Hermeneutik, Dekonstruktion und Information

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Uwe Joch u m
Hermeneutik, Dekonstruktion und Information
Bibliothekarische Theoriebildung findet weithin im Paradigma der Informationswissenschaft statt, ohne daß es bislang
zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit konkurrierenden Theorien gekommen wäre. Der vorliegende Beitrag
stellt die Dominanz des informationswissenschaftlichen Paradigmas in Frage, indem er die theoretischen Grundlagen
rekonstruiert und mit dem hermeneutischen und dekonstruktivistischen Paradigma vergleicht. Dabei zeigt sich die Informationswissenschaft, wie sie von Bibliothekaren vertreten wird, als Wiederkehr der Hermeneutik, die in den Bibliotheken einen „ Geist" hypostasierte, der informationswissenschaftlich zum „ Sender" wurde. Solche Geist-Metaphysik
negiert der Dekonstruktivismus, der Bücher als das nimmt, was sie sind: gebundenes Papier. Eine sachgemäße Theorie
der Bibliothek hätte dieses Sachverhalts eingedenk zu sein und Bibliotheken als Speicherhallen für „Bücher" genannte
Sachen zu rekonstruieren.
Hermeneutic, deconstruction and Information
The building up oftheories in library science still happens in the paradigm of Information science, but without any constructive discussion ofexisting rival theories. This article queries the domination ofthe Information science paradigm
by analysing the existing theoretical foundations and by comparing them with the hermeneutical and deconstructive
paradigms. Hereby the Information science, äs represented by librarians, proves to be the return ofthe hermeneutics
thatidentifiedacertain „spirit" within the libraries which in Information science became the „sender". Such methaphysics ofthe spirit is denied by the deconstructivism that looks at books äs that what they are: bound paper.An approprl·
ate theory ofthe library should be conscious ofthis fact and should reconstruct libraries äs ware-houses for things called „books".
Hermeneutique, deconstruction et Information
Le developpement de la theorie des bibliotheques se deroule encore dans le paradigme de la science de ^Information,
sans quejusqu'alors u n debat constructif des thäories en concurrence ait commence. L'article met en question la domination du paradigme de la science de l'information, en reconstruisant les fondements theoriques et en comparant
celles-ci avec les paradigmes de rhermeneutique et du deconstructivisme. II se montre que la science de rinformation,
comme eile est soutenue par les bibliothecaires, est le retour de rhermeneutique qui voyait dans les bibliotheques un
„esprit" qui, pour la science de rinformation, est devenu u n „envoyeur". Une teile metaphysique de l'esprit est denioe
par le deconstructivisme qui considere les livres tels quels sont: du papier relie. Une theorie appropriee de la bibliothoque devrait etre consciente de ce fait et devrait reconstruire les bibliotheques comme magasins des choses qu'on
appelle „livres".
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Vorbemerkungen
Daß es mit den deutschen Bibliotheken zum besten
steht, wird im Ernst wohl niemand behaupten wollen. Zu
lange schon schwelt hier eine Krise, die als Krise des Berufsstandes zum erstenmal in den 30er Jahren dieses
Jahrhunderts namhaft gemacht wurde 1 und seither die
Bibliothekare nicht ruhen ließ2. Daß diese Krise zugleich
eine Krise der Ausbildung ist, belegt eine Umfrage, deren Ergebnis allen Verantwortlichen größte Sorgen bereiten müßte3. Nun kann man angesichts solch desaströser Befunde zur Tagesordnung übergehen und sich
einer bibliothekarischen Praxis widmen, von der seit langem behauptet wird, sie bedürfe der Theorie nicht oder
kaum. Daß aber aus bloßer Praxis keine Lösung der Krise zu erwarten ist, weil Praxis allein die Probleme nicht
auf den Begriff zu bringen vermag, wird dabei gern
übersehen.
Eine Theorie, die die Krise des Bibliothekswesens reflektiert, hätte nicht vorschnell Lösungen anzubieten, die als
Elemente der bibliothekarischen Ausbildung und Praxis
instrumentalisiert werden könnten. Sie hätte zunächst
einmal die bisherigen Theorien aufzuarbeiten und ihren
Zusammenhang mit dem geistesgeschichtlichen Umfeld zu rekonstruieren, um so dem Irrtum zu entgehen,
daß das Neueste auch jeweils das Beste sei. Eine solche
historisch orientierte Bibliothekstheorie, die die von der
Bibliotheksgeschichte präsentierten Fakten in einen geistesgeschichtlichen Kontext einzuordnen erlaubt, würde den Dornröschenschlaf eines weit verbreiteten bibliotheksgeschichtlichen Positivismus beenden. Nun
scheint es eine solche Theorie bereits zu geben: Die InKnorr, Friedrich: Der Beruf des wissenschaftlichen Bibliothekars in unserer Zeit. In: Otto Glauning zum 60. Geburtstag.
Bd. 1. Leipzig 1936. S. 112-118. In diesem Aufsatz fällt fast auf
jeder Seite das Wort „Krise".
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wären zu nennen: Leyh,
Georg: Der Bibliothekar der Zukunft. In: Ders.: Aus vierzig
Jahren Bibliotheksarbeit. Kleine Schriften. Wiesbaden 1954.
S. 180-197; Leyh, Georg: Die Bildung des Bibliothekars. 2.,
überprüfte Aufl. Darmstadt 1968; Leyh, Georg: Der Bibliothekar und sein Beruf. In: Handbuch der Bibliothekswissenschaft.
Hrsg. von Georg Leyh. Bd. 2. Wiesbaden 1961. S. 1-112;
Scholl, Nikolaus: Bibliothekar und Wissenschaft. Studien zur
Geschichte des bibliothekarischen Berufs. In: Bibliothek und
Wissenschaft 1 (1964) S. 142-200; Lohse, Hartwig: Der Bibliothekar und seine Fachwissenschaft. In: ZfBB 26 (1979) S. 253265; Lohse, Hartwig: Das Berufsbild des wissenschaftlichen
Bibliothekars. In: Ders.: Tagesforderungen wissenschaftlicher
Bibliotheken in kritischer Diskussion. Frankfurt/Main [u. a.]
1991. S. 339-349; Philipp, Franz-Heinrich: Der wissenschaftliche Bibliothekar. In: ZfBB 27 (1980) S. 126-131; Totok, Wilhelm: Der Bibliothekar zwischen Praxis und Wissenschaft. In:
Bibliothek und Wissenschaft 21 (1987) S. 189-206.
Grabka, Marion: In welchem Maß erzeugen die praktische und
theoretische Ausbildung Kompetenz für die berufliche Tätigkeit des Höheren Dienstes. Ergebnisse einer Umfrage. In: Bibliotheksdienst 26 (1992) S. 1513-1524.
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Bibliothek 18.1994. Nr. 1 Jochum-Hermeneutik, Dekonstruktion und Information
formationswissenschaft wird von vielen als der lang erhoffte Weg aus dem bibliothekarischen Ghetto betrachtet ein Weg, der verspricht, das Allerälteste (das Buch)
mit dem Allermodernsten (dem Computer) unter dem
Schlagwort der „Information" zu vereinen und den Bibliotheken ihren Ort im Verteilungskampf um knappe
Steuergelder zu sichern. Denn wer wagte es zu bezweifeln, daß die moderne Informationsgesellschaft nichts
so sehr braucht wie die Bibliotheken zum Zwecke der Informationsvermittlung?
Freilich hat die Informationstheorie Konkurrenten. Da ist
zum einen die Hermeneutik, die von sich mit Recht behaupten darf, sie sei als die älteste der konkurrierenden
Theorien mit dem Thema Buch und Bedeutung befaßt.
Gegen die Hermeneutik, wie sie in Gadamers großem
Buch „Wahrheit und Methode" dann zu einer philosophischen Hermeneutik wurde, wandte sich der aus
Frankreich kommende Dekonstruktivismus, indem er im
Rückgriff auf Husserl, Heidegger und Nietzsche das
Problem der Sprache und der Schrift einer überraschenden neuen Lösung zuführte. Diesen beiden aus der Philosophie stammenden Theorien steht eine Informationswissenschaft gegenüber, die dank ihrer Herkunft
aus der Nachrichtentechnik von vornherein als technophile Theorie auftreten konnte, die ohne Scheu vor sakrosankten Überlieferungen zum technischen Kern der
Dinge vordringen und laut eigenem Anspruch zum ersten Mal das Feld für eine „wirkliche Theorie der Bedeutung" bereiten würde4.
Auf den folgenden Seiten wollen wir die Relevanz dieser
drei Theorien für das bibliothekarische Geschäft prüfen.
Dies geschieht in der oben vorgetragenen Überzeugung, daß wir unser theoretisches Defizit dringend aufarbeiten müssen, um nicht vorschnell Lösungen für
bibliothekarische Probleme zu adaptieren, die sich als
einseitig entpuppen könnten. Und es geschieht in der
Überzeugung, daß eine bibliothekarische Theoriebildung nicht als Einheitstheorie zu konstruieren ist, die alle
Phänomene über einen gemeinsamen theoretischen Leisten schlägt5. Auch in der Bibliothekswissenschaft sollte
wie in den sonstigen Wissenschaften eine fruchtbare
Konkurrenz von Meinungen dafür sorgen, daß ein um
der Praxis willen schädliches Hände-in-den-Schoß-Legen genauso wie ein blinder Aktionismus vermieden und
ein um der Theorie willen produktiver Anschluß an das
philosophische Umfeld nicht verpaßt wird.
1
Hermeneutik
Die Hermeneutik entstand in der griechischen Antike aus
der Erfahrung einer Differenz6, die aus dem im 6. Jahrhundert v. Chr. eingeführten Alphabet resultierte7. Die
Verschriftlichung des zuvor mündlich Tradierten führte
nämlich zu der Erkenntnis, daß Schrift sich vom sozialen
Kontext ablöste und der Sinn der Schriften sich späteren
Lesern entzog. Während die in einem Gespräch möglichen Mißverständnisse durch Nachfragen geklärt werden können, fehlt der Schrift der „Vater", der für die richtige Auslegung sorgt, „denn selbst ist sie weder sich zu
schützen noch zu helfen imstande"8. Eine zweite Differenzerfahrung brachte der Hellenismus: Nun war die gesamte Tradition verschriftlicht, so daß es darauf ankam,
das Korpus der Schriften zu sichten und die Überlieferung festzustellen, indem verderbte Texte ausgeschieden und abweichende Lesarten überprüft wurden. Auf
105
diese Weise entstand am Museion in Alexandria der Kanon der griechischen Klassiker9. Aus dieser Erfahrung
einer doppelten Differenz lassen sich die zwei Spielarten
der Hermeneutik erklären: zum einen die grammatischrhetorische Auslegung, die durch philologische Forschung den Text eines Autors sichern will unter Beibehaltung der ursprünglichen Intention des Autors (alexandrinische Schule), zum ändern die allegorische Interpretation, die nicht mehr verständliche Texte oder Textpassagen neu interpretiert und damit die Bedeutung
eines Autors oder eines kanonischen Textes für eine
neue Zeit bewahrt (pergamenische Schule).
Diese beiden Tendenzen prägten die Hermeneutik bis
Schleiermacher, der die Hermeneutik von der klassischen Philologie ablöste10. Dabei unterschied er zwischen der grammatischen Auslegung, die den Sinn
eines jeden Wortes an einer gegebenen Textstelle aus
dem Kontext eruiert, und der psychologischen Auslegung, die die je individuell von einem Autor erzeugte
Einheit eines Gegenstandes zu bestimmen versucht, indem sie sich entweder divinatorisch in den Autor hineinversetzt oder komparativ vorgeht und den individuellen
Text und seinen „Gegenstand" im Vergleich zu vielen
anderen Texten, die denselben „Gegenstand" behandeln, untersucht - immer mit dem Ziel, die „Idee des
Werkes" zu verstehen11. Von Schleiermachers Hermeneutik wirkte vor allem der Aspekt der psychologischen
Auslegung weiter, die im Sinne einer „Kunstlehre des
Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen" (Dilthey) verstanden, als Methode historischen Verstehens
sui generis ausgebaut wurde und sich gegen den von
den positiven Wissenschaften ausgehenden methodologischen Monismus richtete. Aus dieser Gegenüberstellung erwuchs die methodologische Kontroverse um
Erklären und Verstehen als gleichberechtigten wissenschaftlichen Methoden (die Naturwissenschaften, so
hieß es, erklären Phänomene, die Geisteswissenschaften versuchen, sie zu verstehen), die erst nach den 70er
Jahren unseres Jahrhunderts abebbte12.
Inzwischen hatte 1960 Hans-Georg Gadamer sein Buch
„Wahrheit und Methode" veröffentlicht, das Hermeneutik nicht mehr als philologisches Geschäft verstand oder
als spezifische Methode der Geisteswissenschaften,
4 Shannon, Claude E., Warren Weaver: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie. Wien 1976. S. 38.
5 Solches wird irrtümlich immer wieder als gelungene bibliothekarische Theoriebildung verstanden. Vgl. Limburg, Hans:
Die Bibliothekswissenschaft kam auf leisen Sohlen. Ist sie nun
wirklich da? In: Verband der Bibliotheken des Landes Nordrhein-Westfalen. Mitteilungsblatt. N.F. 27 (1977) S. 126-137,
hierS. 131.
6 Laut Luhmann setzt alle Kommunikation die Erfahrung von
Differenz voraus. Siehe Luhmann, Niklas: Soziale Systeme.
Frankfurt am Main 1987. S. 223.
7 Zum Einbruch des Alphabets in orale Gesellschaften siehe den
Band „Entstehung und Folgen der Schriftkultur." Von Jack
Goody, lan Watt u. Kathleen Gough. Frankfurt 1986, sowie Havelock, Eric A.: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als
kulturelle Revolution. Weinheim 1990.
8 Platon: Phaidros 275 e.
9 Pfeiffer, Rudolf: Geschichte der klassischen Philologie. Reinbek bei Hamburg 1970.
10 Schleiermacher, Friedrich D.: Hermeneutik und Kritik. Frankfurt 1977. Das Werk erschien aus dem Nachlaß zuerst 1838.
Vgl. dort S. 71 Schleiermachers Kritik an Wolf und Ast: „Beide
aber fassen sie [die Hermeneutik] zu speziell, nur in Beziehung
auf die beiden klassischen Sprachen des Altertums/'
11 Siehe Schleiermacher (Anm. 10) S. 169 f.
12 Wright, Georg Henrik von: Erklären und Verstehen. Frankfurt
am Main 1974.
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Bibliothek 18.1994. Nr. 1 Jochum- Hermeneutik, Dekonstruktion und Information
sondern im Rückgriff auf Heideggers Fundamentalontologie einen Universalitätsanspruch erhob, der sich aus
der für alles menschliche Leben grundlegenden Problematik des Verstehens ergab. Dabei ging Gadamer mit
Heidegger davon aus, daß der Prozeß des Verstehens
wesentlich zirkulär ist13, wobei er besonders den Aspekt
des Vorurteils herausarbeitete, das keine Behinderung
des Verstehens sei, sondern selbst als historisch entstanden zur Wirkung des jeweiligen Werkes gehöre14.
Ebendiese Vorurteile leiten all unser Verstehen, das niemals als „reine Vernunft" aufzutreten vermöchte, so daß
Gadamer das Verstehen als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen beschrieb, „in dem sich Vergangenheit
und Gegenwart beständig vermitteln"15. Dabei gibt es
keinen „objektiven" Sinn der überlieferten Texte mehr,
schon gar nicht im Sinne eines ursprünglich vom Autor
Gemeinten, der Sinn der Texte geht vielmehr immer
schon über das vom Autor Gemeinte hinaus, denn ihr
Sinn ist ihr Wirkungszusammenhang, „das Ganze des
objektiven Geschichtsganges"16. Hermeneutik freilich
verdankt sich auch bei Gadamer der Erfahrung einer Differenz: daß sich die Texte trotz des ihnen gemeinsamen
historischen Horizonts nicht mehr von selbst verstehen.
Dieses „Betroffensein von dem Wort der Überlieferung" 17 setzt den hermeneutischen Prozeß in Gang, der
„die Aufgabe der historischen Selbstvermittlung der Gegenwart mit der Überlieferung einschließt"18. Der hermeneutische Prozeß ist daher nicht allein ein Befragen
des Textes, sondern auch eine durch den Text an uns gestellte Frage, die „unser Meinen ins Offene" stellt19.
Kurz: Die „Wahrheit eines Werkes" ist niemals eine dem
Werk innewohnende Substanz, sondern die Wahrheit
einer Frage, die ich aus meinem Lebenszusammenhang
heraus stelle, einem Lebenszusammenhang, der selbst
jedoch wiederum zur Wirkungsgeschichte des Werkes
gehört.
Aus dieser Frage-und-Antwort-Struktur der Überlieferung hat Gadamer die Voilzugsweise der Auslegung als
Gespräch abgeleitet20 und damit „die Wahrheit der Sachen in der Rede" veröltet21. Dabei betrachtet er Sprache nicht als eine der „Ausstattungen, die dem Menschen, der in der Welt ist, zukommt" 22 , Sprache ist vielmehr der Grund dafür, daß wir als Menschen überhaupt
eine Welt haben. Deshalb ist alles Sprechen „kein bloßes Tun, kein zweckvolles Handeln, etwa eine Herstellung von Zeichen", sondern ein „Lebensvorgang, in
dem sich eine Lebensgemeinschaft darlebt"23. In der
sprachlichen Verständigung wird „Welt" offenbar, und
weil diese sprachliche Welt dem Individuum unverfügbar voraus liegt, ist alles Sprechen ein Geschehen, das
das in der Überlieferung Gesagte zur Sprache bringt.
Hermeneutik ist daher kein Tun wie in den Naturwissenschaften, sondern ein „Erleiden, ein Verstehen, das ein
Geschehen ist", indem wir auf die Dinge hören24. Und
weil das immer und überall so ist, ist „Sein, das verstanden werden kann, [...] Sprache"25.
Wenn aber alles Sein, das verstanden werden kann, Sprache ist, wenn alle aus der Überlieferung stammenden Texte ihre Bedeutung aus ihrer impliziten Sprachlichkeit erfahren, wird das Phänomen der Schrift auf das Phänomen
der Sprache, des Logos, reduziert. Gegen diese logozentrische Reduktion wendet sich der Dekonstruktivismus.
2
Dekonstruktion
Der Dekonstruktivismus geht im wesentlichen auf das
Werk Derridas zurück, das sich zum einen gegen den
Strukturalismus abhebt und zum anderen gegen die
durch Heidegger und Gadamer repräsentierte Fundamentalontologie und Hermeneutik. Die Wende gegen
den Strukturalismus erklärt sich daraus, daß dieser zwar
die Sprache von den Subjekten abgelöst hatte, indem er
zeigte, daß jede Sprache rekonstruierbaren Regeln gehorcht, so daß die Bedeutung der Worte nicht aus dem
Rekurs auf die sprechenden Individuen und ihre Intentionen gewonnen werden kann, sondern aus den jeweiligen
Regelsystemen26; indem der Strukturalismus diese Regelsysteme aber auf ein geheimes Zentrum zurückführte,
erhob der Dekonstruktivismus dagegen den Verdacht
einer heimlichen Philosophie der Präsenz, die den Gedanken der Struktur nur aus einem der Struktur innewohnenden Zentrum zu denken vermochte und davon träumte, dieses innersten Kerns aller Struktur habhaft werden
zu können-um darin uneingestandenermaßen das theologische Projekt der abendländischen Metaphysik weiterzutreiben, die seit jeher nach dem innersten Zentrum
gesucht und diesem Zentrum im Laufe der Geschichte
nur verschiedene Namen und Formen gegeben hatte27.
Die Wende gegen Hermeneutik und Fundamentalontologie vollzog sich als Kritik einer Theorie, die die Bedeutung der Schrift nur aus ihrem Bezug zur Sprache dachte, so daß Schrift nichts anderes als die Anwesenheit
einer Stimme ist, die die eigentliche Bedeutung der
Buchstaben trägt28. In dieser Theorie dechiffrierte Derrida einen „Phonozentrismus", der eine göttliche Stimme
in den geschriebenen Worten imaginiert und ihnen eine
Bedeutung nur zuerkennt, insofern ebendiese göttliche
Stimme in den Worten präsent ist29. Dagegen setzt Derrida die Einsicht, daß die Bedeutung der Worte keinem
ihnen innewohnenden Logos, keiner göttlichen Stimme
entspringt, sondern sich der Differenz der Zeichen verdankt, die dem einzelnen Zeichen seinen Zeichenwert
nur aufgrund der Differenz zu allen anderen Zeichen zuerkennt30. Dabei dreht Derrida das Verhältnis von Spra13 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge
der philosophischen Hermeneutik. 4. Aufl. Tübingen 1975.
S. 250 ff. Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. 15. Aufl. Tübingen 1979. S. 148 ff.
14 Gadamer (Anm. 13) S. 261 ff.
15 Ebd. S. 275.
16 Ebd. S. 280.
17 Ebd. S. 355.
18 Ebd. S. 355.
19 Ebd. S. 356.
20 Ebd. S. 366.
21 Ebd. S. 389.
22 Ebd. S. 419.
23 Ebd. S. 422.
24 Ebd. S. 441.
25 Ebd. S. 450.
26 Maßgeblich waren hier zunächst sprachwissenschaftliche Arbeiten, allen voran Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der
allgemeinen Sprachwissenschaft. 2. Aufl. Berlin 1967. Die
französische Ausgabe dieses Werkes war zuerst 1916 in Lausanne und Paris erschienen und geht auf Vorlesungen zurück,
die Saussure ab 1906 gehalten hatte.
27 Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1985. S. 422 ff.
28 Ebd. S. 25.
29 Vgl. auch Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen.
Frankfurt am Main 1979.
30 Diese Einsicht verdankt sich Saussures Sprachwissenschaft.
Vgl. Hörisch, Jochen: Das Sein der Zeichen und die Zeichen
des Seins. In: Derrida (Anm. 29) S. 7-50, hier S. 43.
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Bibliothek 18.1994. Nr. 1 Jochum - Hermeneutik, Dekonstruktion und Information
ehe und Schrift um: Nicht mehr die Sprache ist Garant
für den Sinn der Schrift, vielmehr ist es ursprünglich die
Schrift, die überhaupt erst für Sinn sorgt31. Denn all der
Sinn all der Schriften, die auf uns gekommen sind, hat
seinen Ort nur in diesen Schriften und nirgendwo anders. „Der Sinn muß warten, bis er benannt oder geschrieben wird, um sich selbst bewohnen zu können und
um das zu werden, was er in seinem Hingehaltensein ist:
der Sinn."32 Sinn also ist nichts anderes als die differentielle Ordnung der Zeichen, und diese Differenz der Signifikanten bringt die Differenz zwischen Signifikant und
Signifikat allererst hervor, denn die Signifikate lassen
sich als Signifikate nur denken, wenn sie selbst in einer
differentiellen Ordnung zueinander stehen und also Signifikanten sind33. Diese aber sind nicht Signifikanten
in einem Irgendwo, sondern haben sich immer schon irgendwo eingeschrieben: als Schrift. „Sie bringt den
Sinn hervor, indem sie ihn verzeichnet, indem sie ihn
einer Gravierung, einer Furche, dem Relief einer Fläche
anvertraut, von der man verlangt, daß sie unendlich
übertragbar sei."34
Der Wert der Signifikanten resultiert aus der Lücke zwischen den Signifikanten. Diese konstitutive Lücke, diese
Absenz, ermöglicht allererst Bedeutung, die nie an ein
Ende kommen kann, denn die ins Unendliche strebende
Kette der Signifikanten mit ihren unendlichen Lücken
läßt einen Sinn niemals präsent werden. Die schriftliche
Überlieferung ist daher nicht das Andere des in ihr präsenten göttlichen Geistes, sondern nichts weiter als tradierte Schrift, deren Sinn nicht subjektzentrisch herstellbar ist: „Selbst den Sachen zugehörig, über welche die
Stimme zu herrschen meint, partizipiert die Schrift an
der Ordnung der Dinge, die anders als die des gesprochenen Diskurses keinen genuinen Herrn kennt."35 Daß
die differentielle Ordnung der Zeichen nicht subjektzentrisch herstellbar ist, dafür sorgt nicht allein die Masse
des Geschriebenen, die auf uns gekommen ist, so daß
wir immer nur die Nach- oder Zuspätgeborenen sein
können, sondern auch die differentielle Ordnung der
Signifikanten, die noch das „Ich" zwingt, von sich im
Zeitmodus der vergangenen Zukunft zu sprechen und
zu schreiben, „die es immer ,ich werde (ich) gewesen
sein' sagen läßt, wenn es ,ich bin (ich)' zu sagen imaginiert"36.
Derridas Philosophie läßt sich daher charakterisieren als
Philosophie der Absenz, die gegen die in aller bisherigen
Metaphysik versteckte Ontotheologie37 revoltiert und an
die Stelle eines wie auch immer philosophisch verbrämten göttlichen Logos die Schrift setzt, die eine ursprüngliche Absenz markiert. Erst diese ursprüngliche Absenz
läßt überhaupt Alterität zu, ohne sie in einem philosophischen System oder einer Struktur auf Seiten des Allbekannten zu verbuchen, indem sie dem System oder
der Struktur zuvor kompatibel gemacht wurde und dadurch ihre Alterität bereits verloren hat38.
Die von Derridas Philosophie der Schrift aufgeworfenen
Fragen sind äußerst vielfältig, nicht zuletzt, weil er sich
bewußt an den Rand bisherigen Philosophierens begibt
und ihn zu überschreiten sucht. Daß diese im Wortsinne
exzentrische Position Anlaß zu zahlreichen Einwänden
gab und gibt und daß Derridas Philosophie heftig umstritten ist, versteht sich fast von selbst. Weniger umstritten und mit der Würde der Naturwissenschaften
ausgestattet, tritt in den Bibliotheken die Informationswissenschaft auf.
3
107
Information
Die Informationswissenschaft, wie sie von Shannon, der
bei den Bell Telephone Laboratories arbeitete39, und
Weaver entwickelt wurde, ist im wesentlichen Theorie der
Nachrichtentechnik. Im Rahmen dieser Theorie wird der
Informationsbegriff von seiner Alltagsbedeutung abgetrennt und erhält eine neue Bedeutung: „Information ist
ein Maß für die Freiheit der Wahl, wenn man eine Nachricht aus einer anderen aussucht. Für den sehr einfachen
Fall, daß man nur zwischen zwei möglichen Nachrichten
zu wählen hat, legt man willkürlich fest, daß die Information, die mit dieser Situation verbunden ist, gleich Eins
ist."40 Die hier definierte „Information" beschreibt also
eine Situation oder ein System, das zwischen mehreren
Zuständen wählen kann. Indem sich solche Wahlmöglichkeiten zählen lassen, läßt sich ein Betrag der Information ermitteln, der definiert wird als der „Logarithmus der Anzahl der Wahlmöglichkeiten", und da er als
Logarithmus zur Basis 2 festgelegt wird, ist der Betrag
der Information bei genau zwei Wahlmöglichkeiten
gleich eins. Dies wird dann als ein bit definiert41.
Die Ziele der Informationstheorie erschöpfen sich jedoch nicht in einer Lösung der technischen Probleme
der Information (Ebene A); sie hat nach Weavers Überzeugung auch eine „tiefe Bedeutung" für das semantische (Ebene B) und das von ihm so genannte Effektivitätsproblem der Kommunikation (Ebene C), worunter er
den pragmatischen Aspekt der Beeinflussung von Verhalten durch Kommunikation versteht42. Denn alle Semantik und Pragmatik der Kommunikation hängt davon
ab, ob das technisch gesendete Signal auch genau empfangen oder durch eine Störquelle verunreinigt wurde43.
Da das ursprüngliche Modell jedoch nur aus wenigen
Elementen besteht (Nachrichtenquelle-Sender-Signal
- Empfänger - Nachrichtenziel) 44 , die alle lediglich den
technischen Aspekt der Kommunikation abdecken, erweitert es Weaver um den semantischen Aspekt, indem
er zwischen Empfänger und Nachrichtenziel einen „semantischen Empfänger" einfügt, der die Nachricht einer
zweiten Decodierung unterwirft, „welche die statistischsemantischen Eigenschaften [der Nachricht] den stati-
31 Vgl. Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt am Main
1974. S. 19 ff.
32 Derrida (Anm. 27) S. 22.
33 Siehe auch Hörisch (Anm. 30) S. 43.
34 Derrida (Anm. 27) S. 25.
35 Hörisch (Anm. 30) S. 14. Vgl. Jochum, Uwe: Bibliothek, Buch
und Information. In: Bibliothek 15 (1991) S. 390-392. Ich habe
dort davon gesprochen, daß das Lesen oder Schreiben von
Schrift kein Kommunikationsvorgang ist. Daß ich hier eine
neue, eigene und abwegige Diktion gewählt habe, wie Walther
U m statt er meint, ist nichts weiter als ein gleich dreifacher Irrtum. Vgl. Umstätter, Walther: Schrift, Information, Interpretation und Wissen. In: Bibliothek 16 (1992) S. 264-266, hier
S. 264.
36 Hörisch (Anm. 30) S. 34.
37 Siehe Heidegger, Martin: Identität und Differenz. 7. Aufl. Pfullingen 1982. Darin der wichtige Aufsatz über „Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik".
38 Derrida (Anm. 27) S. 52: „Die Schrift ist das Moment dieses
ursprünglichen Tals des Anderen im Sein/'
39 Siehe Shannon u. Weaver (Anm. 4) S. 11, Anm. 1.
40 Ebd. S. 18.
41 Ebd. S. 18 f.
42 Ebd. S. 12 ff.
43 Ebd. S. 14 u. 28 ff.
44 Ebd. S. 16 u. S. 44.
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Bibliothek 18.1994. Nr. 1 Jochum - Hermeneutik, Dekonstruktion und Information
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stisch-semantischen Fähigkeiten der Gesamtheit der
Empfänger anpassen soll oder jener Untermenge von
Empfängern, die den Hörerkreis darstellen, den man
beeinflussen will"45.
Nachdem die Informationstheorie diesen Schritt zur Semantik getan hatte, wurde sie zu einer Theorie ausgebaut, die alle Aspekte der Kommunikation umfassen
sollte. Dabei wurde freilich die ursprüngliche nachrichtentechnische Bedeutung des Informationsbegriffs aufgegeben. Man kann sogar exakt das Jahr angeben, in
dem diese Transformation geschah: Es war 1969, als das
Kölner Kolloquium über „Bibliothekswissenschaft" abgehalten wurde46 und Robert M. Hayes seinen Vortrag
über „Information Science in Librarianship" veröffentlichte47. Dabei ging die Initiative von Hayes aus, auf dessen im August 1969 während einer IFLA-Tagung gehaltenen Vortrag sich einige Teilnehmer des Kölner Kolloquiums explizit bezogen. Er hatte dort „Information" definiert als „data produced äs a result of a process upon data. That process may be one simply of data transmission
(in which case, the definition and measure used in communication theory are applicable); it may be one of data
selection-, it may be one of data organization; it may be
one of data analysis."48 Die Anwendung auf die Bibliotheken wurde von Hayes selbst vorgenommen: Bibliotheken seien aus dem Grund Informationssysteme, weil
in ihnen Daten prozessiert werden, „cataloging und indexing, for example"49.
Was die deutschen Nachfolger von Hayes jedoch überlasen, war sein systemtheoretischer Ansatz50. Ihm ging es
vor allem um die Analyse von Informationsprozessen,
weil er in ihnen die Möglichkeit von Systemen sah, sich
an ihre Umwelt anzupassen. Daher ging es ihm auch
nicht um eine wie auch immer beschaffene „allgemeine
Informationswissenschaft", sondern um sektorale Informationswissenschaften („Information science in genetics", „Information science in documentation"), die eine
Anpassung des jeweiligen Systems an seine Umwelt
vorzunehmen hatten. Im besonderen sollte die bibliothekarische Informationswissenschaft wegführen vom starren Regellernen und die Bibliothekare befähigen, neue
Situationen zu antizipieren und zu gestalten, um so das
Informationssystem Bibliothekswesen stets optimal in
seine Umwelt einzubinden 51 . Nur in diesem Zusammenhang interessiert ihn das „data processing in the library",
das für ihn aus den wohlbekannten Elementen des Geschäftsganges bestand (Katalogisierung, Ausleihe, Fernleihe usw.), die im Hinblick auf ihre Effizienz durch Vergleich mit Alternativen evaluiert werden sollten52.
Indem man Hayes' systemtheoretischen Ansatz überlas
und sich nur an seine Definition der Information als „data processing" hielt, fiel es leicht, die Bibliotheken als
„spezielle Informationssysteme" aufzufassen53, deren
immer schon erbrachte Dienstleistungen nun in terminologisch neuem Gewand auf den Informationsbegriff
gebracht werden konnten. Zumal der Informationsbegriff erlaubte, den Anschluß der Bibliotheken an die neueste Informationstechnologie-sprich: EDV und neue Medien -zu rechtfertigen54.
4
Die tote Masse gebundener Bücher
Nur eine ganz unwissenschaftliche Ansicht, so schrieb
ein berühmter Bibliothekstheoretiker des 19. Jahrhunderts, könne eine Bibliothek als eine „todte oder mate-
rielle Masse gebundener Bücher" betrachten55. Vor
solch einer Ansicht schützte die solide philologische
Ausbildung der meisten Bibliothekare, die dank ihres
hermeneutischen Vorurteils nicht einfach Papier in Regalen stapelten, sondern den göttlichen Geist in den Bibliotheken durch eine systematische Aufstellung der Bücher einzufangen trachteten. Die tägliche Arbeit war daher nicht einfach Verwaltungsroutine, sondern Arbeit
am ganz Anderen, die die Bibliothek zu einem Heiligtum
werden ließ56. Auch dort, wo die Frage der systematischen Buchaufstellung keine Bedeutung hatte, blieb der
bibliothekarische Hermeneut dabei, in den Büchern der
Bibliotheken die Schatzkammer eines Geistes zu sehen,
der unabhängig von der Zeit in den Büchern anwesend
war und mit den Lesern sprechen konnte: „Unwandelbar und unvergänglich ist das geschriebene Wort;
äußerlich starr und tot, und doch lebendiger als alles,
was atmet. Die Stürme von Jahrhunderten und Jahrtausenden gehen darüber hin, und es spricht zu uns, wo immer wir es vernehmen wollen, so frisch, so unmittelbar,
als wäre es eben erst geboren."57
Freilich hatte und hat diese hermeneutische Theorie
vom Bücherschatz eine Kehrseite. Der in den Büchern
angeblich anwesende und über Jahrhunderte hinweg
sprechende Geist verstummt nämlich bisweilen und
macht die nicht mehr sprechenden Bücher zu wertloser
„toter Literatur", die in den Bibliotheken nichts mehr
verloren hat58. In der Anerkennung dieses Phänomens
der toten Literatur leistet die Hermeneutik ihren Offenbarungseid. Daß das in den Büchern bewahrte Gespräch
abreißt, heißt soviel wie: Hier spricht niemand. Die gängige Operation, die diesen Sachverhalt verschleiern soll,
ist die Unterscheidung zwischen wertvoller (= sprechender) und wertloser (= nicht sprechender) Literatur, die
die Tatsache des Nicht-Sprechens auf Seiten des Text45 Ebd. S. 37.
46 Bibliothekswissenschaft. Versuch einer Begriffsbestimmung
in Referaten und Diskussionen bei dem Kölner Kolloquium
(27.-29. Oktober 1969). Köln 1970.
47 Hayes, Robert M.: Information Science in Librarianship. In: Libri 19(1969)5.216-236.
48 Ebd. S. 219.
49 Ebd. S. 223.
50 Ebd. S. 227 ist explizit die Rede von einem „Systems approach".
51 Ebd. S. 224: „The purpose of Information science is to develop
thetoolsforthese decisions, and its role in library education is
to provide the Student with the basic abilities to use those
tools."
52 Ebd. S. 229 f.
53 Kaegbein, Paul: Bibliotheken als spezielle Informationssysteme. In: ZfBB 20 (1973) S. 425-442.
54 Eine vorzügliche Darstellung der Karriere des Informationsbegriffs bietet Wi l bert, Gerd: Bibliothek-Information-neue Medien, In: Bibliothek 11 (1987) S. 73-97.
55 Molbech, Christian: Lieber Bibliothekswissenschaft. Leipzig
1833. S. 241.
56 Jochum, Uwe: Bibliotheken und Bibliothekare 1800-1900.
Würzburg 1991.
57 Milkau, Fritz: Die Bibliotheken. In: Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart. 2., verb. u. verm. Aufl. Teil 1,
Abt. 1. Berlin u. Leipzig 1912. S. 580-631, hier S. 580. S. 584 f.
fällt das Wort von der Bibliothek als „Schatzkammer". Vgl.
Gräsel, Arnim: Grundzüge der Bibliothekslehre. Leipzig 1890.
Dieses Werk widmet seinen gesamten zweiten Teil der Lehre
„Vom Bücherschatz".
58 Siehe etwa Leyh, Georg: Tote Literatur in den Bibliotheken. In:
Ders.: Aus vierzig Jahren Bibliotheksarbeit. Kleine Schriften.
Wiesbaden 1954. S. 176-179. Zur jüngsten Kontroverse um
dieses Thema siehe Jochum, Uwe (Hrsg.): Der Baden-Württembergische Landesspeicher. Konstanz 1992.
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Bibliothek 18.1994. Nr. 1 Jochum - Hermeneutik, Dekonstruktion und Information
Produzenten verbucht, der in irgendeiner Weise unfähig
war, dem Text einen Geist mitzugeben. Wenn alles Sein,
das verstanden werden kann, Sprache ist59, dann ist
dort, wo die Sprache versagt, kein Sein, und alle nicht
sprechenden Bücher haben ihre Existenz verwirkt. Die
tote Literatur ist aus dem Überlieferungsgeschehen gefallen, und kein Hermeneut steht bereit für eine gesprächsweise Wiederbelebung, so daß es den Bibliothekaren überlassen bleibt, diesen Büchern den letzten
Dienst zu erweisen und sie aus dem Reich des Geistes
bzw. seiner Schatzkammern zu entfernen.
Wenn das Phänomen der toten Literatur darauf aufmerksam macht, daß der hermeneutische Standpunkt unhaltbar ist, weil in den Büchern weder jemand zu uns spricht
noch ein Überlieferungsgeschehen die Vergangenheit mit
der Gegenwart permanent selbst vermittelt, wird der dekonstruktivistische Standpunkt ins Recht gesetzt, der in
den Büchern keinen Geist und keine Stimme des Autors
hypostasiert, sondern sie als das betrachtet, was sie allem
Augenschein nach sind: eine tote materielle Masse, deren
Ordnung die „Ordnung der Dinge" ist60. Lesen heißt daher
nicht, einen Geist erwecken, sondern Zeichen entziffern,
deren Wert selbst Null wäre61, würden sie ihn nicht aus
dem Bezug zu allen anderen Zeichen erhalten. Wenn es
aber kein sprachliches Zeichen vor der Schrift gibt62, erhält
die Schrift eine ungeahnte Bedeutung: nicht als der würdige Aufenthaltsort eines Geistes, sondern als der Ermöglichungsraum von Sinn und Bedeutung schlechthin, die im
und mit dem Spiel der Zeichen entstehen. Statt die Linearität eines Überlieferungsgeschehens zu denken, geht es
darum, sich der in alle Richtungen ins Unendliche laufenden Differentiationsbewegung der Schrift bewußt zu werden, in der jedes Buch und jede Schrift einen neuen Zug
eröffnet. Schrift selbst ist dabei nicht mehr als lineare
Schrift zu denken; es geht nun darum, „endlich das zu lesen, was in den vorhandenen Bänden schon immer zwischen den Zeilen geschrieben stand"63.
Was zwischen den Zeilen und Buchstaben der Schrift
steht, ist aber eine Differenz, die der Hermeneut um
eines präsenten Geistes willen unterschlagen hat. Dieser angeblich präsente Geist ist vielmehr zu lesen als
Produkt der Lektüre, die in der Entzifferung der differenten Zeichen den Autor nachträglich erzeugt64. Wo der
Hermeneut auf „ihres Vaters Hilfe"65 hofft in dem Glauben, irgendein Subjekt (der Autor, der Geist) könne ihm
die Bedeutung der Zeichen garantieren, bescheidet sich
der Dekonstruktivist mit der Erkenntnis: „Zeichen sind
oktroyiert und tradiert, und ihre differentielle Ordnung
ist nicht subjektzentrisch herstellbar."66
Hinter diese Einsicht fällt die bibliothekarisch abgewandelte Informationstheorie zurück, wenn sie in der Schrift
einen Kommunikationsprozeß imaginiert und entgegen
aller der differentiellen Ordnung der Zeichen innewohnenden Zeitlichkeit einen in der Schrift kommunikativ
präsenten Sinn behauptet67. Diese der Informationswissenschaft immanente Philosophie der Präsenz, die immer wieder auf das Sender-Empfänger-Modell als
grundlegendes Modell der Kommunikation rekurriert
und allerhöchstens „minimale Ergänzungen" für notwendig hält68, ist nichts anderes als das Weiterleben des
hermeneutischen Modells in technischer Umgebung.
Die jahrtausendealte Selbstverständlichkeit, daß Schrift
einen „Vater" braucht, kehrt hier als „Sender" wieder.
Dabei sollte man aber im Auge behalten, daß es bei der
Auseinandersetzung zwischen Dekonstruktivismus und
109
Informationswissenschaft nicht um den nachrichtentechnischen Informationsbegriff ä la Shannon/Weaver
geht. Diese Theorie hat einen wohldefinierten Sinn,
wenn es um die Übertragung von Nachrichten zwischen
oder innerhalb von Geräten geht. Das Problem der von
Bibliothekaren vertretenen Informationswissenschaft
ist jedoch, daß sie im Anschluß an Weaver einen Übergang zwischen der nachrichtentechnischen und der semantischen Ebene des Informationsbegriffs behauptet.
Diesen Übergang jedoch hatte schon Shannon vereitelt,
als er ausdrücklich erklärte: „Das grundlegende Problem der Kommunikation besteht darin, an einer Stelle
entweder genau oder angenähert eine Nachricht wiederzugeben, die an einer anderen Stelle ausgewählt
wurde. Oft haben Nachrichten eine Bedeutung, [...]. Diese semantischen Aspekte der Kommunikation stehen
nicht im Zusammenhang mit den technischen Problemen."69 Diese fundamentale Differenz zwischen Nachrichtentechnik und Informationswissenschaft (als Erweiterung der Nachrichtentechnik um den semantischen
Aspekt) hatte auch Hayes wahrgenommen, als er feststellte, daß die Definitionen und Maßregeln der Nachrichtentheorie nur auf den Bereich der „data transmission" angewendet werden können70.
Als die bibliothekarisch abgewandelte Informationswissenschaft daher dem nachrichtentechnischen Informationsbegriff einen semantischen Aspekt vindizierte, war
man keineswegs, „vielleicht zum ersten Mal, für eine
wirkliche Theorie der Bedeutung bereit"71, sondern
hatte lediglich durch eine semantische Unscharfe den
Alltagsbegriff der Information mit der Würde einer Naturwissenschaft aufgeladen 72 . De facto und anderslau59 Gadamer (Anm. 13) S. 450.
60 Hörisch (Anm. 30) S. 14.
61 Das deutsche Wort „Ziffer" leitet sich über das Altfranzösische
vom mittellateinischen „cifra" ab, das „Null" bedeutet. Das lateinische Wort wiederum stammt aus dem Arabischen usw.
Siehe das Duden-Herkunftswörterbuch unter dem Lemma
„Ziffer".
62 Derrida(Anm. 31).
63 Derrida (Anm. 31) S. 155.
64 Hörisch (Anm. 30) S. 14.
65 Platon. Phaidros 275 e.
66 Hörisch (Anm. 30)8.21.
67 Vgl. Umstätter (Anm. 35) S. 264: „Auch zuhören und lesen ist
ein Teil der Kommunikation und gerade dies ist doch das
beeindruckende an Bibliotheken, daß sie die Schätze bergen,
die uns in den Stand setzen, heute noch mit Platon in eine geistige Verbindung treten zu können."
68 Shannon u. Weaver (Anm. 4) S. 36 f.
69 Ebd. S. 41. Der letzte Satz von mir kursiv gesetzt.
70 Hayes (Anm. 47) S. 219. Ich darf diese Stelle wegen ihrer Bedeutung wiederholen: „Information is the data produced äs a
result of a process upon data. That process may be one simply
of data transmission (in which case, the definition and measure used in communication theory are applicable)." Aus dieser Stelle erhellt außerdem, daß er „communication theory"
als Theorie der Nachrichtentechnik begreift.
71 Shannon u. Weaver (Anm. 4) S. 38.
72 Wilbert(Anm. 54) hatte in Anm. 38 seiner Arbeit einen Aufsatz
zitiert, der das Problem bündig auf den Begriff brachte: „Die
üblich gewordene Bezeichnung Informations- und Kommunikationstechniken ist insofern mißverständlich, als es bei den
diesbezüglichen technischen Entwicklungen und politischen
Plänen nicht in erster Linie um die Information von Menschen
und die Kommunikation zwischen Menschen geht, sondern
nur um die Übertragung von Nachrichten zwischen Geräten,
die von Menschen bedient werden und (von anderen) programmiert worden sind. Genauer und der technischen Fachsprache besser entsprechend müßte von Datenverarbeitungstechnik statt Informationstechnik und Nachrichtentechnik
statt Kommunikationstechnik gesprochen werden."
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Bibliothek 18.1994. Nr. 1 Jochum-Hermeneutik, Dekonstruktion und Information
tenden Behauptungen zum Trotz war es dann gerade
dieser alltägliche Informationsbegriff, der eine weite
Verbreitung fand und zum neuen Paradigma der Bibliothekswissenschaft wurde, die sich selbst schließlich nur
noch als „spezielle Informationswissenschaft" 73 begreifen und die „Bibliotheken als Informationsvermittler" 74
rechtfertigen konnte.
Nun waren nicht mehr Bücher in den Bibliotheken zu
sammeln, zu ordnen und verfügbar zu machen, sondern
Informationen 75 . Wer gegen diesen Sprachgebrauch
Einwände erhob76, sah sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, er habe den informationswissenschaftlichen Terminus „Information" nicht verstanden77. Eine solche Polemik ist jedoch aus zwei Gründen unnötig. Zum einen
ist der bibliothekarische Informationswissenschaftler in
der mißlichen Lage erläutern zu müssen, wie er den von
Shannon und Hayes mit Recht negierten Zusammenhang zwischen technischer und semantischer Ebene der
Kommunikation herstellen will. Solange das missing
link fehlt, nutzt keine Berufung auf Shannon und Weaver. Zum anderen steht außer Zweifel, daß die Bibliotheken nicht nur Texte in Papierform als Buch sammeln,
sondern Texte in beliebiger materieller Form78, so daß
die Befürchtung, die Bibliotheken könnten zu „Buchmuseen" werden79, grundlos ist.
Der Konflikt ist denn auch weniger einer um die zutreffende Beschreibung des Ist-Zustandes der Bibliotheken.
Es ist vielmehr ein Konflikt um den Entwurf der bibliothekarischen Zukunft. Hier hat die informationswissenschaftliche Terminologie zweifellos dem Mißverständnis Vorschub geleistet, es gäbe eine quasi naturgesetzliche Notwendigkeit, immer mehr immer neuere Medien
als Informationsträger in die Bibliotheken als Informationsvermittlungsstellen zu integrieren. Löst man die
ideologischen Schichten des Informationsbegriffes aber
ab, zeigt sich in seinem Kern neben dem nachrichtentechnischen ein sehr trivialer Begriff von Information,
die von einem Sender zu einem Empfänger geschickt
wird. Dieser Begriff führt nun aber in die Irre, weil er suggeriert, in den Bibliotheken würden Informationen vermittelt - seien es Informationen in Büchern, seien es
Informationen in externen Datenbanken -, wo nichts anderes geschieht als die Vermittlung von Bibliotheksbeständen, indem der Benutzer die Adresse eines Buches
in der Bibliothek erfährt (und je nach Bibliothek weitere
nützliche Auskünfte über den Status des Buches, z. B. ob
es ausgeliehen ist)80.
Die Konzentration auf diesen Kern der Bibliothekstheorie bedeutet nicht, die Bibliotheken um ihre (technische) Zukunft zu bringen. Es geht vielmehr darum zu
betonen, daß wir es mit der Verwaltung von „Büchern"
genannten Sachen zu tun haben, deren Würde weder
ein Geist noch ein Sender garantiert. Es geht darum zu
betonen, daß wir eine sachgemäße Verwaltung dieser
Sachen erreichen müssen. Daß hier der Einsatz der
EDV bedeutende Veränderungen und Serviceverbesserungen gebracht hat, steht außer Zweifel. Sehr zweifelhaft ist jedoch, inwiefern die Bibliotheken den Bereich
der von ihnen verwalteten Sachen unter dem Schlagwort der Information über das Buch (in welcher medialen Form auch immer) hinaus ausdehnen sollten. Eine
solche Entscheidung ist durch den Allerweltsbegriff der
Information bzw. der Informationsvermittlung nicht abgedeckt und bleibt eine bibliothekspo//f/sc/?e Entscheidung.
Anschrift des Autors:
Dr. Uwe Jochum
Universität Konstanz
Bibliothek
Postfach 55 60
D-78461 Konstanz
73 Bibliothekswissenschaft als spezielle Informationswissenschaft. Hrsg. von Paul Kaegbein. Köln 1986.
74 Bibliotheken als Informationsvermittler. Probleme und Modelle. Hrsg. von Paul Kaegbein u. a. Frankfurt am Main 1979.
(ZfBB. Sonderheft. 28.)
75 Umstätter, Walther: Was verändert die Informationstechnologie in den Universitätsbibliotheken? In: Bibliothek 13 (1989)
S. 206-215, hier S. 207.
76 Hacker, Rupert: Literaturvermittlung, nicht Informationsvermittlung als Hauptaufgabe der Bibliotheken. In: Bibliotheksdienst 22 (1988) S. 717-728.
77 Umstätter, Walter: Die Hauptaufgabe der Bibliotheken. In:
Bibliotheksdienst 22 (1988) S. 1028-1032.
78 Hacker (Anm. 76) S. 720 und die zustimmende Äußerung von
Umstätter (Anm. 77) S. 1029.
79 Umstätter (Anm. 75)8.215.
80 Jochum (Anm. 35).
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