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DIRK JARRÉ: DAS EUROPÄISCHE SOZIALMODELL AUS DER AUSSENSICHT BETRACHTET
Dirk Jarré
DAS EUROPÄISCHE SOZIALMODELL AUS DER AUSSENSICHT BETRACHTET
Aus dem Reichtum der Beiträge der Referenten - also von Europäern wie auch von Kollegen aus
anderen Kontinenten - sowie aus der Vielschichtigkeit der Debatten in den Plenarsitzungen und
in den Arbeitgruppen während dieser beiden faszinierenden Tage sollen in diesem Teilbericht
nur einige Schwerpunkte mit Bezug auf die Aussensicht auf das Europäische Sozialmodell beleuchten werden. Ich werde dabei nicht nur mir besonders interessant und wichtig erscheinende
Argumentationen aus der Konferenzdynamik zu diesem Aspekt hervorheben, sondern auch meine persönlichen Eindrücke und Überlegungen einbringen. Weiterhin scheint es mir auch angebracht, auf einige Grundlagen europäischen Gesellschaftsverständnisses hinzuweisen.
Zur Erinnerung: Ausgangspunkt bei der Konzeption dieser durchaus ungewöhnlichen Konferenz
war die Überlegung, dass eine kritische Beurteilung des Europäischen Sozialmodells mit seinen
spezifischen Werten und gesellschaftspolitischen Zielen nicht nur, wie üblich, im Dialog zwischen
Europäern erfolgen sollte, sondern auch durch Partner aus anderen Kulturkreisen. So erläuterten Kollegen aus Japan und von den Philippinen, aus Argentinien und Ekuador, aus Marokko
wie aus Kanada, wie sie die sozialpolitischen Grundkonzepte, die gesellschaftlichen Realitäten
und die Zukunftsaussichten des "Alten Kontinents" sehen - und das insbesondere im globalen
Kontext. Die damit gewonnene Differenzierung bei der Betrachtung und Bewertung des "Europäischen Wegs" ist für die Selbstfindung Europas zweifellos sehr nützlich. Sie kann und soll die
Debatte um die Zukunft des Kontinents beleben und neue Impulse für die Weiterentwicklung
konzeptioneller Ideen für europäische Integrationspolitiken setzen.
Zum Einstieg scheint es sinnvoll, einen kleinen ideengeschichtlichen Exkurs einzufügen. Will
man Europa und seine gegenwärtige Gesellschaftsphilosophie verstehen, tut man gut daran, sich
an deren Ursprüngen zu erinnern und damit zu verstehen, wie stark spezifische Konzepte tradiert und verwurzelt sind.
Bereits vor mehr als 2.300 Jahren meinte der griechische Philosoph Aristoteles, dass eine solche
Gemeinschaft die beste sei, in der die Bürger "ein mittleres und ausreichendes Vermögen haben,
weil da, wo die einen viel besitzen und die anderen nichts, wegen dieses beiderseitigen Übermasses entweder eine reine Oligarchie oder Tyrannei entsteht".
Bei der Behandlung des in seiner Bedeutung durchaus umstrittenen Begriffes der Gerechtigkeit
unterscheidet Aristoteles zwischen der "austeilenden Gerechtigkeit" und der "ausgleichenden
Gerechtigkeit".
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Mit der "austeilenden Gerechtigkeit" meint er die gerechte Verteilung von Wohlstand in Form
von Geldmitteln und anderen Gütern, aber auch von Lasten und öffentlichen Ämtern, unter den
Bürgern des Gemeinwesens. Diese Gerechtigkeit verlangt, dass jeder das ihm Angemessene erhält und die Verschiedenheit der Menschen berücksichtigt wird. Die Gerechtigkeit wird verletzt,
wenn "entweder Gleiche Ungleiches oder Ungleich Gleiches bekommen". Es handelt sich also um
eine (sozialpolitisch definierte) Beziehung zwischen Gemeinwesen und Individuum. Diese uns
auch heute noch in Europa beschäftigende Debatte dreht sich immer wieder um die Definition
der Begriffe "Gleichheit", "individuelle Verschiedenheit" und das, was als "das Angemessene" angesehen wird.
Aristoteles "ausgleichenden Gerechtigkeit", zum anderen, zielt ab auf den gerechten Ausgleich
im Verhältnis zwischen den einzelnen Bürgern. Sie hat ihre Bedeutung beim wirtschaftlichen
Handeln, bei Rechtsgeschäften und vor der Justiz, bei Schadensausgleich, oder bei Missetat und
Gutmachung. Hier liegt das Prinzip in der Gleichheit der Individuen und zwar ohne Ansehen der
Person, ihres Standes oder anderer persönlicher Merkmale.
Wir finden das Echo dieser Gedanken immer wieder in der europäischen Ideengeschichte, nicht
zuletzt in Immanuel Kants "Kategorischem Imperativ". Wichtig erscheint nun, dass auch heute
diese philosophische Substanz, angereichert durch die konzeptionellen Errungenschaften der
französischen Revolution, die Grundlage der Vorstellungen über die Orientierung der europäischen Gesellschaft darstellt.
Im Vertrag über eine Verfassung für Europa heisst es im Artikel, der sich mit den Werten der
Europäischen Union befasst: "Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der
Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der
Menschenrechte einschliesslich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese
Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus,
Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit zwischen Frauen und Männern auszeichnet".
Und im Artikel über die Ziele der Europäischen Union ist unter anderem zu lesen: "Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern" und "Sie be-
kämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierung und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen
Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen
und den Schutz des Kindes. Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität" sowie "In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert
die Union ihre Werte und Interessen. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler
nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem
und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, ...".
Wenn man diese Aussagen des Verfassungsvertrags auf den Punkt bringt, dann scheint das Ziel
der Union das menschliche Wohlergehen zu sein – basierend auf der Menschenwürde – und zwar
mit der Möglichkeit grösstmöglicher Entwicklung der Fähigkeiten der Menschen und einer vollen Teilnahme und Teilhabe am Gemeinwesen. Jedoch kann dies als Prinzip letztlich nicht als
eine typisch europäische Sicht der Stellung des Individuums in der Gesellschaft und den generel-
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len Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen gesehen werden. Vom Grundsatz
findet man vergleichbare Grundüberzeugungen mehr oder weniger auch in anderen Teilen der
Welt. Allerdings stellt sich die Frage, ob und in wie weit das Wohlergehen und die gesellschaftliche Teilhabe für alle gilt oder nur auf einzelne Gruppen beschränkt bleibt.
Diese Thematik und die dahinter stehenden ethischen Aspekte sind weitestgehend Fundus der
grossen Religionen. In allen findet man, wenn auch moduliert, ziemlich identische Werte und
Zielvorstellungen. Sie scheinen gewissermassen universellen Charakter zu haben und können als
Ergebnis menschlicher Kultur und Zivilisation begriffen werden. Was sich allerdings im globalen
Vergleich sehr schnell und deutlich zeigt ist, dass sich die Umsetzung dieser Werte und die gewählten Wege zur Erreichung der Ziele von Gesellschaft zu Gesellschaft ganz erheblich unterscheiden. Dies drückt sich aus in den spezifischen Strukturen, Institutionen, Prozessen und Instrumenten, für die sich die jeweilige Gesellschaft entschieden hat.
Das bedeutet, dass das so genannte "Europäische Sozialmodell" als nichts anderes zu betrachten
ist, als ein Instrument, ein Mittel zur Sicherung der Werte dieser Gesellschaft und zur Wahrung
der damit verbundenen individuellen und kollektiven Rechte. Es ist also ein spezifischer, kulturell bedingter Weg beim Versuch, sich gemeinschaftlich den einverständlichen Zielen der Gesellschaft zu nähern. Dieser Weg zeichnet sich insbesondere aus durch die für Europa typische Verbindung von wirtschaftlichem Erfolg und sozialer Kohäsion in der Gesellschaft sowie dem stets
neu auszutarierenden Spannungsgeflecht zwischen individuellen Rechten und gesellschaftlicher
Solidarität.
Es gilt hier also nicht der Spruch "der Weg ist das Ziel", sondern „das Ziel ist das Wesentliche
und bestimmt letztlich den Weg“. Aber auch das stimmt nur sehr bedingt, denn Wege zur Annäherung an das Ziel gibt es offensichtlich viele, wenngleich sie jeweils auch unterschiedliche
Schwerpunkte im Zielverständnis sowie in Art und Weise der Zielerreichung setzen. Es kann
also durchaus mit einiger Rechtfertigung behauptet werden, dass wir es global und perspektivisch gesehen hinsichtlich der Sozialpolitiken mit einer "Vielfalt in der Einheit" zu tun haben –
Einheit in der Zielsetzung, aber Vielfalt auf den Wegen dorthin.
Während etwa im Konfuzianismus die "Harmonische Gesellschaft" im Vordergrund steht, meint
die Europäische Union etwa "Die Menschen sind Europas wichtigstes Gut und müssen im Zent-
rum der Politik der Union stehen. Investitionen in die Menschen und die Entwicklung eines aktiven und dynamischen Wohlfahrtsstaates werden von entscheidender Bedeutung sowohl für die
Stellung Europas in der wissensbasierten Wirtschaft als auch dafür sein, sicherzustellen, dass
die Herausbildung dieser neuen Wirtschaftsform die schon bestehenden sozialen Probleme Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und Armut nicht noch verschärft" (zitiert aus Schlussfolgerungen Europäischer Rat, Lissabon März 200, Artikel 24).
An dieser Stelle sei ein kleiner Exkurs gestattet, angeregt durch einige kritische Äusserungen
während der Debatte über dass Europäische Gesellschaftsmodell. Es stellte sich dabei ganz natürlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Wirtschaftlichen und dem Sozialen – und
ob es denn eine Rangordnung zwischen beiden geben solle. Auch im neoliberalen Diskurs wird
häufig argumentiert, was den Sozialpolitikern durchaus sympathisch erscheint, Investitionen in
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das Soziale seien durchaus zu begründen, denn ein gut ausgebautes Sozialsystem stelle letztendlich einen positiven Standortfaktor dar.
Der daraus formulierte Slogan "Sozialschutz als Produktivfaktor" mag zunächst recht gut klingen, birgt aber im Grundkonzept (und nicht nur durch die Semantik) grosse Gefahren für eine
Gesellschaft, welche die Menschenwürde als ihre Grundlage erachtet, sich als gerecht versteht
und die soziale, wirtschaftliche und territoriale Kohäsion anstrebt. Denn mit diesem Konzept
wird der Mensch instrumentalisiert und vorwiegend nach seinem Wert für wirtschaftliche Interessen und Entwicklung beurteilt, wo er doch mit seinen Bedürfnissen und Lebensvorstellungen
im Zentrum der Politiken stehen sollte.
Allerdings muss auch noch das Argument "wirtschaftliche Performance hat eine kohäsionsbildende Kraft" (oder: "What is good for Ford, is good for America") betrachtet werden. In der Konferenzdebatte wurde mehrfach die Frage aufgeworfen, ob denn das Ziel hoher Produktivität /
wirtschaftlicher Performance überhaupt mit den Kernelementen des Europäischen Sozialmodells
und damit mit Menschenwürde und Grundwerten kompatibel sei. Das ist eine sicher legitime
Frage.
Zum Weiterdenken sind folgende Antwortansätze sicher nützlich: Es kommt zunächst einmal
darauf an, wie man überhaupt Produktivität definiert. Und da gibt es eine grosse Bandbreite von
Möglichkeiten, hinter denen jeweils spezifische Ideologien stehen. Weiter kommt es darauf an,
wem der durch hohe Produktivität erzielte Mehrwert zugute kommt, wie der damit gewonnene
Reichtum denn verteilt wird. Da sollte man ruhig nochmals auf Aristoteles zurück blicken. Auch
der Frage, was es eine Gesellschaft kostet, Grundwerte und Grundrechte zugunsten ökonomischer "Vorteile" nicht oder nur unvollständig umzusetzen, sollte in diesem Zusammenhang
durchaus nachgegangen werden.
Aber zurück zur Überlegung, was das Europäische Sozialmodell mit dem Aspekt "Vielfalt in der
Einheit" aus globaler Sicht zu tun hat. Die Einheit liegt weitgehend im ethischen Bereich und
zwar bei den Grundüberzeugungen über Menschlichkeit und Menschenwürde, bei den Grundwerten, die menschliches Handeln bestimmen sollen, sowie bei den sozialpolitisch relevanten Zielen, die derzeit über Kulturkreise und Gesellschaftstypen einen hohen Grad der Übereinstimmung haben. Andernfalls könnte ja auch wohl kaum von der Universalität der Menschenrechte
die Rede sein.
Was sich allerdings in hohem Masse unterscheidet und durch eine breite Vielfalt beeindruckt,
sind die höchst differenzierten Wege, mittel derer verschiedene Gesellschaften ihre sozialpolitischen Zielsetzungen verfolgen. Man findet diese Differenziertheit ja bereits in der europäischen
Dimension, was leicht dazu verleitet, von unterschiedlichen sozialpolitischen Modellen zu sprechen – etwa dem skandinavischen, dem kontinentalen oder dem mediterranen Modell. Dies halte
ich für falsch und meine, man sollte nur von unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Konstrukten, also von sozialpolitischen Wegen sprechen - wie sie sich in Institutionen, Verfahren und
Leistungen niederschlagen. Denn das Ziel ist allen europäischen Staaten weitestgehend gemeinsam und findet recht präzise Ausdruck in der Europäischen Sozialcharta des Europarates und
der Grundrechtecharta der Europäischen Union.
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Weltweit betrachtet ist der "Europäische Weg" eben auch nur eine spezifische Option, wenngleich dieser Weg zweifellos mit einem hoch entwickelten sozialpolitischen Instrumentarium
verbunden ist und im Hinblick auf die Abgleichung zwischen Werten und Zielen auf der einen
Seite und Effektivität der Umsetzungsstrategien auf der anderen Seite als recht erfolgreich bezeichnet werden kann. Das wird aus der Aussensicht meist viel klarer erkannt, als es die Europäer gemeinhin aus der Innensicht selbst wahrnehmen. So übertrifft Europa im globalen Vergleich die anderen Regionen signifikant bei der Umsetzung internationaler sozialer Normen, wie
etwa den mittels der Internationalen Arbeitsorganisation vereinbarten Standards – und geht in
vielen Fällen weit über diese hinaus.
Die Globalisierung der Beziehungen und des Austauschs haben nun nicht nur für wirtschaftliches Handeln enorme Konsequenzen. Gerade die Sozialpolitik kann und sollte trotz ihrer meist
noch streng nationalen Verfasstheit davon profitieren und die Globalisierung nicht als bedrohliche Herausforderung, sondern als eine höchst willkommene Chance begreifen. Denn einerseits
bieten die neuen Perspektiven Anlass, andere Systeme in all ihrer Unterschiedlichkeit kennen
und verstehen zu lernen. Das wäre die Grundlage, unterschiedlichen Optionen Respekt zollen zu
können und gleichzeitig den eigenen Weg kritischer zu bewerten und seine "Modellhaftigkeit"
infrage zu stellen.
Mindestens genau so wichtig erscheint die daraus folgende Erkenntnis, dass die sozialpolitische
"Biodiversität" einen geradezu unschätzbaren Wert für die Zukunft menschlicher Gesellschaften
darstellt, den es voll anzuerkennen und zu schützen gilt. Denn es ist vermessen jetzt zu behaupten, dieser oder jener (in den meisten Fällen ja "unser") Weg sei langfristig der beste, der erfolgreichste. Es ist bekannt, dass die Förderung von Monokulturen im Allgemeinen höchste Gefahr
darstellt, denn sie bedeutet stets Einseitigkeit, Anfälligkeit und letztlich Vergänglichkeit ohne
eine unmittelbare alternative Möglichkeit zu bieten. Diversität hingegen hat das natürliche Potential, aus sich selbst zu schöpfen und neue Hersausforderungen zu meistern – durch neue
Kombinationen erfolgreicher Elemente, durch neue Lösungsstrategien, durch ständige Weiterentwicklung.
Das gilt nicht nur für die Natur, sondern auch für menschliche Gemeinschaften, für ihre Kultur,
die sie leitenden Handlungsmaxime, ihre Politiken oder ihre Strategien. Pluralistische Gesellschaftstypen sind langfristig zweifellos robuster und zukunftsfähiger als absolutistisch oder totalitär organisierte Systeme – wenngleich möglicherweise in kurzer Sicht auch mal weniger effizient. Biodiversität oder Vielfältigkeit sozialpolitischer Systeme erlaubt es, voneinander zu lernen durch kreative Imitation, um bessere Gesamtlösungen für die Zukunft zu konzipieren.
Damit stellen sich als zentrale Fragen: Ist das Europäische Sozialmodell übertragbar? Und:
Kann es für alle Gesellschafsformen taktangebend sein? Die Debatte hat dazu differenzierte
Hinweise gegeben. Ziemlich einhellig wurde festgestellt, dass das Europäische Sozialmodell als
solches nicht direkt transferierbar ist, da es als Weg aus einer spezifischen Gesellschaft unter
bestimmten Konstellationen zu einer bestimmten Zeit entstanden ist. Es kann allerdings sehr
wohl ein inspirierendes Lehr- und Lernbeispiel sein, da die dahinter stehenden Prinzipien weitgehend universell sind, oder es zumindest sein sollten.
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Es wurde in diesem Kontext auch die Frage aufgeworfen, ob denn das Europäische Sozialmodell
nur Vorbildcharakter für wohlhabende Gesellschaften haben könnte, das es ja mit erheblichen
finanziellen und strukturellen Ressourcen operiert. Dagegen wurde mit recht eingewandt, dass
das Europäische Sozialmodell ja gerade aufgrund und in einer Situation grösster sozialer und
wirtschaftlicher Not geschaffen wurde. Dies bedeutet, dass die Grundideen des Europäischen
Sozialmodells für andere, ökonomisch noch sehr viel weniger entwickelte und damit ärmere Gesellschaften durchaus erhebliche Bedeutung haben können und dort auf Anwendung überprüft
werden sollten. Hingegen sind selbstverständlich die erreichten Leistungsstandards auf keinen
Fall unmittelbar übertragbar – bestenfalls langfristig als Zielorientierung anzusehen.
Hinsichtlich des europäischen Selbst-Bewusstseins und damit der europäischen Identität verbliebe noch anzumerken, dass es von grosser Wichtigkeit ist, die kulturelle Bedeutung des Europäischen Sozialmodells als konstitutives und unverzichtbares Element der europäischen Gesellschaft dem europäischen Bürger nahe zu bringen und verständlich zu machen. Das wird es dem
Bürger erleichtern, sich selber als Europäer zu verorten und gleichermassen andere gesellschaftliche Systeme in ihrem Wert wahrzunehmen und anzuerkennen. Nur so kann aus der bestehenden Vielfalt der politischen Optionen gegenseitig gelernt werden und es können neue Impulse für
Entwicklungen bei allen Partnern entstehen.
Europa hat zwar unzweifelhaft grosse Fortschritte in für die Menschheit zentralen Bereichen
erzielt – wie etwa beim Schutz der Menschen- und Grundrechte, bei der Balance zwischen Wirtschaftlichem und Sozialem, bei der Bewahrung der natürlichen Umwelt oder auch in demokratischen Prozessen. Das versetzt Europa in die Lage, mutig und selbstbewusst in den Dialog mit
anderen Kulturkreisen zu treten. Wenn dann noch die Bereitschaft hinzukommt, auch andere
Gesellschaften verstehen und ganz bewusst und ohne Scheu von ihnen lernen zu wollen, dann
macht Europa einen ganz sicher sehr wichtigen Schritt in die Zukunft.
Abschliessend sei angemerkt, dass dies am besten zunächst in Europa selbst beginnen sollte. Die
(noch) bestehende Vielfalt der sozial- und gesellschaftspolitischen Konfigurationen ist ein geradezu idealer Experimentierkasten.
► Dirk Jarré, Johannes Kepler Universität, Linz
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