SPEECH/06/668 Vladimir Špidla Mitglied der Europäischen Kommission, Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit zuständig "Der Beitrag des ESF europäischen Sozialmodell" Workshop der PSE "Finanzierung des Sozialmodells" (im Europäischen Parlament) Brüssel, 9. November 2006 für zum europäischen Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde, Ich freue mich, heute hier zu sein und an Ihrem Workshop zum Thema "Die Finanzierung des europäischen Sozialmodells" teilnehmen zu können. Das europäische Sozialmodell beruht auf gemeinsamen Werten, die auch der Europäischen Union zu Grunde liegen: Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Solidarität. Die Sozialsysteme aller Mitgliedstaaten der Union wurden von diesen Werten beeinflusst. Auch wenn ihre Ausgestaltung in der Praxis unterschiedlich ist, weisen sie doch gemeinsame Merkmale auf. Schließlich sehen die Sozialsysteme aller Mitgliedstaaten vor, dass sich die jeweilige Regierung für die Minderung von Armut und sozialer Ausgrenzung einsetzt, für eine gerechtere Verteilung der Einkommen sorgt, ein hohes Maß an sozialer Sicherheit gewährleistet und die Chancengleichheit fördert. Dieses Modell steht jedoch auf tönernen Füßen. Europa ist im Umbruch: Demographische Veränderungen, Globalisierung und technologische Erneuerungen verändern unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft. Um auf diese Herausforderungen zu reagieren, ist es in den kommenden Jahren erforderlich, das Sozialmodell anzupassen und zu modernisieren. Die Europäische Union muss dieses Ziel mit Entschlossenheit verfolgen und die entsprechenden Finanzierungsinstrumente zu seiner Verwirklichung einsetzen. Welche Rolle spielt der ESF? Mit dem Europäischen Sozialfonds leistet die Union einen grundlegenden Beitrag zum Europäischen Sozialmodell. Das europäische Sozialmodell muss modernisiert und angepasst werden – dabei kommt dem ESF natürlich eine bedeutende Rolle zu. Eines der Ziele der Reform des ESF für den Zeitraum 2007-2013 ist die strategische Verbindung zwischen dem ESF einerseits und der Strategie von Lissabon und dem europäischen Sozialmodell andererseits zu stärken. Welchen Mehrwert kann Brüssel in diesem Zusammenhang bieten? Uns geht es nicht um Details bei der Umsetzung, sondern um die strategische Ausrichtung. Wir wollen die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel auf Schwerpunkte konzentrieren, um so besser auf Veränderungen reagieren zu können. In den folgenden Bereichen werden die Mitgliedstaten durch den ESF unterstützt: - Beschäftigung: Eine aktive Beschäftigungspolitik wird gefördert, denn die Erfahrung hat gezeigt, dass selbst in Zeiten wirtschaftlicher Flaute neue Arbeitsplätze geschaffen werden können. - Lebenslanges Lernen: Investitionen in Projekte für das lebenslange Lernen und zu Gunsten benachteiligter Bevölkerungsgruppen auf ihrem Weg in ein neues Beschäftigungsverhältnis werden gestärkt. - Vorbereitung auf den Weltmarkt: Der Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer und Unternehmen, einer optimalen Vorbereitung auf die Globalisierung und der technologischen Entwicklung werden Priorität eingeräumt. - Bildung: Durch den ESF werden Bildungssysteme unterstützt. 2 Maßnahmen zur Verbesserung der - Kinderbetreuung: Die Entwicklung von Kinderbetreuungsstätten wird gefördert, so Beschäftigungsverhältnis eingehen können. Infrastrukturen dass Frauen für ein - Ausbau der Verwaltungskapazitäten: In Verbindung mit bescheidenen Investitionen kann sich dies positiv auf die Beschäftigungslage auswirken. Der ESF kofinanziert entsprechende Projekte. Durch diese Art der Unterstützung bietet der ESF dem europäischen Sozialmodell und seiner Reform einen politischen wie finanziellen Mehrwert. Dies kommt auch den Regierungen zu Gute. • Politisch gesehen wirkt der ESF wie ein Katalysator für politische Veränderungen. Er fördert den Austausch bewährter Praktiken und trägt erheblich dazu bei, Bürger und Politiker für das europäische Sozialmodell zu sensibilisieren. • Finanziell gesehen hat der Fonds einen "Multiplikationseffekt" auf die nationalen und/oder regionalen Politiken, da durch den ESF zusätzliche Mittel für Politikbereiche bereitgestellt werden, die von den Mitgliedstaaten nicht oder nicht ausreichend finanziert werden. Er hat eine bedeutende Hebelwirkung. Er vereint zusätzliche Finanzierungsquellen und ist zudem ein Garant für die finanzielle Stabilität. Der Mehrjahresrahmen der EU bietet eine für die Begünstigten einzigartige finanzielle Garantie von sieben Jahren, die keine nationale Regierung bieten kann. Dies bedeutet beispielsweise für die Beteiligten vor Ort eine erhebliche Erleichterung bei der Umsetzung langfristiger Strategien. • Und schließlich bietet der ESF auch auf den verschiedenen Regierungsebenen einen Mehrwert: Partnerschaften zwischen den verschiedenen Beteiligten, Transnationalität und Maßnahmen der Regierung auf verschiedenen Ebenen der Beschäftigungspolitik werden gefördert. Bleibt nur hinzuzufügen, dass sich die Kommission für die Erleichterung des politischen Dialogs einsetzt, indem sie systematisch den Austausch bewährter Praktiken und Maßnahmen zur Vernetzung fördert. Sehr geehrte Damen und Herren, Der ESF leistet einen grundlegenden Beitrag zum europäischen Sozialmodell und zu dessen Modernisierung. Doch seine Rolle könnte und müsste noch bedeutender sein, denn nur ein starkes Europa kann auf die folgenden Herausforderungen eine Antwort geben: - Globalisierung - technischer Fortschritt und - demographische Entwicklung. Die EU fördert in diesem Zusammenhang die Flexibilität des Arbeitsmarktes und ist gleichzeitig bestrebt, ein hohes Sicherheitsniveau zu wahren. Dieses Gleichgewicht zwischen Flexibilität und Sicherheit ist ein grundlegender Aspekt unseres europäischen Sozialmodells. Ich pflege zu sagen, dass die Menschen im Fokus der Wirtschaft von morgen stehen müssen. Durch Investitionen in die Menschen lassen sich reelle Erfolge erzielen. Dabei handelt es sich nicht um immaterielle Investitionen, denn sie bringen auf lange Sicht sehr hohe Erträge, möglicherweise sogar höhere als Investitionen in Infrastrukturen. Investitionen in Humankapital werden belohnt. Erlauben Sie mir, dies anhand von drei Beispielen zu erläutern: 3 • In den letzten fünf Jahren wurden über 60 % der neuen Arbeitsplätze in Sektoren geschaffen, die höchste Qualifikationen erfordern. • Ein zusätzliches Schul- oder Ausbildungsjahr erhöht das Gehalt auf ein ganzes Arbeitsleben gerechnet um fast 10 %. • Ein zusätzliches Ausbildungsjahr im Anschluss an die weiterführende Schule kann die allgemeine Produktivität um mehr als 6 % - langfristig sogar um weitere 3 % - steigern. Auf politischer Ebene herrscht Einigkeit über die Bedeutung von Investitionen in Humanressourcen. Dieser Aspekt ist ein Kernpunkt der Strategie von Lissabon. Diese politische Einigkeit schlägt sich jedoch nicht immer in den entsprechenden Maßnahmen nieder. Die Mitgliedstaaten sehen sich vor eine schwierige Wahl gestellt: die Wahl zwischen Investitionen in Infrastrukturen und Investitionen in Humanressourcen. Investitionen in Infrastrukturen bieten den Vorteil der Sichtbarkeit. Die Ergebnisse der Investitionen lassen sich schnell und deutlich erkennen: Autobahnen, neue Eisenbahnstrecken, Einrichtungen zum Schutz der Umwelt ... Die Ergebnisse eines Ausbildungsprojektes sind für Bürger und Wähler auf den ersten Blick jedoch nur schwer zu erkennen, auch wenn das Ergebnis nach wirtschaftlichen oder sozialen Gesichtspunkten häufig besser ist. Um etwas an dieser Situation zu ändern, müssen wir alle Beteiligten verstärkt sensibilisieren. Um den genannten Veränderungen begegnen zu können, müssen die verantwortlichen Politiker Entscheidungen treffen, die möglicherweise nicht einfach aber unerlässlich sind. Es bleibt den Mitgliedstaaten überlassen, für welche Investitionen sie sich entscheiden, doch es ist die Aufgabe der Kommission, ihnen die grobe Richtung vorzugeben. Derzeit befinden wir uns in der Vorbereitung auf den Zeitraum 2007-2013. Dabei müssen wir feststellen, dass trotz unseres politischen Diskurses der Anteil des ESF an der Gesamtheit der Strukturfonds beträchtlich abnimmt. Dieses Phänomen lässt sich insbesondere in den neuen Mitgliedstaaten beobachten. Ich bin überzeugt, dass dies nicht der richtige Weg ist, um die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu gewährleisten, unsere Handlungsfähigkeit auf dem Weltmarkt zu sichern und das Projekt des sozialen Europas weiter verfolgen zu können. Ich bin überzeugt, dass wir es besser machen können. Es ist noch nicht zu spät, um in den Programmen 2007 – 2013 einen positiven Richtungswechsel vorzunehmen. Nun gilt es, den Investitionen in die Bürger, die Bildung und die soziale Integration Priorität einzuräumen. Dies erfordert jedoch entschlossene und schnelle politische Maßnahmen. Ich bin bereit, über den ESF die Rolle der Gemeinschaft in diesem europäischen Sozialmodell zu übernehmen. Und ich vertraue auf Ihre Unterstützung in den anstehenden Diskussionen mit den Mitgliedstaaten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. 4