8. Globalisierung – Lokalisierung – Eine Welt? Über den Umgang mit einem Generalschlagwort 1. Einführung „Globalisierung“ ist ein Generalschlagwort geworden. Es ist eine Zeitsignatur für eine neue Weltordnung, ein ideologischer Schlüsselbegriff für den Mythos einer freien Weltwirtschaft und für die große Erzählung von universalen Menschenrechten und der Wohlfahrt der Menschen. (Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie sieht in dem Wort „Globalisierung“ dagegen ein Plastikwort, das zu einem unbrauchbaren Schlagwort verkommen sei; er schlägt vor, das Wort „global“ durch den Terminus transnational zu ersetzen, von weltweiten Verflechtungen regionaler Kräfte zu sprechen und auf holistische Betrachtungsweisen ganz zu verzichten. Leggewie 2003, 16f) Der Begriff ist so mächtig, wirksam und umfassend, dass er geordnet und in seinen Ebenen (Ökonomie, Kultur, Kommunikation und politische Arena) ausgeleuchtet werden muss, ehe man selber damit arbeiten oder gar Lernende damit befassen kann. Im folgenden Abschnitt 2. wird der Begriff der Sache nach entfaltet; im Abschnitt 3. wird in einer Synopse der letzten Dekade (1994-2003) die fachdidaktische Situation im Spiegel wichtiger unterrichtspraktischer Zeitschriften vorgestellt; darin wird die Geschichtlichkeit der jeweiligen Grundüberzeugungen zum Thema erkennbar und außerdem die Fülle der bereits vorliegenden praktischen Themenideen und Ansätze vorgeführt. In einem letzten Abschnitt 4. wird die Sachebene in Form eines Quaders dargestellt, damit die Komplexität des Begriffs überschau- und bearbeitbar und das Schlagwort vom „vernetzenden Denken“ praktisch wird (vgl. Kapitel 10). Außerdem werden die didaktischen Grundideen vom Perspektivenwechsel und vom „verständnisintensiven Lernen“ skizziert; damit sollen die älteren Bemühungen um einen rein stoff- und wissensbasierten Unterricht abgelöst werden (vgl. Kapitel 5.), die der Dynamik der Ereignisse und der modernen Lernpsychologie nicht immer gerecht werden konnten. „Globalisierung“ begegnet uns auf Schritt und Tritt, bei Mangos und Victoriabarsch auf dem Markt, beim internationalen Terrorismus, bei Welthandelskonferenzen, bei der täglichen Börsenmeldung, bei AIDS und SARS – fast kann man sagen: Es gibt nichts mehr, was nicht mit allem zusammen hängt; und alles ändert seine Identität. Der Fußballtrainer Ewald Lienen hat das so erfahren: „Ich habe einen Trainerfreund in Brasilien, der mir eine E-mail geschickt hat: ‚Die Welt wird auf den Kopf gestellt! Der beste Golfer ist ein Schwarzer, der beste Rapper ist ein Weißer, und Deutschland nimmt nicht am Krieg teil!’ “ (Ewald Lienen: Der Rasen muss brennen. In: Die Zeit 19/2003) Das ist die Ebene, auf der sich die „Sachen“ selbst objektiv verändern. Eine andere Ebene ist die Veränderung, die durch die Beobachtung der Dinge, also im Kontakt mit Subjekten entsteht, die man so oder auch anders sehen kann. Zum Beispiel in folgender kleiner Erzählung: „In Coney Island, am Strand von New York, gibt es den berühmten Vergnügungspark. Sie haben da ein neues Spiel, es heißt: ‚Shoot the Freak’. Der Freak ist ein Typ in Motorradklamotten, der in einem verwilderten Garten herumläuft. Man steht hinter einer Mauer und bekommt ein Gewehr. Aus dem Gewehr kommen Plastikkugeln. Wenn eine Kugel den Freak trifft, taumelt er und gibt röchelnde Geräusche von sich. Ein 1 Ansager sagt: ‚Es ist neu. Es ist Fun. Sie schießen auf ein echtes lebendes Ziel. Fünf Schuss, zwei Dollar.’ Früher haben die deutschen Eltern zu ihren Kindern gesagt: ‚Alles, was in Amerika gerade modern ist, kommt früher oder später auch bei uns an’. Amerika war sozusagen Deutschland, nur zeitverschoben. Das sagt man heute nicht mehr. Früher war Amerika die Zukunft, heute ist es ein anderes Land, mit eigenen Sitten und einer eigenen Zukunft. Ungefähr wie Belize oder der Kongo.’ “ (Harald Martenstein: Freiheit. In: Die Zeit 19/2003, 48) Hier verändert sich ein Land, eine Sache, in der Anschauung und Erfahrung durch ein Subjekt. Und diese Veränderung der Wahrnehmung geht keineswegs einfach in die Richtung der Uniformierung und Homogenisierung; es wird nicht einfach alles nur „westlich“ oder „Amerika“ oder „McDonald“; die USA können uns in Teilen so fremd werden wie Belize oder der Kongo. „Globalisierung ist kein Schicksal, eine andere Welt ist möglich“, sagt die transnationale Gegenfeuer-Bewegung attac (www.attac.de). Wer „Globalisierung“ verstehen oder auch nur bewusst betrachten will, muss also nicht nur den Standort der Betrachtung, sondern auch der Gegenstand selbst neu definieren. Man kann nicht nur von Ökonomie und Verflechtung und vom Maßstab der europäischen Stadt und Gesellschaft ausgehen und alles andere als katastrophisch bewerten: „Bis heute gilt die europäische Stadt als beispielhafte Exportmodell. Als Hort bürgerlicher Emanzipation, kultureller Vielfalt und ökonomischer Innovation spiegelt sie die für überlegen gehaltene europäische Zivilisationsgeschichte. Doch erst das industrielle Zeitalter und die Kolonialisierung verbreiten das europäische Stadtmodell weltweit. Diese geschichtlich kurze Vorherrschaft der Städte Europas und Nordamerikas als Leitmodelle für globale Urbanisierungsprozesse geht nun zu Ende. – Für das Jahr 2015 prognostiziert die Uno 33 Megastädte mit je mehr als acht Millionen Einwohnern. Infolge ihrer kaum steuerbaren Dynamik entstehen in den MegaCities neue urbane Kulturen und städtische Landschaften, die das städtebauliche, kulturelle und organisatorische Modell der europäischen Stadt auf eine eher unbedeutende regionale Variante zurückstufen.“ (Learning from* 2003) In Kapitel 9. wird eine Unterrichtseinheit zur globalen Verflechtung und zur Lebenswelt in den großen Städten entworfen. Es kommt dabei darauf an, nicht einfach die regulierte Stadtgesellschaft als Norm und städtisches Leben jenseits der europäisch verstandenen civitas als Katastrophe ohne vorgeprägte Bilder zu erkennen. Es sind – jedenfalls für uns - widersprüchliche Realitäten zwischen höchster Funktionalität in vermeintlich irregulären Ökonomien und Gesellschaftsformen, überlagert oft von staatlicher Unterrückung, Staatszerfall und mafiöser Gewalt. Mit der Globalisierung kehren diese Formen durch die Hintertür auch in die europäischen Städte ein: sweatshops, Armutsökonomien (Tauschbörsen, „Bring´s und Kauf´s“), Korruption, Mafia, Videoüberwachung und no-go-areas lassen die Norm der bürgerlich geordneten Stadt als konstruiertes Selbstbild deutlich werden. Dies wird sich mit der Osterweiterung der EU und den neuen Außengrenzen zur Ukraine, zu Weißrussland, später evtl. auch zum Irak etc. verstärken. In der Berliner Ausstellung „Learning from* - Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation“ (mit einem anregenden Katalog, 2003) werden diese Formen und Lebensweisen als „dirty realism“ präsentiert, in nachmachbaren Videosequenzen, Computertrailers, Installationen: Die großen informellen Märkte mit Autoteilen und Kofferhändlerinnen in Osteuropa, die 2 Gececondus und der öffentliche Verkehr in der 13-Millionen-Stadt Istanbul, das hochkomplexe System der informellen Essensverteilung durch 5.000 „Dabbawallas“ in Bombay, das Außerkraftsetzen der Bürgerrechte und der Privatsphäre in Nordirland, der extreme Umbruchsprozess in afrikanischen Städten nach dem offiziellen Ende der Apartheid u.a. 2. Globale Verflechtungen auf der Ebene der Sachen Seit 1989 (und vermutlich weiter im Gefolge des 11.September 2001) ist die Umwälzung der Weltordnung – wieder einmal – derart fundamental, dass zumindest eine Bestandsaufnahme des status quo, ein neuer Atlas nötig geworden ist. Grenzen, Lagebeziehungen und Einflussräume, ökonomische, politische und soziale Fixpunkte, die Geopolitik haben sich vielfach bewegt. Es ist eine andere Welt entstanden; Begriffe wie „Erste“ oder „Dritte Welt“ oder „Ostasiatischer Kulturerdteil“ sind veraltet und erschließen die Verhältnisse nicht mehr (vgl. Kapitel 4.). Dies gilt auch für tradierte regionale Weltbilder in Schullehrplänen. Karten und Kartogramme, Statistiken und Grafiken sind das erste Werkzeug in der Geographie für eine solche Bestandsaufnahme. „Geographie ist nicht nur die Königsdisziplin der Strategen und Eroberer, sondern auch die Kunst, die Welt zu enthüllen, verborgene Tendenzen und verdeckte Veränderungen fassbar zu machen. Als – gleichsam zweidimensionales – Miniaturmodell erlauben es Atlanten, den Planeten zu ‚lesen’: sprich: auf dem Schachbrett der Welt die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kräfteverhältnisse, die Grenzstreitigkeiten und Gebietsanspruche zu erkennen, die natürlichen Ressourcen zu verorten und die Wanderungsbewegungen der Völker wahrzunehmen.“ (Ignacio Ramonet: Im Labyrinth der Gegenwart. In: Atlas der Globalisierung. Berlin 2003, 5) In dieser Definition von Geographie stecken die drei wichtigsten Aspekte der „Weltbeschreibung“: (1) Es gibt verschiedene Dinge (Ressourcen, Wanderungsbewegungen etc.) wahrzunehmen und zu verorten. (2) Es gilt auch Verborgenes/ Verdecktes zu enthüllen. (3) Die Welt ist zu verstehen wie ein Schachspiel; die Figuren und Regeln bedeuten für sich genommen gar nichts, sondern erst etwas im konkreten Spiel, und womöglich in jedem Spiel etwas anderes. (So ist z.B. die Schach-Königin für sich genommen nur ein Stück Holz oder Elfenbein; nach den Regeln ist sie zwar die theoretisch Mächtigste, aber nicht automatisch auch die praktisch Stärkste; was sie kann, entscheidet sich je nach Akteuren und nach dem konkreten Spielprozess.) - Alle drei Aspekte gehören zum „Lesen“ der Welt; dies ist aber mehr als Kartierung oder Zählung, es ist (fast) eine Kunst. Die Dynamik der Globalisierung hat unzählige Bereiche verändert bzw. ist durch diese verändert worden - unterschiedlich jedoch an verschiedenen Schauplätzen und wiederum unterschiedlich je nach Perspektive der Akteure. Wir sollten z.B. nicht nur sagen: „Klimawandel“, sondern „Klimawandel aus der Sicht der USA – genauer: der derzeitigen Regierung der USA“ (oder Australiens etc.). Wir differenzieren noch weiter: „Klimawandel in seinen Folgen für den Mittleren Westen der USA“ (oder für das Nildelta oder für Sibirien etc.). Folgende Symptome kann man u.a. nennen (vgl. Ramonet im „Atlas der Globalisierung“ 2003): 3 Durchbruch des Internets Krise oder Ende des Sozialismus und des Kommunismus Renaissance des Nationalismus Ethnische und religiöse Spannungen Migration neue Pandämien Umweltgefährdung und länderübergreifende ökologische Bewegungen regierungsunabhängige Organisationen (NGOs) reduzierte Autonomie der Regierungen Bedeutungsverlust der politischen Parteien Macht von Finanzmärkten und Weltkonzernen Wuchern von Steuerparadiesen Verschuldung der Länder des Südens Entwicklung einer „Triade“ oder Hegemonie der Hypermacht USA Eine Bestandsaufnahme, ein Atlas der Globalisierung müsste die entsprechenden genannten Betrachtungsweisen erlauben und die notwendigen Dinge auswählen, aus dem Übermaß des Wissens. Die Auswahl ist eine Setzung, ein Teil der Konstruktion eines Weltbildes. Im „Atlas der Globalisierung“ von Le Monde Diplomatique (2003) sind dies 7 SachKomplexe (mit jeweils 5 bis 8 Unterthemen), die die Globalisierung und ihre Folgen beschreiben und enthüllen. (Man kann dies vor dem Hintergrund der Debatte um die sog. „epochaltypischen Schlüsselprobleme“ nach Wolfgang Klafki (1995) betrachten, die auch in der Geographiedidaktik eine bedeutende Rolle spielen.) Welt als Globales Dorf (Vernetzte Welt im Kommunikationszeitalter, Luftverkehr und Schifffahrt, Sprachen und ihre Verbreitung, Weltmarkt der Medien, Wachstumsbranche Massentourismus) Globaler Markt (Natürliche Ressourcen, Weltumspannende Handelsströme, das dominante Dreieck, Bedeutung der Auslandsdirektinvestitionen, Schuldenfalle, Macht der Multis, Finanzmärkte und spekulative Geldströme, Korruption, Geldwäsche, Steuerparadiese) Rüstung und internationale Strukturen (Verteidigungsausgaben, Waffenarsenale und Militärbündnisse, Waffenhandel, Internationale Organisationen und Militärbündnisse, Internationale Gerichtsbarkeit, Netz der Non Governemental Organisations (NGOs)) Technologischer Fortschritt und soziale Verwerfungen (Bruttosozialprodukt und globales Wohlstandsgefälle, Lebensmittelkonsum und Energieverbrauch, Konzentration des Reichtums, Demographische Entwicklung, Globale Migrationsströme, Gefängnisse und Häftlinge) Gefährdete Umwelt (Verstädterung, Klimawandel, Gesundheit als öffentliches Gut, alte und neue Umweltkatastrophen) Demokratie und sozialer Fortschritt (Alphabetisierung und Weltwissen, Volkssouveränität, Freiheitsrechte und politische Gefangene, Arbeitsnehmerrechte und Gewerkschaft, Arbeit und ungleiche Bezahlung, Frauen und Rechte, Frauen und politische Teilhabe, Homosexualität) Umkämpfte Welt (Entkolonialisierung und Zerfall der Großreiche, alte und neue Konflikte, Identitätspolitik und Rassismus, Glaube und seine Instrumentalisierung, Flüchtlinge, Vertriebene und Asylsuchende) 4 Diese Liste, die natürlich wie jede andere eine Entscheidung über Prioritäten der Betrachtung, eben über die Schlüsselprobleme unserer Epoche ist, bildet objektive Ergebnisse der Globalisierung ab: Wie verlaufen die Datenautobahnen, wie sind weltweit die Internetanschlüsse verteilt, wie verlaufen die Verkehrsströme, wie verlaufen die Tourismusströme, von wo nach wo gehen die Einnahmen usw. Das sind hochinteressante Bilder, die die Welt in ganz andere Regionen und Größenverhältnisse und Prozesse versetzen als flächen- und formtreue Karten. (Jedes der oben genannten Stichworte ist im „Atlas der Globalisierung“, 2003, mit einer Karte und Doppelseite Text und Grafiken vertreten.) Ebenso spannend ist es, wenn man diese und andere Themen nach Schauplätzen betrachtet und dies aus der Sicht verschiedener Akteure. Beispiel: Aus Sicht von Osteuropa ist die Marktwirtschaft ein Schock mit gnadenlosem Zwang zur Transformation; zugleich werden einige Länder zerrissen in Bürgerkriegen aus eingefrorenen Konflikten, sie erleben einen Kulturschock und müssen sich als Staaten und Bündnispartner völlig neu konstituieren. Hier geht es nicht einfach um eine Karte mit Kapital- oder Warenströmen. Auch Europa insgesamt muss sich neu konstituieren und sieht die Globalisierung anders als die USA. Russland wiederum hat eigene Probleme innerhalb der Globalisierungsdynamik, es ist keine Supermacht mehr, hat seine eigene Hemisphäre verloren, hat schwere Probleme mit den alten Nachbarn und Vasallen, mit Ethnien und Religionen und mit den Resten der alten Nomenklatura und den Nachfolgern, den „bisnismen“ und der Mafia. Japan hat eine eigene Sicht; diese ist von der Chinas gänzlich unterschieden; von der des restlichen Mittel- und Ostasiens (Korea, Afghanistan etc.) ganz zu schweigen. Der Nahe Osten hat viel Erdöl, wenig Wasser, eigene und langjährige Probleme mit Ethnien, Religion, nation-building; diese unterscheiden sich von den Problemen im Maghreb und vom Subsahara-Afrika. (Auch zum Blickwinkel „Schauplätze und Akteure“ gibt es zahlreiche Doppelseiten im „Atlas der Globalisierung“) Kurz: Alle leben unter demselben Himmel (Globalisierung), haben aber ganz verschiedene Horizonte. Für die analytische Ansprache anspruchvoller Sachverhalte hat Leggewie (2003, 19) ein Tableau zusammengestellt, in dem die Aspekte eines erweiterten Globalisierungsbegriffs erkennbar gemacht und in einen Zusammenhang gebracht werden. Schaubild Leggewie 2003, 19 Aspekte eines erweiterten Globalisierungsbegriffs (Leggewie 2003, 19) 5 Dieses Schaubild hilft, geordnet zu analysieren und zu verorten, worüber gerade geredet wird. 1. Globalisierung hat zwei Dimensionen: Weltwirtschaftliche Verflechtung und Ideologie/ Lebensweisen. 2. Die neue Weltgesellschaft wird geschaffen durch einen globalen Kommunikationsraum. 3. Die neue Weltkultur ist gekennzeichnet durch kulturelle Wechselwirkungen (Kreolisierung). 4. Die Tendenz zur Entgrenzung (Bedeutungsrückgang von Nation und Staat, Privatisierungen) wird durch neue Politiken beantwortet: Bürgerrechtsbewegungen, transnationales Regieren, lokale Agenden, soziale Bewegungen. 5. Schlüsselbegriff könnte das Kunstwort Glokalisierung sein, um die Durchdringung örtlicher Lebenswelten durch Prozesse in einem transnationalen Referenzrahmen (in geringerem Maße auch umgekehrt) zu kennzeichnen. (Ein zweites Schaubild bei Leggewie (2003, 53) ist den Typen der Globalisierungskritik gewidmet, die zwischen den politischen Koordinaten „rechts/ links“ sowie zwischen Verweigerung („Exit“) und Einmischung („Voice“) eingeordnet werden können.) Man sieht allein aus der Länge der Liste der Sachen, der Schauplätze, der Akteure und an der Komplexität der Analyse (Sachebenen, Oberfläche, Verborgenes, konkrete einzelne „Spiele“, Lesen und Bewerten/ Kritik aus subjektiven Blickwinkeln), wie groß die didaktische Herausforderung ist. 3.„Globales Lernen“? – Synopse der fachdidaktischen Diskussion (1994-2003) Mit dem Ende des Kalten Krieges, mit der ersten UNO-Konferenz über „Umwelt und Entwicklung“ in Rio de Janeiro und der späteren „Agenda ´21“, mit einem Buchtitel wie „Erdpolitik“ (E.U.v.Weizsäcker 1994) etc. begann auch eine neue Ära in der Geographiedidaktik. Sie löste die Themen „Dritte Welt“ und „Grenzen des Wachstums“ in einer Politischen Weltkunde ab und suchte nach der „Schule für eine Welt“, mit der „Vermittlung einer globalen Weltsicht“ und der „Hinführung zum persönlichen Urteilen und Handeln in persönlicher Perspektive“. „Die Fähigkeit, Sachlagen und Probleme in einem weltweiten und ganzheitlichen Zusammenhang zu sehen, bezieht sich nicht auf einzelne Themenbereiche. Sie ist vielmehr eine Perspektive des Denkens, Urteilens, Fühlens und Handelns“ (Chr.Graf-Zumstieg 1994, 35, zit. bei Kroß 1995, 9). Ein Vertreter des Paradigmas vom „Globalen Lernen“ bzw. von der „Bewahrung der Erde“ in der Geographiedidaktik war um 1995 Eberhard Kroß. Es fällt in eine Zeit, in der noch die Hoffnung auf ein „Ende der Geschichte“ im Sinne von Krieg und Fremdherrschaft keimte und die gesuchte Orientierung vom „Global Denken – Lokal Handeln“ auf die „Eine Welt“ richtete. Diese Utopie ist inzwischen gründlich zerstört, gerade auch durch den Versuch, eine „Neue Weltordnung“ zu schaffen (George Bush d.Ä.). Kroß schrieb damals: „Eine Kugel hat kein Zentrum, und mit dem Ende des kalten Krieges sind auch universale Herrschaftsansprüche geschwunden. Herrschen tun heute Weltmarkt und die Auswirkungen globaler Zusammenhänge. (...) Wir sind es den Jugendlichen schuldig, sie auf die Grenzenlosigkeit der modernen Welt vorzubereiten, in der alles mit allem verknüpft ist und alles auf alles Auswirkungen hat. (...) Globales Denken will ebenso gelernt sein wie das lokale Handeln, dessen Voraussetzung es ist.“ (1995, 3) Dieser Text leitet das Themenheft „Global denken, lokal handeln“ ein (geographie heute 134/ 1995), das die Hoffnung nährte, die Konzepte von internationaler Erziehung, 6 Dritte-Welt-Pädagogik oder Umwelterziehung „überzeugend zusammenzuführen“. „Im Gefolge der Europäisierung der Welt bildete sich eine Weltkultur heraus. Politisch begreift sich die Staatenwelt spätestens seit der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges als Schicksalsgemeinschaft“ (Kroß 1995, 4) Diese Idee einer Welt ohne universale Herrschaftsansprüche und im Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft im Gefolge einer (europäisierten) Weltkultur steht für eine Idee von Weltinnenpolitik, die spätestens seit dem Scheitern der „Kyoto“-Klimapolitik zum Schutz der Erdatmosphäre, seit dem Scheitern eines Welt-Strafgerichtshofs, seit dem 11.September 2001 und mit dem Auftritt der USA im Mittleren Osten (Afghanistan, Irak) wieder beendet ist. Es erscheint in heutiger Sicht auch nicht mehr ausreichend, den „Weltmarkt“ als „heute herrschend“ zu bezeichnen; denn die Akteure sind durchaus nicht nur eine invisible hand, sondern - zumindest teilweise - erkenn- und benennbar. Die zweite Idee neben der von der „Einen Welt“ bezieht sich auf das „Lokale Handeln“, nach der Formel der ersten großen UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro. Kroß leitet das genannte Themenheft 1995 mit folgendem Aufmacher ein: „Die gute Nachricht stand auf der ersten Seite der WAZ: In Brasilien waren die Einfuhrzölle ermäßigt worden. Deshalb sollten im Bochumer Opel-Werk Sonderschichten gefahren werden, um die zu erwartende Autonachfrage zu befriedigen. Wenige Tage später hatte die Regierung das Gesetz aufgehoben und alles blieb beim Alten. Dennoch zeigt diese Nachricht exemplarisch, wie unsere Welt zusammengewachsen ist. Was in fernen Regionen passiert, ist für mich hier in Deutschland von existentieller Bedeutung. Ein Unterricht über die Eine Welt will solche Zusammenhänge bewusst machen und dazu anleiten, die angemessenen Konsequenzen zu ziehen.“ (Kroß 1995, 4) Angemessene Konsequenzen? Gerade dieses Beispiel zeigt, dass das Erkennen existentiell bedeutsamer Verflechtungen keineswegs dazu anleitet, „angemessen“ zu handeln. Was sollen der Opel-Arbeiter oder seine Familie oder sein Lebensmittelhändler denn Angemessenes tun? Die dritte Idee innerhalb dieses Paradigmas von der „Bewahrung der Erde“ mit den Schwerpunkten „ökologischen und interkulturellen Lernens“ lautet: „Der Geographieunterricht sollte mit dazu beitragen, dass die Lösung unserer globalen Zukunftsprobleme konsensorientiert und nicht konfliktorientiert erfolgt“ (Kroß 1995, 6). Dieser Beitrag zur „Bewahrung der Erde“ ist sehr optimistisch kalkuliert. Bescheidener formuliert es Kroß selber, wenn er die methodischen Konsequenzen für den Unterricht anmahnt: „Ein zentraler Punkt ist, Akzeptanz für die Themenstellungen zu schaffen. Wichtigkeit ist längst kein Kriterium dafür, dass andere auch hinhören. Schon deshalb sollte man vermeiden, über Bedrohliches und Bedrückendes den Zugang zu suchen. Positives Handeln ist durch Lob oder sonstige Belohnung zu stärken. (...) In dem Maß, in dem Menschen ein Gefühl für die Schönheit der Natur entwickeln, belohnen sie sich selber, wenn sie weniger Abfall oder Lärm verursachen.“ (Kroß 1995, 6). Es zeigt sich, dass es im Unterricht nicht direkt um die Bewahrung der Erde, sondern um die Schüler geht und dass hier ein pädagogisches Minimum („Hinhören“) mit einer recht asketischen Emphase („sich selber belohnen“) verbunden wird. 7 Neben diesem erzieherischen Aspekt tritt der Aspekt der Sachstruktur und Komplexität. Kroß schlägt für die Strukturierung der Variablen und die Vernetzungen das „Netz der Weltprobleme“ von Fritjof Capra (1990, 36f) vor: „Es erschlägt einen zunächst einmal. Steigt man jedoch mit einem Teilphänomen ein (1), verfolgt einige Konsequenzen (2) und forscht nach Ursachen (3), dann ergibt sich bereits eine übersichtliche Struktur, die schließlich durch Beleuchtung der Hintergründe und die Einbeziehung von Wertpositionen (4) didaktisch fruchtbar gemacht kann“ (Kroß 1995, 6) Grafik Capra, Ausschnitt) Es stellt sich die Frage, wie Schüler (oder Bürger) durch ihr Handeln in ein solches Netz eingreifen können; nach dem Schema von Capra wären dies z.B. die Elemente Wettrüstung, Belastung der Lebensgrundlagen, Zerstörung der Ozonschicht, Verseuchung von Boden und Wasser. Kroß entwirft ein ideales Modell von Wissen, Einstellungen und Handlungen, die in ein Wechselverhältnis treten. Idealerweise werden „angemessene Konsequenzen“ gezogen. Was heißt das aber konkret, nach Capra, z.B. in der Kette „Wachsender Energieverbrauch – Atomenergie – Atommüll – Atomstaat“? Es kann ja nicht einfach eine Vermeidung/ Negierung sein. Kroß verlangt richtig unterschiedliche Muster räumlicher Wahrnehmung, besonders die Fähigkeit zu Perspektiven- und Maßstabswechsel, „um ferne Räume nah zu erleben. Fallstudien aus der weiten Welt sollten hinreichend Details erkennen lassen, um Realitätsnähe zu schaffen und Betroffenheit zu ermöglichen“. Dies betrifft subjektive Weltbilder ebenso wie die Perspektive anderer (Länder, Personen), ein sog. reziprokes Denken (treffender wäre es wohl, von reversiblem Denken zu sprechen, also der Fähigkeit, eine Wahrnehmung umzukehren: Stell Dir vor, was dieses Ereignis/ diese Handlung für einen anderen bedeuten kann, z.B. gegenüber Dir als Tourist, Dir als Käufer von Billigtextilien, Dir als Soldat in der US-Air-Force). 8 „Das Prinzip der Nähe“ wurde übrigens bereits in einem klassischen Aufsatz von Martin Schwind („Das Prinzip der Nähe“ und der Geographieunterricht, 1946/7) reflexiv in die Geographiedidaktik eingeführt: Es ist nicht unbedingt das Anschaulich-Räumlich-Nahe, auch nicht nur das „Einfache, das einem näher liegt als das Komplizierte“. „Was räumlich nah ist, muss nicht auch seelisch nah sein. Es gibt keinen Zweifel, wie Pestalozzi das Wort verstanden wissen wollte. Er erläutert das Prinzip selbst mit dem Hinweis, dass das ‚meiner Individualität ganz Eigene“ mir nah sei, also „das meiner Entwicklungsstufe Gemäße, mich Anregende, Reizende. (...) Zum Nachdenken über die eigene Umgebung muss der Mensch erst erzogen werden, und wie kann er dies besser, als wenn er sein Land von außen sehen lernt?“. „Alles Denken und Entdecken liegt im Vergleich“, sagt Schwind und stellt vier Forderungen an den Geographieunterricht: „Er muss heimatverbunden sein; er muss das Prinzip der seelischen Nähe nutzen; er muss wahr sein und muss die Welt maßvoll subjektiv, aber nicht verzerrt schildern; er muss die Erde als Ganzes sehen lernen“ (Schwind 107f; vgl. zuletzt Vielhaber 2003) Heute würde man diese pädagogisch-didaktischen Forderungen als „Schülerorientierung“, „subjektive Anschließung“, „Perspektivenwechsel“ und „vernetzendes Denken“ bezeichnen und einer reinen Wissens- und Strukturorientierung entgegen stellen. Kroß nennt am Ende seiner Programmatik einige Probleme des globalen Lernens: (1) Die Komplexität des Sachverhaltes gegenüber der Einsichtsfähigkeit und Verbesserung der Verhaltensweisen; (2) die Grenzen menschlicher Empathiefähigkeit und Produktion unkontrollierbarer Ängste; (3) trügerische Wachstumshoffnungen als Merkmal unserer Kultur schlechthin; (4) den Glauben an technischen Fortschritt und Effizienzrevolution; (5) die Gefahr von Regionalismus und Nationalismus als Gegenreaktion auf Globalisierungstendenzen. – Gerade dieser letzte Punkt zeigt, dass die verwendeten Kategorien stets Ausdruck von Prioritäten und Wertungen sind. Bei Kroß war die „Gefahr von Regionalismus und Nationalismus“ sicher durch den JugoslawienBürgerkrieg, den Zerfall der Sowjetunion etc. begründet; Regionalismus und sogar Lokalisierung können aber ebenso gut als positiver Gegenpol verstanden werden, der Identität und Partizipation erlaubt (vgl. Weltbank 2000). Im Lauf der nächsten Jahre war der Begriff Globalisierung schnell „inflationär und unscharf“ geworden (Editorial zum Themenheft „Globalisierung“ in: Geographie und Schule 122/1999). Zunächst hatte er für die Zunahme internationaler Wirtschaftsbeziehungen und das Zusammenwachsen von Märkten über die staatlichen Grenzen hinaus gestanden, für den Strom von Kapital und Dienstleistungen auch über moderne Informations- und Kommunikationssysteme; dann wurde der Begriff ambivalent und stand auch für den Verlust der staatlichen Souveränität und der Autonomie der Politik, für Umweltschäden, für eine „Kultur der Zukunft“, auch für „Weltfrieden“. Damit ist der Begriff nicht nur ambivalent, sondern auch kontrovers geworden („Turbokapitalismus“, „Neoliberalismus“, „Globalisierungsfalle“). Konsequent wird auch fachdidaktisch nicht mehr an einen ganzheitlichen Entwurf gedacht, sondern erst mal an „thematische Annäherungen“ in Form einer Zwischenbilanz und von Diskussionsbeiträgen. (ebd.). Zunächst werden die Geographielehrer fachlich eingeführt/fortgebildet. Beispiel: Die fünf Kondratieff-Zyklen. (1) Stationäre Dampfmaschine als erste Basisinnovation der Industrialisierung (1770-1820); (2) Eisenbahn und Dampfschifffahrt (1820-1880) mit 9 völliger Neuorganisation der europäischen Infrastruktur und Gesellschaft; (3) Chemie und Elektrotechnik, Industrie mit Großkonzernen und Kartellen, Technische Hochschulen und konkurrierende Staaten; (4) Massenverkehr Straße/ Luft, Petrochemie, Elektronik, transnationale Massenproduktion, Umbau der Handels-, Kapital- und Sozialsysteme, transnationale Institutionen (1945-1985); (5) kommunikations- und informationstechnologische Vernetzung (1985-2040), gentechnische, umwelttechnische und kommunikations-/informationstechnologische Basisinnovationen, vergleichbar dem 1.Zyklus. (Dieter Klaus 1999, 2-10). Da werden räumliche Aspekte der wirtschaftlichen Globalisierung vorgeführt, etwa die Investitionsstrategien der 100 größten multinationalen Unternehmen 1990-2000 in Europa, Nordamerika und Japan, neue supranationale Integrationsräume kartiert (EU, NAFTA u.a.) und Weltstädte in eine zentrale, sekundäre und periphere Länderhierarchie eingeordnet (Elmar Kulke 1999, 1015) Im Jahr 2000 wird dieser lehrerzentrierte Fortbildungs-Komplex schülerorientiert gewendet. Die wirtschaftliche und politische Veränderung auf Staatenebene wird womöglich Schüler nicht direkt erreichen: Schüler erschließen sich Indien, die USA, Argentinien, Kenia oder die Philippinen lieber auf anderen Wegen. Wie leben wohl die Menschen, die Schüler dort? Welche Ziele haben sie? Welche Wünsche? „Wenn diese Fragen beantwortet werden, können im Unterricht Statistiken und Karten folgen. Müssen aber nicht.“ (Editorial zum Themenheft „Alltag weltweit“ Praxis Geographie 1/2000, 3). Die Themenliste reicht von Kinderarbeit auf den Philippinen, über Delhis grünen Süden, Aufwachsen in einem Slum, Mittelstandsfamilien in Argentinien und den USA bis zu deutschen Schülern im Ausland. Das Millenium ist Anlass, sich von einer Eine-Welt-Utopie zu verabschieden und sich der Welt voller Unterscheidungen, voller Widersprüche zuzuwenden. „Blickrichtung Zukunft“ heißt ein Themenheft von Praxis Geographie (2/2000); es geht von der plausiblen Annahme aus, dass die Vorstellungen über die Zukunft nichts über die Zukunft aussagen, sondern über die Gegenwart. Darin liegen die didaktischen Chancen: Die Vorstellungen über die Zukunft erleichtern „die Äußerung der Gegenwartswahrnehmung und –deutung jedes einzelnen Schülers weit mehr als jede direkte Frage“ (Schramke/ Uhlenwinkel: Zukunftsentwürfe im Geographieunterricht. In: Praxis Geographie 2/2000, 4). Wer also Schülern die Welt und deren Bewahrung nahe bringen will (vgl. oben Pestalozzi/ Schwind), sollte wissen, wie es ihnen geht, wo sie sich befinden. Nicht „Alpen in Gefahr!“ oder „Tropenholz wie lange noch?“ (Terra 1993) oder „Kippt unser Klima?“ (Diercke 1994) ist den Schülern ein nahes Problem, sondern dass Lösungen in absehbarer Zeit nicht zu erwarten sind. Die Welt ist keine Mechanik, die Wissenschaft macht die Welt nicht vorhersagbar und beherrschbar; irgendein Schulstoff erzeugt nicht in jedem Fall einen lohnenden Wissens- oder Erkenntnisoutput. „Die Konsequenz aus der Verabschiedung der Fiktion vom InputOutput-Schüler ist die Anerkennung des Schülers als Individuum“ (ebd. 5). Schüler konstruieren und konstituieren ihre Weltbilder mit demselben Recht wie die Eltern, die Politiker und die Industriemanager. Aber trotzdem wird von einigen Fachdidaktikern auf ein „gemeinsames Weltethos“ gehofft (H. Haubrich: Weltbilder und Weltethos. In: geographie heute 145/1996, 4; vgl. zuvor der Theologe Küng 1990 u.a.). Was würde das für die Schüler bedeuten: keine Cola, kein Kinderarbeit-Orangensaft? Als Möglichkeit stattdessen wird die Szenario-Methode skizziert, indem für ein bestimmtes Thema/ Problem verschiedene Szenarien entwickelt werden. Eine Gruppe macht ein „Alles-wie-immer-Szenario“, eine andere ein Katastrophen-Szenario, eine ein 10 autoritäres Szenario, eine ein Technologie-Szenario, eine ein human-ökologisches Szenario (vgl. Fountain 1996, 203). Ähnliche Ergebnisse erzielt man, wenn man verschiedene Sichtweisen (z.B. Mieter, Umweltschützer, Stromfirma etc.) auf ein Thema ansetzt. Stets wird die Differenz der Sichtweisen und Interessen unterschiedliche Weltbilder konstituieren und diese in sich plausibel machen. Daraus können gute Gründe für eine Abwägung und Bewertung entstehen, auf die man anders nicht gekommen wäre. Das Jahr 2000 war nicht nur das Jahr des Milleniums, sondern auch der Expo 2000 und der Agenda 21: Wie werden die Menschen in den Städten und im 21. Jahrhundert leben, sozial, umwelt- und ökonomisch verträglich? Der Fokus liegt hier auf der Handlungsorientierung: Was ist zu tun, im fairen Handel, in der Schule, im Konsum, beim Abfall, im nachhaltigen Wirtschaften, in der Partizipation? Da sind die Fragen des Themenheftes „Agenda 21“ in geographie heute 180/2000 (hierher würde auch eine ökonomisch plausible Weltethos-Diskussion gehören). Dann ist wieder die Zeit, Veränderungen in der Sache nachzuspüren, z.B. dem Prozess der Suburbanisierung in den Großstadtregionen der Welt, Bombay, Mexico City, Seoul, New York. Suburbanisierung wird als gesellschaftliches Phänomen und als Forschungsund Begriffsproblem präsentiert. Wie geht es den Menschen? Was sind die Hintergründe? Wie lässt sich der weltweite Prozess beschreiben und erklären, nach Gemeinsamkeiten und nach Unterschieden? (Geographie und Schule 129, Feb 2001). Es wird die These verfolgt, dass die künftige Weltwirtschaftsordnung von drei Handelsund Investitionsblöcken (“Triade”) bestimmt sein wird. Trift diese Regionalisierung den Punkt oder ist sie eine übereinfache Kategorie für eine dynamische Weltwirtschaft? Oder einfach ein geographischer Mythos, ähnlich dem von den Kulturerdteilen? (Praxis Geographie 9/2001) Nach der Suburbanisierung werden die Metropolen zum Thema (Praxis Geographie 10/2001). Siedlungsgeographisch wichtig ist die Unterscheidung von MegastädtenWeltstädten – Hauptstädten - Global Cities, vorgeführt an den Beispielen Brüssel und Berlin, New York, Singapur, Lagos. Zugleich lassen die stadtgeographischen Sachverhalte auch Merkmale und Besonderheiten der Industrie- und Entwicklungsländer zeigen: „Die größte Stadt Schwarzafrikas und keine Müllabfuhr, kein Bürgermeister, keine Stadtplanung, kein öffentlicher Nahverkehr, sondern Kleinbusse, die der Volksmund auch ‚bolekafa’ nennt – komm raus und hau dich. Keine Rechtmäßigkeit, sondern nur das Recht des Stärkeren. Dies ist Lagos, die Metropole Nigerias. Wer hier überlebt, überlebt alles.“ (Reinhard Zeese 2001, Zitat aus GEO 3/1997, 4). Die Gefahr liegt darin, dass jede Kategorisierung und Klassifizierung pointiert, um trennscharf zu werden. Daraus können wiederum übereinfache Weltbilder bis Klischees entstehen. Wenn die Nigerianer Chinua Achebe (Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001) oder Ken Saro Wiwa (Träger des Alternativen Friedensnobelpreises) Lagos beschreiben, klingt das differenzierter; dann ist Lagos nicht nur ein System des Rechts des Stärkeren und des „Überlebenskampfes am Rand der Lagune“, sondern eine Lebenswelt (vgl. Rhode-Jüchtern 2003 und 2004). Der didaktische Ansatz, Maßstabsebenen und unterschiedliche Perspektiven explizit zu unterscheiden, setzt sich immer mehr durch. Globale Verflechtungen, aber auch ganz andere Faktoren wie naturräumliche Ausstattung, Ressourcenvorkommen, historischpolitische Entwicklungen oder Unterschiede im Kultur- und Gesellschaftssystem bewirken räumliche Disparitäten. Die Einsicht in die Komplexität soll 11 „Realitätsverzerrungen und einseitig gestaltete Erklärungen verhindern „ (Editorial zum Themenheft „Räumliche Disparitäten“, Geographie und Schule 133/2001). Allerdings wird der erzieherische Anspruch noch immer bemüht, „insbesondere im Fach Erdkunde“ die Schüler „zu entsprechendem Handeln anzuleiten, damit der Gedanke von der ‚Einen Welt’ nicht eine Leerformel bleibt“ (ebd.). Was könnte die Handlungsorientierung für Schüler denn aber konkret sein, wenn Fachwissenschaftler über Kennziffern weltweiter Disparitäten berichten, über Tourismus als Instrument zum Abbau regionaler Disparitäten in Entwicklungsländern, über räumliche Disparitäten in Ostmitteleuropa, über Disparitäten im innerurbanen Raum von NY oder über die Messung regionaler Disparitäten in der EU? Welche Schüler und welche ihrer Handlungen werden dadurch orientiert? Damit der Anspruch auf Handlungsorientierung nicht seinerseits eine Leerformel bleibt, wird das Rahmenthema immer wieder in die „Nähe“ von Schülern/ Individuen gebracht, so mit dem Themenheft „Armut“ in Praxis Geographie (12/2001). Armut ist ein weltweites Problem und „Armut geht uns alle an“ lautet die Botschaft. „Wo liegen die Ursachen und wie kann etwas gegen die Armut getan werden?“ – diese Fragen werden verfolgt an Themen wie „Ein Dollar pro Tag – Ein Blick in die Presse“, „Armut in einem reichen Land“, „Zukunftsperspektiven und Armut in Ghana“, „Armut ist weiblich – Ist Armut weiblich?“, „Wannabe – Ein Spiel zu Wegen aus der Armut“, „Armut hat eine Hautfarbe – Afro-Amerikaner in den Städten der USA“, „Armut von Kindern vor Ort“. Der Ansatz des Perspektivenwechsels soll nicht lediglich zum Relativismus führen (jeder hat seine Perspektive – so what?), sondern über Empathie zur Stellungnahme und Identitätsbildung führen. Dies verfolgt das Heft „Kinder in der Welt“ (geographie heute 196/2001): „Kinder in Peru – Auch arme Kinder können glücklich sein“, „Kinderarbeit – Wie und warum Kinder weltweit arbeiten“, „Mädchen in Indien – Zwischen Selbstund Fremdbestimmung“, „Like the kids in America – Die amerikanische Kultur unter der Lupe“, „Kinder in Äthiopien – Bildung als Weg der Hoffnung“, „Jugendliche in Polen – zwischen Tradition und Moderne“, „Kinder in der virtuellen Welt – Neue Kommunikationsformen und ihre Nutzung im Erdkundeunterricht“, „Kindheit zwischen den Fronten – Leben in Nordirland“. Der Fokus richtet sich hier also nicht primär auf einen Sektor der globalen Verflechtungen oder auf die Auswirkungen auf eine Region, sondern beides wird verbunden in der Perspektive von Kindern. Die vielperspektivische Figur dabei lautet: „Die Welt mit anderen Augen sehen – Der Blick zurück – Der Blick von oben – Der Blick von vorn – Der globale Blick – Der Blick von außen – Der pädagogische Blick – Die Vielfalt der Blicke“. Ausdrücklich wird ein Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) zu „Eine Welt/ Dritte Welt“ (28.2.1997/ 20.3.1998) zu einem möglichen Irrtum über die „Eine Welt“ zitiert: „Auch die Schule muss die Kenntnisvermittlung über andere Kulturräume vertiefen und so dem möglichen Irrtum des „Eine-Welt“-Gedankens vorbeugen, dass die Menschen und damit die gesellschaftlichen Realitäten überall gleich seien“ (geographie heute 196/2001, 6). Derweilen gehen Politik und Forschung weiter und die Lehrer werden weiter informiert über „Erde in Gefahr“ (geographie heute 201/2002). Zwar sollen die Schüler nicht über Horrorszenarien angesprochen werden. Aber globale Umweltveränderungen gibt es und es macht Sinn, über Gelingen und Misslingen von Lösungsversuchen gleichermaßen zu berichten, „in gewisser Weise Angst machen, aber ebenso Mut machen, sich für globale Probleme auf lokaler Ebene einzusetzen“. Beim Flächenverbrauch ist eine Handlungsorientierung vorstellbar, auch beim FCKW-Verbrauch (eine gelungene 12 Trendwende), ebenso beim Wasser und beim Luftverkehr, aber nur auf der individuellen und lokalen Maßstabsebene. Wasser als globales Problem, Vulkanismus und Klima oder Desertifikation bleiben Schulbuchthemen aus globaler Perspektive und als solche eher geographisches Grundwissen. Immerhin hat sich der erkenntnistheoretische Ansatz auch hier verschoben: „Die globalen Umweltveränderungen sind überwiegend durch menschliche Aktivitäten verursacht“ (ebd.). Dies ist die Verschiebung der Perspektive auf Dinge an sich hin zu Dingen als Ergebnisse von Handeln, und zwar auch in der Physischen Geographie. Das fachliche Paradigma entwickelt sich weiter in Richtung Handlungszentrierung. Es ist nicht mehr die Rede von „Wirtschaftsgeographie“, sondern von „Geographie und Wirtschaft“, ein kleiner bedeutender Unterschied. Es soll nicht mehr zuerst um räumliche Verteilung und Verknüpfungsmuster gehen, die sich aus dem wirtschaftenden Handeln ergeben; denn: „Ist Wirtschaft heute nicht in mehrfacher Hinsicht ‚footlose’, raumlos?“ (Norbert von Ruhren, Geographie und Schule 141/2003, 1). Dem Erdkundeunterricht muss daran gelegen sein, „dem Schüler eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie räumliche, ökonomische, ökologische, soziale, historische und politische Faktoren unser wirtschaftendes Handeln bestimmen. Damit soll die geographische Kernfrage bezüglich der Mensch-Raum-Auseinandersetzung keineswegs negiert werden. Die enge raumgebundene und raumbezogene Betrachtungsweise ist jedoch stärker durch eine Mehrperspektivität zu ersetzen, die den umwälzenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Gegenwart besser gerecht wird. In diesem Zusammenhang gewinnt die globale Dimension zunehmend an Bedeutung, wie sie treffend in dem Begriff Globalisierung zum Ausdruck kommt“ (ebd.) Unter dieser Prämisse geht es wieder um die Grund- und Fortbildung der Lehrer: Grundlagen für eine globale Marktwirtschaft (GATT und WTO), technologische Veränderungen, Deregulierung und Privatisierung), um die Felder ökonomischer Globalisierung (Welthandel, Auslandsinvestitionen und strategische ‚Allianzen, Finanzmärkte), um die Konsequenzen der Globalisierung (Finanzwelt, Großkonzerne, Entwicklungsländer, Deutschland). Es geht um die Hoffnung auf eine „Jobmaschine“ Dienstleistungen, um den neuen Stadttypus der „Global City“ (am Beispiel Singapur), und schließlich um den Begriff des „Global Player“, am Beispiel von TotalFinaElf (alles in Geographie und Schule 141/2003). Global Cities sind nicht mehr im Sinne eines alten Stadtbegriffs durch ihre Räumlichkeit und Funktion für ein Umland gekennzeichnet, sondern durch ihre weltweite Verflechtung in der Weltwirtschaft. Global Players sind keine regional verankerten Unternehmen mehr, sondern operieren weltweit und in wechselnden strategischen Allianzen oder Zusammenschlüssen und Unternehmenszielen. Was früher drei große Erdölkonzerne waren, ist jetzt einer. Was früher das Kerngeschäft Erdöl war, sind jetzt insgesamt die Energie oder technische Dienstleistungen oder Logistik. Was früher „sich selbst“ gehörte, gehört morgen vielleicht einer Großbank oder Großversicherung etc. (Zum Beispiel macht das Buch „Wem gehört die Republik – Die Konzerne und ihre Verflechtungen. Namen, Zahlen, Fakten“ von Rüdiger Liedtke (Frankfurt 1999) auf über 600 Seiten den Versuch, dies wenigstens für ein einziges, das Jahr 1998 und für Deutschland dazustellen.). Wenn ein Vorstand andeutet, er könne seinen Sitz auch kurzfristig nach Österreich oder in die Schweiz verlegen, zittern die Bundes- und Landespolitiker, hindern können sie es nicht. Und statt „angemessen zu handeln“ (s.o.) können die Betroffenen nur abwarten und zuschauen. 13 Zuschauen, beobachten und erkennen können Schüler (und Lehrer) aber immerhin, wenn es um den Wandel des Industriesystems in der Welt geht, auch um die Frage, wer hier eigentlich noch Politik (und Geographie) machen kann (Themenheft „Industriegeographie“, Praxis Geographie 2/2003). Es gibt newly industrialized countries, sterbende Altindustrien, neuorganisierte Produktionsnetze, den Versuch von Sozial- und Umweltstandards in transnationalen Konzernen. Es ist existentiell für die deutsche Wirtschaft, wo BMW seine neue Fabrik baut, in Leipzig oder in Tschechien oder in den USA, übrigens auch für die Arbeiter in Leipzig oder in Tschechien oder in den USA. Es ist rätselhaft und deshalb reizvoll, Produktionsketten zu rekonstruieren vom legendären Erdbeerjoghurt über Kakao-Schokolade bis zum rollenden Lager auf der Autobahn. Was soll man davon halten, wenn sich Daimler mit Chrysler verbindet – ist das ein Risiko wie jede Ehe (vgl. BMW und Rover) oder der entscheidende Zugang zu einem großen Markt? Wie soll man es finden, wenn nun auch die einfachen Menschen in China Autos wollen und die westlichen Produzenten Schlange stehen (als vorerst Letzter kam 2003 DaimlerChrysler in einem Joint Venture zum Zug)? Was bedeutet es industriepolitisch oder für das Gütezeichen „Made in Germany“, wenn Siemens und ThyssenKrupp in Shanghai den Transrapid bauen, in einem totalitären Planungsverfahren, mit deutschen Subventionsgeldern, während ein solches System in Deutschland selbst jahrzehntelang vergeblich auf seine Chance wartet? Wie kann man sich den Strukturwandel in altindustriellen Räumen vorstellen – Industriedenkmäler und Konzertstätten, Loft-Wohnungen, Boutiquenquartiere, so wie im Emscher Park, in Soho/ New York oder in Birmingham? Wo kann ein dynamischer Bürgermeister noch etwas gestalten? Wie soll man es bewerten, wenn transnationale Konzerne in grenznahe Billiglohnregionen gehen, in Nordmexiko oder Polen? Es entstehen Migration, Binnenhandel, regionale Konjunkturen oder Konjunktureinbrüche und Nullsummenspiele: Der Gewinn des einen ist der Verlust des anderen. Diese Fragen sind weniger zur Orientierung für „richtiges Handeln“ oder für die Entwicklung eines „Weltethos“ (Küng 1990; Haubrich 1996) geeignet; aber sie verpflichten und motivieren zum vielperspektivischen Denken und Urteilen. Dies ist jedenfalls immer die Voraussetzung für Weltverstehen und am Ende auch für begründetes Entscheiden und Handeln. ***** Die Synopse zur fachdidaktischen Diskussion hat gezeigt, welche Prinzipien und Inhalte sich in der letzten Dekade entwickelt haben; man kann nicht sagen, dass diese alle am gleichen Strang ziehen bzw. überzeitlich gültig wären. Das Paradigma von der „Einen Welt“ hat sich gründlich geändert: Triade, „Neue Weltordnung“ der USA, WTO- und attak-Kontroverse etc. Zum einen ist die Rolle der fachdidaktischen Zeitschriften für die Fortbildung zu bemerken; zielsicherer als Monographien mit time lag und organisatorisch und sprachlich unzugängliche Fachzeitschriften erreichen sie die Lehrerschaft, gefördert durch die Konkurrenz routinierter und hochwertiger Marken. Damit ist die Bedingung der Möglichkeit geschaffen, den Unterricht fachlich auf dem Stand zu halten. Allerdings sind die Lehrer didaktisch noch nicht entlastet; sie müssen das üppige Material so aufbereiten, dass es die Schüler erreicht. Sie müssen dies im Spagat zwischen Motivation der Lernenden und den Ansprüchen eines umfassenden Kompetenzmodells tun. 14 Damit ist die zweite Funktion der fachdidaktischen Produkte zum Themenkreis Globalisierung angesprochen: die Schülerorientierung und Herstellung von „Nähe“ durch die Aufbereitung verschiedener Perspektiven. Der Anspruch auf Handlungsorientierung erscheint dagegen meist modisch und pädagogisch überhöht, sofern damit das Handeln außerhalb der Schule zur „Bewahrung der Erde“ und zur Schaffung der „Einen Welt“ gemeint ist. Standard ist inzwischen, die globale Verflechtung auf verschiedenen Maßstabsebenen zu verfolgen und auf einfache Kausalitäten zu verzichten. Angesichts der Dynamik der globalen Veränderungen ist eine gewisse Aktualität der Fallbeispiele unverzichtbar, weil ein Unterricht nach dem strukturalistischen Paradigma „Erde als System“ die Schüler schnell ermüden dürfte; es kann allerdings zur Einübung des vernetzenden Denkens vorsichtig eingesetzt werden. Insgesamt wird es um das Erkennen von Mustern und um den plausiblen Transfer auf verschiedene Fälle gehen, also eine bestimmte Denk- und Arbeitsweise der Analyse und die Verpflichtung zur begründeten Stellungnahme. Die reine Wissensorientierung wird dagegen drastisch zurücktreten müssen; dies ist mit dem Übermaß des Wissbaren und der kurzen Halbwertzeit des aktuellen Einzelfall-Wissens begründet. Schließlich ist deutlich geworden, dass es immer weniger um die Regionalisierung, also die reinen Verteilungsmuster, Einzugsbereiche und Grenzziehungen geht; das wäre angesichts der Dynamik und der Delokalisierung vieler Prozesse geradezu kontraproduktiv. Vielmehr geht es um das - auch räumlich gebundene oder wirksame – Handeln verschiedener Akteure und Allianzen auf verschiedenen Schauplätzen, in verschiedenen Sektoren und mit polyvalenten Auswirkungen auf einer Zeitachse verschiedenster Länge, von der Vierteljahresbilanz bis zur milliardenschweren/ dauerhaften Standortentscheidung. Diese komplexe Situation muss so in Szene gesetzt werden, dass Schüler (und vorher Lehrer) sie verstehen können und wollen und daraus die geforderten Kompetenzen entwickeln. Dass ein Themenfeld wie die „Industrie“ von den Schülern auf den vorletzten von 50 Plätzen gesetzt worden ist, von den Lehrern immerhin auf Platz 44, macht die Sache nicht einfacher (vgl. Hemmer/ Hemmer 1997, 121). 4. „Reduktion von Komplexität“ und „verständnisintensives Lernen“ In Abschnitt 2. wurden einige Symptome und Sachbereiche genannt, die kennzeichnend für globale Verflechtungen sind. Dies hatte – neben der Übersicht selbst - auch den Sinn, einzelne Fälle oder Strukturen in die Komplexität des Themas einordnen zu können. Man wird z.B. das Thema Migration nicht an einem Einzelfall behandeln können, ohne dies in den dahinter stehenden Zusammenhang einzuordnen; es geht eben um „die Fähigkeit, Sachlagen und Probleme in einem weltweiten Zusammenhang zu sehen“ (vgl. Graf-Zumstieg 1994, 35), um eine Perspektive des Denkens, Urteilens und Handelns. Ob dies nun gleich der „Bewahrung der Erde“ dient oder zunächst mal dem Ziel des genaueren Hinhörens und Zusammendenkens, ist eine andere Frage (vgl. Abschnitt 3.). Damit diese anspruchsvolle Denkperspektive auch im „kleinen Alltag“ von Unterrichtseinheiten gelingen kann, wird hier ein einfacher Quader vorgeschlagen (vgl. ausführlich in Kapitel10.) Darin sind die relevanten Sachbereiche, Maßstabsebenen und Praxisebenen im Zusammenhang notiert. Jeder Einzelfall kann nun damit „verortet“ und 15 „durchbuchstabiert“ werden, damit man angesichts der unüberschaubaren Komplexität nicht ins Schwimmen kommt. Dies soll bewusst einfach geschehen, damit man nicht bereits von der Grafik erschlagen wird (vgl. oben das Schema von Capra in 4.1.3). Ganz einfach gesagt: Der Quader dient dazu, nichts zu vergessen, was womöglich für die Verflechtung einer Sache wichtig ist/ sein könnte. (Zur genaueren Ableitung dieser Figur zum Perspektivenwechsel vgl. Rhode-Jüchtern 2001a und hier Kapitel 10.) Globale Verflechtungen: Von der black-box zur Analyse/ Reduktion von Komplexität Der Quader dient der Orientierung: Was ist der Fall? Wer handelt? Auf welcher Ebene geschieht etwas, in welchem Maßstab und in welchem Sachbereich? Welche Folgen hat das anderswo? In welcher Konzeption/ Absicht geschieht das und wie wird es organisiert? Was geschieht dann? Usw. Dies ist die phänographische Ebene (Beschreibung von Tatsachen). Jedes Ereignis/ jede Struktur einer Sache soll im Zusammenhang gesehen werden, „alles hängt mit allem zusammen“; dies lässt sich systematisch verfolgen, jedenfalls nachfragen. Allerdings gibt es keine reine oder wertfreie Sachanalyse: Alle Fragen und Antworten werden aus bestimmten Perspektiven beleuchtet. Das ist die Wahrnehmungsund Subjektebene. Die didaktische Aufgabe besteht darin, geeignete Fälle/ Ereignisse als Sache zu analysieren, systematisch und geordnet, darin eigene Schwerpunkte zu setzen und das Ergebnis der Analyse begründet zu werten. Die geographiedidaktische Aufgabe besteht 16 darin, die Dinge nicht nur handlungsbezogen, sondern auch raumbezogen zu betrachten: Wo? In welchem regionalen, historischen und kulturellen Kontext? Wie „lokal“ und wie „global“? Der Perspektivenwechsel betrifft demnach – neben der Perspektive der jeweiligen Wahrnehmung – die Ebenen Maßstab, Sachbereiche und Praxis. Jedes Ereignis/ jeder Fall fängt als Phänomen irgendwo im Quader an, durchläuft diesen idealtypisch und wird an signifikanten Stellen markiert. Das zweite Grundproblem der Schul- und Fachdidaktik – neben der Klärung der Sachen – ist die Motivation der Schüler durch Sinnstiftung (über das bloße „Hinhören“ hinaus). Sinn entsteht dadurch, dass die Schüler etwas verstehen und für bedeutsam halten können (in 3. war bereits oft die Rede von Handlungsorientierung und Moralerziehung). Es fragt sich also, welcher Lernbegriff und welche Arrangements dafür tragfähig sind. Auch strikte Vertreter einer reinen Wissensorientierung und eines Lernens von Schulstoff aus zweiter und dritter Hand müssen sich mit einem Satz von Albert Einstein auseinandersetzen: „Imagination is more important than knowledge“. Das bedeutet, dass zumindest der Zugang zum Lernen über Erfahrung und Vorstellungen gehen sollte. „Wenn wir nachts bei Stromausfall unsere stockdunkle Wohnung betreten, kommen wir auch ohne Licht zurecht. Es ist eine Leistung der Imagination: Wir verfügen über eine Art ‚inneres Bild’, das uns eine zumeist sehr verlässliche Orientierung bietet.“ (Fauser/ Madelung 1996, 211). „Vorstellungen sind nicht nur sinnlich gefüllt wie bloße Wahrnehmungen, sondern auch kategorial geordnet, wie das begrifflich-abstrakte Denken. Sinnesdaten werden ‚organisiert’.“ (ebd. 214) Daten der äußeren Welt werden nicht gleichsam mechanisch abgebildet, sondern kategorial organisiert (vgl. die Kategorien im Quader); diese Organisation verrechnet die Daten nicht lediglich nach einem vorgegebenen Schema, sondern arbeitet mit „strukturierten Operationszusammenhängen auf unterschiedlichen Ebenen durch übergreifende Syntheseleistungen; wenn wir Vorstellungen bilden, bilden wir immer Ganzheiten.“ (ebd. 218) Gemeint ist damit nicht ein ideologischer oder esoterischer Begriff von Ganzheitlichkeit. Lernen richtet sich auf etwas Funktionsganzes, einen Operations- und Bedeutungszusammenhang, so wie ein Werkzeug oder ein Haus nicht nur Gegenstände oder Gegebenheiten sind, sondern in Gestalt, Struktur und Funktion auf ein Funktions- und Handlungsganzes und einen Bedeutungszusammenhang verweisen. Skizze Charlie Chaplin 17 Zum Wiederkennen genügen meist sehr wenige Informationen. (In der Skizze wird man Charlie Chaplin wiedererkennen, rechts daneben sogar in seiner Verkleidung als „Der große Diktator“ Hitler). Das ist der didaktische Schlüssel: Welche (wenigen) Information brauchen wir, um eine Wahrnehmung komplex und kategorial zu organisieren? Genügt eine Weltkarte zur Migration, um aus dieser Wahrnehmung eine Vorstellung von der Welt, eine innere Wirklichkeit mit zu konstruieren? Es ist eine zu entwickelnde Routine und Haltung im Lernen, eine „Wechselwirkungs-Wirklichkeit“ zu erzeugen, „die Bildung von Vorstellungen im Wechselspiel mit der Erfahrung der äußeren Realität“ (ebd. 226). Da Schüler im Geographieunterricht die Welt verstehen sollen, in einer kategorialen Ordnung zumal, müssen Gelegenheiten zur Imagination auch im Binnenraum Schule ermöglicht werden. Das können die lebendigen, beunruhigenden Fragen der Schüler auf einen Gegenstand hin sein (vgl. die Didaktik des genetischen Lernens bei Martin Wagenschein im Physikunterricht) oder die Narration, die kleine Erzählung, hinter der sich eine „große Erzählung“ verbirgt und die aufdeckt, worüber sonst geschwiegen würde (vgl. Kapitel 6.). Jedenfalls braucht es eine lebendige und ergebnisoffene Frageund Problemstellung jenseits des abfragbaren Wissens. 18 (Grafik und Karte aus „Atlas der Globalisierung“, 2003, 29 und 49) Man nehme z.B. eine „harmlose“ Weltkarte über die Anzahl der Fernsehgeräte oder die Schuldenstruktur ausgewählter Entwicklungsländer und finde dazu eine „kleine Erzählung“, über die Bedeutungszusammenhänge und das, worüber in der Grafik/ Karte geschwiegen wird. Schon bewegt man sich zwischen Imagination und kategorialer Ordnung (sogar der Ländername „Argentinien“ ist so eine Kategorie), zwischen dem individuellen, dem lokalen, dem nationalen und dem globalen Maßstab. Erst die Vorstellung und die Erfahrung aus einer Erzählung (oder einem Bild o.ä.) ermöglicht eine Diskussion über die Bedeutungen von Daten, über die Handlungsoptionen der Akteure und über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft . (Zur Anwendung vgl. das folgende Kapitel 9.) 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