Deutsch-japansische wissenschaftliche Zusammenarbeit im Zeitalter

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Deutsch-japanische wissenschaftliche
Zusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung Hat die Debatte über die doppelte
Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa
Auswirkungen auf die Deutsch-Japanischen
Beziehungen?
(Folie 1)
Prof. Dr. György Széll
Universität Osnabrück
Direktor der Forschungsstelle Japan
Vortrag an der Staatlichen Universität Jokohama
am 12. Oktober 1999
György Széll - Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung - Hat die Debatte über
die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa Auswirkungen auf die deutsch-japanischen Beziehungen?
Gliederung (Folie 2)
0.
DANKSAGUNG
3
I.
DIE STADT OSNABRÜCK (FOLIE 3)
3
II.
DIE UNIVERSITÄT OSNABRÜCK (FOLIE 4)
5
III. DEUTSCH-JAPANISCHE WISSENSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT
6
IV. DIE DEBATTE ÜBER DIE DOPPELTE STAATSBÜRGERSCHAFT IN
DEUTSCHLAND UND EUROPA
8
1.
2.
3.
V.
Historische Hintergründe
8
Deutsch-japanische Gemeinsamkeiten
2.1 Der deutsche Sonderweg
2.2 Der japanische Sonderweg
9
10
11
Das Ende des Nationalstaats?!
12
DIE ZUKUNFT DER DEUTSCH-JAPANISCHEN BEZIEHUNGEN
2
13
György Széll - Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung - Hat die Debatte über
die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa Auswirkungen auf die deutsch-japanischen Beziehungen?
0.
Danksagung
Ich möchte mich zu allererst bei der Staatlichen Universität Jokohama ganz herzlich
dafür bedanken, heute bei Ihnen sprechen zu können.
Ich überbringe Ihnen dabei die ganz herzlichen Grüsse der Universität und der Stadt
Osnabrück. Wie Sie vielleicht wissen, haben unsere beiden Universitäten seit
diesem Jahr einen Kooperationsvertrag, um unsere bereits bestehenden guten
Beziehungen weiter auszubauen und zu intensivieren. Mein Vortrag hier und heute
soll dazu ein Beitrag sein.
Wir haben neben der Kooperation mit Ihnen und über 50 Hochschulen weltweit noch
zwei weitere Kooperationen in Japan seit 1998. Das sind die Hitotsubashi Universität
und die Chuô Universität.
Mein Vortrag ist nach diesen Vorbemerkungen und Danksagungen in fünf weitere
Teile untergliedert:
1. Die Stadt Osnabrück
2. Die Universität Osnabrück
3. Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit
4. Die Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa
5. Die Zukunft der Deutsch-Japanischen Beziehungen.
I.
Die Stadt Osnabrück (Folie 3)
Ich bin gebeten worden, auch einige Sätze über die Stadt Osnabrück zu sagen, da
die meisten von Ihnen wahrscheinlich heute zum ersten Mal diesen Namen hören.
Osnabrück ist nicht eine so bedeutende Stadt wie Jokohama und hat mit ihren
Vororten nur etwa 350.000 Einwohner. Sie liegt damit hinsichtlich der
Bevölkerungszahl etwa an fünfzigster Stelle unter den deutschen Städten und wird
als Grossstadt bezeichnet, wenn sie auch unter den Grossstädten nur mittelgross ist.
(Die Bundesrepublik hat etwa 82 Millionen Einwohner seit der Vereinigung 1990.)
Die Stadt Osnabrück ist eine relativ alte Stadt. Sie wurde bereits 780 AD im Rahmen
der Christianisierung gegen die ungläubigen Heiden (die „niederen Sachsen“, d.h. im
Flachland gelegen) von Karl dem Grossen gegründet und bald Bischofssitz.
Die Stadt ist seit der Frühen Neuzeit immer absolut durchschnittlich gewesen.
Zumeist gab es keine ganz grossen Ereignisse und Persönlichkeiten. Mit einigen
Ausnahmen, auf die ich gleich noch zu sprechen komme. Diese Durchschnittlichkeit
in jeder statistischen Hinsicht, was Alter, Geschlecht, Einkommen, Bildung und
sonstige Daten betrifft, ist natürlich ideal für einen Sozialwissenschaftler. Er braucht
überhaupt nicht zu reisen, um repräsentative Erhebungen durchzuführen. Und die
meisten Osnabrücker sind ”gut zufrieden” in dieser ”Mittelmässigkeit”.
Dieser Charakterzug ist wohl auch sympathisch für Japaner, die ja alle meinen, sie
gehören zur Mittelschicht, selbst der Kaiser. Und deswegen fühlen sich auch unsere
japanischen Gäste, von denen rund dreissig beschlossen haben, länger bei uns zu
bleiben, sicherlich bei uns so wohl. Um ihnen das Leben noch angenehmer zu
machen, haben wir seit 1988 eine Gesellschaft der Deutsch-Japanischen
Freundschaft, deren Co-Vorsitzender und Geschäftsführer ich bin.
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György Széll - Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung - Hat die Debatte über
die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa Auswirkungen auf die deutsch-japanischen Beziehungen?
Osnabrück war bis zur Säkularisierung 1805 als Fürstbistum ein eigener Staat im
Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Danach gehörte es zum Königreich
Hannover (von dem die britischen Könige abstammen) und wurde dann 1866
preussisch. Seit 1945 ist Osnabrück die drittgrösste Stadt Niedersachsens, deren
Hauptstadt Hannover ist - etwa 140 km östlich. Der jetzige Bundeskanzler Gerhard
Schröder war bis zu seiner Wahl 1998 acht Jahre lang Ministerpräsident, d.h.
”Landesvater” in Hannover.
Hinsichtlich der Kultur sind drei Osnabrücker Persönlichkeiten zu nennen, die
teilweise Weltrang haben und damit Osnabrück aus der allgemeinen Mittelmässigkeit
herausheben.
Ich möchte dabei mit Justus Möser beginnen, ein Staatsmann und Schriftsteller im
18. Jahrhundert, der die moderne Staatslehre entwickelt hat, die später von Lorenz
von Stein weiterentwickelt wurde, die wiederum sehr grossen Einfluss in der
Meijirestauration und damit auf das moderne Japan hatte.
An zweiter Stelle ist der auf tragische Weise im Konzentrationslager 1944
umgebrachte Maler Felix Nussbaum zu erwähnen. Er hat auf bedrückende Weise in
seinen Bildern im Exil das Schicksal der verfolgten Juden unter dem
Nationalsozialismus - und damit stellvertretend aller verfolgten Menschen - zum
Ausdruck gebracht. Felix Nussbaum ist bis heute noch nicht weltberühmt, obwohl er
es aufgrund des Inhalts seiner Bilder auf jeden Fall verdient. Aber auch grosse Kunst
braucht bekanntlich einen ihr angemessenen Rahmen. Der wurde im letzten Jahr mit
der Einweihung des Nussbaum-Museums durch den Bundespräsidenten anlässlich
des 100. Geburtstags von Nussbaum geschaffen. Das Museum ist das für mich
beeindruckendste, das ich je im Leben gesehen habe. Und ich habe viele gesehen.
Es wurde von dem amerikanischen Architekten Libeskind in Einbeziehung des
Lebenswegs von Felix Nussbaum gestaltet. Es ist der erste Bau dieses
Stararchitekten - der auch das Jüdische Museum in Berlin konzipiert hat -, das seiner
Bestimmung übergeben worden ist. Dieses Museum ist allein eine Reise nach
Osnabrück wert.
An dritter Stelle möchte ich den Schriftsteller Erich Maria Remarque nennen, der
durch seinen Antikriegsroman ”Im Westen nichts Neues” weltberühmt wurde und
dessen zahlreiche Bücher verfilmt und in alle Weltsprachen - natürlich auch ins
Japanische - übersetzt worden sind. Die Universität und die Stadt haben vor 15
Jahren ein Erich Maria Remarque-Zentrum eingerichtet, das seit diesem Jahr zum
Friedenszentrum erweitert worden ist. Dieses Zentrum organisiert seit über einem
Jahrzehnt mehrmals jährlich Friedensgespräche. Im August konnte ich den früheren
stellvertretenden UN-Generalsekretär, Herrn Akashi, in Tokio treffen und ihn
einladen, am 2. Mai 2000 in Osnabrück einen Vortrag zum Thema ”Japans
friedenserhaltende Rolle im 21. Jahrhundert” zu halten. (Im nächsten Jahr findet das
Grossereignis ”Japan in Deutschland” statt.)
Damit komme ich zu dem Ereignis, das Osnabrück einen Platz in der Weltgeschichte
verschafft hat: Der Westfälische Frieden von 1648. Er beendete den Dreissigjährigen
Krieg, einen der furchtbarsten europäischen Kriege, in dem ein Drittel der deutschen
Bevölkerung starb und von dem sich Deutschland fast zweihundert Jahre nicht
erholen konnte. Der Frieden wurde in Münster und Osnabrück am 24. und 25.
Oktober 1648 unterzeichnet. Das heisst, dass selbst nach fünfjährigen
Friedensverhandlungen ein so grosses Misstrauen zwischen den Kriegsparteien
herrschte, dass sie sich nicht an einen Tisch setzten, sondern die Urkunde von
einem Friedensreiter von Münster nach Osnabrück gebracht werden musste.
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György Széll - Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung - Hat die Debatte über
die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa Auswirkungen auf die deutsch-japanischen Beziehungen?
Dieser Friedensvertrag schuf das moderne Völkerrecht und den modernen
Nationalstaat - mit all seinen Vor- und Nachteilen, auf die ich noch später
zurückkommen werde. Und seine Prinzipien liegen auch der Charta der Vereinten
Nationen zugrunde. Dieser Frieden gilt noch heute als Vermächtnis für die Stadt und
ihre Universität.
Und im Sinne dieses Vermächtnisses hat Osnabrück seit über 30 Jahren zahlreiche
Städtepartnerschaften abgeschlossen, insbesondere mit den früheren
Kriegsgegnern Haarlem (NL), Angers (Frankreich), Derby (England), Twer
(Russland) aber auch mit Städten der Dritten Welt (Zamboanga/Philippinen,
Canakkale/Türkei).
Neben der Kultur ist die Landschaft zu erwähnen. Es herrscht ein mildes Klima mit
viel Regen, der die Landschaft fruchtbar und grün macht. Osnabrück ist sehr schön
zwischen dem Wiehengebirge und dem Teutoburger Wald gelegen: eine typisch
deutsche Mittelgebirgslandschaft voller Wälder, Seen und Bädern (Onsen). Die
Grenze der Niederlande ist etwa 60 km westlich, die Nordsee etwa 100 km nördlich
entfernt.
Um diese schöne Natur zu erhalten und dem ”Waldsterben” eine Ende zu bereiten,
müssen wir auch Frieden mit der Natur machen. Osnabrück bemüht sich deswegen,
die deutsche Umwelthauptstadt zu sein. Behilflich dabei ist die Deutsche
Bundesstiftung Umwelt, die ihren Sitz in Osnabrück hat und die grösste europäische
Umweltstiftung ist. Sie arbeitet natürlich eng mit der Universität zusammen.
II.
Die Universität Osnabrück (Folie 4)
Sie ist eine relativ junge Universität und wurde formell im Dezember 1973 gegründet.
Sie nahm im Sommer 1974 ihren Lehrbetrieb mit ca. 2.800 Studenten auf.
Deswegen feiern wir auch dieses Jahr unser fünfundzwanzigjähriges Jubiläum. Fast
alle Universitäten in Deutschland sind staatliche Universitäten. Aufgrund der
Kulturautonomie der Bundesländer sind es Landesuniversitäten.
Aber es gab schon einmal eine Universität in Osnabrück, die als kaiserliche
katholische Universität 1628 gegründet wurde. (Insofern könnte man 1973 eher von
einer Wiedereröffnung sprechen.) Sie wurde jedoch 1633 bei der Eroberung durch
die Schweden geschlossen. Trotzdem gab es aber immer eine akademische
Tradition in Osnabrück, sogar schon sehr viel länger. Gleichzeitig mit der Stadt
wurde auch ein Gymnasium, das Carolinum, gegründet. Es ist damit das älteste
Gymnasium Deutschlands und wurde später zur Akademie ausgebaut.
Die Universität Osnabrück hat zur Zeit 13.000 Studenten, davon 700 Doktoranden
und etwa 1.500 Lehrende und Forscher. Wir sind dabei nach deutschen Massstäben
eine mittelgrosse Universität und haben alle Fakultäten vertreten bis auf Medizin,
jedoch statt dessen Gesundheitswissenschaften - was sicherlich fortschrittlicher und
zukunftsversprechender ist: nicht reparieren sondern prävenieren. Wir sind
besonders stolz darauf, dass wir als eine der wenigen Universitäten auch eigene
Abteilungen für Musik und Kunst haben. Wir besitzen also eigene Orchester und
Chöre sowie ständig Kunstausstellungen.
Als Forschungsschwerpunkte sind international bedeutend: Grenzflächenphysik,
Biophysik (Nobelpreisverdächtig), Kognitionswissenschaft, Migrationsforschung,
Europaforschung und Frühe Neuzeit. Es gibt auch eine kleine Forschungsstelle
Japan, die ich 1994 gegründet habe - die einzige ihrer Art in ganz Niedersachsen.
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György Széll - Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung - Hat die Debatte über
die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa Auswirkungen auf die deutsch-japanischen Beziehungen?
Seit vier Jahren gibt es auch in Osnabrück eine Kooperationsstelle HochschulenGewerkschaften, die die Verbindung zur Praxis und den ArbeitnehmerInnen herstellt.
1998 organisierten wir anlässlich des 350. Jahrestags des Westfälischen Friedens
den internationalen Kongress ”Wege zum sozialen Frieden in Europa”, da der
soziale Frieden unseres Erachtens angesichts von Fremdenfeindlichkeit,
Arbeitslosigkeit und Abbau der sozialen Sicherheit derzeit am meisten gefährdet ist.
Seit Gründung der Universität besteht eine enge Zusammenarbeit mit der
Fachhochschule Osnabrück, die mit etwa 6.000 Studierenden und den technischen
und landwirtschaftlichen Fachbereichen eine wichtige Ergänzung im Studienangebot
darstellt. Die Tendenz geht in Richtung einer Regionalhochschule, die
grenzüberschreitend benachbarte niederländische Hochschulen mit einbezieht.
Damit sind wir auch bei einem wichtigen Aspekt von Globalisierung. Das deutsche
Hochschulwesen befindet sich derzeit in seinem massivsten Umbruch seit den
Humboldtschen Reformen vor fast genau zweihundert Jahren. Einerseits geht es
darum, den Elfenbeinturm endgültig zu verlassen, aber auch den Anspruch, jeweils
eine Komplettuniversität anbieten zu wollen, nicht mehr aufrecht erhalten zu können.
Dies hat auch mit der zunehmenden Internationalisierung, insbesondere im
Zusammenhang mit der Europäischen Integration zu tun.
Osnabrück hat bisher nur einen Ausländeranteil von 4 % an den Studierenden inklusive Bildungsinländer. Der Durchschnitt in der Bundesrepublik beträgt 8 %.
Dieser Anteil soll auf insgesamt mindestens 10 % angehoben werden.
Wege dazu sind
1. Bachelor und Master-Programme einzuführen (Osnabrück hat als erste
Universität in Deutschland den Bachelor und Master of Social Science in diesem
Jahr eingeführt!) und
2. Kreditpunkte (ECTS = European Credit Transfer System).
In einem Punkt hinken wir aber sogar hinter Japan hinterher - obwohl Japan ja
bekanntlich die geringste Zahl von ausländischen Studenten aller Industrieländer hat
- nämlich die Zahl der ausländischen Hochschullehrer. Das liegt zweifelsohne an
unserem ”Beamtenstatus”. Dieser alte Zopf soll aber auch demnächst abgeschnitten
werden.
Ich will jetzt gar nicht viel mehr dazu erzählen, da man sich ja heute sehr einfach
über world-wide web informieren kann. Natürlich haben wir eine Homepage, auch
auf Englisch. Die Adresse ist ganz einfach: WWW.UOS.DE
III.
Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit
Diese Zusammenarbeit lässt insgesamt sicher noch sehr zu wünschen übrig. Zwar
ist noch unter der Kohl-Regierung ein Abkommen über wissenschaftlich-technische
Zusammenarbeit abgeschlossen worden, jedoch ist angesichts der jeweiligen
Regierungswechsel bis heute nichts Substantielles erfolgt. Japan und Deutschland
sind weiterhin im Hinblick auf wissenschaftliche Zusammenarbeit in erster Linie auf
die USA orientiert. Der Austausch mit den USA beträgt jeweils ein Mehrfaches
gegenüber dem zwischen Deutschland und Japan. Hinzu kommt, dass einerseits
aufgrund der europäischen Integration und des mittlerweile 5. Rahmenprogramms
für Forschung und Entwicklung der Europäischen Union und andererseits des
Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus eine stärkere Orientierung
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György Széll - Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung - Hat die Debatte über
die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa Auswirkungen auf die deutsch-japanischen Beziehungen?
Deutschlands auf die europäischen Nachbarn stattfindet. Ähnliches gilt im übrigen ja
auch für Japan im Hinblick auf seine japanischen Nachbarn.
Hinsichtlich der gegenseitigen Kenntnisse in Schulen und Hochschulen ist aber zu
bemerken, dass Japan hier gegenüber Deutschland einen grossen Vorsprung hat.
Die Kenntnisse über Japan sind in Deutschland nur als katastrophal zu bezeichnen.
Aufgrund der Bemühungen vieler Einzelner und der Unterstützung durch zahlreiche
Institutionen hat sich diese Situation in den letzten Jahren zum Glück merklich
verbessert. So kann man inzwischen an einigen deutschen Gymnasien japanisch
lernen. Auch viele Volkshochschulen bieten Japanischkurse an. Und viele Studenten
zeigen mittlerweile Interesse an der japanischen Sprache und Kultur. So hat sich die
Zahl der erfolgreichen japanischen Sprachprüfungen und Japanologen in den letzten
Jahren vervielfacht. Es wird auch nicht mehr nur das traditionelle, sondern auch
gerade das moderne Japanbild vermittelt. So gibt es hervorragende Japanzentren in
Berlin, Tübingen, Heidelberg, Duisburg, Bochum, Hamburg, Halle und Bremen.
Leider bieten die deutschen und japanischen Unternehmen noch nicht genügend
Arbeitsplätze für Absolventen, die sich auf Japan spezialisiert haben.
Auch die Zahl der Hochschulpartnerschaften hat in letzter Zeit enorm zugenommen.
Die Bundesregierung hat vor rund zehn Jahren das Deutsche Institut für
Japanstudien in Tokio eingerichtet. Und die Volkswagen-Stiftung hat über mehrere
Jahre ein Grossprojekt über das japanische Bildungs- und Beschäftigungssystem
gefördert, dessen Ergebnisse soeben in 10 Bänden erschienen sind. Darüber hinaus
ist seit Jahrzehnten die Ostasiatische Gesellschaft (OAG) in Tokio aktiv und
beherbergt in ihren Räumen das hiesige Goethe-Institut sowie das Büro des
Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD).
In diesem Zusammenhang sind auch die vor rund 10 Jahren entstandene Deutschjapanische sozialwissenschaftliche Vereinigung sowie die Vereinigung für
sozialwissenschaftliche Japanforschung, die jährliche Kongresse veranstalten, deren
Ergebnisse veröffentlicht werden, anzuführen. Sie haben jeweils mehrere hundert
Mitglieder.
Der DAAD bietet seit mehreren Jahren das Programm Sprache und Praxis mit sehr
grossem Erfolg an: auf 15 Plätze jährlich bewerben sich fast 300 Personen. Und für
Hochschullehrer gibt es zusammen mit der Japan Society for the Promotion of
Science einen Hochschullehreraustausch. Von den dreissig Plätzen wurden nach
anfänglicher Euphorie im letzten Jahr nicht mehr alle wahrgenommen.
Der Deutsche Akademische Austauschdienst sendet zudem seit Jahrzehnten
Hunderte von Lektoren nach Japan. Die grösste Zahl. Aber in Japan ging das
Interesse an Deutsch zurück. War früher das Lernen der deutschen Sprache als
zweite Fremdsprache für die meisten Studierenden quasi obligatorisch, so ist diese
Verpflichtung seit drei Jahren entfallen.
Auf der anderen Seite ist insbesondere die Japan Foundation mit ihrem Japanischen
Kulturinstitut in Köln und ihren zahlreichen Programmen zu erwähnen. Besonders
hilfreich ist das Library Support Programm, von dem wir auch in Osnabrück
mehrfach profitieren konnten.
Seit der Krise der Bubble-Economy ist das öffentliche Interesse aber auch das
wissenschaftliche Interesse an Japan in Deutschland wieder zurückgegangen.
Was also die deutsche Seite betrifft, so müssen wir feststellen, dass die
Beziehungen zu Japan - obwohl es ja bekanntlich die zweitgrösste Wirtschaftsmacht
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György Széll - Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung - Hat die Debatte über
die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa Auswirkungen auf die deutsch-japanischen Beziehungen?
der Welt ist, oder zumindest die drittgrösste, wenn man die EU als Einheit nimmt auf wissenschaftlicher Seite, sowohl was den Inhalt der Forschung als auch die
Zusammenarbeit betrifft, leider noch immer eine Aussenseiterrolle einnehmen. Und
in Japan ist es auch nicht viel besser. Es gibt also gemeinsam viel zu tun, um die
Zusammenarbeit zu verbessern.
IV.
Die Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft in
Deutschland und Europa
Mit der Abteilung Erziehungswissenschaften habe ich mich auf das Thema geeinigt.
Warum ist nun dieses Thema unseres Erachtens für Sie interessant und wichtig? Ich
denke, diese Diskussion ist exemplarisch für eine sich wandelnde Welt im Zeitalter
der Globalisierung. Man kann nicht die Märkte öffnen und die Menschen draussen
stehen lassen. So hat am 20. August 1999 die japanische Hohe Kommissarin der
Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Sadako Ogata, davor gewarnt, dass Japan nicht
als eine ”monoethnische Insel” überleben werde.
Wenden wir uns zuerst den Erscheinungen zu: Düsseldorf hat die grösste japanische
Kolonie in Europa. Man spricht von ”Klein Japan”. Die Zahl der deutsch-japanischen
Ehen hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Hier stellt sich die Frage der
doppelten Staatsbürgerschaft ganz konkret.
1.
Historische Hintergründe
Kommen wir zum Grundsätzlichen: Wir alle sind eine Mischung seit die ersten
Menschen sich vor etwa 120.000 Jahren auf der Erde entwickelten. Die frühesten
Spuren sind in Afrika entdeckt worden.
Alle Menschen lebten seit Urzeiten in Gemeinschaften. Diese hatten immer eine
Aussen- und Innenbeziehung. So entstand der Begriff und das Bild des ”Fremden”.
Im Griechischen ”Barbar” genannt, jemand, dessen Sprache man nicht versteht.
Die moderne Gesellschaft entstand in den Städten. Sie entstanden durch
Einwanderung. Ein Bürger (citoyen, citizen) ist Mitglied einer Gemeinde, einer Stadt.
Er wird zum Mitglied durch die Verleihung der Bürgerrechte. Diese Bürgerrechte
waren an die Voraussetzung von Besitz, von Grundbesitz geknüpft. Daraus entstand
dann die ”bürgerliche Gesellschaft”. Sofern man Grundbesitz an mehreren Orten
hatte, konnte man auch ohne Probleme Bürger mehrerer Städte sein.
Interessanterweise verleihen in föderalen Systemen - wie die Schweiz sowie die
Bundesrepubliken Deutschland und Österreich - die Gemeinden die Staatsbürgerschaft (sic!). Selbst die Begriffe im Deutschen sind signifikant. Ich weiss nicht,
ob diese Feinheiten im Japanischen nachvollziehbar sind.
Kommen wir nun zum modernen Nationalstaat. Er ist eine europäische Erfindung
und wurde durch Kriege realisiert. Ebenso wie die japanische Einigung. Ein
moderner Nationalstaat benötigt ein einheitliches Militär und eine Bürokratie. Diese
können nur funktionieren mit einer einheitlichen Sprache. Von daher entstand der
Drang zur Vereinheitlichung. Die moderne Staatstheorie geht von einem
einheitlichen Staatsvolk, einem Staatsterritorium und einer einheitlichen Staatsgewalt
aus, die das Gewaltmonopol hat.
Die Schulpflicht wurde zur notwendigen Grundlage des modernen Nationalstaats in
mehrerer Hinsicht:
8
György Széll - Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung - Hat die Debatte über
die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa Auswirkungen auf die deutsch-japanischen Beziehungen?

Vereinheitlichung der Sprache (gegenüber Dialekten und
Minderheitssprachen)

Schaffung einer ideologischen Grundlage (Nationalismus), häufig in
Verbindung mit Religion, einer einheitlichen Staatsreligion

Vermittlung der Grundqualifikationen für die moderne Wirtschaft (Lesen,
Schreiben, Rechnen).
Nach der Französischen Revolution wurde dort erstmals die allgemeine Wehrpflicht
eingeführt. Sie schuf die Loyalität zum neuen Nationalstaat, der nicht mehr über die
Monarchie und Gottesgnadentum legitimiert war. (Seltsamerweise ist es gerade
Frankreich, das noch bis heute seine Fremdenlegion hat, die in erster Linie für die
schmutzigen Kriege im kolonialen oder postkolonialen Imperium zuständig ist.)
Im Deutschen Reich - wenn auch noch unter der Monarchie - wurde das Militär zur
”Schule der Nation”. Für die imperialen Bestrebungen wurde es notwendig, um - wie
es in Frankreich hiess, die ”mission civilisatrice” zu verwirklichen - sich eine
Nationalideologie zuzulegen, die diese imperiale Expansion rechtfertigte. Zur
Steigerung wurde dann der moderne Rassismus entwickelt, auf einem pervertierten
Darwinismus aufbauend: ”Survival of the fittest”.
Ergebnis dieser Entwicklungen war, dass Staatsbürgerschaft zu einer exklusiven und
ausschliesslichen Angelegenheit wurde: Man konnte nur einem Herrn, einer
Ideologie dienen.
Gleichzeitig verwickelte sich diese Nationalideologie in ihre eigenen Widersprüche.
Alle grossen Nationen heutzutage sind notwendigerweise Einwanderungs- oder/und
Eroberungsnationen. Während des französischen Imperiums mussten die Afrikaner
in den Kolonien ”Nos ancêtres les Gaulois” lernen und durften nicht ihre eigene
Sprache sprechen, hatten jedoch nicht die vollen Bürgerrechte. Zu welchen Folgen
dies führen kann, zeigt die Tragödie des Fundamentalismus insbesondere in
Algerien - der interessanterweise von einem Soziologieprofessor an der Universität
Algier begründet wurde.
In England wurde von Forschern vor 10 Jahren das Buch ”The Empire strikes back!”
veröffentlicht. England wird ebenfalls von Rassenunruhen heimgesucht. Das ist
offensichtlich der Preis für einen derart widersprüchlichen Weg, alle Vorteile eines
Imperiums, eines Commonwealth, aber nicht ggf. seine Nachteile - z.B. volle
Integration der Einwanderer - akzeptieren zu wollen.
2.
Deutsch-japanische Gemeinsamkeiten
Es gibt bekanntlich viele Gemeinsamkeiten in der deutschen und japanischen
Geschichte. Ich will mich auf einige wenige, für unser Thema wichtige beschränken:

bei beiden handelt es sich um ”verspätete Nationen” im modernen
Nationenbildungsprozess - im Vergleich zu den in dieser Hinsicht führenden
Nationen England, Frankreich, die Niederlande und die USA.

Aufgrund dessen haben beide sehr starke autoritäre, gar faschistische oder
faschistoide Herrschaftssysteme auf rassistischer Grundlage ausgebildet; die
Staatsbürgerschaft ist durch Rassenzugehörigkeit definiert (”ius sanguis”
versus ”ius solis”, die beiden einzigen Länder der Welt neben Israel, die
diesem Prinzip noch frönen!).
9
György Széll - Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung - Hat die Debatte über
die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa Auswirkungen auf die deutsch-japanischen Beziehungen?

Diese autoritären Regime wiederum führten zur Niederlage im Zweiten
Weltkrieg gegen die ”frühen” modernen Nationen (s.o.).

Dank der Entmilitarisierung konnten beide Nationen ihre Kräfte voll auf den
Wiederaufbau und die Fortentwicklung ihrer Produktivsysteme konzentrieren,
anstatt sich wie die ”frühen” Nationen weiterhin in imperialen Kriegen zu
verzetteln. Dies führte zu den berühmten Wirtschaftswundern.

Hinzu kommen zwei weitere wichtige Elemente: um den Wettlauf der
Industrialisierung mit den ”frühen” Nationen zu gewinnen, bauten beide die
jeweils besten Berufsausbildungssysteme auf, die die bestmögliche Qualität
garantieren, und

aufbauend auf früheren Gemeinschaftsstrukturen und einem
Harmoniestreben entstanden Betriebsgemeinschaften, die auf
Sozialpartnerschaft, Partizipation und Mitbestimmung beruhen. Dies führte
wiederum u.a. zu extrem niedriger Streikhäufigkeit.
2.1
Der deutsche Sonderweg
Der deutsche Wiederaufbau wurde durch den Kalten Krieg und die deutsche Teilung
nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt. Marshallplan und Koreakrieg förderten die
Wirtschaftsentwicklung. Bis zum Mauerbau 1961 konnte der Arbeitskräftebedarf nachdem bereits 10 Millionen Flüchtlinge (Leute wie ich) nach dem Kriege integriert
worden waren - im wesentlichen durch den Zuzug aus Ostdeutschland (ca. 1,5
Million Personen) befriedigt werden. Danach gab es für das deutsche Kapital drei
Optionen: entweder Gastarbeiter oder Rationalisierung oder Auslandsinvestitionen.
Man entschloss sich für das erstere. Nicht weil man menschenfreundlich war,
sondern weil es billiger zu sein schien. Es kamen aber nicht nur Arbeiter, sondern
Menschen, mit ihren Familien. Mittlerweile sind es offiziell über 8 Millionen
Ausländer. Die grösste Gruppe sind die Türken mit über zwei Millionen, davon
wiederum ein grosser Teil Kurden.
Nicht mitgerechnet sind dabei fast drei Millionen Aussiedler, die seit 1986 unter der
Kohl-Regierung nach Deutschland kamen. Dabei handelt es sich nach deutschem
Staatsbürgerschaftsrecht um deutsche, selbst wenn sie kein Deutsch sprechen und
ihre Vorfahren bereits vor Jahrhunderten ausgewandert sind, aber eine ”arische
Grossmutter” haben. Hinzu kommen noch fast eine Million Asylbewerber und
Bürgerkriegsflüchtlinge sowie mindestes eine Million Illegale. Insgesamt leben also
mindestens 13 Millionen Ausländer im kulturellen Sinn in Deutschland, fast zwanzig
Prozent der Bevölkerung. Trotzdem versteht sich Deutschland bisher nicht als
Einwanderungsland.
Das führt zu Problemen, denn aufgrund der demographischen Entwicklung –
insbesondere in den Neuen Bundesländern – wird die bundesdeutsche Bevölkerung
bis zum Jahre 2030 um etwa ein Drittel zurückgehen. Insbesondere der Teil der
aktiven Bevölkerung wird dramatisch abnehmen. Aufgrund dessen werden das
Produktivsystem und das Sozialsystem zusammenbrechen, sofern sich nicht
entweder das reproduktive Verhalten ändert oder eine massive Einwanderung
erfolgt. Man geht davon aus, dass etwa 250.000 Einwanderer jährlich notwendig
sind.
In der Vergangenheit hat man das Problem – wie gesagt – durch Gastarbeiter oder
Aussiedler zu lösen versucht. Dies wird nicht mehr möglich sein. Inwieweit die
Erweiterung der EU aus den neuen Mitgliedsstaaten in Mittel- und Osteuropa zu
10
György Széll - Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung - Hat die Debatte über
die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa Auswirkungen auf die deutsch-japanischen Beziehungen?
einem Ausgleich führt, ist höchst zweifelhaft, denn diese Länder haben selber einen
negativen Bevölkerungssaldo.
Im Rahmen der Europäischen Integration wird diskutiert, dass es für das
Staatsbürgerrecht und die Einwanderung nur noch eine europäische und keine
deutsche Lösung mehr geben kann. Um dieses Verständnis gegen neonationalistische Tendenzen durchzusetzen, kommt der Intelligenz und der
Wissenschaft und natürlich auch den Medien eine besondere Verantwortung zu. Die
Europäische Union hat bereits in ihrem 4. Rahmenprogramm für Forschung im
Schwerpunkt “Targeted Socio-Economic Research” einen besonderen Akzent auf
diese Fragen gelegt.
Das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität
Osnabrück, an dem auch Frau Sakamoto zu Gast war, ist das führende seiner Art in
der Bundesrepublik, wenn nicht gar Europas. Dort konzentrieren wir uns auf die
Beratung der Regierungen für ein solches neues Staatsbürger- und
Einwanderungsrecht. Seit Jahren haben wir für die doppelte Staatsbürgerschaft als
ein Mittel zur besseren Integration und als Abgehen von einem rassistischen
Verständnis plädiert.
Dieses Recht ist nun durch die neue rot-grüne Bundesregierung ansatzweise
verwirklicht worden. In dieser Bundesregierung haben führende Repräsentanten der
sogenannten 1968er-Bewegung eine führende Rolle, so der Bundeskanzler
Schröder, der Innenminister Schily, der Aussenminister Fischer.
Leider kann man die Auseinandersetzung noch nicht als im Sinne der Aufklärung
gewonnen betrachten. Im März 1999 hat die CDU, die mit Kanzler Kohl die
Regierung von 1982 bis 1998 stellte, mit einer Antiausländerkampagne im
Bundesland Hessen die Landtagswahlen gewonnen. Und in Ostdeutschland, wo die
Arbeitslosigkeit teilweise 40 % und mehr erreicht, sind besonders viele junge Männer
rechtsradikal. In Sachsen-Anhalt hat im Mai 1998 die rechtsradikale DVU auf Anhieb
13 % der Stimmen erreicht.
2.2
Der japanische Sonderweg
Ich will nur kurz kontrastierend auf die Situation in Japan eingehen, da Sie diese
Situation ja sehr viel besser kennen als ich. Ich denke, die wesentlichen Momente in
Hinblick auf das Staatsbürgerverständnis und die Einwanderung sind für Japan:

Prägend für das Selbstverständnis Japans war sicherlich seine fast
dreihundertjährige Abschliessung. Dies war sicherlich begründet und ja auch
erfolgreich, um sich gegen die europäische Kolonialisierung zu wehren. Damit
war Japan zusammen mit dem Jemen und Äthiopien das einzige Land, das nicht
vom Westen kolonisiert worden ist.

Leider hat Japan dann nicht nur die fortschrittlichen Seiten der europäischamerikanischen Kultur übernommen, sondern auch seine imperialistischen
Bestrebungen kopiert.

Als passende Ideologie wurde das “Japanischsein” entwickelt.

Das Debakel der Niederlage im Zweiten Weltkrieg wurde bis heute – anders als
zum grossen Teil in Deutschland – nicht im Sinne der Aufklärung verarbeitet.
Statt dessen flüchtet man sich gerne in die Opferrolle der Atombombenabwürfe in
Hiroshima und Nagasaki. Der japanische “Historikerstreit” ist m.E. signifikant für
diese Sichtweise. Schuld an dieser mangelnden Aufarbeitung der Vergangenheit
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György Széll - Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung - Hat die Debatte über
die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa Auswirkungen auf die deutsch-japanischen Beziehungen?
– die ja weiterhin zu Belastungen mit den Nachbarn führt – ist hauptsächlich der
Kalte Krieg gewesen (auch dieser hat in Deutschland zum Abbruch der
Entnazifizierung geführt und zu Schadensersatzansprüchen, die heute noch nicht
befriedigt sind).

Die Angst vor Überfremdung war ein wesentlicher Grund dafür, dass Japan in
seiner Boomphase und dem damit verbundenen Bedarf an Arbeitskräften einen
anderen Weg als Deutschland eingeschlagen hat: 1. Rationalisierung und 2.
Kapitalexport. Das letztere war nicht ganz freiwillig. Es diente auch dazu,
Zollhürden und Einfuhrbeschränkungen in den Absatzmärkten der USA und
Europas zu umgehen.

Zugelassen wurden nur hochqualifizierte Arbeitskräfte und Entertainerinnen,
jedoch jeweils nur befristet. Eine Einbürgerung in Japan ist heute immer noch fast
unmöglich (ausser man ist ein berühmter Sumo-Kämpfer).

Die fast eine Million Koreaner und ihre Abkommen, die seit dem Krieg und zuvor
in Japan leben, sind noch immer Menschen zweiter Klasse.

Und selbst die Japano-Brasilianer, die ganz offensichtlich japanischer
Abstammung sind, werden – anders als der gleichartige Fall in Deutschland –
nicht voll integriert. Dies erinnert mich an das Schicksal von japanischen
Schiffbrüchigen in der Tokugawa-Zeit, die an fremden Ufern Rettung fanden, bei
ihrer Rückkehr wie Fremde behandelt und umgebracht wurden.

Seltsamerweise ist die Definition von “Japanischsein”, japanisch zu sprechen.
Dies ist kein rassistischer Ansatz. Er kann im Prinzip von jedem Menschen erfüllt
werden und bildet also eine Grundlage für eine multikulturelle und multiethnische
Gesellschaft.

Genau dies belegen neue Forschungen über die japanische Urbevölkerung.
Anders als in dem vorherrschenden Nationalmythos einer dauerhaften
Besiedlung haben diese Forschungen ergeben, dass die Mehrheit der heutigen
Japaner in ihrer DNA-Struktur am ähnlichsten zu den und am engsten verwandt
mit den Koreanern sind. (Japan Times 31. August 1999, S. 19)
Obwohl Japan weiterhin in absoluten Summen die meiste Entwicklungshilfe gibt,
wenn auch derzeit mit sinkender Tendenz und zumeist als Koppelgeschäft, so ist
dies die einzige Form der internationalen Solidarität und Humanität und
entsprechend den bisherigen Prinzipien der weitgehenden Abschliessung. Japan
Incorporated Limited?
Zwar ist die Zahl der aufgenommenen Asylbewerber zwischen 1997 und 1998 von
einem auf 16 “explodiert”, aber dies ist im Vergleich mit europäischen oder gar
afrikanischen Nationen der berühmte “Tropfen auf dem heissen Stein”. (Dass die
USA in dieser Hinsicht auch nicht viel besser sind, mag kein Trost sein.) Aber
immerhin könnte diese Steigerung möglicherweise als Trendwende verstanden
werden.
3.
Das Ende des Nationalstaats?!
Wie viele Jugendliche sind heute noch bereit, für ”Gott und Vaterland” zu sterben?
Entgegen der Tendenz zum Aufbau der Nationalstaaten, die die internationalen
Beziehungen heute bestimmen, gab es gleichzeitig auch Gegenbewegungen seit
dem Beginn der Frühen Neuzeit. Humanismus und später die Aufklärung haben das
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György Széll - Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung - Hat die Debatte über
die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa Auswirkungen auf die deutsch-japanischen Beziehungen?
Prinzip von allgemeinen Menschenrechten, wie sie sich unter den Slogans von
„Liberté, Egalité, Fraternité“ in der Französischen Revolution von 1789 teilweise
durchsetzten und manifestierten, formuliert – auch wenn es in Frankreich selber
zahlreiche Rückfälle gab und gibt. Diese universellen Prinzipien - auf dem Naturrecht
basierend - führten auch zu Vorstellungen des Kosmopolitismus. Viele Gelehrte und
Wissenschaftler vertreten diese Positionen, denn Wissenschaft ist aus Prinzip
universell, obwohl es auch Versuche seitens der Politik gab, nationale oder
ideologische Wissenschaft – wie die „deutsche Physik“ oder eine „sozialistische
Biologie“ – zu institutionalisieren. Manche Thesen über die Einzigartigkeit Japans
und des japanischen Denkens gehören auch in diese Kategorie politischen
Wunschdenkens. Das schliesst nicht aus, dass es nationale, kulturelle, regionale
und lokale Besonderheiten gibt - gerade das macht Sozial- und
Geisteswissenschaften nötig und so interessant.
Auch die Religionen sind in der Regel nicht national oder rassistisch, da sie ebenfalls
eine universelle Gültigkeit und Ausbreitung beanspruchen. Wiederum gibt es aber
auch hier Versuche, Nationalreligionen oder –kirchen zu institutionalisieren.
Die neuere Forschung belegt nun aber eindeutig, dass Ethnizitäten und Nationen
sozial konstruierte Gemeinschaften sind und keine „natürlichen“ Erscheinungen. Das
bedeutet, dass sie entstehen, veränderbar und gestaltbar sind. In einer Welt der
Globalisierung gibt es keinen Platz mehr für Überlegenheitsdünkel einzelner
Gruppen, Völker oder Nationen. Ein friedliches Zusammenleben ist wie im
Gesellschaftsleben nur auf dem Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen und
Völker möglich. Die Vereinten Nationen versuchen, dieses Prinzip mehr oder
weniger erfolgreich durchzusetzen.
Aus diesem Gedanken ist auch der Multikulturalismus zuerst in Kanada vor etwa
dreissig Jahren entstanden. Er basiert auch auf dem Prinzip, dass Fortschritt – ob
technisch, wissenschaftlich, künstlerisch, ökonomisch, sozial – nur durch den
„Zusammenprall“ von Kulturen stattfindet - sei es durch einzelne Individuen oder
ganze Gesellschaftsgruppen oder Völker. Die Menschheit wäre noch heute in der
Steinzeit, wenn dieser Kulturaustausch nicht stattgefunden hätte und stattfindet. Und
kultureller Austausch, das sind immer Menschen.
Insofern bildet die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft in Deutschland
einen Bruch mit der national-chauvinistischen Vergangenheit. Sie verhindert eine
Unterwerfung unter irrationale Staatsvorstellungen, einer „raison d’État“. Statt
uneingeschränkter, bornierter Vaterlandsliebe sollte als Grundlage für
Staatsbürgerschaft ein Pragmatismus auf der Grundlage der allgemeinen
Menschenrechte gelten. Für alle Menschen auf dem Territorium eines Staates in
gleicher Weise. Das schliesst auch das Wahlrecht ein.
Die USA haben dieses liberale Prinzip schon seit langem praktiziert und sind
vielleicht gerade deswegen „Ichiban“ in der Welt und zum Vorbild für viele Menschen
geworden.
V.
Die Zukunft der deutsch-japanischen Beziehungen
Beide Nationen streben seit mehreren Jahren einen ständigen Sitz im UNSicherheitsrat an. Dieses Streben, das möglicherweise bald befriedigt wird,
beinhaltet aber auch eine grössere Verantwortung im Weltmassstab.
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György Széll - Deutsch-japanische wissenschaftliche Zusammenarbeit im Zeitalter der Globalisierung - Hat die Debatte über
die doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland und Europa Auswirkungen auf die deutsch-japanischen Beziehungen?
In erster Linie steht die Zusammenarbeit bei der Bewältigung der beiden grössten
Menschheitsprobleme:

Der Frieden

Die Umwelt
Interessanterweise hat die United Nations University in Tokio eben diese beiden
Fragestellungen zu ihren beiden Forschungsfeldern bestimmt.
Hier gilt also anders als in den technischen oder naturwissenschaftlichen Bereichen,
wo es um Produkte und Märkte geht, anstatt Konkurrenz Kooperation zu betreiben.
Nur so sind diese Probleme, welche die gesamte Zukunft und das Überleben der
Menschheit betreffen, zu bewältigen. Einzelne Nationen, mögen sie noch so mächtig
sein, sind dabei zu schwach. Die USA zeigen sich aus bestimmten Gründen – sie
sind ja Ichiban – kaum daran interessiert und haben die Forschung in diesen
Bereichen eher behindert als gefördert.
Deutschland und Japan haben gerade aufgrund ihrer Vergangenheit und als
führende Industrienationen hier eine besondere Verantwortung und Chance, ihren
Anspruch auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat damit inhaltlich und moralisch zu
begründen.
Die Zusammenarbeit an gemeinsamen Projekten ist zu intensivieren. Themen und
Unterstützung gibt es genug. Ein wirksames Mittel dazu ist der
Wissenschaftleraustausch, wie er ja auch gerade durch unseren
Kooperationsvertrag gefördert wird. Die Hochschullehrer, die in ihrer Arbeit Lehre
und Forschung und gesellschaftliches Engagement verbinden, sind besonders
aufgefordert. An dieser Stelle möchte ich eine Anregung weitergeben, die ich auch
bereits Herrn Akashi, dem früheren stellvertretenden UN-Generalsekretär gegenüber
formuliert habe. Ich hielte es für sinnvoll, wenn eine Deutsch-japanische
Historikerkommission (nach französischem und polnischem Vorbild) gebildet würde,
um gemeinsame Geschichtsbücher für Schulen und Hochschulen zu erarbeiten. Das
wäre ein wichtiger Beitrag zum Frieden. Denn ohne Verarbeitung der Geschichte –
siehe die derzeitigen Dramen in Südosteuropa – ist ein friedliches Zusammenleben
der Völker nicht möglich.
Und schliesslich eine weitere Anregung, die ich auch Herrn Akashi gegenüber
formuliert habe und die m.E. einen wesentlichen Beitrag zum Frieden in
Westeuropa in den letzten 54 Jahren geleistet hat, ist der Jugendaustausch. Dieser
sollte zwischen Deutschland und Japan aber auch mit Japans Nachbarn intensiviert
werden. Voraussetzung dafür sind natürlich erst einmal Sprachkenntnisse und zu
allererst Englisch als moderne „lingua franca“. Das bedeutet zum Beispiel, dass
jeder Studierende möglichst ein Jahr in einer anderen Kultur verbracht haben sollte.
Auch dafür bietet unser Kooperationsvertrag gute Voraussetzungen.
Damit möchte ich meine Ausführungen heute schliessen und meinem Wunsch
Ausdruck geben, dass ich möglichst viele von Ihnen demnächst in Osnabrück
begrüssen kann und dass viele Osnabrücker bald in ihre schöne und interessante
Stadt Jokohama kommen.
Arigato gozaimashta! SAYONARA in Osnabrück!
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