Universität Regensburg Philosophische Fakultät II Lehrstuhl für Grundschulpädagogik- und didaktik Seminar: Prinzipien des Sachunterrichts Dozent: Dr. Rudolf Hitzler Referentinnen: Lucie Lauter, Melanie Kraemmer Handout SoSe 2009 Genetisches Lernen und „Conceptual Change“: Theoretische(s) Konzept(e) und Auswirkungen auf die Unterrichtspraxis GENETISCHES LERNEN 1. Genetisches Lernen nach Martin Wagenschein „Mit dem Kind von der Sache aus, die für das Kind die Sache ist!“ Lehrkonzept nach Wagenschein: Genetisches Lernen mit den drei Schlüsselbegriffen: Genetisch – das Werdende: Die genetische Methode geht dem Entstehen nach bzw. legt Gewicht auf den Werdegang des Verstehens und des Findens und Lösens von Problemen Vorwissen, Erfahrungen und Interessen der Kinder in den Lernprozess einbeziehen, daran anknüpfen und aufbauen – von der Lebenswelt der Kinder ausgehen Die Sprache der Kinder nutzen (aus der Alltagssprache – Fachsprache entwickeln) Sokratisch – das Gespräch: Zurückgehend auf griechischen Philosoph „Sokrates“: Lehrer hat Funktion des Helfers, d. h. setzt Impulse, gibt Anregungen, fragt nach, deckt Scheinwissen auf, stellt in Zweifel, ermutigt, usw. Stechmücke und Hebamme Dialogisches Gespräch – Kommunikation als Basis für die Konstruktion der Welt (Inhalte werden erarbeitet und gegliedert) Lehrer ist Mitgestalter, Haltgeber und Beobachter im Erarbeitungsprozess („scaffolding“) Exemplarisch - die Stoffauswahl: Stofffülle macht guten Unterricht kaputt: die „Stoffhuberei“ beenden und stattdessen vertiefend an wenigen ausgewählten, exemplarischen aber ergiebigen Inhalten lernen und Transferwissen anbahnen Verstehen hat Vorrang vor zu bewältigender Stoffmenge Ausgangspunkt für naturwissenschaftliches Lernen im Unterricht: naturwissenschaftliches Phänomen, das bei den Kindern Verwunderung & Erstaunen auslöst Problematisches aufdecken, was die Kinder lösen wollen – Vermutungen äußern und in Versuchen überprüfen Ziel: verstehendes Lernen / vernetztes Wissen „Formatio“ (allgemeine Bildung) 3 Komponenten der Formatio: o Produktive Findigkeit: Fähigkeit zum selbständigen Denken & Handeln entwickeln, Kinder sollen selbstständig kreativ sein und ihre Einfälle und Fantasie einbringen Devise von Wagenschein: „Sich selbst auf den Weg begeben!“ (In Anlehnung an Maria Montessori: „Hilf mir es selbst zu tun“ o Enracinement (Einwurzelung): Fachliches Wissen und primäre Erfahrungen nicht voneinander zu trennen Verknüpfen von neuem Wissen mit Vorwissen (Präkonzepte) und anderen Phänomenen o Kritisches Vermögen: Kinder sollen gegenüber naturwissenschaftlichen Phänomenen eine kritisch-konstruktive Grundhaltung einnehmen Fähigkeit Ideen & Vorstellungen kritisch zu überprüfen Exkurs: Begriffsklärung „genetisches Lernen“ Der Begriff „genetisch“ wird auf das griechische Wort „gignomai“ zurückgeführt: ursprünglich werdend, entstehend Zudem Bezug zum griechischen Begriff „genesis“: Entstehung, Entwicklung 2. Genetisches Lernen nach Köhnlein und Thiel Martin Wagenschein: „Urvater“ (Gymnasiallehrer) Walter Köhnlein: theoretisch – konzeptionell Siegfried Thiel: vorwiegend praktisch-orientiert (Grundschulpädagoge) Walter Köhnlein - drei Aspekte des genetischen Vorgehens Logisch-genetisch: verstehendes Nachvollziehen der inneren Strukturen eines Gegenstandes („werdender Gegenstand“) – „Gegebenes auf den Prozess zurückführen“ – wenn der Schüler es mit eigenen Worten sagt, dann hat er es verstanden Individual-genetisch: eigene, möglichst selbstständige Entstehung einer Erkenntnis im Individuum – Lernen geschieht selbstständig und wird subjektiv bedeutsam) Historisch-genetisch: Nachvollziehen der geschichtlichen Entwicklung einer wissenschaftlichen Erkenntnis (historisches Gewordensein von Wissensbeständen mit allen möglichen Irrtümern und Umwegen) Funktionen des genetischen Sachunterrichts fundierende Funktion: anknüpfend an Vorverständnisse der Kinder, sichere (tragfähige, grundlegende) Basis für weiteres Lernen eröffnende Funktion: Anwendung grundlegender Ideen auf neue Fälle, führt zu weiterführenden Einsichten erschließende Funktion: allgemeine Sach- und Sprachkompetenz wird geschult Erkenntnisleitende Funktion: genetischer Unterricht ist auf Verstehen ausgerichtet Unterrichtsgestaltende Funktion: genetisches Lehren und Lernen erfordert einen forschenden, auf lange Lernzeiten ausgerichteten Unterricht Merke: Der Genetische Sachunterricht greift die Vorstellungen der Schüler in der Alltagssprache auf und arbeitet im Unterricht an der Weiterentwicklung dieser Vorstellungen. (Möller) CONCEPTUAL CHANGE 1. Begriffsklärung Lernen = vorhandene Vorstellungen verändern, erweitern, differenzieren Conceptual Change: statt Konzeptwechsel, besser „Konzeptveränderung“ oder konzeptuelle Entwicklung Entstanden in den 70er Jahren bei Untersuchungen zur Resistenz von „misconceptions“ beim Lernen von Naturwissenschaften 2. Ausgangspunkte für conceptual change: Kinder haben aufgrund von Alltagserfahrungen eigene Konzepte (Präkonzepte) über naturwissenschaftliche Phänomene konstruiert Diese Präkonzepte stimmen oft nicht mit dem neuen, wissenschaftlichen Wissen überein Präkonzepte können den Aufbau angemessener Vorstellungen behindern (tief verwurzelte Konzepte – Schüler sehen nur das, was sie gemäß ihrer Präkonzepte sehen wollen) Lernenden fällt es schwer bereits vorhandene, nicht belastete Vorstellungen aufzugeben (geben Sicherheit) und adäquate Vorstellungen zu entwickeln Wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind, wird das verändern von Vorstellungen leichter 3. Konzeptveränderung entsprechen PIAGET’s Äquilibrationstheorie: Weiche Konzeptveränderung – weak conceptual change (Assimilation): Anpassung der Umwelt an die eigenen Denkstrukturen – ich gebe mein altes Konzept nicht auf, sondern passe es dem neuen Konzept an Harte Konzeptveränderung – radical conceptual change (Akkomodation): Das alte Konzept wird zugunsten des Neuen aufgegeben Äquilibration = Herstellen eines Gleichgewichts; aus der Erfahrung eines Ungleichgewichts, eines Widerspruchs oder kognitiven Konflikts entsteht der Impuls zur Veränderung 4. Voraussetzungen für conceptual change: Unzufriedenheit mit bisherigen Vorstellungen: eigene Konzepte haben Grenzen, Neue Konzepte müssen verständlich sein und in ihrer Anwendung fruchtbar sein Neue Vorstellungen müssen von dem Lernenden als wirklich überzeugend erkannt werden entwickeltes Konzept hat sich in der Anwendung bewährt Konzeptveränderungen erfordern Mühe & Anstrengungsbereitschaft – Motivation Ko-Konstruktionen: kooperative Denkprozesse in problemhaltigen, möglichst authentischen Lernsituationen – Austausch zwischen Lernenden fördert Aufbau individuellen Wissens, d. h. Formulierungen, Überzeugungen des Anderen zwingen zum Nachdenken über die eigenen Vorstellungen und Konzepte Die Konzeptveränderung ist kein plötzlicher Wechsel von einem alten zu einem neuen wissenschaftlichen Konzept, sondern ein gradueller, kontextabhängiger und häufig langwieriger Prozess – klassischer „kalter“ conceptual change Ansatz Bedeutung: Motivation, sozialer Status, Randbedingungen für konzeptuelle Veränderung - „heiße“ conceptual change Theorie Merke: Conceptual Change orientierter Unterricht macht die Unzulänglichkeit vorhandener Vorstellungen bewusst bzw. greift ausbaufähige Vorstellungen auf, um diese weiter zu differenzieren. GENETISCHES LERNEN VS. CONCEPTUAL CHANGE Gemeinsamkeiten und Unterschiede 1. Gemeinsamkeiten Beide Ansätze gehen davon aus, dass Lernen eine Veränderung bedeutet Das Verstehen baut auf vorhandenem Wissen / Präkonzepte auf (genetisch, Enracinement) Förderungen der kognitiven Aktivität der Lernenden (Unterrichtsprinzip) – verstehendes Lernen kann nicht „vermittelt“ werden Ziel beider Ansätze: aktive Umstrukturierung vorhandener relevanter Vorstellungen hin zu wissenschaftlich angemessenen Vorstellungen Aufgabe des Lehrers: Lernprozesse unterstützen, strukturieren – begleiten nicht „eintrichtern“ (sokratisch, scaffolding) Konzeptveränderungen sind langwierige Prozesse und brauchen Zeit – Zeit und Muse sind Voraussetzung für produktives Denken 2. Unterschiede Beide Ansätze stammen aus unterschiedlichen Didaktiktraditionen Beim Conceptual Change Ansatz handelt es sich um einen eher kognitions-theoretischen Ansatz Das genetische Lernen kann eher als eine Möglichkeit zur praktischen Umsetzung dieses Ansatzes gesehen werden AUSWIRKUNGEN AUF DIE PRAXIS Genetisches Lernen „Mit dem Kind von der Sache aus, die für das Kind die Sache ist“ Rolle des Schülers Kind in seiner Lebensumwelt steht im Mittelpunkt Aktives, selbstständiges Lernen Austausch mit anderen Mitschülern (KoKommunikation / Interaktion) (kritische) Reflexion eigener Vorstellungen und Vermutungen Eigene Urteilsbildung – produktive Findigkeit Interesse zeigen Teilnahme am Unterrichtsgespräch und am gem. Weg zum Verstehen Rolle des Lehrers Integration von Pädagogik, Didaktik und fachliches Wissen Kenntnis über die Schüler – kein Ausfragen So viel Hilfe wie notwendig und so wenig Unterstützung wie möglich o Gute Strukturierung o Zeitplanung o Offene Fragen – keine vorgefertigten Antworten o Unterstützende Gesprächsführung sind selbst in der Lage ihre Fragen zu beantworten o Mitgestalter (gemeinsam mit den Kindern) o Stumme Impulse setzen o Provozieren und herausfordern von Begründungen o Beobachten und zuhören o „Anpassung“ der Lernumgebung an die Schüler Lernmaterial Erstaunliche Phänomene aus dem Alltagswissen der Kinder, muss als Ausgangspunkt vorhanden sein Ausgewählte Materialien (exemplarisch, wenn möglich) Conceptual Change Einsicht des Lehrers in die vorhandene Präkonzepte der Schüler Lehrkraft arrangiert konfrontierende Situationen, um kognitive Konflikte herbeizuführen Lernstoff muss für den Schüler bedeutsam sein und für Betroffenheit sorgen das neu Erlernte soll zum Verstehen alltäglicher Phänomene beitragen; es soll ein Stück Alltagswelt erhellen und in verschiedenen Kontexten anwendbar sein (Möller) ein angenehmes und anregendes (von Vertrauen und Akzeptanz geprägtes) Unterrichtsklima (Beziehung zw. Schüler – Lehrer; Schüler – Schüler bedeutsam für die Interaktion und Kooperation) Hilfestellung des Lehrers: er macht den Schülern die Unzulänglichkeiten vorhandener Vorstellungen bewusst bzw. greift ausbaufähige Vorstellungen auf, um diese weiter zu differenzieren (ohne Verlust des Vertrauens und ohne Angriff der Persönlichkeit) Wechsel zwischen induktiven und deduktiven Prozessen, Wechsel zwischen Gruppen- und Einzelarbeit Irrtümer / Fehler / Umwege sind wichtige Schritte im Lernprozess zum Verstehen Kontrolle und Beobachten des eigenen Lernprozesses (Innehalten, nachdenken)