepublik Deutschland angrenzende Ostmitteleuropa, worunter im Folgenden Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn sowie darüber hinaus das Baltikum, Rumänien bis zum Karpatenbogen sowie die „mitteleuropäischsten" Nachfolgestaaten der einstigen Föderation Jugoslawien verstanden werden sollen. Die durch den Fall des Eisernen Vorhangs entstandene signifikant größere Nähe Deutschlands zu den Ländern des so umrissenen Ostmitteleuropa eröffnet neue Chancen und birgt neue Risiken, die es zu erkennen und mit denen es umzugehen gilt. Zur Nutzung der in der neuen Situation enthaltenen Möglichkeiten ist eine differenziertere Kenntnis der in dem Gesamtraum Ostmitteleuropas bestehenden unterschiedlichen Strukturen unerlässlich. Ostmitteleuropa kann in grober Vereinfachung als ein Großraum von subkontinentaler Dimension bezeichnet werden, der in weiten Arealen ländlich, klein- und mittelstädtisch geprägt ist und durch ein vergleichsweise gleichmäßiges Netz darin gelegener Großstädte dominiert und erschlossen wird (Abb. 1). Andererseits fallen bereits bei einer flüchtigen Kenntnisnahme die beträchtlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern, Regionen und Städten auf, beispielsweise zwischen dem Oberschlesischen Industriegebiet und dem von zersplitterter Kleinstlandwirtschaft geprägten Südostpolen, zwischen der Millionenmetropole Budapest und den bevölkerungsarmen Agrarregionen des Alföld. Diese Unterschiede spiegeln sich in verschiedenen Ländern in einer ungleichmäßigen Bevölkerungsverteilung wider, z. B. in Polen (Abb. 2). Die Erfassung der räumlichen Disparitäten in Ostmitteleuropa wie auch in anderen Erdregionen bezieht sich zunächst nur auf die Diagnose von Unterschiedlichkeiten, wie sie durch die unterschiedliche naturräumliche Ausstattung, die Besonderheiten der historischen Entwicklung und die verschiedenartigen aktuellen politischen und wirtschaftlichen Einwirkungen entstanden sind. Sie enthält in diesem Sinne keine Wertung. Zugleich aber vermittelt die Vorsilbe „Dis" beabsichtigt oder unbeabsichtigt eine Einschätzung dergestalt, dass bestehende Disparitäten per se etwas Negatives seien, das man überwinden müsse - dann wohl mit dem Ziel, eine harmonische, wohlgeordnete, „proportionale" Welt zu gestalten. Beide Sichtweisen, sowohl die wertungsfreie als auch die wertende, enthalten zweifellos einen zutreffenden, akzeptierbaren Kern, sie können andererseits bei einer Überbetonung zu gravierenden Fehleinschätzungen führen. Die folgenden Ausführungen befassen sich vor diesem Hintergrund in erster Linie mit der Diagnose der bestehenden Disparitäten in Ostmitteleuropa, und sie halten sich so weit wie möglich bei bewertenden Aussagen zurück. 1. Naturräumliche und historische Hintergründe Ostmitteleuropa bildet den Übergang zwischen dem stärker vom Atlantikraum beeinflussten Westeuropa und dem westlichen Mitteleuropa (v. a. Frankreich, Deutschland) einerseits und Osteuropa i. e. S. (v. a. Russland, Ukraine) andererseits. Es ist großräumig gegliedert in eine nördliche, vorwiegend als Flachland ausgeprägte und eine südliche, von Gebirgen und eingelagerten Becken gekennzeichnete Hälfte, wobei die westöstlichen Gebirgszüge der Sudeten und Karpaten eine markante Trennungslinie und Schranke bilden. Das nördliche Ostmitteleuropa, das nach Osten ohne erkennbare Naturgrenzen in das Osteuropäische Tiefland übergeht und dessen Kernraum heute vom Staatsgebiet der Republik Polen eingenommen wird, bildete in den zurückliegenden Jahrhunderten den Konflikt- und Überlagerungsraum der deutschen, polnischen und russischen Einflüsse in Politik, Wirtschaft und Kultur. Eine zeitweise Sonderstellung nahm der unmittelbare Küstenabschnitt an der Ostsee ein. Die wichtigsten, in ihrer prägenden Wirkung bis heute auffallenden Staatsbildungen der letzten Jahrhunderte waren Preußen (bzw. das Deutsche Reich) und Polen. Die Kulturlandschaft des heute überwiegend von polnischer Bevölkerung bewohnten nördlichen Ostmitteleuropa in ihren Erscheinungsformen und räumlichen Differenzierungen offenbart vor allem in einer west-östlichen Intensitätsabfolge die jahrhunderte langen Überlagerungen der wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen seiner deutschen und polnischen Bewohner. Das südliche Ostmitteleuropa stellt sich demgegenüber als eine Folge von Gebirgszügen und Becken dar, seit Jahrhunderten bewohnt in etwa der gleichen räumlichen Differenzierung (Ausnahme: Deutsche) von Tschechen, Slowaken, Ungarn, Rumänen, Serben, Kroaten und Slowenen. Die historisch beständigste autochthone Staatsbildung hatte das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs bestehende Königreich Ungarn (in den damaligen Grenzen) gebildet. Über lange Abschnitte seiner Geschichte waren weite Teile des südlichen Ostmitteleuropa fremdbestimmt: aus dem Süden (Römisches Reich), Südosten (Osmanisches Reich), Nordosten (Sowjetunion) und Westen (Habsburgerreich). Die von der Reliefgliederung begünstigte Existenz mehrerer räumlich eng benachbarter Ethnien einerseits und die von außen in das südliche Ostmitteleuropa hineingetragenen Einflüsse andererseits erklären die dort bestehende Vielfalt der Völker und Staaten, die sich in einer entsprechend differenzierten Kulturlandschaft widerspiegelt. Eine Gemeinsamkeit sowohl des nördlichen als auch des südlichen Ostmitteleuropa, insbesondere in seiner Westhälfte bildete der bis zur Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg starke kulturelle und wirtschaftliche Einfluss der ansässigen deutschen Bevölkerung, der bis heute die Kulturlandschaften des gesamten Raumes von der Ostseeküste (z. B. Danzig/Gdansk und ehemaliges Ostpreußen) bis zur Donau (z. B. Banat, Siebenbürgen) nachhaltig prägt und somit zu einer west-östlichen Differenzierung Ostmitteleuropas beiträgt (ausführlich dazu vgl. Pistohl-Kors, G. 1993-1999). In der vielgestaltigen Kulturlandschaft Ostmitteleuropas sind die Nachwirkungen und Einflüsse des westlichen Europa ebenso enthalten und verarbeitet wie die des europäischen Ostens und Südostens, die Gemeinsamkeiten und Widersprüche des westlichen und des östlichen Christentums (Rom, Byzanz) ebenso wie die Nachwirkungen der imperialen Bestrebungen Russlands (bzw. der Sowjetunion) und Deutschlands. Österreichs (bzw. Österreich-Ungarns) und des Osmanischen Reichs, in den letzten beiden Jahrhunderten insbesondere die nationalstaatlichen Bildungen sowie die von Staat /u Staat unterschiedlichen Enwicklungen beispielsweise der industriellen Revolution, der Agrarreformen und des Ausbaus zunächst des Eisenbahn- und späterhin des Fernstraßennetzes. Als ein Beispiel für die Differenzierungen früherer Staatsgrenzen sei die unterschiedliche Dichte des Eisenbahnnetzes auf dem Territorium des heutigen Polen angeführt [Lijewski 1977) (Abb. 3): hohe Dichten in den vormals zum Deutschen Reich (Preußen) gehörenden Landesteilen, geringe Dichten im übrigen Polen (vormals Russland. Österreich-Ungarn). Die mit diesem naturräumlichen und historischen Hintergrund bestehenden räumlichen Disparitäten sind ein Bestandteil des kulturellen Reichtums und der Vielgestaltigkeit Ostmitteleuropas und somit ein wichtiges und erhaltenswertes Gut der europäischen Kultur, einschließlich der Vielfalt der Ethnien und Sprachen. Sie sind aber andererseits oft auch ein Ausdruck von Wirtschafts- und Wohlstandsunterschieden innerhalb Europas, die es, sofern sie inakzeptable Größenordnungen erreichen, mit der beabsichtigten Erweiterung der Europäischen Union zu überwinden gilt, wofür eine fundierte Kenntnis der heute existierenden Disparitäten und der in ihnen enthaltenen Werte und Unzulänglichkeiten eine wichtige Voraussetzung bildet. 2. Der Nachlass des Experiments Sozialismus Ostmitteleuropa einschließlich des östlichen Deutschland sah sich in der zweiten 1 lallte des 20. Jahrhunderts unter sowjetischer Herrschaft einem Gesellschafts- und Wirtschaftsexperiment von bisher nicht gekannter historischer Dimension ausgesetzt, das auf die Verwirklichung des in visionärer Weise von Karl Marx entworfenen sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsideals abzielte. Die Realisierung dieser Vision erfolgte mittels der von W. l. Lenin und / W. Stalin formulierten Instrumentarien: Schaffung totalitärer, von einer einzigen Partei dominierter Zentralstaaten, Nationalisierung der Produktionsmittel, zentrale Wirtschaftsplanung, Als das entscheidende Mittel für den Erfolg der revolutionären Umgestaltung wurde die Konzentration aller mobilisierbaren Kräfte auf die rasche, das ganze Land erfassende massive Industrialisierung angesehen, verbunden mit dem Entstehen einer zahlenmäßiggroßen Industriearbeiterschaft (..Arbeiterklasse") und mit einem schnellen Wachstum der Städte. Gesellschaftliches Ziel war die Herausbildung einer von der Staatspartei beherrschten, in sich wenig differenzierten Bevölkerungsgesamtheit. Einen untrennbaren Bestandteil der Verwirklichung des sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsexperiments bildeten die Bestrebungen, die bestehenden räumlichen Disparitäten der Wirtschaft und Gesellschaft zu überwinden, einen räumlichen Ausgleich herbeizuführen und in Verbindung mit der egalitären Gesellschaft auch einen räumlich wohlproportionierten, gewissermaßen harmonischen Raum zu gestalten. Angestrebt wurde /um einen eine Angleichung von Land zu Land, beispielsweise durch die Förderung der Industrie in Bulgarien und Rumänien auf Kosten der DDR und der Tschechoslowakei. Angestrebt wurde zum anderen der räumliche Ausgleich innerhalb der einzelnen Staaten, z.B. innerhalb der Tschechoslowakei zu Gunsten der Slowakei, innerhalb der DDR zu Gunsten der „Nordbezirke" (heute Mecklenburg-Vorpommern) und des „Energiebezirks" Cottbus und zu Lasten der alt industriellen sächsisch-thüringischen „Südbezirke", besonders betroffen war der Bezirk Karl-Marx-Stadt/ Chemnitz (vgl. G. Kehrer 2000). Die auf die Überwindung bestehender Disparitäten und den räumlichen Ausgleich gerichtete sozialistischplanwirtschaftliche Regionalpolitik zeitigte zweifellos eine Reihe von Erfolgen, die auf Dauer Bestand haben können, wie es die Tschechoslowakei mit der verstärkten Industrialisierung der bis dahin agrarisch geprägten Slowakei erreichte und wie es auch in der DDR mit dem Aufbau der Industriestandorte Rostock, Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda/Schwarze Pumpe und weiterer praktiziert wurde. Die konsequente Verfolgung des räumlichen Ausgleichs- und Gleichheitskonzepts stieß jedoch auch in den sozialistischen Ländern an die Grenzen der wirtschaftlichen Realitäten, so dass in den späteren Jahrzehnten vorzugsweise eine differenziertere, wieder stärker an die traditionellen Industriestandorte angelehnte Wirtschaftspolitik betrieben wurde, in der DDR beispielsweise mit der Förderung des Chemiebezirks Halle/Saale oder des Technikstandorts Jena (VEB Carl Zeiss Jena). in Polen mit dem Ausbau der Werften an der Ostseeküste und des Oberschlesischen Industriegebiets. Eine rückblickende Bilanz der auf die Überwindung der Disparitäten gerichteten Wirtschaftspolitik der sozialistischen Staaten Ostmitteleuropas führt zu der Feststellung, dass in der Tat eine Reihe vorher rückständiger Regionen in die Industrialisierung einbezogen worden sind, dass eine gewisse wirtschaftliche und soziale Annäherung /.wischen den traditionellen und den neuen Industriegebieten erzielt worden ist und dass die ländlichen Räume mit der Einführung der industriellen Großlandwirtschaft wichtige Modernisierungsimpulse erhalten haben. Der für die Umsetzung des sozialistischen Gleichheitsideals zu zahlende Preis erwies sich jedoch auf die Dauer als nicht bezahlbar und die Förderung einer solch großen Anzahl ökonomisch fragwürdiger Standorte war zweifellos eine entscheidende Ursache für die wirtschaftliche Ineffizienz und damit letztlich für das Scheitern des sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft- und Wirtschaftsexperiments im östlichen Europa (G. Kehrer 2000). Eine schwere Hypothek bilden nach dem Zusammenbruch des Sozialismus die mit der sozialistischen Planwirtschaft in allen Ostblockstaaten erhaltenen Industriegiganten, die sich unter den neuen marktwirtschaftlichen Bedingungen in nahezu keinem Falle als konkurrenzfähig erwiesen haben. Bergbau- und Industriestandorte wie beispielsweise in Polen das Oberschlesische Industriegebiet, der Hütten -Standort Nowa Huta bei Krakau (Krakow) oder die Danziger (Gdansk) Werftindustrie hatten in der sozialistischen Zeit als die Hochburgen des industriellen sowie generell des wirtschaftlichen Fortschritts gegolten. Nahezu über Nacht sind sie nunmehr/.u wirtschaftlichen und sozialen Problemfällen geworden, deren Revitalisierung einen enormen, von den einzelnen ostmitteleuropäischen Staaten derzeit kaum zu leistenden Aufwand erfordern würde. Häufig betraf der Zusammenbruch der sozialistischen Industriegiganten gerade diejenigen Regionen, die mit dem Ziel des räumlichen Ausgleichs von der sozialistischen Wirtschaftspolitik bevorzugt gefördert worden waren. Im Ergebnis dieser Entwicklung ist ein Teil der aufwändig industrialisierten Regionen wiederum sozial und wirtschaftlich zurückgefallen, beispielsweise das im östlichen Ungarn gelegene Industriegebiet um Miskolc, der rumänische Eisenhüttenstandort Hunedoara oder in den neuen deutschen Bundesländern der abseits an der Oder gelegene Chemiestandort Schwedt. Die zum Ende des 20. Jahrhunderts in den Ländern Ostmitteleuropas festzustellenden räumlichen Disparitäten widerspiegeln in diesem Sinne sowohl das Ergebnis der teilweise durchaus erfolgreichen planwirtschaftlichen Bemühungen um den räumlichen Ausgleich als auch neu entstandener, aus dem Zusammenbruch des Sowjetsozialismus und der Öffnung zur Weltwirtschaft resultierender Folgewirkungen. In ihrer Gesamtheit stellen sie nunmehr die Grundlage und den Ausgangspunkt für die aktuellen marktwirtschaftlichen, wiederum eher auf Polarisierung als auf den räumlichen Ausgleich gerichteten Entwicklungen dar (Europäische Kommission 1999). 3. Zunehmende Disparitäten nach der politischen Wende Aus der hohen Wertschätzung pluralistischer Entwicklungen in dem marktwirtschaftlich-demokratischen System des „Westens" im Vergleich zu dem auf das sozialistisch-kommunistische Gleichheitsideal gerichteten System des „Ostens" resultieren Tendenzen, die prinzipiell mehr auf eine Vergrößerung denn auf eine Minderung von Disparitäten in der Gesellschaft und dem von ihr gestalteten Raum gerichtet sind {Grimm 1994, Europäische Kommission 1999,2001). Dabei wurden in Ostmitteleuropa politische und wirtschaftliche Kräfte freigesetzt, die zum Aufstieg einiger begünstigter und /um Zurückbleiben anderer Bevölkerungsgruppen, Städte und Regionen sowie generell zur verstärkten Polarisierung führten. Nationale bzw. ethnische Bewegungen gewannen eine unerwartete Kraft, die Grenzen wurden durchlässiger, die Wirtschaft orientiert sich zunehmend am Weltmarkt und bildet neue Wachs tu ms pole heraus, die Haupt- und Millionenstädte ziehen einen Großteil der Investitionen auf sich, gegenüber den Entwicklungspolen bleibt der übrige Raum mehr und mehr zurück. Wenn auch die ost-mitteleuropäischen Staaten und Regionen in der Ära des Sowjetsozialismus nicht ganz so grau und uniform gewesen waren, wie dies gelegentlich aus westlicher Sicht erschienen sein mag, so ist dennoch seit der politischen Wende die Entwicklung zu einer größeren Vielfalt festzustellen, die zudem auf Grund der nunmehrigen Offenheit der Informationen deutlicher wahrgenommen wird. Diese Vielfalt - Disparität - betrifft nahezu alle Lebensbereiche, vor allem aber die Wirtschaftsentwicklung, das Lebensniveau der Bevölkerung sowie die Entfaltung der ethnischen/nationalen Identitäten, wobei jeder dieser Bereiche sowohl positive als auch kritische Aspekte enthält. Die in Abb. 4 erkennbaren Disparitäten werden gefördert durch den Prozess der Globalisierung, als dessen Vorreiter in Ostmitteleuropa die europäischen Integrationsprozesse in Erscheinung treten (Europäische Kommission 1999,2001). Und sie werden gemindert durch die EU-Regionalpolitik, die von dem Bemühen getragen ist, negativ wirkende Disparitäten bereits im Vorfeld zu erkennen und abzubauen. 3.1 Die Renaissance des Nationalen Gemäß der sozialistisch-kommunistischen Lehre hatte man die Zusammengehörigkeiten der einzelnen gesellschaftlichen Klassen einerseits („Proletarier aller Länder, vereinigt euch!") und die „Klassenunterschiede" andererseits als von ausschlaggebender Bedeutung angesehen, das Bewusstsein der kulturellen und ethnischen Differenzierungen trat demgegenüber zurück. Innerhalb der einzelnen sozialistischen Staaten galt die Staatszugehörigkeit als das Entscheidende („das Volk der DDR-, „die Völker der Sowjetunion"). Ethnische Differenzierungen fanden überhaupt nicht bzw. nur im kulturellen Bereich Berücksichtigung, beispielsweise die Negierung der Existenz ethnischer Minderheiten in Polen, die Förderung der sorbischen Minderheit in der DDR. Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Herrschaftssystems in den einzelnen ostmitteleuropäischen Staaten und dem Zerfall des gesamten Ostblocks traten die vorher sowohl unterdrückten als auch unterschätzten ethnischen Differenzierungen mit unerwarteter Kraft und Dynamik zu Tage. Sie zeitigten einerseits positive, Staats- und regionsbildende Wirkungen und andererseits die von der europäischen Öffentlichkeit wesentlich deutlicher wahrgenommenen zerstörerischen Folgen (Jugoslawien). Die Bewahrung der vollen nationalen und ethnischen Identität war während der Zeit des Sowjet Sozialismus für die Völker Ostmitteleuropas eine Überlebensstrategie gewesen. Ihre Fortsetzung führte nach der politischen Wende zur Entfaltung neuer Kräfte bei der Gestaltung der errungenen Unabhängigkeit (z. B. Polen, Ungarn), bei der Entstehung neuer Nationalstaaten (Tschechien, Slowakei. Slowenien, baltische Staaten. Wiedervereinigung Deutschlands). Neue Chancen zur Artikulierung ihrer spezifischen Interessen fanden nunmehr auch die bisher kaum zur Kenntnis genommenen ethnischen Minderheiten einzelner ostmitteleuropäischer Nationalstaaten.Ein markantes Beispiel bot die Entwicklung in Polen, in dem die ethnischen Minderheiten der Deutschen (um Opole/Oppeln). Ukrainer (um Przemysl) und Weißrussen (um Bialystok) sich formieren und politische Rechte erlangen konnten, die ihnen in dem vorherigen sozialistischen Polen versagt geblieben waren (Heffner, 19998, vgl. Abb.5) Die dabei unweigerlich auftretenden ethnischen Auseinandersetzungen in Ostmitteleuropa führten zu der friedlichen Trennung der Tschechoslowakei, andere ethnische Spannungsherde wie zwischen Ungarn und Rumänien in Siebenbürgen oder zwischen Lettland, Esten und Russen in Estland konnten letztendlich in einvernehmliche Bahnen gelenkt werden. Nicht zufriedenstellend blieb bisher die Einbindung der Roma (Zigeuner). Das entscheidende Verdienst der ostmitteleuropäischen Staaten und Völker ist darin zu sehen, dass es ihnen im Unterschied zu Jugoslawien gelungen ist, die Freiräume der nationalen und ethnischen Gruppierungen im geordneten rechtlichen Rahmen grundlegend zu vergrößern und das Ausufern in darüber hinausgehende kriegerische Auseinandersetzungen zu vermeiden. Die Bilanz der Renaissance der (hier Text S. 27 einfügen) 3.3 Der Aufschwung der Hauptstädte Die Konzentration der politischen und wirtschaftlichen Macht auf die jeweilige Partei- und Staatsführungen hatte im Sozialismus zur unangefochtenen Dominanz der Hauptstädte geführt, die sich in der räumlichen Konsequenz auch in deren Einwohnerwachslum und städtebaulichen Gestaltung niederschlug. Dem deutschen Leser am besten erinnerlich ist die demonstrative Bevorzugung Ostberlins gegenüber den anderen Großstädten der ehemaligen DDR („die Republik baut Berlin"), Ähnliche Privilegien bestanden für die anderen Hauptstädte in Ostmitteleuropa. für Warschau, Prag und Budapest (desgl. Bukarest) sowie abgestuft für die Hauptstädte der föderativen Teilrepubliken (Bratislava/Pressburg. Ljubljana/Laibach; Vilnius/Wilna, Riga, Tallinn). Vielfach war erwartet worden, dass diese von den totalitären Staaten geförderten beherrschenden Stellungen der Hauptstädte mit dem Übergang zu Demokratie, Pluralismus und Marktwirtschaft zu Gunsten anderer Städte und Regionen zurückgehen würden. Diese Erwartungen haben sich nicht bestätigt. Die mit den Hauptstädten demokratischer Staaten verbundene Konzentration an Macht und Information erwies sich vielmehr als derart attraktiv, dass die Hauptstädte zu den für Investitionen und Migrationen bevorzugten Zentren wurden bzw. dass sie ihre führende Stellung weiter festigen und ausbauen konnten (Grtfntft 1994, Europäische Kommission 1999,2001). Insbesondere die dort konzentrierten Einrichtungen der Forschung und Lehre sowie der hochrangigen Dienstleistungen brachten den Hauptstädten einen beträchtlichen AtAtraktivitätsvorsprung, der den Großteil aller auf das betreffende Land gerichteten ausländischen Investitionen anzog und damit wiederum Effekte der Selbstverstärkung auslöste. Bedeutsam für solche Standortentscheidungen war darüber hinaus vor allem die zentrale Stellung der einzelnen Hauptstädte im nationalen Verkehrsnetz, beispielsweise sind in allen Staaten Ostmitteleuropas die führenden (bzw. die einzigen) internationalen Hauptplätze in der Hauptstadt gelegen. Eine relative Aufwertung erfuhren zudem die meisten der ostmitteleuropäischen Hauptstädte durch die Krise anderer, stärker von der Industrie und von Monostrukturen getragenen Städte und Regionen ihrer Länder, besonders auffällig in der polnischen Bedeutungskonstellation zwischen der Hauptstadt Warschau und der in sozialistischer Zeit privilegierten Millionen Agglomeration des Oberschlesischen Bergbau- und Industriegebiets, in Litauen zwischen Vilnius und Kaunas, in der Slowakei zwischen Bratislava und Kosice. Unverkennbare Bedeutungsgewinne verzeichneten in den letzten Jahren auch die neu in die Haupt Stadt rolle aufgerückten Städte Bratislava/Pressburg (in Kooperation mit Wien), Ljubljana/Laibach, Vilnius/Wilna (v. a. im Vergleich zu Kaunas) und Riga. Als ein besonders prominentes Beispiel sei der Aufschwung der polnischen Hauptstadt Warschau angeführt, die sich anschickt, in die Rolle der Metropole eines großen künftig der EU angehörenden Staates hinein zu wachsen (Droth, A, u.a. 2000). Während die industrielle Bedeutung Warschaus mehr und mehr in den Hintergrund tritt, befindet sich die zudem an der europäischen West-Ost-Achse Paris-Berlin-Warschau-Moskau gelegene Hauptstadt des 38-Millionen-Staates Polen sichtlich auf dem Wege zu europäischer Bedeutung. Warschau gilt heule als die „Boom-Stadt" Polens, hier sind die Mehrzahl aller polnischen Banken und Versicherungen konzentriert, es erhielt in den letzten Jahren ca. 50 % aller ausländischen Investitionen, in Warschau sind nahezu 30% aller polnischen Gesellschaften mit ausländischer Kapitalbeteiligung gemeldet. Städtebaulich drückt sieh der Aufschwung Warschaus in der neuen, um mehrere Hochhäuser bereicherten Silhouette des Stadtzentrums, in der Eröffnung der Metro und in der zunehmenden Suburbanisierung aus, verkehrsmäßig in der Vorzugsweisen Westorientierung des Verkehrs des Warschauer Flughafens und in den entscheidend verbesserten Verkehrsbeziehungen der Eisenbahn nach Berlin (IC-Verkehr). Ähnliche Entwicklungen wie die polnische Hauptstadt verzeichneten Budapest und Prag, beträchtliche Bedeutungszunahmen lassen sieh beobachten für die kleineren Hauptstädte Ostmitteleuropas, vor allem für Bratislava und Riga (Europäische Kommission 1999, 2001). Abzusehen mit Bezug auf Veränderungen der Disparitäten ist der Trend zu einer auch künftig zunehmenden Polarisierung der ostmitteleuropäischen Städtesysteme zu Gunsten der einzelnen Hauptstädte (Grimm u.a. 1994). 3.4 Standartvorteile bei Westorientierung Angesichts des schroffen, von West nach Ost abgestuften Wirtschafts- und Wohlstandsgesellschaften in Ostmitteleuropa haben innerhalb der einzelnen Staaten diejenigen Regionen und Städte sichtliche Standortvorteile, die über die direktesten Beziehungen mit dem westlichen Nachbarstaat und dadurch vermittelt mit dem westlichen Europa (Deutschland, Österreich, Westeuropa) verfügen bzw. die in Folge ihrer Lage solche Kontakte schaffen können. Begünstigt sind in dieser Hinsieht außer den Hauptstädten vor allem die großen Hafenstädte, die Städte an den west-östlichen Verkehrskorridoren sowie die westlichen Grenzregionen der einzelnen Länder (Grimm, F. u.a. 1994, Europäische Kommission 1999,2001): - Sowohl die polnischen Hafen Dauzig/ Gdansk - Gdynia und Stettin/Szczecin als auch die baltischen Häfen (vor allem Klaipcda/Memel, Licpaja, Ventspils) bieten günstige Ansatzpunkte für innovative Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, die sie mit bisher unterschiedlichem Erfolg zu nutzen verstanden haben; eine sichere Perspektive ist für Danzig/Gdansk zu erkennen, dessen gesamtes Hinterland im eigenen Staatsgebiet liegt; bei generell ebenfalls günstigen Perspektiven ist die Zukunft der anderen ostmitteleuropäischen Häfen mit etwas größeren Unwägbarkeiten behaftet, da sie von der generellen Ausgestaltung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu dem größtenteils im jeweiligen Ausland (Deutschland, Russland) befindlichen Hinterland abhängig ist. - Günstige Perspektiven ergeben sich für die an den großen West-Ost-Verkehrskorridoren gelegenen Städte und Regionen, allen voran entlang der Achse Berl i n -- Warschau Moskau mit der besonders verkehrsgünstig gelegenen polnischen Handels- und Wirtschaftszentrale Posen/Poznan, Aussichtsreich erscheinen des weiteren die Verkehrskorridore von Berlin bzw. Leipzig/Dresden nach Breslau/Wroclaw, Ohersehlesi-en und Krakau/Kraköw {Rössner 1998, Grimm 1999). Nach wie vor schwer einschätzbar sind die möglichen Entwick-Lungsimpulse der Donau-Wasserstraße, der trotz der Fertigstellung der Verbindungskanäle von der oberen Donau zum Main und von der unteren Donau zum SehwaiY.meerhafen Konslanza/Constanja wegen der kriegerischen Ereignisse um das ehemalige Jugoslawien bisher noch kein normales Betriebsjahr beschieden gewesen ist. Auffällig ist der wirtschaftliche Vorteil der jeweiligen westlichen Grenzregionen. Sie betreffen einerseits die Nutzung des unmittelbaren kleinen Grenzverkehrs und Grenzhandels, z.B. an der österreichisch-ungarischen, italienisch-sloweischen und polnisch-ukrainischen Grenze. Vor allem aber bilden sie die Basis für eine Reihe wesentlicher ausländischer Investitionen in grenznahen Groß- oder Mittelstädten, für die die erfolgreiche Pkw- Produktionen im tschechischen Mhida Boleslaw (Jungbunzlau) und im ungarischen Györ (Raab) hervorragende Beispiele liefern. In ihrer Kombination von Investitionsvorteilen, innovativen Anreizen, grenznahem Handel und der Möglichkeit der Arbeitsaufnahme jenseits der Grenze sind die westlichen grenznahen Regionen zu den unbestrittenen Gewinnern der veränderten Wirtschaftspolitischen Lage in Europa zu rechnen, beginnend bereits in den neuen deutschen Bundesländern mit dem westorientierten Spitzenreiter der ostdeutschen Arbeitslosenstatistik, dem thüringischen Kreis Sonneberg, und fortgesetzt von den durch die Kennziffern der Wirtschaftsleistung und der Arbeitslosenzahlen abgebildeten West-Ost-Abstufungen in den übrigen ostmitteleuropäischen Staaten, beispielsweise in Polen, Ungarn und Rumänien (Abb. 7.10). Die geschilderten Disparitäten haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend deutlich profiliert, eine weitere Verstärkung der Differenzierungen kann als wahrscheinlich gellen. Mit Bezug auf das Aufeinandertreffen unterschiedlich hoher Wirtschafts- und Wohlstandsniveaus an den einzelnen Staatsgrenzen tragen diese west-östlich bestehenden innerstaatlichen Disparitäten dort zu einer gewissen Minderung der Unterschiedlichkeiten bei. 3.5 Die Verlierer der Transformation Die Regionen und Städte, die keinen der genannten Standortvorteile aufweisen, d. h. ein Großteil des gesamten ostmitteleuropäischen Raumes verbleiben in einer kritischen Lage. Die generelle, vom Zusammenbruch des sozialistischen Wirtschaftssystems hervorgerufene Krise wird bei ihnen noch verstärkt durch den Niedergang einer Reihe bisher tragender Industriezweige: Bergbau und Stahlindustrie. Chemieund Textilindustrie (Europäische Kommission 1999,2001). Dramatisch gestaltet sich die Lage vor allem dort, wo ganze Regionen wirtschaftlich auf einen einzigen Industriezweig und oft auf einen einzigen gigantischen Industriebetrieb ausgerichtet sind, z. B. im Kohlerevier von Waidenburg (Walbrzych). im nordostungarischen Industriegebiet um Miskolc, an den rumänischen Bergbau- und Stahlindustriestandorten um Petro-$ani (Jiu-Kohlercvier) und Hunedoara: in Jen neuen deutschen Bundesländern an den Industriestandorten Schwedt und Hoyerswerda/Schwarze Pumpe;. Mit Ausnahme der ostdeutschen Standorte werden die zur Gewährleistung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit unabdingbarendrastischen Stellenkürzungen noch immer nicht angegangen, füTthtet jede Regierung die sozialen Konsequenzen und versucht, die Entschärfung der Zeitbombe Rationalisierung auf die nächste Wahlperiode und für die nachfolgende Regierung m verschieben. Zahlreich sind darüber hinaus die Mittelund Kleinstädte, denen durch den Zusammenbruch des größten bzw. einzigen Industriebetriebs die gesamte wirtschaftliche Basis weg gebrochen ist. Teils gemildert und teils sogar kompensiert wird der beschriebene Niedergang der Produktionsbasis durch die von der Marktwirtschaft initiierte Entfaltung des Handels- und Dienstleistungsbereichs. Ambivalent ist demgegenüber die Lage der von der Landwirtschaft bestimmten Agrargebiete, in denen zwar in der Regel ebenfalls beträchtliche Produktionseinbrüche zu verzeichnen sind, bei denen aber der Rückzug in die sich ausbreitende Subsistenzwirtschaft (Erzeugung überwiegend zum Eigenverbrauch der Familie) zumindest für eine Übergangszeit die Sicherung vor dem Absturz in die soziale Verelendung zu gewährleisten vermag. Belastend für die Situation der ländlichen Räume wirkt sich aus, dass wegen der strukturellen Krise, der Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot in den Städten die in früheren Epochen übliche Land-Stadt-Wanderung vorerst entfallen muss und eine latent abwanderungsbereite unterbeschäftigte Landbevölkerung verbleibt. Besondere Belastungen haben die alten Bergbau- und Industrieregionen mit hohen Umweltschäden zu tragen, in den neuen deutschen Bundesländern vor allem die von den Folgen des Kohle- und Uranbergbaus gekennzeichneten Regionen um Halle/Leipzig/Bitterfeld, Cottbus/ Senftenberg, Gera/Ronneburg und Aue/ Schwarzenberg. Während aber in den ostdeutschen Regionen dank hoher Investitionen eine beachtliche Stabilisierung und Aufwertung der Umweltbedingungen erreicht werden konnte, bleibt die Lage in der Mehrzahl der umweltgeschädigten Regionen Ostmitteleuropas nach wie vor kritisch, beispielsweise in Nordböhmen um Most/Brüx und Komotau/Chomutov und dem benachbarten Erzgebirge (Devastierungen, Waldschäden), im nordmährischen Kohlerevier (Mährisch-Ostrau/Os-trava) oder an den siebenbürgischen Bergbau- und Chemiestandorten Cops.a Micä (Chemie, Rußproduktion), Zlatna und Baia Mare (Buntmetallurgie). Ausdruck der verzweifelten wirtschaftlichen Lage dieser Regionen ist die fast durchweg zu beobachtende Tatsache, dass die dort ansässige Bevölkerung sich vehement für den Erhalt und die Fortführung der umweltschädigenden Betriebe einsetzt, da sie als einzige Alternative den Absturz in die Massenarbeitslosigkeit erkennen kann. 3.6 Die künftigen Außengrenzen der Europäischen Union Große Besorgnisse erfüllen die Bevölkerung der Regionen entlang der künftigen EU-Außengrenze: an der polnischen Ostgrenze zur Ukraine, zu Belorussland, zu Litauen und zu Russland (Kaliningrad/ Königsberg), an der Ostgrenze Ungarns zu Rumänien und Jugoslawien, an der Ostgrenze Sloweniens, der Ukraine, der Slowakei und Estlands sowie selbst an der rumänisch-moldawischen Grenze. Ihnen hatte das vergangene Jahrzehnt neue, wenn auch nicht immer spannungslose Freiheiten und Entwicklungsimpulse gebracht: einen lebhaften Grenzhandel, den Kontakt zu den jenseits der Grenze gelegenen Kulturstätten und touristischen Zielen, den Besuch von Freunden und Verwandten. Diese neuen Entfaltungsmöglichkeiten werden mit Sicherheit mit der Anwendung des Schengener Abkommens erhebliche Einschränkungen erfahren, die fast in jedem Falle Verschlechterungen für die betroffene Grenzbevölkerung bedeuten müssen. Ungeklärt erscheint die Fortsetzung der engen Beziehungen von ethnisch gleicher Bevölkerung beiderseits der künftigen EU-Außengrenze, z. B. der in der Ukraine wohnenden Polen oder der in Rumänien ansässigen Ungarn. Darüber hinaus wird mit einer drastischen Verschärfung des ohnehin markanten Wohlstandsgefälles an der künftigen EU-Außengrenze gerechnet. Wenn auch manche der vor Ort geäußerten Befürchtungen übertrieben erscheinen mögen, so bleibt es doch unbestreitbar, dass die politisch-administrative und wirtschaftliche Abschottung der EU eine neue Barriere im Osten Europas schaffen bzw. die bestehende Abschottung deutlich verstärken wird. Im Interesse der Minderung der Folgen solcher neuer Disparitäten muss es ein vorrangiges Ziel der europäischen Regionalpolitik sein, die sich an der künftigen EU-Ostgrenze abzeichnenden Probleme und Spannungen vorausschauend zu untersuchen und rechtzeitig Wege zu ihrer für die Grenzbevölkerung erträglichen Minderung zu unternehmen (Europäische Kommission 1999, 2001). Eine Politik des Abbaus EU-interner Disparitäten (Kohäsionspolitik) zu Lasten verschärfter Unterschiede im Osten Ostmitteleuropas darf dabei bestenfalls eine historische Episode bilden. 4. Europäische Regionalpolitik Die Europäische Kommission hat in den zurückliegenden Jahren mit ihrer auf das Zusammenwachsen und den sozioökonomischen Ausgleich zwischen den einzelnen Staaten der Gemeinschaft gerichteten Strukturpolitik beträchtliche Fortschritte erzielt und kann bilanzierend feststellen, dass „der Konvergenzprozess ... sowohl aus historischer als auch internationaler Perspektive ungewöhnlich schnell" verläuft (Europäische Kommission 1999,S. 7). Die Disparitäten zwischen den 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich verringert, die Wiedervereinigung Deutschlands vollzog sich ohne die von vielen befürchteten Spannungen, bemerkenswert sind die Fortschritte von Irland, Spanien, Portugal und Griechenland. Für die künftige europäische Regionalpolitik haben die für die Raumordnung zuständigen Minister der EU-Staaten ein gemeinsames Dokument geschaffen: das Europäische Raumentwicklungskonzept EUREK, das den Rahmen und die strategische Orientierung für die ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des EU-Territoriums vorgibt. Seine wichtigsten Ziele sind die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts der Europäischen Union, die Erhaltung und das Management der natürlichen Lebensgrundlagen und des kulturellen Erbes sowie die Erreichung einer ausgeglicheneren Wettbewerbsfähigkeit des EU-Raumes (EUREK 1999). Die Berichte der Europäischen Kommission (1999, 2001) und das Europäische Raumentwicklungskonzept EUREK setzen sich mit den mit der EU-Osterweiterung zu erwartenden Aufgaben auseinander und umreißen die erforderlichen Wege. Dabei ist sich die Europäische Kommission grundsätzlich bewusst, dass mit der Erweiterung auf mehr als 20 Länder die Disparitäten zwischen den einzelnen EU-Staaten erheblich größer sein werden als in der jetzigen EU und dass innerhalb der Bewerberstaaten sogar starke Tendenzen der Vergrößerung der landesinternen Disparitäten bestehen. Kennzeichnende Merkmale des EUErweiterungsraumes sind die anhaltende Übergangssituation des politisch-administrativen Systems, die erheblichen räumlichen Polarisierungen bei der gegenwärtigen Wirtschaftsentwicklung, eine weithin unzulängliche Infrastruktur sowie geringe finanzielle Ressourcen der öffentlichen Hand (EUREK 1999, S. 54). Die Europäische Union unterstützt die Bewerberländer bereits zum jetzigen Zeitpunkt durch finanzielle Hilfsprogramme (v. a. PHARE-Programm), durch transnationale Gemeinschaftsinitiativen zur Grundlegung der Regionalpolitik für die erweiterte EU (Interreg IIC, Interreg III) sowie durch die Schaffung der Kooperationsdokumente VASAB 2000+ (für den Ostseeraum) und VISION PLANET (für Mittel- und Südosteuropa), die als Grundlage zur Verteilung der regionalpolitisch wirksamen EU-Mittel dienen sollen. Spezifische Schwerpunkte der EURegionalpolitik in den künftigen Mitgliedstaaten sind der Ausbau der transnationalen Verkehrsinfrastruktur (transeuropäische Netze), die ökologische Sanierung der alten Industriereviere sowie Maßnahmen zur Strukturanpassung in den ländlichen Räumen. Die bisher erreichten Ergebnisse sowie die dadurch mittelbar initiierten Aktivitäten in Ostmitteleuropa haben beachtliche Ausmaße erreicht. Dennoch konnten sie bisher zwar eine Abschwächung, nicht aber eine Umkehr des in Ostmitteleuropa vorherrschenden Trends der zunehmenden wirtschaftlichen und räumlichen Disparitäten bewirken. Grundlegendere Veränderungen analog der Angleichungsprozesse in der bisherigen Europäischen Union sind zweifellos nicht vor dem endgültigen Beitritt der einzelnen ostmitteleuropäischen Staaten zu erwarten, und selbst dann wird noch ein langwieriger und steiniger Weg zurückzulegen sein. Angesichts der Perspektive der historisch erstmaligen Gestaltung einer friedlich vereinten europäischen Staaten- und Völkergemeinschaft und in diesem Rahmen sowohl des Fortbestehens der wirtschaftlichen und kulturellen Vielfalt (Disparitäten) als auch der Überwindung inakzeptabler Wohlstandsunterschiede (Disparitäten) gibt es aber keine gleichwertige Alternative. GS 133 I Oktober 2001