VALENZUNTERSCHIEDE BEI REFLEXIVEN UND NICHT-REFLEXIVEN VERBVARIANTEN BARBARA LÜBKE Universität Santiago de Compostela ABSTRACT. Bei zahlreichen deutschen Verben kommen neben nicht-reflexiven Varianten homonyme obligatorisch reflexive Varianten vor. Der Beitrag beschreibt die jeweils verschiedenen syntaktischen und semantischen Valenzeigenschaften solcher Verben. Dabei richtet sich das Interesse der Untersuchung in erster Linie auf homonyme Varianten, die nur geringe Bedeutungsunterschiede, aber unterschiedliche Valenzstrukturen aufweisen, und insbesondere auf solche, bei denen sich systematische Valenzverschiebungen beobachten lassen. Dies ist der Fall bei Verben, die emotionale Vorgänge bezeichnen, wie z.B. sich / ärgern, und bei Verben der Zustandsveränderung wie sich / verändern. Hier werden durch die reflexiven und die nichtreflexiven Varianten Vorgänge jeweils anders perspektiviert. Im Zusammenhang der Untersuchung stellt sich dabei die Frage, wie sich Konstruktionen mit reflexiven Verbvarianten zu Passivkonstruktionen verhalten. PARAULES CLAU. ????????? Wenn man sich einer Durchsicht der reflexiven Verben annimmt, dann hat man zuerst zu bedenken, dass sie keine einheitliche Gruppe darstellen. Grundsätzlich unterscheiden wir bekanntlich zwischen obligatorisch oder lexikalisch reflexiven Verben und sogenannten teiloder partimreflexiven Verben, die reflexiv und auch nicht-reflexiv verwendet werden können. So handelt es sich bei dem Reflexivpronomen in 1) Max hält sich für ein Genie. um eine Akkusativergänzung des Verbs genauso wie bei dem Personalpronomen bzw. der akkusativischen Nominalphrase in 2) Max hält dich / seinen Lehrer für ein Genie. Alle drei Ausdrücke, die kommutierbar sind, beziehen sich gleichermaßen auf eine Größe, die am bezeichneten Sachverhalt beteiligt ist, nur zeigt sich in Satz 1) die Besonderheit, dass die Subjektgröße und diejenige des Akkusativkomplementes identisch sind. Bei den lexikalisch reflexiven Verben verhält sich die Sache anders. Das Reflexivpronomen ist hier obligatorischer Teil des Verbs, es ist nicht kommutierbar, es ist keine Verbergänzung und bezeichnet keine sachverhaltsbeteiligte Größe; es hat überhaupt keine erkennbare Eigenbedeutung in sie schämt sich / erkältet sich / weigert sich. Von Reflexivität in dem Sinne, dass das Reflexivpronomen sich auf das Subjekt zurückbezieht, kann deshalb eigentlich nur im Falle der partimreflexiven Verben gesprochen werden, das Reflexivpronomen der obligatorisch reflexiven Verben dagegen referiert nicht. Allerdings reserviert es in der Valenzstruktur die Stelle eines potentiellen Akkusativ- oder Dativkomplements für sich, d. h. auch obligatorisch reflexive Verben mit einem Reflexivpronomen im Akkusativ – das sind die allermeisten - können kein Akkusativkomplement mehr an sich binden, solche mit einem Reflexivpronomen im Dativ – wie zum Beispiel sich etwas leisten, sich etwas vornehmen, sich etwas vorstellen - haben kein Dativkomplement. Bei mehrstelligen reflexiven Verben kommen deshalb häufig Präpositivkomplemente vor, und auch Genitivkomplemente, die ja generell nur wenig okkurrent sind, finden sich hier relativ häufig, zum Beispiel sich einer Sache / einer Person annehmen, sich einer Sache bedienen, sich einer Sache enthalten. Allerdings haben Konstruktionen mit Genitivkomplement auch hier die Tendenz zu veralten, oder sie gehören einer gehobenen Stilebene an. Zur Gruppe der obligatorisch reflexiven Verben gehören nun auch eine ganze Reihe, die als reflexive Varianten zu nicht-reflexiven Verben vorkommen, so dass wir es hier mit Paaren von homonymen Verben zu tun haben, die völlig verschiedene Bedeutungen haben können, manchmal aber auch nur geringfügige Bedeutungsverschiebungen aufweisen. Ich habe mich bislang darum bemüht, einige solcher reflexiven oder nicht-reflexiven Varianten in meinem Text unterzubringen. Das haben Sie bestimmt gemerkt, auch wenn Sie sich die einzelnen Verben nicht gemerkt haben. Also, merken vs. sich merken, das wäre ein Beispiel für solche Paare von Verbvarianten. Ebenso haben auch alle anderen obligatorisch reflexiven Verben, die ich bisher verwendet habe, nicht-reflexive Pendants, so wie umgekehrt viele der nichtreflexiven Verben, die in dieser Einleitung vorkamen, reflexive Varianten haben. Um solche Paare wird es in diesem Beitrag gehen. 1. VARIANTEN MIT VERSCHIEDENER BEDEUTUNG Wie bei merken und sich merken haben das nicht-reflexive und das obligatorisch reflexive Verb häufig unterschiedliche Bedeutungen: merken heißt so viel wie ‘wahrnehmen’, sich merken dagegen ‘im Gedächtnis behalten’. Andere Beispiele, die in meiner Einleitung vorkamen, sind: sich annehmen <Ksub+Kgen>1 mit der Bedeutung ‘sich um etwas oder jemanden kümmern ’, ‘sich einer Aufgabe widmen’ als Variante zu annehmen, das ‘akzeptieren’ (annehmen 1 <Ksub+Kakk>) oder ‘vermuten’ (annehmen 2 <Ksub+Kakk>) oder ‘entgegennehmen’ (annehmen 3 <Ksub+Kakk+Kprp(von)>) bedeuten kann; neben verwenden <Ksub+Kakk> mit der Bedeutung ‘gebrauchen’, ‘benutzen’ existiert das reflexive sich verwenden <Ksub+Kprp(für)> in der Bedeutung ‘sich für eine Person oder eine Sache einsetzen’, ‘seinen Einfluss für eine Person oder eine Sache geltend machen’. Dem partimreflexiven halten <Ksub+Kakk+Kpräd> in unserem Beispielsatz Max hält sich für ein Genie. steht nicht-reflexives halten in vielen Bedeutungsvarianten gegenüber, die keine reflexive Verwendung erlauben, beispielsweise halten <Ksub> in der Bedeutung ‘zum Stillstand kommen’ oder halten <Ksub+Kakk> im Sinne von ‘etwas festhalten’. Aber es gibt auch die obligatorisch reflexiven Varianten sich halten <Ksub+Kpräd> in der Bedeutung ‘jung / frisch / in Form / erfolgreich bleiben’, und sich halten <Ksub+Kprp(an)> in der Bedeutung ‘eine Norm befolgen’ wie in sich an das Gesetz / die Spielregeln / den Duden halten. Da es sich bei den angeführten Varianten um Verben mit ganz unterschiedlicher Bedeutung handelt, weisen sie naturgemäß auch verschiedene Valenzstrukturen auf, d. h. sie verbinden sich ihrer Bedeutung entsprechend mit jeweils anderen Komplementen, die auch anders belegt sind und den bezeichneten Größen andere semantische Rollen zuweisen. Zur Beschreibung der Valenzstruktur lehne ich mich im Folgenden an das von Engel (1996) vorgeschlagene Modell an, in dem die Verbkomplemente syntaktisch und semantisch charakterisiert werden, letzteres auf zweifache Weise: zum einen hinsichtlich der Relation, in der die durch die Komplemente kodierten Größen zu dem durch das Verb bezeichneten Geschehen stehen (ihrer semantischen Rolle), zum anderen durch die Angabe kategorieller Merkmale, die diese Größen aufweisen müssen, um mit dem Verb semantisch verträglich zu sein (Selektionsbeschränkungen). Im Hinblick auf die semantischen Relationen unterscheidet Engel nicht mehr als vier semantische Rollen, nämlich Agentiv (AGT) für die aktiv am Geschehen beteiligten Größen, Affektiv (AFF) für die passiv vom Geschehen betroffenen („affizierten“) Größen, sowie Lokativ (LOC) und Klassifikativ (KLS). Diese lassen sich durch Subkategorisierungen weiter spezifizieren, Agentiv und Affektiv im Hinblick darauf, ob die jeweilige Größe durch das Verbalgeschehen erschaffen oder vernichtet wird (Effektiv, kurz: eff), verändert wird (Mutativ, kurz: mut) oder unverändert bleibt (Ferens, kurz: fer) (vgl. Engel 1996:227ff.). Rollenzuweisungen sollen nach Engel grundsätzlich durch grammatische Tests abgesichert werden, die für die Agentivität zudem eine graduelle Differenzierung ermöglichen sollen (zu den Testverfahren vgl. Engel 1996:230f.); insgesamt legt Engel dabei einen sehr weit gefassten Agentiv-Begriff zugrunde. Betrachten wir nun die Verben enthalten und sich enthalten in den folgenden Sätzen: 3) Der Koffer enthielt 100.000 DM. 4) Als Moslem enthält er sich jeglichen Alkoholgenusses. Enthalten bindet ein Subjekt und ein Akkusativkomplement, das Subjekt ist schwach agentivisch2, es kann nicht auf Menschen referieren, sondern es kommen in der Regel nur materielle Objekte und Substanzen und abstrakte Objekte (wie Gedanken, Theorien) vor. Das Akkusativkomplement bezeichnet die affizierte Größe, bei der es sich um Materielles und um abstrakte Objekte, vielleicht auch um Pflanzen und Tiere, nicht aber um Menschen handeln kann. Dagegen hat das Verb sich enthalten, das so viel wie ‘eine Handlung absichtlich unterlassen’ bedeutet, ein Subjekt und ein Genitivkomplement. Die Agentivität des Subjekts ist hier stärker ausgeprägt, und es kann nur auf Menschen, allenfalls noch Institutionen referieren. Das Genitivkomplement bezeichnet die vom Geschehen betroffene Größe, d. i. die Handlung, die nicht ausgeführt wird (insbesondere sind dies Akte der Meinungsäußerung und Handlungen der Nahrungsaufnahme); sie erscheint in der Rolle des Affektiv. Wir können notieren: enthalten sich enthalten sub: AGT´´´fer;mat,intell sub:AGT´´fer; hum,inst gen: AFFfer; mat,intell,plant,zool akk:AFFfer; akt 2. VARIANTEN MIT ÄHNLICHER BEDEUTUNG Häufig sind jedoch die Bedeutungsunterschiede zwischen der nicht-reflexiven und der reflexiven Variante nicht so deutlich wie in diesen Beispielen, sie können manchmal sogar sehr fein sein. In jedem Fall zeigen sich aber Unterschiede in der Valenzstruktur. Sie können darin bestehen, dass an dem jeweils mit dem Verb entworfenen Sachverhalt zwar dieselben Entitäten beteiligt sind, diese jedoch von unterschiedlichen Komplementen kodiert werden und in anderen semantischen Rollen erscheinen: stellen sich stellen Die Polizei hat den mutmaßlichen Der mutmaßliche Täter hat sich Täter inzwischen gestellt. der Polizei inzwischen gestellt. sub: AGT´fer; anim sub: AGT´´mut; anim akk: AFFmut; anim akk: AFFfer; anim,akt Die Größe, die in dem mit dem Verb stellen entworfenen Sachverhalt von der Handlung betroffen, affiziert wird (im Beispielsatz der „mutmaßliche Täter“ als Akkusativkomplement), ist in dem anderen - bei sich stellen – die aktive (das agentivische Subjekt). Das Agens von stellen erscheint bei sich stellen als affizierte Größe in der Rolle eines Adressaten oder Empfängers, für die der Dativ typisch ist. Der Unterschied in der Valenzstruktur der beiden Varianten kann auch darin bestehen, dass verschiedene Entitäten von verschiedenen Komplementen bezeichnet werden: äußern sich äußern Umweltschützer äußerten Kritik an Umweltschützer äußerten sich der geplanten Erweiterung des kritisch zur geplanten Erweiterung Elbtunnels, des Elbtunnels. sub: AGT´fer; hum,inst sub: AGT´´fer; hum,inst akk: AFFeff; abstr prp(zu/über): AFFfer; - Während bei äußern ein Akkusativkomplement den Inhalt bzw. die Art der Äußerung bezeichnet (man kann einen Wunsch, eine Bitte, seine Meinung, seine Einstellung oder harte Worte äußern etc.), ist das Präpositivkomplement von sich äußern mit dem Gegenstand bzw. dem Thema der Äußerung belegt (man kann sich zu allen möglichen Themen äußern). Da beide Verben zweiwertig sind, kann bei äußern das Thema nur im Kontext (hier als Attribut zu „Kritik“) genannt werden, so wie andererseits bei sich äußern die Art der Äußerung nur im Kontext (hier als modifizierende Angabe) spezifiziert werden kann. Das Akkusativkomplement von äußern bezeichnet eine effizierte (erzeugte) Größe, das Präpositivkomplement bei sich äußern den unveränderlichen Betroffenen des Verbalgeschehens (‘Ferens’). Beim Vergleich von zweiwertigem beklagen und dreiwertigem sich beklagen können wir feststellen, dass das Verb in der reflexiven Variante dem Gegenstand des Beklagens ein Präpositivkomplement zuweist und hier ein weiteres, fakultatives Präpositivkomplement vorkommen kann, das den Adressaten nennt: beklagen sich beklagen Menschenrechtsorganisationen Menschenrechtsorganisationen beklagten die Haltung der beklagten sich (beim spanischen Regierung. Botschafter) über die Haltung seiner Regierung. sub: AGT´fer; hum,inst sub: AGT´´fer; hum,inst akk: AFFfer; sachv prp(über): AFFfer; sachv (prp(bei)): AFFfer; hum,inst In vielen Fällen sind, wie in diesen Beispielen, solche Valenzunterschiede rein lexikalisch bedingt, die jeweilige Valenzstruktur muss für jedes einzelne Verb individuell beschrieben werden. Bei einer Reihe von Verben lassen sich jedoch regelhafte Valenzverschiebungen bei den nicht-reflexiven und reflexiven Pendants eines Paares feststellen. 2. 1. Valenzmuster ksub+kakk / ksub+k(prp) Eine Gruppe bilden dabei Verben, die emotionale Vorgänge bezeichnen wie amüsieren, ärgern, aufregen, begeistern, ekeln, empören, entrüsten, freuen, wundern und ihre reflexiven Pendants. Es handelt sich dabei um zweiwertige Verben, die in der nicht-reflexiven Variante mit dem Valenzmuster Ksub+Kakk, in der reflexiven Verwendung mit Ksub+(Kprp) konstruiert werden. Mit der nicht-reflexiven Variante wird ausgedrückt, dass ein Gegenstand oder Sachverhalt eine emotionale Reaktion bei einer Person bewirkt. Die Entität, die die Reaktion auslöst, wird dabei vom Subjekt, die Person, die die Reaktion an sich erfährt, - die affiziert wird – vom Akkusativkomplement des Verbs kodiert. Typisch ist, dass als Subjekt hier unbelebte Gegenstände oder Sachverhalte erscheinen, als Akkusativkomplement Personen; das Akkusativkomplement muss in jedem Fall auf Belebtes referieren: 5) Das Gerede der Leute ärgert / empört / wundert Max. In manchen Grammatiken heißt es, dass bei diesen Verben kein belebtes Subjekt auftreten könne. Allerdings kann man schon sagen: 6) Willi regt Max auf. Aber gemeint ist dann, dass eine Eigenschaft, ein Verhalten oder eine Handlung der Person die Reaktion der anderen Person bewirkt: 7) Dass Willi immer zu spät kommt, regt Max auf. Bei den reflexiven Varianten solcher Verben wird nun die Akkusativgröße – die affizierte Person - zum Subjekt, der Gegenstand, auf den sich die Emotion richtet, wird von einem Präpositivkomplement bezeichnet. In Sätzen mit diesen reflexiven Verben wird der Vorgang aus der umgekehrten Perspektive gesehen: während in 5) „das Gerede“ als bewirkende Ursache mit einer gewissen Eigenaktivität erscheint, wird es in 8) Max ärgert sich / empört sich / wundert sich über das Gerede. als völlig inaktive Größe gesehen, als Thema, auf das die Emotion des Subjekts sich bezieht. Der Vorgang ereignet sich aus dieser Sicht ganz im Subjekt selbst, bei ihm liegt hier die Aktivität. Tatsächlich muss das Thema nicht einmal explizit benannt werden, das Präpositivkomplement der reflexiven Verben ist fakultativ: 9) Max ärgert sich schon wieder /amüsiert sich nur noch / regt sich dauernd auf. Das sind vollständige Sätze, bei denen nur impliziert, aber nicht ausgedrückt wird, dass es etwas gibt, über das Max sich ärgert, amüsiert oder aufregt. Dieselben Valenzmuster weisen auch einige Verben der geistigen Anteilnahme auf, allerdings muss das Präpositivkomplement der reflexiven Verben hier immer realisiert werden. Vgl.: 10a) Das Thema beschäftigt Max schon lange. 10b) Max beschäftigt sich schon lange mit diesem Thema. 11a) Meine Probleme interessieren ihn nicht. 11b) Er interessiert sich nicht für meine Probleme. 12a) Das Gerede der Leute kümmert ihn nicht. 12b) Er kümmert sich nicht um das Gerede der Leute. Die reflexiven Varianten sind lexikalische Konversen der nichtreflexiven Verben. Die Valenzverschiebungen, die wir hier beobachten können, ähneln formal den Veränderungen in der Valenzstruktur des Verbs, die in Passivkonstruktionen auftreten. Wie beim Passiv können wir auch hier davon sprechen, dass bei Reflexivität die Subjektstelle des nicht-reflexiven Verbs ‚geräumt‘ und das Akkusativkomplement zum Subjekt ‚promoviert‘ wird (zum Passiv vgl. Eisenberg 1999:126; IDS-Grammatik:1790ff.), auch kann das Subjekt des nichtreflexiven Verbs als (fakultatives) Präpositivkomplement realisiert werden, allerdings nicht in einer für das Agens typischen von- oder durch-Phrase. Während jedoch in Passivkonversen die am Geschehen beteiligten Größen durch andere Komplemente, aber mit denselben semantischen Rollen kodiert werden, wie im Aktivsatz, werden ihnen vom reflexiven Verb mit anderen Komplementen auch andere semantische Rollen zugewiesen. Vgl: aktiv:sub:AGT passiv: (prp):AGT aktiv:akk:AFF passiv:sub:AFF nicht-reflexiv:sub:AGT reflexiv:(prp):AFF nicht-reflexiv:akk:AFF reflexiv:sub:AGT Dadurch kommt es zu den oben schon angedeuteten Bedeutungsunterschieden zwischen Sätzen mit nicht-reflexiven und solchen mit reflexiven Varianten dieser Verben. In der Literatur werden den Argumenten beider Varianten gewöhnlich die semantischen Rollen THEMA und EXPERIENS zugeordnet (vgl. IDS-Grammatik:1305, 1360). In nicht-reflexiv konstruierten Sätzen wie 5), 6), 7) interpretieren wir jedoch die Subjektgröße nicht bloß als inaktiven Gegenstand (THEMA) der Wahrnehmung einer Person, sondern stärker kausativierend als Ursache / Auslöser einer emotionalen Reaktion (etwas bewirkt eine emotionaleRegung / Zustandsveränderung bei jemandem); die wahrnehmende Person (EXPERIENS) erscheint als affiziert und inaktiv. Demgegenüber vermitteln Sätze mit reflexivem Verb wie 8) gewissermaßen eine ‚dekausativierte‘ Sicht des Ereignisses: der emotionale Vorgang ereignet sich in der Perspektivierung dieser Verben, ohne dass eine äußere Ursache thematisiert würde; das EXPERIENS-Subjekt erscheint als aktives, das seine emotionale Anteilnahme auf einen inaktiven, affizierten Gegenstand (THEMA) richtet. (Vgl. zur Diskussion dieser Fälle IDS-Grammatik:1330f.) 2.2. Rezessive Varianten Zu einer ganzen Reihe von Verben kommen rezessive reflexive Varianten vor, d.h. solche, bei denen die Valenz um eine Stelle gemindert ist. Betroffen von dieser Valenzminderung ist immer das Akkusativkomplement, d. h. es ergeben sich Übergänge von mehrwertigen nicht-reflexiven Akkusativverben zu reflexiven Verben mit einer um die Stelle des Akkusativkomplements reduzierten Valenzstruktur, so zum Beispiel bei sich / ändern, sich./ beschränken, sich / erhöhen, sich / öffnen, sich / stabilisieren, sich / verändern, sich / verstärken u. v. a. Es handelt sich um transformative Verben, und zwar um Kausativ – und um Vorgangsverben, also um Verben, die Zustandsveränderungen bezeichnen und bei denen die nicht-reflexiven Varianten ausdrücken, dass jemand oder etwas bewirkt, dass eine Größe anders wird, während die reflexiven Varianten lediglich ausdrücken, dass eine Entität anders wird. Vgl.: 13 a) Das Internet verändert die deutsche Sprache. 13 b) Die deutsche Sprache verändert sich. 14 a) Die Fakultät ändert die Studienpläne. 14 b) Die Studienpläne ändern sich. Nun stellt sich die Frage, ob es sich bei den Valenzverschiebungen, die wir hier beobachten können, noch um lexikalische oder nicht vielmehr um grammatikalische Erscheinungen handelt, konkret: ob es sich bei den Sätzen mit den reflexiven Varianten nicht um grammatische Konversen handelt, und ob solche Reflexivierungen als Parallelen oder Paraphrasen des Passivs anzusehen sind. Auch hier wird das Akkusativkomplement der nichtreflexiven Konstruktion regelmäßig zum Subjekt des reflexiven Verbs, während die agentivische Subjektgröße „ausgeblendet“ wird; sie kann aber in bestimmten Fällen auch hier als Präpositivkomplement mit durch in den Satz eingeführt werden. Möglich ist dies, wenn das Subjekt einen nicht intentional handelnden Verursacher bezeichnet, nicht möglich, wenn ein intentional handelnder Menschen oder eine Institution benannt werden. Deshalb können wir Satz 13 b), nicht aber Satz 14 b) ergänzen: 13 c) Durch das Internet verändert sich die deutsche Sprache. 14 c)* Durch die Fakultät ändern sich die Studienpläne. Und entsprechend: 15 a) Der Wahlerfolg verstärkte seinen Einfluss. 15 b) Sein Einfluss verstärkte sich. 15 c) Durch den Wahlerfolg verstärkte sich sein Einfluss. 16 a) Die Studenten verstärkten ihre Proteste. 16 b) Die Proteste verstärkten sich. 16 c)* Die Proteste verstärkten sich durch die Studenten. Die Entscheidung darüber, ob wir die Sätze des Typs b) und – sofern sie korrekt sind – des Typs c) als Passiv-Paraphrasen der Sätze des Typs a) ansehen sollten oder nicht, ist schwierig. Die Verfasser des Valenzwörterbuchs Verben in Feldern weisen nachdrücklich darauf hin, daß auch die reflexiven Konstruktionen mit passivischer Funktion vom Typ Durch die Landwirtschaft verändert sich dasGesicht der Erde. auf Die Landwirtschaft verändert das Gesicht der Erde. zu beziehen sind und somit als Formen der Kausativen Änderungsverben (…) betrachtet werden.“ (ViF:230, vgl. auch 304) Ich interpretiere das so, dass sie 13c) und 15c) als Passivparaphrasen der a)-Sätze ansehen, 13b), 14b), 15b) und 16b) dagegen nicht3. Helbig und Buscha bringen in ihrer Deutschen Grammatik als einziges Beispiel für reflexive Passiv-Paraphrasen ohne Modalfaktor den Satz Der Schlüssel wird sich finden. und schreiben in einer Anmerkung: Keineswegs alle reflexiven Formen können als Passiv-Paraphrasen angesehen werden, sondern nur diejenigen, bei denen das syntaktische Objekt des aktivischen Satzes zum syntaktischen Subjekt des passivischen Satzes und der reflexiven Konstruktionen wird (und folglich dieses Subjekt kein Agens ausdrückt). (Helbig/Buscha: 191999:185) Nun trifft das in der Anmerkung Gesagte auf unsere Beispielsätze zu, allerdings bringen Helbig/Buscha ein ähnliches Satzpaar, das ausdrücklich als Gegenbeispiel zu PassivParaphrasen angeführt wird, nämlich Sein Einfluß hat sich verstärkt. / Er hat seinen Einfluß verstärkt: „Reflexive Sätze dieser Art sind nicht Passiv-Paraphrasen [...], da der Subjektsnominativ hier nicht das Patiens des Geschehens ist [...]“ (cf. Helbig/Buscha 19 1999:215). An anderer Stelle nennen die Autoren als Kriterium für „Passiv-Paraphrasen im eigentlichen Sinne“, dass sie sich „ohne nennenswerten Bedeutungsunterschied in passivische Sätze transformieren lassen“ (cf. HB 191999:219). Die Sätze Der Schlüssel wird sich finden. und Der Schlüssel wird gefunden werden. seien bedeutungsgleich. Dagegen, so können wir folgern, trifft dies auf Sätze wie Die deutsche Sprache verändert sich. und Sein Einfluss verstärkte sich. nicht zu: wir interpretieren sie nicht so wie die Sätze Die deutsche Sprache wird verändert. und Sein Einfluss wurde verstärkt. Der Unterschied besteht darin, dass wir bei den reflexiven Verbvarianten nicht annehmen, dass ein Agens oder Verursacher nur ausgeblendet wird, d. h. zwar nicht expliziert wird, aber gewissermaßen ‚implizit vorhanden‘ ist. Wir interpretieren diese Sätze vielmehr medial, d. h. in dem Sinne, dass ein Prozess aus sich selbst heraus ensteht, sich von selbst – ohne Verursacher – vollzieht. Demgegenüber wäre mit Verben in Feldern davon auszugehen, dass wir Sätze mit reflexiven Verbvarianten, in denen der Verursacher durch ein Präpositivkomplement benannt wird, passivisch interpretieren: Durch das Internet verändert sich die deutsche Sprache. hätte demnach dieselbe Lesart wie Die deutsche Sprache wird durch das Internet verändert. Allerdings haben wir gesehen, dass ein Präpositivkomplement, das die Subjektgröße des nicht-reflexiven Verbs bezeichnet, in dem mit dem reflexiven Verb konstruierten Satz nur einen nicht intentional bewirkenden Verursacher (in der Rolle KAUSATIV) kodieren kann. Ausdrücke, die auf intentional handelnde Personen oder Institutionen (AGENS im strikten Sinne) referieren, können dagegen nicht mit dem reflexiven Verb vorkommen. D. h. zu Sätzen, in denen die nicht-reflexiven Verbvarianten als Handlungsverben verwendet werden, gibt es keine entsprechenden „reflexiven Konstruktionen mit passivischer Funktion“ (ViF:230, s.o.). Zu bedenken ist weiterhin, dass das Präpositivkomplement des reflexiven Verbs nicht als von-Phrase sondern lediglich als durch-Phrase realisiert werden kann. Bei durch-Phrasen ist häufig nicht eindeutig zu entscheiden, ob sie als Komplementausdrücke oder als kontextspezifizierende Kausal- oder Instrumentalangaben einzuschätzen sind (vgl. dazu IDS-Grammatik:1056). So könnten die durch-Phrasen aus 13c) und 15c) in Sätzen mit nicht-reflexiven Varianten auch mit dem Subjekt kookurrieren und hätten dann eindeutig den Status einer Angabe: 17) Durch das Internet verändern wir die deutsche Sprache. 18) Durch den Wahlerfolg verstärkte derPolitiker seinen Einfluss. Es bleibt deshalb offen, ob in 13c) und 15c) überhaupt eine passivische Subjektskonversion vorliegt oder nicht. Die Realisierung einer durch-Phrase kann von daher kein Kriterium dafür sein, Sätze mit reflexiven Verbvarianten passivisch zu interpretieren. Wenn man mit Eisenberg (1999:127f) die Funktion des Passivs darin sehen kann „Handlungen als Ereignisse“ darzustellen und damit die unserer Sprache innewohnende Handlungsorientierheit zu ‚neutralisieren‘, so gilt dies für die reflexiven Varianten transformativer Kausativ-Verben a forteriori: Sie stellen Handlungen als Vorgänge dar und es besteht dabei – anders als im Passiv – nicht einmal strukturell die Möglichkeit, ein handelndes Agens zu aktualisieren. Sie stellen darüber hinaus Vorgänge als Prozesse dar, die ohne externe Verursacher einsetzen, diese werden ‚ausgeblendet‘ oder ‚neutralisiert‘ bzw. können lediglich durch Präpositionalphrasen realisiert werden, bei denen offen bleibt, ob sie als Komplementausdrücke sachverhaltsbeteiligte Größen kodieren oder Supplementstatus haben und als kontextuelle Spezifizierungen zu interpretieren sind. Wie Passivkonstruktionen promovieren sie das - in Engels Terminologie - affektivische Akkusativkomplement des entsprechenden nicht-reflexiven Verbs zum Subjekt, als Aktivkonstruktionen weisen sie ihm dabei jedoch eine andere, eben ‚aktive‘ bzw. (schwach) agentivische, semantische Rolle zu. Diese ‚aktivische‘ Interpretation von Konstruktionen mit reflexiven Verbvarianten ließe sich auch durch eine kontrastive Analyse deutscher und spanischer Änderungsverben motivieren. Denn obgleich im Spanischen die Passivumschreibung mit dem Reflexivum se strukturell verankert und sehr gebräuchlich ist, können wir beobachten, dass in spanischen Übersetzungsäquivalenten von Sätzen des hier zuletzt diskutierten Typs häufig Verben vorkommen, die keine reflexive Verwendung erlauben. Vgl.: 21) Die deutsche Sprache verändert sich. – La lengua alemana cambia. 22) Sein Einfluss verstärkte sich. – Su influencia creció. BIBLIOGRAPHIE Eisenberg, Peter. 1999. Grundriß der deutschen Grammatik. Band 2: Der Satz. Stuttgart: Metzler. Engel, Ulrich. 31994. Syntax der deutschen Gegenwartssprache. Berlin: Erich Schmidt Verlag. Engel, Ulrich. 1996. „Semantische Relatoren. Ein Entwurf für künftige Valenzwörterbücher“. Semantik, Lexikographie und Computeranwendungen. Hg. Nico Weber. Tübingen: Niemeyer. 223-236. Helbig, Gerhard und Joachim Buscha. 19 1999. Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Leipzig: Langenscheidt. [IDS-Grammatik =] Zifonun, Gisela, Ludger Hoffmann, Bruno Strecker et. al. 1997. Grammatik der deutschen Sprache. Berlin: de Gruyter (Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7.2). Latzel, Sigbert. 1979. Die Verben ‚ändern‘, ‚wandeln‘, ‚wechseln‘, ‚tauschen‘ und ihre Zusammensetzungen mit ‚ver‘-, ‚um‘-, ‚ab‘-, etc. München: Goethe-Institut. [ViF=] Schumacher, Helmut. Hg. 1986. Verben in Feldern. Valenzwörterbuch zur Syntax und Semantik deutscher Verben. Berlin: de Gruyter (Schriften des Instituts für deutsche Sprache 1). 1 Bei der Angabe des Valenzindex folge ich der Komplementklassifikation der IDS-Grammatik; vgl. Zifonun et. al. 1997:1073 ff. 2 Der Thematisierungstest verläuft positiv. Engel spricht von Agentivität dritten Grades und notiert AGT´´´; Agentive ersten und zweiten Grades werden entsprechend als AGT´ bzw. AGT´´ gekennzeichnet (vgl. Engel 1996:231). 3Die reflexiven Änderungsverben werden in ViF als “einfache [i.e. nicht-kausative, B.L.] Änderungsverben” klassifiziert und in einem eigenen Lexikoneintrag beschrieben. (Vgl. ViF:225ff.)