Georg-August-Universität Göttingen Antrag auf Fortsetzung der Förderung des Graduiertenkollegs DIE ZUKUNFT DES EUROPÄISCHEN SOZIALMODELLS Förderzeitraum 01. Oktober 2003/4 – 30. September 2006/7 Göttingen, August 2002 1. Allgemeine Angaben 1.1 Thema Die Zukunft des Europäischen Sozialmodells (The Future of the European Social Model) 1.2 Antragstellende Hochschullehrer(innen) - - - - - - - - - Sprecherin: Prof. Dr. Ilona Ostner (Sozialpolitik, insb. international vergleichende), Institut für Sozialpolitik der Georg-August-Universität, Platz der Göttinger Sieben 3, 37073 Göttingen, und Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (ZENS), Humboldtallee 3, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-7243, Fax 39-7834, e-mail [email protected] Stellvertretender Sprecher: Prof. Dr. Peter Lösche (Politikwissenschaft), Seminar für Politikwissenschaft, Platz der Göttinger Sieben 3, 37073 Göttingen, und Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (ZENS), Humboldtallee 3, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-7218, Fax: 39-9788, e-mail [email protected] Prof. Dr. Martin Baethge (Soziologie), Soziologisches Seminar und Soziologisches Forschungsinstitut (SOFI), Platz der Göttinger Sieben 3, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-7206, e-mail [email protected] Prof. Dr. Wolfgang Knöbl (Soziologie/international vergleichende Sozialwissenschaften), Zentrum für Europa- und Nordamerikastudien (ZENS), Humboldtallee 3, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-7202, e-mail [email protected] Prof. Dr. Wolf Rosenbaum (Soziologie, Staats-, Rechts- und Wirtschaftssoziologie), Soziologisches Seminar, Platz der Göttinger Sieben 3, 3703 Göttingen, Tel. 0551-39-7162, e-mail [email protected] (seit 01.10.2000 Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät) Prof. Dr. Steffen Kühnel (sozialwissenschaftliche Methoden), Sozialwissenschaftliches Methodenzentrum der Fakultät (MZ), Platz der Göttinger Sieben 3, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-12283, e-mail [email protected] Prof. Dr. Hansjörg Otto (Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht), Institut für Arbeitsrecht, Platz der Göttinger Sieben 5, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-7247, e-mail [email protected] Prof. Dr. Gustav Kucera (Wirtschaftswissenschaften für Juristen, Schwerpunkt: Wirtschaftspolitik), Volkswirtschaftliches Seminar und Seminar für Handwerkswesen an der Universität, Platz der Göttinger Sieben 3, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-4602, e-mail [email protected] NN Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik, ab 04/2003 (im Verfahren – vormals Andreas Haufler – siehe unten) Prof. Dr. Bernd Weisbrod (Mittlere und Neuere Geschichte), Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Platz der Göttinger Sieben 5, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-4664, e-mail [email protected] Assoziierte Hochschullehrer - Prof. Dr. Horst Kern (Soziologie), Präsident der Universität (bis Oktober 2004), Wilhelmsplatz 1, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-4311, e-mail [email protected] Prof. Dr. Martin Kronauer (Soziologie), Sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut, Friedländerweg 31, 37085 Göttingen, Tel. 0551-522050 und Fachhochschule für Wirtschaft, Badensche Str. 50-51, 10825 Berlin Adresse, Tel. 030-857890, e-mail [email protected] - PD Dr. Stephan Lessenich (Sozialpolitik, Soziologie), ZENS, Humboldtallee 3, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-7154, e-mail [email protected] Erläuterungen zu den antragstellenden Hochschulehrern 1 Andreas Haufler, Professur für “Finanzwissenschaft und Sozialpolitik”, Mitantragsteller beim letzten Antrag (2000-2003), hat zum 01.04.2002 einen Ruf an die Universität München angenommen. Die Stelle wurde sofort für “Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik” ausgeschrieben und kann zum 01.04.2003 besetzt werden. Jeder der für eine Berufung in Frage kommenden Bewerber (NN) auf der Liste ist an einer Mitarbeit sehr interessiert, würde nach Rufannahme also sofort Mitglied des Kollegs werden. Horst Kern hat sich – bedingt durch seine Tätigkeit als Präsident der Universität – teilweise aus der Kollegsarbeit zurückgezogen. Er nimmt jedoch regelmäßig an den Kolloquien des Kollegs sowie an den Workshops teil; ferner betreut er auch weiterhin drei Arbeiten. Wolfgang Knöbl hat zum 01.04.2002 den Lehrstuhl für “vergleichende Sozialwissenschaften” am ZENS (vormals Horst Kern) übernommen (vgl. o.) und ist damit ebenfalls Mitglied des Kollegs geworden. Er liefert für die beantragte Phase der Kollegsarbeit wichtige Beiträge zur Frage des Wandels von Institutionen und dessen Trägern. Martin Kronauer hat im Berichtszeitsraum 2000-2003 zwei Semester lang die Professur für “International vergleichende Sozialwissenschaften”, die inzwischen Wolfgang Knöbl angetreten hat, vertreten. Ab 01.10.2002 ist er als Professor Gesellschaftswissenschaft an der Fachhochschule für Wirtschaft, Berlin, tätig, bleibt aber mit seinen Forschungen dem Soziologischen Forschungsinstitut, Göttingen, und dem Kolleg verbunden. Martin Kronauer hat vor und nach seiner Vertretungszeit aktiv an der Forschungs-, Lehr- und Betreuungstätigkeit im Kolleg mitgewirkt. Seine Assoziierung als Hochschullehrer ist nicht nur wegen der aufgebauten Betreuungsbeziehungen zu einigen Doktorand(inn)en, sondern vor allem wegen seiner Expertise in Fragen der sozialen Teilhabe (Inklusion) bzw. des sozialen Ausschlusses (Exklusion) u.a. im Prozeß des Umbaus von Institutionen auch zukünftig sinnvoll. Er wird weiterhin an den Veranstaltungen des Kollegs aktiv teilnehmen. Steffen Kühnel hat seit 01.10.2000 die Professur für “Quantitative Methoden” am Sozialwissenschaftlichen Methodenzentrum der Fakultät, das er auch leitet, inne. Wir haben ihn u.a. auf Empfehlung der Gutachter in das Kolleg aufgenommen, auch um die methodische Qualität der Forschungsarbeiten zu garantieren und zu erhöhen. Stephan Lessenich hat als Assistent (C1), jetzt habilitierter Oberassistent, am Institut für Sozialpolitik (sozialwissenschaftliche Abteilung) der Universität seit der ersten Antragstellung kontinuierlich am Kolleg mitgearbeitet und für die Ausrichtung von Forschung und Lehre wichtige inhaltliche Impulse gegeben. Deshalb – wie auch aufgrund bereits bestehender Betreuungsbeziehungen zu mehreren Doktorand(inn)en – erscheint seine Assoziierung ebenfalls äußerst sinnvoll und angemessen. Peter Rühmann scheidet zum Sommersemester 2003 wegen Pensionierung aus dem Kolleg aus. Die Nachfolge Haufler (vgl. oben) wird auch im Bereich der von Peter Rühmann vertretenen Arbeitsmarktökonomik ausgewiesen sein. 1 Angaben zu den Vorarbeiten der antragstellenden Hochschullehrer (Publikationen, Veröffentlichungen, Projekte etc.) befinden sich im Anhang des Arbeitsberichts 2000-2003. 1.3 Beteiligte Fachgebiete - Sozialwissenschaften (Soziologie, Politikwissenschaft, Sozialpolitik, international vergleichende Sozialwissenschaft, sozialwissenschaftliche Methodenlehre) Neuere Geschichte Volkswirtschaftslehre (und Sozialpolitik) Rechtswissenschaften (Arbeits- und Sozialrecht) 1.4 Voraussichtliche Dauer 01.10.1997/8-30.09.2006/7 jeweils 3 Jahre (zeitversetzt zwei Kohorten à 8 Doktorand[inn]en) 1.5 Antragszeitraum 01.10.2003/4 – 30.09.2006/7 1.6 Angestrebte Zahl der Stipendien 16 Stipendien für Doktorand(inn)en für 36 Monate 2 Postdoktorand(inn)en-Stipendien Es hat sich bewährt, die Doktorand(inn)en zeitversetzt in das Kolleg aufzunehmen: je eine Kohorte von acht Kollegiat(inn)en. Die erste Kohorte soll – wie bisher – eine “Patenfunktion” für die folgende übernehmen (vgl. Arbeitsbericht). Das Kolleg plant, wie bisher, zwei bis drei nicht von der DFG finanzierte Doktorand(inn)en aufzunehmen. 1.7 Beginn der Weiterförderung - Wintersemester 2003/2004 mit 8 Doktorand(inn)en-Stipendien und 1 Postdoktoranden-Stipendium ab WS 2004/05 mit der vollen Stipendienzahl (siehe 1.6) 2. Ziele, Programm und Struktur des Graduiertenkollegs 2.1 Zusammenfassung Ausgangspunkt von Forschung und Lehre des Kollegs bildet die Annahme eines historisch gewachsenen, bei aller Vielfalt doch näher zu kennzeichnenden “europäischen Sozialmodells”. Den Begriff prägte Jacques Delors Mitte der 1980er Jahre, um im europäischen Integrationsprozeß ein Konzept ins Spiel zu bringen, mit dem sich die EU-Europäer über alle Unterschiede hinweg identifizieren konnten. Wenn heute vom Europäischen Sozialmodell die Rede ist, wird damit – so ein vorläufiges Ergebnis unserer bisherigen Forschungsarbeit – allerdings ein neues Modell anvisiert, das zwar noch als spezifisch “europäisch” bezeichnet werden kann, jedoch mit den Institutionen des “alten” Modells und den ihnen zugrundeliegenden Ideen in mancher Hinsicht konfligiert. In der beantragten abschließenden Forschungsphase des Kollegs soll deshalb das Ineinandergreifen von “altem” und “neuem” Sozialmodell näher untersucht werden. Wie reagieren Institutionen des Europäischen Sozialmodells auf exogene und endogene Herausforderungen? Mit welchen Folgen für die Bürger(innen) – mit welchen Konsequenzen aber auch für die Modellkonstruktion selbst? Das Kolleg wird sich also bei der Beantwortung seiner Leitfragen auf Probleme des Wandels von Institutionen, seiner Bestimmungsfaktoren und Ergebnisse konzentrieren. Die drei Fragen, die bisher die Forschung und Lehre des Kollegs bestimmt haben, bleiben weiterhin erkenntnisleitend, wobei nun konsequenterweise ein besonderes Gewicht auf der dritten – letzten – Frage liegt: 1. Wie kann das “alte” Europäische Sozialmodell beschrieben und allgemein sowie in seinen spezifischen Varianten erklärt werden? 2. Welche allgemeinen und länderspezifischen Herausforderungen an das “alte” Europäische Sozialmodell lassen sich beschreiben und erklären? 3. Welcher Umbau, welche Anpassungsprozesse der Institutionen des “alten” Europäischen Sozialmodells können beobachtet werden? Welches “neue” Europäische Sozialmodell zeichnet sich als Reaktion auf die in (2) ermittelten Herausforderungen ab? Welche Ideen und welche Interessen tragen den Umbau des Europäischen Sozialmodells? Schließlich: Welche Gewinner und Verlierer eines Umbaus des “alten” zum “neuen” Sozialmodell lassen sich identifizieren? 2.2 Forschungsprogramm Die folgenden Abschnitte fassen zunächst knapp die leitende Fragestellung, den Stand und die Desiderate der geplanten Forschung zusammen (2.2.1); sie präsentieren dann die Forschungsthemen, die bereits in der laufenden Phase die gemeinsame Arbeit des Kollegs integrieren und auch in der nächsten Phase versprechen, nicht nur den interdisziplinären Austausch zu fördern, sondern auch wichtige Elemente der Frage nach der Zukunft des Europäischen Sozialmodells zu bearbeiten (2.2.2 mit Schaubild auf S. 21). Ein weiterer Abschnitt (2.2.3) hebt die spezifischen Beiträge der einzelnen Disziplinen zu Aspekten der Re-Konfiguration des Europäischen Sozialmodells und seiner nationalen Varianten hervor. Abschnitt 2.2.4 schließlich führt die disziplinären Beiträge in einer Übersicht zusammen. 2.2.1 Leitende Fragestellung, Stand und Desiderate der Forschung (1) Leitende Fragestellung Das Graduiertenkolleg wird seine leitende Fragestellung nach den Besonderheiten, den Herausforderungen und der Zukunft des Europäischen Sozialmodells im Antragszeitraum auf die Frage des Wandels, d.h. der Bestimmungsfaktoren und Ergebnisse des Wandels zentraler Institutionen des Modells, konzentrieren. Es will mit der Konzentration auf die Frage der Dynamik von Institutionen und ihrer Konsequenzen im Hinblick auf Prozesse gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion 2 der bisherigen Forschungs- und Lehrtätigkeit in der abschließenden dreijährigen Forschungsphase einen logischen Abschluß und übergreifenden theoretischen Rahmen geben. Die Schwerpunktsetzung fördert nicht nur den intensiven Austausch der am Programm beteiligten, im Hinblick auf Konzepte und Methoden relativ heterogenen Disziplinen. Sie entspricht auch dem Profil der laufenden Forschung sowohl der Kollegiat(inn)en wie auch der am Kolleg beteiligten Hochschullehrer. Die Fokussierung ist daher in mehrfacher Hinsicht konsequent. Im Mittelpunkt von Forschung und Lehre des Kollegs steht – nun schon traditionell – die Annahme eines historisch gewachsenen, bei aller Vielfalt doch zu identifizierenden “Europäischen Sozialmodells”. Stärken und Schwächen dieses Modells, Erosionstendenzen sowie auch gezielte Politiken, dieses Modell aufzulösen, schließlich Anzeichen der Herausbildung eines neuen Europäischen Sozialmodells bilden den Hintergrund der Arbeiten des Kollegs. Jacques Delors sprach Mitte der 1980er Jahre als einer der ersten vom “Europäischen Sozialmodell”. Er wollte (vgl. 2.1) damit eine Idee ins Spiel bringen, mit der sich die EU-Europäer über alle Unterschiede und Grenzen hinweg identifzieren konnen sollten. In der Folge erlebte der Begriff eine wissenschaftliche und politische Konjunktur, obwohl sich die Institutionen, auf denen jenes Sozialmodell nach Delors’ Vorstellungen aufbauen sollte, entweder bereits in der Krise befanden oder für überholt gehalten wurden, weil sie Anpassungen an sozioökonomische und soziokulturelle Herausforderungen be-oder verhinderten.3 Wenn heute vom Europäischen Sozialmodell die Rede ist, wird damit – so ein vorläufiges Ergebnis unserer bisherigen Forschungsarbeit – immer schon ein “neues” Modell anvisiert, das sich zwar als spezifisch “europäisch” von anderen Sozialmodellen (z.B. dem US-amerikanischen) abgrenzen läßt (und auch lassen soll), jedoch bei näherer Betrachtung mit den Institutionen des “alten” Sozialmodells und den ihnen zugrundeliegenden Ideen tendenziell konfligiert. Wir haben in unserer bisherigen Forschungsarbeit das “Europäische Sozialmodell” zunächst als heuristisches Konstrukt verstanden (vgl. Anträge und Berichte der Phasen 1997-2000 bzw. 2000-2003). Schreibt man ihm idealtypsierend bestimmte Eigenschaften zu, dann kam und kommt dieses Modell in der Wirklichkeit EU-Europas bestenfalls annäherungsweise vor. Gleichzeitig ist “gesellschaftliche Vielfalt” faktisch ein konstitutives Element des Europäischen Sozialmodells. Darüberhinaus zielt die Rede vom Europäischen Sozialmodell auf eine Parallelität und Komplementarität von wirtschaftlicher Entwicklung und sozialem Fortschritt, ökonomischer Dynamik und gesellschaftlichem Ausgleich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die es nahelegen, von einer “europäischen Gesellschaftsformation” zu sprechen, die nicht auf ein Europäisches “Sozialpolitik”modell reduziert werden kann. Vielmehr kommen im Europäischen Sozialmodell als historisch-konkreter Gesellschaftsformation zwei Makrospezifika zusammen – die “Institutionalisierung der gesellschaftlichen Vielfalt” sowie die “Institutionalisierung des sozialen Ausgleichs” –, die dieses Modell als einmalig ausweisen. Die historischen Konflikte, denen Europa jahrhundertelang ausgesetzt war, erklären dessen Präferenz für “ordered, limited, and structured diversity” (Colin Crouch). 4 Verbandsförmige Interessenkoordination, Verhandlungsdemokratie und die Gestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen nach dem Prinzip der Subsidiarität, dem gleichwohl Solidarität vorausgehen kann, entsprechen dieser Vielfalt. Die Ergänzung der bürgerlichen Freiheits- und politischen Teilhaberechte durch den institutionalisierten Ausgleich ging von Europa aus – ansatzweise, aber nicht ausschließlich wiederum 2 3 4 Vgl. GK-Fortsetzungsantrag 2000-2003. Vgl. jetzt auch aus dem Kollegskontext Kronauer, Martin, 2002: Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt a.M.: Campus. Vgl. mit Blick auf die politische Ökonomie des Wohlfahrtsstaats z.B.: Esping-Andersen, Gøsta, 1996: Welfare States without Work: the Impasse of Labour Shedding and Familialism in Continental European Social Policy, in: Derselbe (Hg.), Welfare States in Transition. National Adaptations in Global Economies. London: Sage, 66-87; Esping-Andersen, Gøsta, 1999: Social Foundations of Postindustrial Economies. Oxford: Oxford University Press; Esping-Andersen, Gøsta, Duncan Gallie, Anton Hemerijck und John Myles, 2001: A New Welfare Architecture for Europe? Report to the Belgian Presidency of the EU. Brussels: CEC; Ferrera, Maurizio, Anton Hemerijck und Martin Rhodes, 2000: The Future of Social Europe: Recasting Work and Welfare in the New Economy. Report for the Portuguese Presidency of the European Union. Mimeo; Pierson, Paul, 1998: Irresistible Forces Forces, Immovable Objects: Post-industrial Welfare States Confront Austerity, in: Journal of European Public Policy 5 (4), 539-560; Scharpf, Fritz W. und Vivien A. Schmidt (Hg.), 2000: Welfare and work in the open economy. (Vol. I). Oxford: Oxford University Press. Vgl. Crouch, Colin, 2000: Die europäische(n) Gesellschaft(en) unter dem Druck der Globalisierung, in: Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (Hg.), Sozialmodell Europa. Konturen eines Phänomens. Jahrbuch für Europa- und Nordamerika-Studien 4, Opladen: Leske + Budrich, 77-99. erklärbar durch den Willen, Konfliktlinien, die sich aus der spannungsreichen Heterogenität ergaben, aufzufangen. Marktregulierung, Universalismus, Umverteilung sind Bestandteile des sozialen Ausgleichs. Sie haben bisher für die im Weltmaßstab einmalige Inklusion der Menschen in die Europäische Gesellschaft gesorgt, damit deren Integration garantiert. Beide Makrospezifika – “Vielfalt” und “sozialer Ausgleich” – scheinen wenn schon nicht in Frage gestellt so doch neu gedacht. Offensichtlich wird ein Prozeß der europäischen Staatsbildung im Delorschen Sinn als Einbettung der Ökonomie in einen europäisierten “strukturierten Wirtschaftsraum” mit einer eigenständigen, zum sozialen Ausgleich kompetenten und fähigen europäischen Handlungsebene nicht mehr angestrebt. Stattdessen gewinnt das “management by objectives” EU-europäisch und national an Bedeutung. Die Ziele, die die weite Idee des sozialen Ausgleichs abzulösen beginnen und diese zugleich einengen, zeigen sich insbesondere in der Beschäftigungspolitik: Erhöhung der Bechäftigungsfähigkeit, Stärkung von Unternehmergeist und Flexibilität sowie eine Gleichstellung der Geschlechter, die vorrangig den Imperativen des Marktes folgt. Ein neues Europäisches Sozialmodell zeichnet sich ab.5 In der beantragten abschließenden Forschungsphase des Kollegs soll das Ineinandergreifen von “altem” und “neuem” Sozialmodell näher untersucht werden. Dabei werden wir uns weiter an den drei Leitfragen orientieren können, die auch bisher die Forschung und Lehre des Kollegs bestimmt haben, konsequenterweise aber hauptsächlich an der Beantwortung des dritten nachfolgend genannten Fragekomplexes arbeiten: 1. Wie kann das “alte” Europäische Sozialmodell beschrieben und allgemein und in seinen spezifischen Varianten erklärt werden? Die Frage bildet das Leitmotiv für das gemeinsam bearbeitete Themenfeld 1: “Das ‚alte’ Europäische Sozialmodell – Entstehung, Charakteristika, Varianten”. 2. Wie kann die Tendenz zur Erosion des “alten” Europäischen Sozialmodells/seiner Elemente allgemein und länderspezifisch beschrieben und erklärt werden? Die Frage konstituiert das gemeinsam bearbeitete Themenfeld 2: “Endogene und exogene Herausforderungen an das ‚alte’ Europäische Sozialmodell”. 3. Welches “neue” Europäische Sozialmodell zeichnet sich ab? Wie kann es beschrieben, wie in seiner Entwicklung (leitende Ideen und tragende Interessen/Akteure) und Gestalt (zentrale Institutionen) erklärt werden? Welche Begründungs- und Legitimationsmuster begleiten die Maßnahmen zum Umbau oder zur Auflösung der für das Europäische Sozialmodell charakteristischen Institutionen und Kompromisse bzw. die gesellschaftlichen Folgen dieser Erosion? Schließlich: Welche Gewinner und Verlierer eines Umbaus des “alten” zum “neuen” Sozialmodell lassen sich identifizieren? Solche Fragen strukturieren das nunmehr schwerpunktmäßig gemeinsam zu erarbeitende Themenfeld 3: “Das ‚neue’ Europäische Sozialmodell: Ideen, Interessen und Institutionen im Prozeß des Umbaus”. (2) Stand der Forschung Wie erwähnt wird das Graduiertenkolleg seine Leitfrage nach den Besonderheiten, den Herausforderungen und der Zukunft des Europäischen Sozialmodells im Antragszeitraum auf die Frage des Wandels von Institutionen, seiner Bestimmungsfaktoren und Ergebnisse, konzentrieren. Wir werden uns insbesondere für das Zusammenspiel von Ideen und Interessen im Prozeß des institutionellen Wandels sowie für die Bedingungen interessieren, die Veränderungen behindern oder – häufig wider Erwarten – anstoßen. Mit dem Schwerpunkt Ursachen, Prozesse und Ergebnisse des institutionellen Wandels nimmt das Kolleg eine allgemeine Tendenz in den vergleichenden Gesellschafts- und Kulturwissenschaften, auch der Rechtswissenschaft, auf. 6 Hier hat sich die Forschung in den letzten Jahren von der typologisierenden Identifizierung von 5 6 Vgl. Aust, Andreas, Sigrid Leitner und Stephan Lessenich, 2002: Konjunktur und Krise des Europäischen Sozialmodells. Ein Beitrag zur politischen Präexplantationsdiagnostik, in: Politische Vierteljahresschrift 43 (2), 272-301; Aust, Andreas, Sigrid Leitner und Stephan Lessenich, 2000: Sozialmodell Europa. Eine konzeptionelle Annäherung, in: Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (Hg.), Sozialmodell Europa. Konturen eines Phänomens. Jahrbuch für Europa- und Nordamerika-Studien 4, Opladen: Leske + Budrich, 7-22; Ostner, Ilona, 2000: Auf der Suche nach dem Europäischen Sozialmodell, in: ebda., 23-37. Vgl. z.B. Crouch, Colin, 1999: Social Change in Western Europe. Oxford: Oxford University Press; Bach, Maurizio (Hg.), 2000: Die Europäisierung nationaler Gesellschaften: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 40. Westdeutscher Verlag: Opladen; für die Geschichtswissenschaft, vgl. Merkmalsausprägungen einer Gesellschaft oder mehrerer Gesellschaften zur – wiederum häufig typisierenden – Beschreibung und Erklärung von Entwicklungsprozessen bewegt.7 Die (neuerliche) Wende von den Strukturen zu den Prozessen hat in den genannten Disziplinen den Bedarf an einer Rekonzeptualisierung vorhandener Theorien des Wandels (strukturell, institutionell, reflexiv: Wandel des Wandels) “mittlerer Reichweite” sichtbar gemacht. 8 In diesem Zusammenhang wird zur Zeit auch die Frage nach dem Paradigma der Modernisierung – das im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus von Ulrich Beck, Johannes Berger oder Wolfgang Zapf wieder auf je unterschiedliche Weise als “Modernisierung der Moderne” ins Spiel gebracht wurde, nachdem man es vor 1989 wegen seiner Normativität und Linearität noch zurückgewiesen hatte, – wieder aktuell.9 In der Politikwissenschaft ist das Phänomen des Wandels zunächst durch die in der politischen Kulturforschung zentrale Kategorie des “Wertewandels” wieder populär geworden. Im Zuge der Transformationsforschung der 1990er Jahre wurden dann der Wandel bzw. Wechsel von politischen Systemen und deren Institutionen untersucht. Implizit an Comtes Dreistadiengesetz anschließend werden drei Demokratisierungswellen unterschieden: (1) von der französischen und amerikanischen Revolution bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg (unterbrochen durch die Ausbreitung autoritärer und faschistischer Regime); (2) nach dem Zweiten Weltkrieg Demokratisierung in der Bundesrepublik, Italien und Österreich sowie in Japan und in einigen südamerikanischen Staaten; (3) seit 1974 Demokratisierung zunächst in Südeuropa, dann Lateinamerika, Ostasien und schließlich – seit 1989/90 – in Osteuropa. 10 Vier Theoriestränge der Systemwechselforschung können unterschieden werden: Systemtheorie/Modernisierungstheorie; Strukturalismus; Kulturalistische Ansätze; Akteurstheorien. 11 Drei Phasen von Regimewandel bzw. Regimewechsel werden analytisch voneinander abgegrenzt: Ende des autokratischen Regimes; Institutionalisierung der Demokratie; Konsolidierung der Demokratie. Der Forschungsfokus ist in den letzten Jahren auf die dritte Phase gerichtet worden, nämlich die Konsolidierung von Verfassungsinstitutionen, intermediären Organisationen wie Parteien und Verbände sowie der politischen Kultur und Zivilgesellschaft. Dabei ist umstritten, anhand welcher Kriterien von einer konsolidierten Demokratie gesprochen werden kann.12 7 8 9 10 11 12 Haupt, Heinz-Gerhard und Jürgen Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung. Frankfurt/New York: Campus; Nolte, Paul et al. (Hg.), Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. München: Beck; für die Rechtswissenschaft z.B. die laufende Kollegs-Dissertation von Torben Asmus zur Rechtsentwicklung am Beispiel des Urheberrechts, ähnlich Robertson, David: Europe’s law, in: Prospect, Heft 71 (Februar 2002), 28-33. Für den Bereich der Public Policy und der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung: Hall, Peter 1993: Policy Paradigms, Social Learning and the State: The Case of Economic Policy-making in Britain, in: Comparative Politics 25 (3), 275-296; Pierson, Paul, 1996: The New Politics of the Welfare State, in: World Politics 48 (2), 143-178; Levy, Jonah, 1999: Vice into Virtue? Progressive Politics and Welfare Reform, in: Politics & Society 27 (2), 239-273; Bonoli, Giuliano, Vic George und Peter Taylor-Gooby, 2000: European Welfare Futures. Cambridge: Polity Press. Mit Fokus auf allgemeinere, auch theoretische Fragestellungen insbesondere der Politikwissenschaft und Politischen Soziologie zum Institutionenwandel, vgl. Göhler, Gerhard (Hg.), 1996: Institutionenwandel. Leviathan. Sonderheft 16. Opladen: Westdeutscher Verlag; Nedelmann, Birgitta (Hg.), 1995: Politische Institutionen im Wandel. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 35. Opladen: Westdeutscher Verlag. Vgl. Schelkle, Waltraud, Wolf-Hagen Krauth, Martin Kohli und Georg Elwert (Hg.), Paradigms of Social Change: Modernization, Development, Transformation, Evolution. Frankfurt a.M.: Campus; ferner die Beiträge von Zapf, Berger u.a. in: Leviathan 24 (1), 1996. Kritisch z.B.: Therborn, Göran, 1992: European Modernity and Beyond. The Trajectory of European Societies 1945-2000. London: Sage. Vgl. Huntington, Samuel P., 1993: The Third Wave. Democratization in the late twentieth century. Norman: University of Oklahoma Press; vgl. zuletzt: Rose, Richard, 2001: Democratization Backwards: The Problem of Third-Wave Democracies, in: British Journal of Political Science 31 (2), 331-354. Vgl. Merkel, Wolfgang (Hg.), 1994: Systemwechsel. (Bd. 1). Opladen: Leske+Budrich; Beyme, Klaus von, 1994: Systemwechsel in Osteuropa. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Vgl. Markel, Wolfgang et al. (Hg.), 2002: Defekte Demokratien. Opladen: Leske+Budrich [i.E.]. Ein reger Austausch besteht vor allem zwischen politikwissenschaftlichen und politisch-soziologischen, akteurszentrierten, Ansätzen zum Wandel von Institutionen und dem Neuen Institutionalismus in den Wirtschaftswissenschaften. 13 Die Neue Institutionenökonomik widmet sich nicht nur der Begründung bestehender ökonomischer Institutionen bzw. des institutionellen Rahmens von Volkswirtschaften und deren Effizienzwirkungen, sondern auch den Ursachen bzw. Hindernissen ihrer langfristigen Entwicklung. Sie liefert Erklärungen dafür, weshalb sich hinsichtlich ihrer Effizienz- und Verteilungswirkungen gegenüber den bestehenden institutionellen Regelungen als überlegen identifizierte Reformvorschläge im politischen Prozess nicht durchsetzen können – ein Phänomen, das als Implementations–problem bezeichnet werden kann. 14 Die Neue Institutionenökonomik verweist insbesondere auf das Problem der Pfadabhängigkeit als Begründung für Beharrungstendenzen bestehender institutioneller Regelungen und Restriktionen politischer Reformen: 15 Die Erträge institutioneller Strukturen nehmen mit der zeitlichen Dauer ihres Bestehens zu, da Individuen und Unternehmen ihre Entscheidungen gezielt darauf ausrichten. Sie nehmen auf die gegebenen Institutionen abgestimmte spezifische Investitionen vor, die Selbstverstärkungsmechanismen zur Aufrechterhaltung eines gegebenen institutionellen Gefüges wirken lassen. So genannte “Lock-In”-Effekte, deren Ausmaß im Zeitablauf zunimmt, erhöhen dann die Kosten von Veränderungen existierender Institutionen. Ein Beispiel ist das System der Rentenversicherung, bei dem grundlegende Reformen erhebliche individuelle und gesamtwirtschaftliche Übergangskosten verursachen können. Vor allem die Soziologie aber hat sich seit ihrer Gründungsphase intensiv mit sozialen Wandlungsprozessen beschäftigt – und dementsprechend vielfältig bzw. verwirrend ist dann auch ihr Theorieangebot16. Dennoch läßt sich diese Vielfalt ordnen: Unverkennbar ist, daß hochabstrakte Wandlungstheorien wie die an Parsons angelehnte Modernisierungstheorie oder die Luhmannsche Evolutions- und Differenzierungstheorie entweder vor immensen theoriebautechnischen Problemen stehen oder für die empirische Arbeit eben aufgrund ihrer Abstraktheit relativ folgenlos bleiben müssen. 17 Deshalb haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten eher Theorien des Wandels in den Vordergrund geschoben, die einen klaren Akteursbezug und ein echtes Interesse für (kontingente) historische Ereignisse und Prozesse haben. Die Forschungsheuristik der anglo-amerikanischen Historischen Soziologie 18, in der mit unterschiedlichen grundlagentheoretischen Modellen gearbeitet wird, so daß hier Rational Choice-Theoretiker ebenso wie Symbolische Interaktionisten zu finden sind 19 , wäre hier ebenso zu nennen wie beispielsweise der (an den Grenzen zur Politikwissenschaft angesiedelte) akteurzentrierte Institutionalismus 20 oder die Arbeiten, die im Umkreis des Bourdieuschen “genetischen Strukturalismus” entstanden sind 21. Freilich haben auch diese akteurnahen makrosoziologischen Wandlungstheorien mit altbekannten Schwierigkeiten zu kämpfen. So scheint das Verhältnis zwischen “Macht” und “Kultur” vielfach ungeklärt zu sein: Nicht zufällig lassen sich viele der Analysen entweder dem ‘kulturalistisch-konstruktivistischen’ oder dem ‘objektivistischen’ Lager zuordnen. (3) Forschungsdesiderate Mit dem wenig erforschten Verhältnis von – allgemein gesagt – “Macht” und “Kultur” greifen wir ein wesentliches Desiderat der Forschungen zum institutionellen Wandel auf. Während die Mehrheit der Studien zum Politikwandel relativ mechanisch sozioökonomische (exogene) Herausforderungen mit Spielräumen, die institutionelle 13 14 15 16 17 18 19 20 21 Vgl. Reuter, Norbert, 1996: Der Institutionalismus. Geschichte und Theorie der evolutionären Ökonomie. Marburg: Metropolis. Vgl. Döring, Thomas, 2001: Institutionenökonomische Fundierung finanzwissenschaftlicher Politikberatung. Marburg: Metropolis. Vgl. North, Douglass C., 1990: Institutions, Institutional Change and Economic Performance. Cambridge: Cambridge University Press. Müller, Hans-Peter und Michael Schmid (Hg.), 1995: Sozialer Wandel. Modellbildung und theoretische Ansätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Weymann, Ansgar, 1998: Sozialer Wandel. Theorien zur Dynamik der modernen Gesellschaft. Weinheim u.a.: Juventa. Knöbl, Wolfgang, 2001: Spielräume der Modernisierung. Weilerswist: Velbrück. Vgl. exemplarisch Tilly, Charles, 1984: Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons. New York: Russell Sage. Vgl. Pierson, Paul und Theda Skocpol, 2000: Historical Institutionalism in Political Science, Paper prepared for presentation at the American Political Science Association Meetings, Washington D.C., August 30th – September 2nd, 2000. Scharpf, Fritz W., 2000: Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung. Opladen: Leske+Budrich. Boltanski, Luc, 1990: Die Führungskräfte. Die Entstehung einer sozialen Gruppe. Frankfurt/New York: Campus; Bourdieu, Pierre, 2001: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Konfigurationen für politische und gesellschaftliche Anpassungsprozesse bieten, verknüpft – womit der Wandel fast zwangsläufig “pfadabhängig” erscheinen muß 22 –, suchen wir nach “überraschungsoffeneren” Ansätzen: nach solchen, die sich für die soziale Konstruktion der unterstellten Reformbedarfe wie auch der anvisierten Problemlösungen durch die im Reformprozeß involvierten Akteure und für deren handlungsleitende Ideen sowie für das dialektische Verhältnis von “Stabilität” und “Wandel” interessieren. Wie sonst ließe sich erklären, daß es manchmal zum “Wandel ohne Herausforderung” (“change without challenge”) 23 kommt – oder daß es die gewandelte, “neue Sozialdemokratie”, jener Inbegriff besitzstandswahrender und -erweiternder “linker Machtressource” gewesen ist, der beachtliche Politikwechsel gelangen?24 Auch scheinbar “erstarrte” institutionelle Settings können sich wider Erwarten bewegen, und dies in kaum vorhergesehene Richtungen mit ebenso wenig geahnten Folgen.25 Schließlich mögen die vermeintlichen Schwächen einer institutionellen Konfiguration durchaus auch Ressourcen – “Tugenden” – darstellen, die im Prozeß des Politikwandels als komparativer Vorteil genutzt werden können.26 Da der von uns unterstellte Wandel neu bzw. erst in Gang gesetzt ist27, soll sich ein Teil der Forschungs- und Lehrtätigkeit ferner in einem weiteren Schritt darauf konzentrieren, auf der Grundlage vorhandener Konzepte einen Set von Indikatoren zu erarbeiten, die geeignet sind, die möglichen inklusions- bzw. exklusionsrelevanten Ergebnisse des institutionellen Wandels zu erfassen28. 2.2.2 Interdisziplinäre Forschungsschwerpunkte und forschungsleitende Konzepte Im folgenden werden die Schwerpunkte der Forschung vorgestellt, die die zukünftige Kollegsarbeit thematisch und disziplinär integrieren. Wir beginnen mit einer knappen Darstellung der Herausforderungen an das Europäische Sozialmodell. Vor dieser Darstellung scheint jedoch eine Einschränkung angebracht, die zugleich einen möglichen Arbeitsschwerpunkt umschreibt. (1) Zur sozialen Konstruiertheit von Problemen Institutionen verändern sich (endogen), sonst könnten sie gar nicht überdauern, und sie werden gezielt verändert, ohne daß besondere (exogene) Herausforderungen erkennbar sind (vgl. oben). Soziale Probleme sind “sozial konstruiert”. Selbst wenn sie objektiv meßbar sind, müssen sie erst als solche wahrgenommen werden.29 Zwar soll die Existenz von exogenen und endogenen Prob22 23 24 25 26 27 28 29 Paradigmatisch für den Bereich der Public Policies vgl. die jüngeren Arbeiten von Esping-Andersen und Pierson (siehe Fn. 3). Die Fixierung auf das Stabilitätsphänomen gilt selbst noch für prinzipiell am Problem des Wandels interessierte historische Institutionalisten; vgl. z.B. Thelen, Kathleen und Sven Steinmo, 1992: Historical institutionalism in comparative politics, in: Steinmo, Sven, Kathleen Thelen und Frank Longstreth (Hg.), Structuring politics. Historical Institutionalism in Comparative Analysis. Cambridge: Cambridge University Press, 1-32. Goul Andersen, Jørgen, 2000: Change without Challenge? Welfare states, the construction of challenge and dynamics of path dependency. CCWS Working Paper 14, Aalborg. Ross, Fiona, 2000: Interests and Choice in the ‚Not Quite so New’ Politics of Welfare, in: Ferrera, Maurizio und Martin Rhodes (Hg.), Recasting European Welfare States. London: Frank Cass, 11-34. Vgl. z.B. Palier, Bruno, 2000: ‚Defrosting’ the French Welfare State, in: Ferrera, Maurizio und Martin Rhodes (Hg.), Recasting European Welfare States. London: Frank Cass, 113-136; Lessenich, Stephan, 1996: Umbau, Abbau, Neubau? Der deutsche Sozialstaat im Wandel. Eine Provokation, in: Leviathan 24 (2), 208-221. Levy, Jonah, 1999: Vice into Virtue? Progressive Politics and Welfare Reform in Continental Europe, in: Politics and Society 27 (2), 239-273. Vgl. auch Leibfried, Stephan und Elmar Rieger, 2001: Grundlagen der Globalisierung. Perspektiven des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Vgl. z.B. für den wohlfahrtsstaatlichen Umbau seit Mitte der 1990er Jahre: Alber, Jens, 2002: Modernisierung als Peripetie des Sozialstaats? in: Berliner Journa für Soziologie 12 (1), 5-35. Hier kann das Graduiertenkolleg an laufende Projekte der Antragsteller Martin Baethge (“Sozioökonomische Leistungsfähigkeit”), Steffen Kühnel und Ilona Ostner (“Social Quality Indicators”) anknüpfen, die wiederum auf einer breiten EU-europäischen Debatte und Forschung aufbauen, vgl. z.B. aktuell: Atkinson, Tony, Bea Cantillon, Eric Marlier und Brian Nolan, 2002: Social Indicators. The EU and Social Inclusion. Oxford: Oxford University Press; Burchardt, Tania, Julian Le Grand und David Piachaud, 1999: Social Exclusion in Britain 1991-1995, in: Social Policy & Adminstration 33 (3), 227-244; ferner die bereits erwähnte Arbeit von Martin Kronauer zur “Exklusion” (siehe Fn. 2). So reichten im 19. Jahrhundert massenhafte Verelendung und Wanderungen keineswegs aus, um soziale lemen nicht abgestritten werden. Manche sind neu hinzugekommen, auch mögen sich alte verschärft haben. Die öffentlichkeitswirksamen Debatten zu aktuellen Herausforderungen, die häufig von mit Politikberatung befaßten Sozialwissenschaftler(inn)en30 vorgetragen werden – wir greifen im folgenden eine aktuelle Kritik von Renate Mayntz (2001) auf und paraphrasieren sie für unseren Zusammenhang – unterstellen jedoch meist vor jeder empirischen Prüfung, daß das Problem des unter Druck geratenen Wohlfahrtsstaates, Sozialmodells usw. tatsächlich existiert und nur seiner Lösung harrt. Mayntz spricht hier von einem “Problemlösungsbias” der Steuerungstheorie – und wir würden hinzufügen: der Politikberatung. Zwar ist politisches Handeln – sei es der regierenden Parteien oder der Gewerkschaften – grundsätzlich problemlösungsorientiert; unterstellt wird jedoch stets ein i.w.S. gesellschaftliches Problem, das politisch zu lösen sei. Dabei wird im übrigen von der Fiktion ausgegangen, daß diese Problemlösung in erster Linie, wenn nicht sogar ausschließlich, “gemeinwohlorientiert” sei. Hier handelt es sich häufig um einen “krypto-normativen” Bias.31 Aktuelle Debatten über exogene und endogene Herausforderungen fragen folglich zu wenig, inwieweit das vom politisch Handelnden Angestrebte tatsächlich einem vorgestellten Gemeinwohl dienen soll und – vorausgesetzt, dieses ließe sich ohne weiteres identifizieren, – auch dienen wird und nicht vielmehr einer für den politischen Selbsterhalt relevanten oder anderweitig mächtigen Gruppe (ein typisches Beispiel stellt hier die Forschungsförderung dar). Damit, so Mayntz, hängt die Ausblendung einer zweiten Frage zusammen: Ginge es tatsächlich und vorrangig um die Lösung eines gesellschaftlichen Problems, müßte die Qualität der zugrundeliegenden Problemdiagnose und die Paßgenauigkeit der Lösung ein wichtiges Thema sein. Stattdessen werden Probleme mit hohem “Appeal” ins Spiel gebracht – sei es nun der “Bildungsnotstand” oder die “Globalisierung” –, von deren “generell akzeptierter Problemhaftigkeit” man schlicht meint ausgehen zu können, die man also kaum erforscht unterstellt. Diese kritischen Einwände sind im folgenden zu bedenken, wenn es um Problemdiagnosen und Leitlinien der Problemlösung sowie um deren Protagonisten gehen wird. Sie stellen, wie oben erwähnt und noch weiter ausgeführt wird, ein wichtiges Desiderat unserer Forschung dar. (2) Herausforderungen an das Europäische Sozialmodell (alle Disziplinen) Die in den Debatten benannten Herausforderungen an das Europäische Sozialmodell sind bekannt und haben sich seit dem Erstantrag kaum verändert. Meist werden sie aus der Perspektive eines veränderten politökonomischen Bezugsrahmens für das wirtschaftliche und politische Handeln von Individuen und Gruppen heraus thematisiert. Genannt werden technologische Innovationen, die den Produktionstyp der flexiblen Spezialisierung hervorbrachten; neue Wettbewerber am Markt, wie die NICs (“newly industrialized countries”) vor allem Südostasiens; in der Folge der Wettbewerb unterschiedlich institutionell eingebetteter Kapitalismen; schließlich die Internationalisierung des Kapitalverkehrs. Diese Faktoren wirken 30 31 Reformen anzuschieben. Nach Heinz Lampert mußten zur Dringlichkeit der Problemlösung, noch die “Problemlösungsbereitschaft” (Ideen und ihre Träger) und die “Problemlösungsfähigkeit” hinzukommen. Lampert, Heinz, 1991: Lehrbuch der Sozialpolitik. Berlin: Springer, 147-162. Zur teilweisen Transformation der Soziologie in Politikberatung, vgl. Kern, Horst, 2001: Die Wiederkehr der Soziologie, in: Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Hg.), Wissenschaften 2001. Diagnosen und Prognosen. Göttingen: Wallstein, 117-134. Vgl. Mayntz, Renate, 2001: Zur Selektivität der steuerungstheoretischen Perspektive. MPIfG-Working Paper 01/2, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln. – Schon Georg Simmel (Soziologie. Berlin: Duncker&Humblot, 1908) hat daran erinnert, daß der (damals kaum entwickelte Wohlfahrts-) Staat den steuerzahlenden (durch Steuerzahlung potentiell geschädigten) Bürgern, seinen Wählern, mindestens ebenso verpflichtet sei wie einem diffusen Allgemeinwohl, das an Überzeugungskraft um so mehr abnimmt, wie Gesellschaften aufhören, organische Einheiten zu bilden. sich “nach innen”, auf nationale oder – nimmt man größere Einheiten – EU-europäische Traditionen z.B. der Ausgestaltung von Beschäftigung und Entlohnung, der Absicherung von sozialen Risiken aller Art oder der Form der Interessenrepräsentation und -vermittlung, überhaupt des Politikgeschäftes usw. aus. Dabei kämpfen die meisten westlichen Länder bereits mit anderen Problemen, wie einer wachsenden Zahl älterer, nicht erwerbstätiger Menschen, die Einkommen und Dienste brauchen; einem stagnierenden und/oder niedrigen Wachstum; oder der Zuwanderung von Individuen und Gruppen, die erst in einem längerdauernden Prozeß in die Aufnahmegesellschaft integriert werden können. Sie werden auch mit den Folgen erfolgreicher Institutionalisierung von Problemlösungen konfrontiert, z.B. den gestiegenen Erwartungen der Bürger an Wohlstand und soziale Sicherheit, sowie mit Besitzstandswahrungsinteressen aller Art. Neu sind nicht solche internationalen und nationalen Herausforderungen, neu ist vielmehr die wachsende Einsicht, daß zwischen den veränderten politökonomischen Rahmenbedingungen und den politischen Handlungsmöglichkeiten komplizierte Interdependenzen bestehen,32 die sich nicht – zumindest nicht ohne adverse Folgen – nach einer Seite hin auflösen lassen. Diese Interdependenzen treten besonders deutlich in den Dilemmata hervor, in denen z.B. die klassischen Verfechter des Europäischen Sozialmodells – die Gewerkschaften, die Sozialdemokratie, teilweise auch die Christdemokratie – gefangen sind und denen sie um ihrer Zukunft willen entkommen müssen. Typische Dilemmata, die aus der angesprochenen Interdependenz resultieren, wären etwa die notwendige Hinwendung zu marktbefreienden, deregulierenden Politiken unter Inkaufnahme einer längerfristig abschreckenden Wirkung auf das traditionelle Wählerpotential; oder – wiederum rückgekoppelt – der allbekannte Versuch, die schwindende Repräsentanz dann dadurch wettzumachen, daß man nach dem Medianwähler schielt oder allgemeiner: nach der Mitte strebt und diese zu verbreitern sucht, dabei aber riskiert, daß die ursprüngliche Anhängerschaft sich entweder entpolitisiert oder radikalisiert.33 Man kann solche Interdependenzen auch für andere gesellschaftliche Teilbereiche, z.B. für das Zusammenspiel von Beschäftigungspolitik, Familie und Geschlechterverhältnisse, feststellen und die damit verbundenen Dilemmata für das politische und individuelle Handeln durchspielen. In einer engeren soziologischen Perspektive soll der institutionelle Wandel auf die “Individualisierung (in) der Gesellschaft” reagieren. Diese soll sich in einer “gestörten Reziprozität”, einem Mißverhältnis von Nehmen und Geben, äußern. Die institutionellen Neujustierungen wiederum sollen berücksichtigen, daß “individualisierte” Gesellschaften “divers”, Ungleichheiten entgrenzt und zugleich dynamischer geworden sind, was wiederum im Umkehrschluß Maßnahmen erfordere, die unmittelbar am Individuum, nicht mehr an seiner (ohnehin kaum mehr fixierbaren) sozialen Lage ansetzen. 34 Sind Probleme individualisiert und individualisierbar, und nimmt zugleich dadurch – aber auch exogen, z.B. durch Migration, – die Heterogenität der europäischen Gesellschaften zu, dann schwindet auch die Basis für universalistisch ausgerichtete Institutionen und umverteilungsorientierte Politiken. 35 Im klassischen Spannungsfeld zwischen der gesellschaftlichen Verantwortung für individuelles Wohlergehen einerseits und individueller Eigenverantwortung im Interesse der Allgemeinheit andererseits werden dementsprechend verstärkt gemeinnützige Beiträge des Einzelnen politisch eingeklagt. Dabei ist es durchaus bemerkenswert, wie intensiv gerade auf Seiten der europäischen Sozialdemokratie über “das” 32 33 34 35 Hall, Peter, 1999: The Political Economy of Europe in an Era of Interdependence, in: Kitschelt, Herbert, Peter Lange, Gary Marks und John D. Stephens (Hg.), Continuity and Change in Contemporary Capitalism. Cambridge: Cambridge University Press, 135-163. Kitschelt, Herbert, 1999: European Social Democracy between Political Economy and Electoral Competition, in: Kitschelt, Herbert, Peter Lange, Gary Marks und John D. Stephens (Hg.), Continuity and Change in Contemporary Capitalism. Cambridge: Cambridge University Press, 317-345. Vgl. für viele andere: Rosanvallon, Pierre, 2000: The New Social Question. Rethinking the Welfare State. Princeton: Princeton University Press, insb. 100-106. Zu den kontingenten Voraussetzungen universalistischer Institutionen, vgl. Rothstein, Bo, 1998: Just Institutions Matter: The Moral and Political Logic of the Universal Welfare State. Cambridge: Cambridge University Press. Rosanvallon, aber auch Jens Alber zufolge stellt die “Entbindung des Staates von der Verpflichtung auf das Gleichheitsziel und seine Beschränkung auf das Ziel der Sicherung gleicher Chancen [...] möglicherweise eine angemessene Reaktion auf die Heterogenisierung der europäischen Gesellschaften dar, die sich als Einwanderungsgesellschaften nun auf unterschiedliche Grade der Leistungsmotivation und Eigenverantwortung in verschiedenen Bevölkerungskreisen einstellen müssen”, vgl. Alber, Jens, 2002: Allmählicher Umbau bei nach wie vor deutlichen nationalen Unterschieden, in: ISI (Informationsdienst Soziale Indikatoren) 28 (Juli), 1-6. Gemeinwohl im Singular gesprochen wird (vgl. oben). 36 Als gemeinwohlgefährdend gelten ihr zunehmend die traditionellen Formen wohlfahrtsstaatlich ermöglichter Nicht-Erwerbstätigkeit erwerbsfähiger Bevölkerungsteile. 37 Die gemeinwohlinduzierte Delegitimierung wesentlicher Teile öffentlicher Daseinsvorsorge erscheint so als paradoxe Konsequenz gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse im Europäischen Sozialmodell. Forschungsbedarfe bestehen in diesem Zusammenhang im Hinblick auf folgende Fragen: - - Welche Vorstellungen von gesellschaftlicher Zugehörigkeit, von gesellschaftlicher Verantwortung gegenüber den Individuen und gesellschaftlichen Pflichten der Individuen liegen – implizit und/oder explizit – den unterschiedlichen institutionellen, wohlfahrtsstaatlichen Arrangements in den verschiedenen europäischen Ländern zugrunde? Gibt es genügend Übereinstimmungen, um in dieser Hinsicht von einem europäischen Sozialmodell zu sprechen? Welche Veränderungen zeichnen sich ab, gehen sie in den verschiedenen Ländern in die gleiche Richtung oder weichen sie voneinander ab? Inwieweit ist die Balance zwischen Selbsthilfe und sozialer Sicherheit heute prekärer als früher geworden oder gar verloren gegangen? Inwieweit verringern oder entmutigen der soziale Wandel und soziale (z.B. wohlfahrtsstaatliche) Institutionen Gruppenbeiträge, inwieweit fördern sie tatsächlich die strategische Nutzung? Welche Neujustierungen der Logik sozialer Sicherung würde eine neue Balance von Nehmen und Geben herstellen können? Worin bestehen die Kosten solch einer Neujustierung je nach Sicherungssystem – für welche Gruppen bzw. für die Gesellschaft insgesamt? Wie würde solch eine Neujustierung das Sicherungssystem und soziale Ungleichheiten in den europäischen Wohlfahrtsstaaten verändern – mit welchen Folgen für die Idee des Sozialen verändern? Die skizzierten Herausforderungen interessieren im Kontext der zukünftigen Kollegsarbeit insbesondere unter dem doppelten Gesichtspunkt der institutionellen Reaktionsweisen auf dieselben einerseits und ihrer Folgen für die gesellschaftliche Inklusionskraft des Sozialmodells andererseits. Diese beiden Aspekte seien im folgenden näher erläutert. (3) Zum Verhältnis von Ideen und Interessen beim Umbau von Institutionen (Knöbl, Lessenich, Lösche, Ostner, Weisbrod) In der nächsten Forschungsphase soll die Chance genutzt werden, mit empirischen Arbeiten Klarheit in die angesprochene Frage nach dem Zusammenspiel von “Macht” und “Kultur” zu bringen – und zwar durch eine Zuspitzung auf die klassisch-soziologische, am prägnantesten von Max Weber formulierte Frage nach dem Verhältnis von Ideen und Interessen38: - Wer (und hier ist vor allem an politische und intellektuelle Eliten zu denken) setzt bestimmte Ideen auf die Tagesordnung und wer setzt sie – möglicherweise mit einem ganz anderen Verständnis oder eben mit ganz anderen Interessen – praktisch um? - Zu welchen Veränderungsprozessen kommt es dabei, wenn man davon ausgeht, daß das intellektuelle Feld möglicherweise einer anderen Logik folgt als dasjenige der Politik? - Welche Bezugsgesellschaften (R. Bendix) werden zu je unterschiedlichen historischen Zeiten von intellektuellen und politischen Eliten gewählt, um Transformationsprozesse in der eigenen Gesellschaft voranzutreiben bzw. zu legitimieren? - Wie funktioniert der Ideentransfer von einer Gesellschaft in die andere, und wie werden Ideen in diesem Prozeß umformuliert, also etwa dem jeweiligen nationalen Kontext angepaßt etc.? Die übergreifende Frage nach der “Zukunft des Europäischen Sozialmodells” bietet sich für eine Konkretisierung der hier eher abstrakt formulierte Problematik des Zusammenhangs zwischen Ideen und Interessen an, weil sich aus ihr eine Reihe von exemplarischen Forschungsarbeiten geradezu ableiten lassen: 36 37 38 Vgl. Offe, Claus, 2001: Wessen Wohl ist das Gemeinwohl?, in: Lutz Wingert und Klaus Günther (Hg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. (FS Habermas). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 459-488. In diesem Sinne prominent, vgl. Streeck, Wolfgang, 2000: Competitive Solidarity: Rethinking the “European Social Model”, in: Hinrichs, Karl, Herbert Kitschelt und Helmut Wiesenthal (Hg.): Kontingenz und Krise. Institutionenpolitik in kapitalistischen und postsozialistischen Gesellschaften. Frankfurt/New York: Campus, 245-261. Kritisch dazu, vgl. Dahrendorf, Ralf, 2000: Die globale Klasse und die neue Ungleichheit, in: Merkur 54, Heft 619, 1057-1068. Vgl. dazu auch Lepsius, Rainer M., 1990: Interessen und Ideen. Die Zurechnungsproblematik bei Max Weber, in: M. Rainer Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen. Opladen: Westdeutscher Verlag, 31-43. - - - - Es ist ganz offensichtlich so, daß die Rede vom “Europäischen Sozialmodell” vor einem bestimmten Bild des amerikanischen Wohlfahrtsstaates und seiner Entwicklung entstanden ist. Wie wurde und wird von der Medienöffentlichkeit im allgemeinen und von bestimmten “public intellectuals” im besonderen der amerikanische “semi-welfare-state” wahrgenommen, und welche Reaktionsbildungen erfolg(t)en darauf? Dies scheint gerade vor dem Hintergrund der derzeitigen Schröderschen Rede vom “deutschen Weg” wieder aktuell zu sein, zumal auch historisch-soziologische Untersuchungen jüngst wiederum demonstriert haben, wie verzerrt oft das Amerikabild deutscher Intellektueller war und ist.39 Transformationen nicht nur des Wohlfahrtsstaates waren immer auch von bestimmten Semantiken 40 begleitet, wobei vermutlich die Semantik des Begriffes “Modernisierung” mit derjenigen des “Sozial- oder Wohlfahrtsstaates” eng gekoppelt war. Wie veränderte sich die Semantik einer Modernisierung des Wohlfahrtsstaates im Laufe der Zeit (wobei hier Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Gesellschaften zu berücksichtigen wären), und lassen sich bestimmte historische Punkte festmachen, an denen ein Umschlag der Semantik erfolgte? Gerade auch durch eine Untersuchung dieser Semantiken ließe sich Aufschluß darüber erhalten, wie einheitlich “Europa” im Hinblick auf seine sozialstaatliche Programmatik war und ist, ob sich eine allmähliche Konvergenz der Wohlfahrtsstaatssemantiken ergeben hat oder nicht etc. Welche (unterschiedliche) Rolle spielen politikberatende Instanzen und Institutionen in den jeweiligen europäischen Nationen für die Formulierung von (sozial)politischen Strategien? Haben diese Institutionen überhaupt einen nennenswerten differenzierenden Einfluß vor dem Hintergrund der Tatsache, daß große Teile der intellektuellen Eliten ihre Ausbildung an amerikanischen Universitäten erfahren haben und noch erfahren? Im Sinne einer Anthropologie der Bürokratie ließe sich etwa untersuchen, ob überhaupt und wie schnell politische Programme (Gesetze, Verordnungen) angesichts der Eigenlogik bürokratischen Handelns bzw. des Verhaltensspielraums der Bürokraten durchgesetzt werden können. Wie ist das Verhältnis zwischen legislatorischem Aktivismus und bürokratischer Beharrungskraft zu denken? – eine gerade für eine Theorie sozialen Wandels entscheidende Frage. (4) Norm und Normwandel zwischen Konsens und Kontrolle (Lessenich, Ostner, Otto, Rosenbaum) Der vierte thematische Schwerpunkt knüpft an Überlegungen des vorherigen unmittelbar an, indem er zunächst ebenfalls fragt, wer zuerst Ideen ins Spiel bringt, um einen Wandel von handlungsleitenden Normen in Gang zu setzen. Die Sozialwissenschaften nennen bekanntlich Erwartungen, die das zwischenmenschliche Handeln in einer Gesellschaft leiten, “Normen”. Diese definieren mit dem richtigen auch das wünschenswerte, “wertvolle” Handeln in einer Gesellschaft. Insofern orientieren und regulieren – das heißt auch: sanktionieren – Normen das Handeln, stellen damit Erwartungssicherheit her und integrieren die Gesellschaft im Hinblick auf gemeinsame Vorstellungen des für sie Richtigen und Guten. Gesellschaftliche Normen, also z.B. die Erwartungen der Gesellschaft gegenüber Arbeitslosen oder gegenüber Familien, was die Sorge für ihre Mitglieder, insbesondere die Sorge für Kinder angeht, werden den Familienmitgliedern nicht einfach “von außen” oder “von oben” – von Machteliten z.B. – aufoktroyiert. Vielmehr spiegeln Institutionen und die in ihnen verfestigten Normen – also auch die Familie und Familiennormen – zugleich die wechselseitigen Erwartungen der in ihnen handelnden Bürger bzw. Bürgerinnen wider. Schließlich können sich Normen und die in ihnen enthaltenden Vorstellungen vom Guten auch ändern. Soweit sie in Institutionen quasi “eingebaut” sind, verlangt diese Änderung einen Umbau der Institution selbst. Gesellschaftliche Gruppen können zu der Überzeugung gelangen, daß bestimmte Normen die Lösung relevanter Probleme behindern. Sie können versuchen, eine Normänderung “von oben” zu initiieren. Die Änderung muß aber, will sie längerfristig erfolgreich sein, an Orientierungen der Mitglieder der Gesellschaft im Allgemeinen, einer Institution im Besonderen anknüpfen. Normen sind, damit ihnen entsprochen wird, auf Konsens angewiesen. Die Präferenzen der Mitglieder müssen sich in einer Gesellschaft ausdrücken können. Eine Mobilisierung des Konsenses, der Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Erwartungen, “von oben” kann die Mobilisierung “von unten” nicht wirksam ersetzen. Jede Manipulation der Konsensbildung führt dazu, daß die Übereinstimmung mit den Normen nur oberflächlich, daher kurzlebig ist und längerfristig unwirksam wird. 41 Die zur Lohnarbeit verpflichteten Arbeitslosen oder 39 40 41 Vgl. etwa Kamphausen, Georg, 2002: Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890. Weilerswist 2002: Velbrück. Vgl. Lessenich, Stephan (Hg.), 2003: Wohlfahrtsstaatliche Semantiken. Frankfurt/New York: Campus [in Vorbereitung]. Vgl. Etzioni, Amitai, 1979: Elemente einer Makrosoziologie, in: Wolfgang Zapf (Hg.), Theorien sozialen Wandels. Königstein: Athenäum, 147-176. Das Zusammenspiel von Konsens und Kontrolle (bei fehlendem Sozialhilfeempfänger würden sich möglicherweise irgendwie um die erwartete Leistung drücken, “bummeln”, – die Familienmitglieder sich wahrscheinlich der von oben verordneten Unterstützungsnorm auf Dauer schlicht entziehen oder sie eigensinnig wenden. Menschen können ihre wechselseitigen Erwartungen und die sie tragenden Ideen auch unabhängig von und gegen Institutionen ändern. Man kann die Veränderung aber nicht einfach “von oben” verordnen, z.B. (west)deutschen Müttern z.B. durch Leitbild-Diskurse nahelegen, sich wie schwedische zu verhalten und die Kinder wie diese vom Kleinstkindalter an der öffentlichen Betreuung zu überantworten. Die Änderung muß “von unten” nach “oben” getragen werden, soll sie stabil sein und sich gesellschaftlich durchsetzen. Ein Schwerpunkt der Kollegsarbeit soll sich noch stärker als bisher42 auf die Frage des Wandels von Leitbildern in verschiedenen Politikfeldern konzentrieren. Bildungs-, Beschäftigungs- oder Familienpolitik bieten sich für diese Untersuchung angesichts der aktuellen, vieldiskutierten Herausforderungen besonders an. - - - So könnte man herausarbeiten, welche Gruppen welche Diskurse mit Blick auf welche Zielgruppen initiieren; auf welche wahrgenommene Problemanalyse sich diese Diskurse stützen und – falls es sich um Elitendiskurse handelt – welche Probleme umgekehrt von den Adressaten der Diskurse artikuliert werden. Zu fragen wäre auch, welche Anleihen bei welchen Vorbildern (Leitbildern anderer Länder) genommen werden. Schließlich wären in diesem Zusammenhang Möglichkeiten und Grenzen insbesondere des verordneten “Lernens von Anderen” zu untersuchen (Frage nach dem “institutional fit”, der Kompatibilität von Ideen und Institutionen).43 Normen regeln in der Familie, wer (Frau oder Mann, Mutter oder Vater) welche Aufgaben wann (im Laufe eines Tages, einer Woche, einer Lebensphase) in welcher Form (unbezahlt oder bezahlt; marktvermittelt oder durch Eigenarbeit) in der Familie und für die Familie übernehmen, ferner wie sich die Gesellschaft zu Familien verhalten soll: Soll sie Familien sich selbst überlassen? Soll sie ihr Leistungen abnehmen und in eine öffentliche Aufgabe verwandeln? Oder soll sie Familien helfen, selbst die Leistungen zu erbringen, die für ihr Wohlergehen wichtig sind? Ähnliche Fragen ließen sich im Hinblick auf Arbeitsmarkt und Beschäftigung formulieren. Es gibt nur wenige Untersuchungen, die unterschiedliche Präferenzen der unmittelbar Betroffenen (Frauen und Männer in Familie und Arbeitsmarkt) erheben und erklären.44 Die modernen Gesellschaften der Gegenwart unterscheiden sich in ihren Antworten auf die oben gestellten Fragen. Entsprechend verschieden sind bspw. ihre Familienpolitiken. Manche Länder haben bestenfalls eine “implizite” Familienpolitik: Maßnahmen für Familien sind dann “verpackt” in Leistungen für bestimmte Gruppen (z.B. Kinder, Alleinerziehende), die familiale Teilkategorien darstellen. Andere betreiben Familienpolitik als Beschäftigungspolitik: indem sie Familien von bestimmten Leistungen (für Kinder oder ältere Familienangehörige) und damit für den Arbeitsmarkt freistellen, um so für eine hohe Beschäftigung aller Erwerbsfähigen – Frauen wie Männer – zu sorgen. Die meisten Länder kombinieren unterschiedliche Erwartungen an und Hilfen für Familien. Familie und Arbeitsmarkt haben daher je nach Land unterschiedliche institutionelle Schnittstellen. Diese Schnittstellen entscheiden wiederum über das Ausmaß, in dem erwerbsfähige Familienmitglieder für die Beschäftigung mobilisiert werden können. Eine institutionelle Neujustierung des Zusammenspiels von Familie und Arbeitsmarkt ist auf den Konsens der unmittelbar Betroffenen angewiesen. Wir wissen zu wenig darüber, wie der Konsens über das Zusammenspiel von Familie und Beschäftigung in verschiedenen Ländern der EU hergestellt wurde und wird. (5) Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung – Bestimmungsfaktoren institutionellen Wandels Kern, Knöbl, Kucera, Lessenich, Weisbrod) (Baethge, Der Historische Institutionalismus fragt nach den politischen Bedingungen und Umständen institutioneller Gründungsakte (formative choices) und versucht die Zeitpunkte, an denen Institutionen neu orientiert werden, sowie 42 43 44 oder schwachem Konsens) bildet die Grundlage von Etzionis Buch “Die aktive Gesellschaft”; vgl. Etzioni, Amitai, 1968: The Active Society: A Theory of Societal and Political Processes. New York: Free Press. Zur Frage der “Ordnung des Konsenses” vgl. auch das laufende Dissertationsprojekt von Silke van Dyk. So untersuchte Diana Auth in ihrer im Rahmen des Kollegs verfaßten Arbeit “Wandel im Schneckentempo. Arbeitszeitpolitik und Geschlechtergleichheit im deutschen Wohlfahrtsstaat” (Opladen: Leske+Budrich 2002) das Zusammenspiel von sich verändernden Arbeitszeit- und “Geschlechter”normen auf den Feldern der Alterssicherungs- und Kinderbetreuungspolitik. Vgl. dazu aus dem Kollegskontext Trampusch, Christine, 2000: Grenzen der Diffusion. Die formative Phase der Arbeitsmarktpolitik in den Niederlanden, in: Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (Hg.), Sozialmodell Europa. Konturen eines Phänomens. Jahrbuch für Europa- und Nordamerika-Studien 4, Opladen: Leske+Budrich, 153-177. Vgl. mit Blick auf Präferenzen in der Kinderbetreuung: Sims-Schouten, Wendy, 2000: Child Care Services and parents’ attitudes in England, Finland and Greece, in: Pfenning, Astrid und Thomas Bahle (Hg.), Families and family policies in Europe. Comparative Perspectives. Frankfurt a. M.: Lang, 270-288. jenes Erbe (“legacy of the past”, policy feedback) zu identifizieren, das den Handlungspielraum bzw. die Optionen definiert, die den Akteuren für Veränderungen offenstehen. 45 Damit richtet der Ansatz den Blick zuerst auf Kontinuitäten und Stabilität – oft zulasten der Identifizierung des Neuen im vermeintlich Alten. So können Institutionen bereits in der sogenannten “formativen Phase” ambivalent angelegt sein; diese Ambivalenzen können wiederum beides – das Überleben der Institution über kritische historische Ereignisse hinweg und deren “Umkippen in eine Richtung” und damit den Wechsel der Logik, den “Pfadwechsel”, – bewirken, 46 ohne daß dadurch die Institution selbst verschwunden wäre.47 So versteckte z.B. die deutsche Sozialversicherung mit ihren verschiedenen Zweigen (Säulen) auch verschiedene Prinzipien (Versicherung, Versorgung, Fürsorge) unter einem Dach. Das machte sie anpassungsfähig, ermöglichte zugleich kontinuierliche Neujustierungen, auch Neukombinationen, dieser Prinzipien in den einzelnen Zweigen. Einfach gewendet: Wo “Sozialversicherung” draufsteht, ist unter Umständen nurmehr wenig “soziale” (solidarische) Versicherung drin.48 Es ist anzunehmen, daß Institutionen auch in anderen Ländern der Europäischen Union nicht einsinnig, sondern mehrdeutig angelegt waren und sind; daß daher möglicherweise auch mehr Konvergenz im Wandel von Institutionen erwartet werden kann als der Schein nationaler institutioneller Eigensinnigkeit ahnen laßt. Die Entwicklung der Familienpolitik bzw. die Schnittstelle zwischen Familie und Arbeitsmarkt wiederum ist in hohem Maße von Veränderungen der gesellschaftlichen Erwartungen an Familien, die im Lauf des 20. Jahrhunderts als langsamer Aufstieg, dann als recht zügige Erosion der Ernährernorm und der Ernährerfamilie beschrieben werden können,49 bestimmt gewesen. Wie aktuelle Untersuchungen zeigen, führt die Schwächung dieser Norm keineswegs zu deren Verschwinden.50 Man kann die Persistenz der Norm auf den ersten Blick in Kategorien der “Pfadabhängigkeit” interpretieren. Tatsächlich bietet die “Ernährernorm” ein gutes Beispiel dafür, wie durch eine Entinstitutionalisierung einer Norm, also durch deren Schwächung 51, diese so flexibilisiert wird, daß an neue Herausforderungen angepaßte Haushaltensformen entstehen, in denen der Mann zwar nicht mehr Allein-, aber doch maßgeblicher Ernährer/Verdiener bleibt. Ähnlich ließe sich für die Ehe argumentieren, die durch Entinstitutionalisierung zwar – durchaus zeitgemäß – mehr zur individuellen Disposition gestellt wurde, dadurch aber offen für Sinngebungen wurde, die jene Individualisierungstendenzen konterkarieren: Liebe und Dauer. Häufig unterstellt Politik allerdings einen vollkommen vollzogenen Normwandel und orientiert an dieser Unterstellung Reformmaßnahmen. Dies kann zu sozialen Risiken neuer Art führen. Zukünftige Forschungen im Graduiertenkolleg sollen verstärkt von der prinzipiellen Ambiguität jeder Institutionalisierung ausgehen, die bestimmten Akteuren – die Gunst der Stunde vorausgesetzt – Einfallstore zu teils einschneidenden Eingriffen ermöglichen kann. Es bleiben hier nämlich einstweilen wichtige Fragen offen: z.B. danach, wie strategisches, “anti-institutioneller” Handeln in institutionellen Kontexten möglich ist, welche Faktoren das “timing” von Entinstitutionalisierungsprozessen bestimmen und welche gesellschaftlichen 45 46 47 48 49 50 51 Pierson, Paul, 1993: When Effect Becomes Cause: Policy Feedback and Political Change, in: World Politics 45, 595-628. Vgl. Lockwood, David, 1979: Systemintegration und Sozialintegration, in: Wolfgang Zapf (Hg.), Theorien sozialen Wandels. Königstein: Athenäum, 124-137. Lockwood betont die Spannungen und Widersprüche auf der (Teil-) Systemebene, die den Wandel auslösen können. Solche eine Spannung besteht z.B. zwischen Markt und Wohlfahrtsstaat, auch zwischen Markt und Familie. Vgl. dazu ausführlich: Lessenich, Stephan: Dynamischer Immobilismus. Zur Dialektik von Kontinuität und Wandel im deutschen Sozialmodell. Habilitationsschrift. Sozialwissenschaftliche Fakultät. Universität Göttingen (erscheint Frankfurt/New York: Campus, 2003). Zu aktuellen Umbautendenzen in Deutschland, vgl. auch: Ostner, Ilona, Sigrid Leitner und Stephan Lessenich, 2001: Sozialpolitische Herausforderungen. Zukunft und Perspektiven des Wohlfahrtsstaates in der Bundesrepublik. Arbeitspapier 49 (Zukunft der Politik). Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf. Janssens, Angélique, 1998: The Rise and Decline of the Male Breadwinner Family? An Overview of the Debate, in: Dies (Hg.), The Rise and Decline of the Male Breadwinner Family? Studies in gendered patterns of labour division and household organization. Cambridge: Cambridge University Press, 1-23. Lewis, Jane, 2001: The Decline of the Male Breadwinner Model: Implications for Work and Care, in: Social Politics (8) 2, 152-169; Blossfeld, Hans-Peter und Sonja Drobnic (Hg.), 2002: Careers of Couples in Contemporary Societies. From Male Breadwinner to Dual Earner Families. Oxford: Oxford University Press. Vgl. zu Formen und Prozessen der Entinstitutionalisierung: Nedelmann, Birgitta, 1995: Gegensätze und Dynamik politischer Institutionen, in: Dieselbe (Hg)., Politische Institutionen im Wandel. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 35. Opladen: Westdeutscher Verlag, 15-40; Lepsius, M. Rainer, 1995: Institutionenanalyse und Institutionenpolitik, in: ebda., 392-403. Konsequenzen (mit welchen neuen “trade-offs”) institutioneller Wandel zeitigt. Diese Fragen leiten zum letzten thematischen Schwerpunkt der künftigen Kollegsarbeit über. (6) Folgen des institutionellen Wandels (Kronauer, Kühnel, Lösche, Ostner) Die Integrationskraft des “Europäischen Sozialmodells” nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte wesentlich auf der Verbindung von (relativer) Vollbeschäftigung mit einer Anhebung des allgemeinen Wohlstands und der Ausweitung sozialstaatlicher Sicherungen und Dienstleistungen. Einbindung in die gesellschaftlich anerkannte und geförderte Arbeitsteilung (einschließlich der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern) sowie institutionalisierte Teilhabe am Lebenstandard und den Lebenschancen der Gesellschaft, vermittelt über Bürgerrechte, bildeten, jeweils im nationalstaatlichen Rahmen, die Voraussetzungen von gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Dabei erwies sich die enge Verbindung von Vollbeschäftigung und sozialstaatlichen Leistungen (oder, auf individueller Ebene, von Erwerbsbeteiligung und sozialen Rechten) als ebenso charakteristisch für das Sozialmodell wie problematisch für seine Zukunft. 52 Denn unter Bedingungen verschärften internationalen Wettbewerbs und nachlassenden Wachstums geraten gerade die individuellen und kollektiven Sicherheitsverbürgungen, die den (insb. nord- und west-) europäischen Wohlfahrtsstaat charakterisieren, in die Kritik. Erwerbsbeteiligung und soziale Rechte – “Kommodifizierung” und “Dekommodifizierung” – werden zunehmend voneinander entkoppelt und gegeneinander gestellt: Der Wohlfahrtsstaat erscheint nicht mehr als Korrelat, sondern als Konkurrenz zur Arbeitsgesellschaft. Entsprechend gehen die Bemühungen europaweit dahin, die Institutionen des Wohlfahrtsstaates zugunsten des Arbeitsanreizes ab- und im Sinne der Beschäftigungsfähigkeit umzubauen. Die Formen und Folgen dieses institutionellen Wandels lassen sich im Hinblick auf die Integrationsfähigkeit des Europäischen Sozialmodells unter verschiedenen Fragestellungen untersuchen, von denen die folgenden besonders wichtig erscheinen: - - - - 52 53 Krise der Integrationskapazität des Europäischen Sozialmodells: Für wen, auf welche Weise und seit wann wirken institutionelle Arrangements im Rahmen des europäischen Sozialmodells selbst ausgrenzend? Zu berücksichtigen wären dabei ausgrenzende oder partiell ausgrenzende Mechanismen, die von vornherein “eingebaut” waren in die wohlfahrtsstaatlichen Regelungen und Praktiken, wie etwa in der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern oder gegenüber Migranten53, sowie deren Zuspitzungen zum Legitimitäts- oder aber Integrationsproblem. Zu berücksichtigen wäre aber auch der Funktionswandel von Institutionen, ihr Verlust an integrativer Wirkung, unter veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen, wie etwa der Funktionswandel von Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung angesichts anhaltend hoher Arbeitslosigkeit und insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit, oder auch die veränderte Wirkung des Bildungssystems angesichts neuer Anforderungen in der Erwerbsarbeit und einer wieder zunehmenden Bedeutung des Ungleichheitsmerkmals Qualifikation. “Linke Machtressourcen”, neue Sozialdemokratie und Sozialintegration: Sozialdemokratische Parteien galten im 20. Jahrhundert als die treibenden Kräfte einer umfassenden (universalistischen) Inklusion der lohnabhängigen Schichten in die Industriegesellschaft. Warum sind es heute wiederum “sozialdemokratische Parteien”, die den Abschied von egalitären und universalistischen Ideen und Progammen in Richtung auf kategoriale (und tendenziell autoritäre) Maßnahmen vorantreiben? Wandel des Europäischen Sozialmodells und seine Folgen für gesellschaftliche Integration: Wie wird das Verhältnis von Erwerbsbeteiligung und Bürgerrechten im Zuge der institutionellen Veränderungen in unterschiedlichen nationalen Kontexten neu bestimmt? Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer in diesen Prozessen der Neubestimmung? Zeichnen sich Integrations- und Zugehörigkeitsweisen ab, die trotz Umbrüchen in der Erwerbsarbeit und neuen Lebensformen gesellschaftliche Wechselseitigkeit und Partizipation gewährleisten können? Wie verhalten sich in diesem Zusammenhang nationalstaatliche und supranationale Regelungen zueinander? Integration, Gefährdung, Ausgrenzung – neue Formen und Prozesse der sozialen Ungleichheit: Mit der Krise der Integrationsfähigkeit des Europäischen Sozialmodells treten neue Formen der sozialen Ungleichheit auf. Neu sind sie vor allem insofern, als sie vor dem Hintergrund eben jener historisch besonderen Integrationsphase mit ihrem hohen Maß an materieller und institutioneller Einbindung der arbeitenden Bevölkerung auftreten und erlebt werden. Wie verhält sich Ungleichheit gemessen an Teilhabechancen zur “vertikalen” Klassen- und Schichtungsungleichheit? Wie wirken unterschiedliche “welfare Vgl. Katz, Michael, 2001: The Price of Citizenship. Redefining the American Welfare State. New York: Metropolitan Books. Vgl. hierzu etwa das laufende Promotionsvorhaben von Holk Stobbe. regimes” auf Ausgrenzungsprozesse? Was bestimmt die Dynamik von Ausgrenzungsprozessen, wie und in welchem Maße kommt es in unterschiedlichen nationalen und institutionellen Kontexten zur Reproduktion von Gefährdungs- und Ausgrenzungslagen? Zusammengefaßt: In der abschließenden Forschungs- und Studienphase des Kollegs (2003-2006/7) soll die Frage nach der Zukunft des Europäischen Sozialmodells schwerpunktmäßig unter dem Gesichtspunkt der Bestimmungsfaktoren und der Ergebnisse des Wandels zentraler Institutionen des Modells bearbeitet werden. Wir untersuchen die Debatten über exogene und endogene Herausforderungen des Europäischen Sozialmodells, fragen nach deren Trägern und den diese leitenden Ideen (Verhältnis von Ideen und Interessen), verfolgen Prozesse des Umbaus und der Umbzw. Neuprogrammierung der tragenden Institutionen des Modells (Normwandel zwischen Konsens und Kontrolle; Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung) und versuchen mögliche alte und neue Gewinner und Verlierer dieser Veränderungen zu identifizieren (Folgen des institutionellen Wandels). Insgesamt geht es um eine Einschätzung der Schnittmenge zwischen “altem” und “neuem” Sozialmodell (vgl. Schaubild “Interdisziplinäre Forschungsschwerpunkte”). Was bleibt vom “alten” im “neuen” Sozialmodell? Welche Europäische Gesellschaftsformation (vgl. oben 2.2.1 und Arbeitsbericht) mit welchen konstitutiven Merkmalen bildet sich aus? Schaubild 1: Interdisziplinäre Forschungsschwerpunkte Soziale Konstruiertheit Herausforderungen “altes” ESM “neues” ESM Folgen Ideen und Interessen Normen und Normwandel Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung 2.2.3 Der Beitrag der einzelnen Disziplinen Dieser Abschnitt präsentiert den spezifischen Beitrag der einzelnen Disziplinen und ihrer Vertreter(inn)en zu den Leitfragen und übergreifenden Themen des Kollegs (vgl. auch die Kurzberichte der antragstellenden Hochschullehrer im Arbeitsbericht 2000-2003). Obwohl die Beiträge hier nach Disziplinen getrennt aufgeführt werden, sind die inhaltlichen Überschneidungen offensichtlich. Diese Schnittstellen bieten den Anreiz – und in gewissem Maße auch den Zwang – zum interdiziplinären Austausch. I. Sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Sozialpolitik Die Sozialpolitik wird mit mehreren Schwerpunktthemen, die aktuelle Herausforderungen an den Wohlfahrtsstaat und allgemeiner: an dessen Inklusionskraft behandeln, einen Beitrag vor allem zu den Leitfragen 2 und 3 des Kollegs leisten. Die Themen werden in ähnlicher und fachspezifisch modifizierter Weise auch von einigen der anderen Disziplinen bzw. in enger Kooperation mit diesen bearbeitet. Dies gilt insbesondere für die eher soziologischen [(3) und (4)] und die – auch – wirtschaftswissenschaftlichen Fragenstellungen [(1) und (2)]. (1) “Hausgemachte” Probleme und das “Veralten wohlfahrtsstaatlicher Arrangements” – Ursachen und Perspektiven im Vergleich Wir haben darauf hingewiesen, daß die Krise des Europäischen Sozialmodells, hier: der EU-europäischen Wohlfahrtsstaaten, auch “hausgemacht” sein kann. Der Wohlfahrtsstaat stellt demzufolge zwar eine gelungene Problemlösung dar, er muß aber zunehmend mit den Folgeproblemen seines Erfolgs kämpfen. Wohlfahrtsstaatliche Inklusion kann, je nach Inklusionslogik, zu Armuts- oder Arbeitslosigkeitsfallen, zu moral hazard und freeriding, also zu gestörter Reziprozität und/oder zur Verfestigung partikularer Interessen privilegierter Gruppen auf Kosten einer wachsenden Zahl von “Außenseitern” führen. Die Leistungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates geht zum anderen aber auch darum zurück, weil ein – möglicherweise größer werdender – Teil der angebotenen Lösungen auf Probleme einer bestimmten Epoche zugeschnitten war.54 In der Folge sinkt sein Inklusionspotential. Mit dem Partikularismus von Sicherungsleistungen steigen auch – oder: wieder – die Legitimations–probleme des Wohlfahrtsstaates. Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen Wohlfahrtsstaatliche Dynamiken im Vergleich – Phänomene, Konzepte, Perspektiven. Sozialmoralische Ressourcen wohlfahrtsstaatlicher Inklusion. Krisendiskurse, Krisenpolitik, Krisenrealität und die Rolle der Eliten beim Umbau des Wohlfahrtsstaates. (2) Zwischen Solidarität und Reziprozität: Der europäische Wohlfahrtsstaat im Wandel Der Wohlfahrtsstaat kann als ein institutionelles Arrangement zur Organisation von Solidarität im Kooperationszusammenhang moderner Gesellschaften charakterisiert werden. 55 Die Institutionen des Wohlfahrtsstaats knüpfen ein komplexes Netz gesellschaftlicher Rechte und Pflichten und verkörpern in sich die verallgemeinertern Gegenseitigkeitserwartungen der Gesellschaftsmitglieder. Reziprozität kann als allgemeines regulatives Prinzip wohlfahrtsstaatlicher Systeme gelten – gleichsam als die gesellschaftliche “Meta-Norm”, die gerade aufgrund ihrer Unbestimmtheit in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht soziale Beziehungsgeflechte dauerhaft zu stabilisieren vermag. Im Zuge der wirtschaftlichen Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg schien sich das sozialmoralische Fundament des europäischen Wohlfahrtsstaates nach und nach erweitert zu haben – von der Reziprozität zur Solidarität, d.h. vom Prinzip des (wenn auch zeitverzögerten) “gerechten” zum Prinzip des “ungleichen Tausches”, von dem im Zweifelsfall auch noch diejenigen profitieren, die aktuell – und womöglich dauerhaft – keine, zumindest keine äquivalenten, Gegenleistungen erbringen können. Dieser wohlfahrtsstaatlich organisierte Solidaritätszusammenhang ist in der jüngsten Vergangenheit europaweit unter Druck geraten: soziale Rechte ohne korrespondierende Pflichten scheinen nicht mehr legitimierbar zu sein, der Empfang von Sozialleistungen wird zunehmend unter moralische und verhaltensbezogene Vorbehalte gestellt. Die Frage, wie dieser Prozeß einer “entsolidarisierenden” Reform des europäischen Wohlfahrtsstaates genau verläuft, ist einen eigenen Forschungsschwerpunkt wert. Wer sind die Initiatoren dieser Reform? Mit welchen Zielsetzungen und Rechtfertigungssemantiken wird sie betrieben? Welche institutionellen und sozialen Konsequenzen zeitigt sie? Wie läßt sie sich im internationalen Vergleich differenzierend beschreiben und erklären? 54 55 Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver, 1997: Herausforderungen des Sozialstaates. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Vgl. ebda., 141ff.; für den deutschen Sozialstaat: Tragl, Torsten, 2000: Solidarität und Sozialstaat. München: Hampp; als Vorüberlegungen für den internationalen Vergleich, vgl. Lessenich, Stephan, 1999: Back to Basics? Vielfalt und Verfall wohlfahrtsstaatlich organisierter Solidarität in Europa, in: Zeitschrift für Sozialreform 45 (1), 24-38. Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen: Wohlfahrtsstaaten als Solidaritätsarrangements: Regimespezifische Unterschiede. Von der Solidarität zur Reziprozität: Die wohlfahrtsstaatliche Semantik im Wandel. Reform der Sozialversicherungssysteme im Ländervergleich: Back to Basics? (3) Flexibilisierung der Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Ungleichheit (vgl. auch Soziologie) Die flexible und individualisierte Erwerbsgesellschaft bricht in vielerlei Hinsicht mit der Normalarbeitsgesellschaft. So wird erstens, um Jobs zu schaffen, der Idee der Gleichheit und Angleichung der Lebensverhältnisse jene der Beschäftigungsfähigkeit entgegengesetzt: Es geht nun darum, den Menschen vergleichbare Startbedingungen zu schaffen, z.B. das Recht auf eine Grundausbildung und die Möglichkeit auf Einmündung in einen Job. Voraussetzung der Gleichheit der Beschäftigungsfähigkeit ist – vor allem in den kontinental-EU-europäischen Ländern – eine noch zu schaffende, nach unten offene Sozial- und Lohnstruktur, die – so das politische Projekt – durch Lohnsubventionen und/oder Negativsteuern gesockelt werden soll. Die Kehrseite dieser Entwicklung besteht in der Gefahr der Wiederkehr 56 einer an ökonomische Rentabilitätskalküle angekoppelten Hierarchisierung von Problemlagen und in der Folge in der Gefahr der Ausgrenzung und Schlechterbehandlung der nicht oder nicht mehr Beschäftigungsfähigen: der alten, der chronisch kranken oder der geistig behinderten Menschen.57 Zweitens wird mit der Idee der ökonomischen Unabhängigkeit gebrochen – die conditio sine qua non der ‘Freiheit zu gehen’, auf die der Feminismus der letzten Jahre pochte. Um Arbeitsplätze zu vermehren und die Erwerbsquote zu erhöhen, müssen Beschäftigung und existenzsicherndes Einkommen entkoppelt werden. Sich auf ein einziges Einkommen im Haushalt zu verlassen, wird zu einer riskanten Strategie in Zeiten flexibler Beschäftigung. Immer weniger Männer werden in Zukunft eine Familie alleine ernähren können. Sie sind – wie die Mehrheit der Frauen – auf ein zweites Einkommen und die Kombination verschiedener Einkommensarten angewiesen. Armut im Fall von Arbeitslosigkeit und Niedriglohnbeschäftigung oder wegen Scheidung und Alleinerziehen wird in diesem Zusammenhang mit dem Fehlen eines zweiten (oder dritten) Einkommens im Haushalt erklärt. Aus dem Blick gerät allzu leicht, daß sich in den letzten Jahren die Heiratschancen – damit auch die Möglichkeiten, auf ein zweites Einkommen zurückzugreifen, – gerade derjenigen verschlechtert haben, die über keine guten Erwerbsund Einkommenschancen verfügen.58 Flexible Beschäftigung verlangt drittens den Umstieg sozialer Sicherung von der Status- zur Mindestsicherung und “Passagen”sicherung. Mindestsicherungen werden zu einem tragenden Element in einem sich vermutlich polarisierenden Sicherungssystem: die steuerfinanzierte bedarfs- oder einkommensgeprüfte Mindestsicherung am einen Ende des Kontinuums, kapitalgedeckte Versicherungen am anderen, dazwischen erwerbsabhängige Zusatzsicherungen und verschiedene Kombinationen der drei Elemente. Damit wird aber möglicherweise ein Teufelskreis in Gang gesetzt: Eine großzügige Mindestsicherung verlangt die Solidarität der Mittelschichten; profitieren diese nicht vom System, sind sie gar durch die Bedarfs- und Einkommensprüfung davon ausgeschlossen, dann sinkt ihre Bereitschaft, die Mindestsicherung zu finanzieren. Diese wird immer geringfügiger, wie etwa der britische Fall lehrt. Über 56 57 58 Der von Hans Günter Hockerts 1998 herausgegebene Band: Drei Wege der Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich. München: Oldenbourg, bietet beeindruckende historische Beispiele für die unheilvolle Verkoppelung von Nützlichkeits- (im NS) oder Produktivitätskriterien (in der DDR) und Bereitstellung von Gesundheits- und Fürsorgeleistungen. Rudloff betont, daß auch die Bundesrepublik in ihrer Fürsorge- bzw. Sozialhilfepolitik der Arbeitshaus- und Arbeitspflichttradition verhaftet blieb, diese jedoch durch die Bedingungen der Vollbeschäftigung entschärft wurde; vgl. Rudloff, Wilfried, 1999: Öffentliche Fürsorge, in: ebda., 191-229. Hauser, Richard, 1999: Tendenzen zur Herausbildung einer Unterklasse? in Wolfgang Glatzer und Ilona Ostner (Hg.), Deutschland im Wandel. Sozialstrukturelle Analysen. Opladen: Leske + Budrich, 133-145. Oppenheimer, Valerie Kincade, 1994: Women’s Rising Employment and the Future of the Family in Industrial Societies, in: Population and Development Review 20, 293-342. die Inklusivität des Sozialmodells entscheiden in Zukunft insbesondere die Zugangsregeln für und der Umfang von erwerbsunabhängigen Sicherungsleistungen (Geld und Dienste). Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen: Neuverteilung von Arbeit, Einkommen und Lebenschancen im Ländervergleich. Arbeitsmarkt, Haushaltsdynamik und soziale Sicherung – theoretische und empirische Analysen. Einkommensquellen und Einkommensverteilung im Haushalt im historischen und im Ländervergleich. Armutsrisiken und soziale Verwundbarkeit in der individualisierten Erwerbsgesellschaft. Armutsdiskurs und Armutspolitik im Wandel. (4) Familie und Geschlechterverhältnisse in der De-Familisierung Auch in der Bundesrepublik befindet sich das Ernährermodell auf dem Rückzug. Immer mehr Haushalte verfügen über zwei Erwerbstätige. Dennoch gilt Deutschland im internationalen Vergleich immer noch als Nachzügler einer Entwicklung, die durch “De-Familisierung” – konkret: die Entlastung der Familien von ihren Aufgaben – lebenslauf- und familienphasenspezifische Risiken (Kinderarmut; Altersarmut von Frauen) verringern und zugleich die Funktionsfähigkeit der Sozialversicherung garantieren will. Hinzu gekommen sind neue Studien (PISA!), die auf einen von Familien nicht mehr allein zu bewältigenden “Bildungsnotstand” verweisen und im Interesse des kindlichen Humankapitals für frühkindliche Vorschulerziehung plädieren. Das Konzept der De-Familisierung geht auf die Wohlfahrtsstaatstypologie Esping-Andersens zurück. Bekanntlich entwickelte dieser drei normative Gütekriterien moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit und kombinierte deren Ausprägungen zu drei unterschiedlichen Welten des Wohlfahrtskapitalismus: der liberalen, der konservativen und der – entwickeltsten – sozialdemokratischen “Welt”. Im modernen Wohlfahrtsstaat sollten die Erwerbstätigen erstens qua Bürgerstatus einen Rechtsanspruch auf Sozialleistungen haben; diese sollten zweitens so bemessen sein, daß die Erwerbstätigen im Fall der typischen Risiken des Erwerbslebens (dazu zählt auch die Elternschaft) auf hohe Lohnersatzleistungen zurückgreifen können (“De-Kommodifizierung”); drittens sollte Sozialpolitik schließlich die Gleichheit der Lebensverhältnisse, auch zwischen den Geschlechtern, fördern (“De-Stratifizierung”). Die Geschlechtergleichheit ließ sich aber nur durch ein verändertes Verhältnis von privater und öffentlicher Sphäre herstellen. Feministinnnen führten für dieses Verhältnis das Konzept der “De-Familisierung” ein. Frauen, so die These, müßten, um dem Mann vergleichbar in den Arbeitsmarkt integriert zu sein, erst wie dieser “kommodifiziert” (beschäftigungsfähig) – konkret: von der Pflicht, zuhause für Kinder und ältere Familienangehörige zu sorgen, befreit, also “de-familialisiert”, – werden. Esping-Andersen sah auch als einer der ersten im “Familismus” den Kern einer überholten Wohlfahrtsstaatlichkeit: Dieser verhindere die Vermehrung von Dienstleistungstätigkeiten im öffentlichen und privaten Sektor, also Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen, erhöhe dadurch die Kosten des Kinderhabens, was sich in niedrigen Geburtenraten und in der Folge in der Krise der auf dem Generationenvertrag aufbauenden Sozialversicherungssysteme der kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten äußere. Ein neues Verständnis von Familie müsse sich von diesem Familialismus verabschieden. Die Befreiung der Familie von ihren Betreuungspflichten und die Individualisierung von Kindheit und Alter sollen – wie so oft mit Blick auf Schweden, Dänemark oder Finnland – gleich mehreren politischen Zielen dienen: der Erhöhung der Zahl erwerbstätiger Frauen, der Verwirklichung des “Kinderwunsches”, konkret: der Steigerung der Geburten, insgesamt dem Umbau des Wohlfahrtsstaats in Zeiten neuer ökonomischer Herausforderungen. Die Idee, die hinter dem Konzept der De-Familisierung stand, fand rasch Eingang in die Stellungnahmen und Vorschläge von OECD und EU. Feministinnen konnten erfolgreich für eine De-Familisierung plädieren, weil das überkommene “wohlfahrtsstaatliche Arrangement”, z.B. das Ernährer-Modell oder der Generationenvertrag, in die Krise geraten war. Dieser Umbau wird seit den 1980er Jahren von der OECD entworfen, seit den 1990er Jahren beschäftigt sie sich dabei auch mit Fragen frühkindlicher Bildung (early childhood education), Betreuung von Kindern und alten Menschen (care) und , wie sie es selbst nennt, “familienfreundlichen” Sozialpolitiken. Die Strategie einer De-Familisierung trifft nicht nur auf sehr unterschiedliche Familienpolitikregime in den Ländern der EU.59 Sie konfligiert möglicherweise auch mit je spezifischen kulturellen Praktiken unterschiedlicher Gruppen von Familien und Familienmitgliedern in den verschiedenen Ländern der EU. 60 Damit sind bisher kaum untersuchte Fragen des Normwandels und seiner Richtung angesprochen. Darüberhinaus unterstellt die De-Familisierung ungeprüft eine Individualisierung der erwerbsfähigen Mitglieder durch Erwerbsarbeit, die diese von familialer Solidarität – auch von gesellschaftlicher – weitgehend unabhängig machen sollen. Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen: Ideen und Interessen in der Kinderbetreuungspolitik im Ländervergleich Familisierung und De-Familisierung sozialer Risiken Familienpolitik als Beschäftigungspolitik – der Beitrag von OECD und EU Familienpolitische Leitbilder im Wandel (5) Institutionelle Voraussetzungen und Grenzen Europäischer Sozialpolitik61 Über die Zukunft des Europäischen Sozialmodells wird wesentlich in Europa selbst, konkret: auf der supranationalen Ebene der Europäischen Union und ihrer politischen Gestaltungsfähigkeit entschieden. Die europäischen Instanzen haben ihre Politik bisher überwiegend auf eine Markthemmnisse beseitigende Politik der negativen Integration, weniger auf eine “marktkorrigierende” Politik der positiven Integration, der Gestaltung und Angleichung individueller und kollektiver Lebensbedingungen, ausgerichtet. Dies liegt nicht nur an der besonderen – ökonomischen – Logik der Europäischen Integration und an der Spezifik des supranationalen Akteurs, der kaum über Mittel und die demokratische Legitimation zur Umverteilung verfügt und in seinen Aktionen die entstehenden Kosten für die Mitgliedsländer in Rechnung zu stellen hat. Es liegt auch daran, daß die EU bisher unter ihrem Dach verschiedene, konkurrierende Modelle wohlfahrtsstaatlicher Inklusion und Intervention versammelt. Doch könnten die jeweiligen Besonderheiten wohlfahrtsstaatlicher Inklusion durchaus auch zum Ausgangspunkt eines Annäherungsprozesses werden, der darauf hinausliefe, oberhalb eines institutionenneutral gehaltenen quantitativen Sicherungssockels Raum für qualitative, dem jeweiligen Sozialmodell (und seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit) entsprechende Fortentwicklungen und Innovationen sozialpolitischer Regulierung zu lassen.62 Die sozialpolitischen Arbeiten im Kolleg werden die Chancen ausloten, die auf dem Weg durch das dynamische Mehrebenensystem für eine europapolitische Revitalisierung des Sozialmodells bestehen. Mögliche Themenbereiche für Dissertationen: 59 60 61 62 Mindestsicherungen in der Europäischen Union – Konvergenz der Ziele, Divergenz der Lösungen? Supranationalisierung industrieller Beziehungen – Chancen für eine europäische Sozialpolitik? Beschäftigungsförderung als Motor der EU-Sozialpolitik? Die EU-Ost-Erweiterung als Herausforderung für das Europäische Sozialmodell. Daly, Mary, 2000: A Fine Balance: Women’s Labour Market Participation in International Comparison, in: Fritz W. Scharpf und Vivien A. Schmidt (Hg.), Welfare and Work in the Open Economy. (Vol II). Oxford: Oxford University Press, 467-511; Michel, Sonya, 2002: Dilemmas of Child Care, in: Sonya Michel und Rianne Mahon (Hg.), Child Care Policy at the Crossroads. New York: Routledge, 333-338. Hakim, Catherine, 2000: Work-Lifestyle Choices in the 21st Century. Oxford: Oxford University Press. Vgl. dazu auch den Beitrag der Wirtschaftswissenschaften und des Arbeitsrechts. Es besteht selbstverständlich kein Monopol der Sozialpolitik für diesen Schwerpunkt. Er wird bereits in der laufenden Kollegsarbeit interdisziplinär und von den anderen Disziplinen entsprechend dem jeweiligen fachlichen Zugriff bearbeitet. Vgl. Scharpf, Fritz W., 1998: Jenseits der Regime-Debatte: Ökonomische Integration, Demokratie und Wohlfahrtsstaat in Europa, in: Lessenich, Stephan und Ilona Ostner (Hg.), Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Der Sozialstaat in vergleichender Perspektive. Frankfurt/New York: Campus, 321-349. II. Politikwissenschaft Die Politikwissenschaft wird sich im Rahmen des Graduiertenkollegs in den drei zentralen Themenfeldern des Kollegs bewegen und dabei auch zukünftig den Fokus auf die politisch-institutionelle Begründung und Absicherung sowie auf die politisch-institutionellen Veränderungen und Erosionen des europäischen Sozialmodells richten. Im Mittelpunkt stehen weiterhin Parteien und der sie bedingende und formierende gesellschaftliche, politisch-kulturelle, mentale und organisatorische Kontext (vgl. Erstantrag). Dabei wird nach wie vor von der Hypothese ausgegangen, daß insbesondere sozialdemokratische und katholische, aber auch konservativ-protestantische oder liberal-protestantische Parteien als wichtigste mediatisierende Institutionen zwischen Gesellschaft und politisch-administrativem System wesentlich dazu beigetragen haben und noch dazu beitragen, jene Kooperation und jenen Konsensus zwischen Politik, Unternehmen und Arbeitnehmerschaft zu schaffen, die das europäische Sozialmodell ausmachen. Oder anders formuliert: Solidarität und wohlfahrtsstaatlicher Inklusionspolitik lag ein Institutionengefüge von Parteien, Gewerkschaften, Verbänden, aber auch anderen Organisationen wie Freizeitvereinen zugrunde, das eine Kompromißfindung zwischen divergierenden politischen Positionen und sozialen Interessen überhaupt erst möglich machte und auf diese Weise entscheidend zur Legitimation des europäischen Sozialmodells beitrug. Angesichts genereller sozialökonomischer Entwicklungen, die mit Stichworten wie Globalisierung, Tertiarisierung, Entstrukturierung, Segmentierung, Fragmentierung, Pluralisierung, Regionalisierung, Informalisierung und Individualisierung angedeutet werden, verändert sich nicht nur der die Parteien umgebende Kontext, sondern es verändern sich auch diese selbst, so daß erprobte Institutionen der Kompromiß- und Konsensfindung heute in die Krise geraten. Traditionelle Massen-, Mitglieder- und Funktionärsparteien, aber auch ganze Parteiensysteme scheinen sich selbst zunehmend zu blockieren, politikunfähig zu werden. Der Wandel der Parteien und Parteiensysteme zeichnet sich an der Oberfläche durch die Überalterung der Parteimitglieder und -aktivisten und die Erstarrung ihrer historisch überkommenen Organisationsstrukturen aus, durch die kontinuierlich nachlassende Bindungsfähigkeit gegenüber den Wählern, die regelrechte Abkoppelung der Stammwähler und nicht zuletzt durch die Erfolge rechtspopulistischer Parteien in vielen Staaten Europas. Kurz: Parteien kommen immer weniger die ihnen traditionell und handbuchartig zugeschriebenen Funktionen von Interessenvermittlung, Interessenaggregation und Interessenartikulation und mithin Legitimation des jeweiligen politischen Systems insgesamt nach, sie werden weitgehend auf die Elitenauswahlfunktion reduziert. Allerdings: Neue Formen politischer Vermittlung und Entscheidungsfindung zeichnen sich in den Parteien (und in den politischen Systemen insgesamt) ab, die typologisierend zwischen den Polen “Bonapartisierung” und “Kommunitarisierung” verortet werden können. Zeitlich würden die politikwissenschaftlichen Beiträge zum Graduiertenkolleg sich zwischen ausgehendem 19. Jahrhundert und Gegenwart bewegen und mit der Frage in die Zukunft verknüpft werden, ob sich bereits heute neue Formen künftiger Interessenvermittlung und politischer Legitimation erkennen lassen, die ein neues europäisches Sozialmodell ausmachen könnten. (1) Sozialmoralische Milieus und politische Organisationen Ursprünglich orientiert am deutschen Beispiel wird davon ausgegangen, daß Parteien (und hier insbesondere sozialdemokratische und katholische) im Kontext sozialmoralischer Milieus zu begreifen und in ihrer sozialstaatlichen Politik zu interpretieren sind. Sozialmoralische Milieus konstituierten sich aufgrund einer ihnen je gemeinsamen sozialdemographischen Basis (Facharbeiter für das sozialdemokratische, Religion für das katholische Beispiel); einer integrierenden Programmatik, Symbolik, Ritualität und Sprache; einem mehr oder minder ausdifferenzierten Organisationsnetzwerk. Erstaunlich ist die Kontinuität dieser sozialmoralischen Milieus, die trotz Nationalsozialismus bis in den Ausgang der 50er Jahre reichte. Konkret: Der bundesrepublikanische Sozialstaat wurde entsprechend im Konsens von CDU, SPD und DGB geschaffen und legitimiert. Vergleichbare Entwicklungen bzw. Ansätze von Entwicklungen gab es in Österreich, den Niederlanden, Belgien, den skandinavischen Staaten, weniger deutlich in Großbritannien und Frankreich. Eben diese sozialmoralischen Milieus sind zunehmend erodiert: Ihnen fehlt heute weitgehend das organisatorische Unterfutter, das intensive alltagsweltliche Kommunikation ermöglichte. Traditionelle Parteiorganisationen erstarrten, konnten von ihren – regierenden – Führern gleichsam auf ein Abstellgleis geschoben werden. Es mangelt an normativen Leitideen, die auch durch Diskussionen um den “Dritten Weg” oder die “neue Mitte” nicht ersetzt werden. Schließlich fehlt es an sozialer, religiöser oder generationsspezifischer Verankerung. Die immer wieder beschworene “Krise” sozialdemokratischer und christdemokratischer Parteien hat hier eine ihrer wesentlichen Ursachen. Einstige Stammwähler und ihre Partei scheinen voneinander abgekoppelt; zugespitzt formuliert: Stammwähler scheinen freigesetzt, sind nicht zuletzt wegen der Regierungspraxis sozialdemokratischer und christdemokratischer Parteien rechtspopulistisch anfällig. Gleichwohl: Noch vorhandene Restmilieus – vielleicht nicht viel mehr als historische Reminiszenzen – verleihen den Parteien Profil, geben ihnen ein gewisses Maß an Stetigkeit. Ihre Politik erschiene sonst noch beliebiger, substanzloser. Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen: Erosion sozialmoralischer Milieus und der Wandel sozialdemokratischer und christdemokratischer Parteien: Ein Vergleich zwischen Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Über das “Altwerden” sozialdemokratischer und christdemokratischer Parteien: Alters- und Organisationsstrukturen im Vergleich. “Dritter Weg” und “neue Mitte”: Innovative reformistische Theorieansätze oder Legitimationsversuche der “spin doctors”? (2) Das Ende der traditionellen Volksparteien Bereits in den 60er Jahren setzten sich massiv Modernisierungsschübe durch, und sozialmoralische Milieus begannen zu erodieren, Massenkulturen ersetzten Milieukulturen, Parteien gerieten zunehmend in Krisensituationen, nationale Parteiensysteme differenzierten sich aus. Traditionelle Volksparteien, Großparteien wie SPD, CDU, SPÖ, ÖVP, die skandinavischen Sozialdemokraten, auch die Labour Party sind aktuell, wenn sie an der Regierung (beteiligt) waren, mit dem Dilemma konfrontiert, eine politische Praxis zu verfolgen, die sie möglicherweise ihrer Stammwählerschaft entfremdet und diese freisetzt für Nichtwahl und Protestwahl (einschließlich rechtspopulistischer Optionen). Zu den Restriktionen sozialdemokratischer, aber auch christdemokratischer Politik gehören u. a. die Globalisierung der Finanzmärkte, die Europäisierung der Güter- und Arbeitsmärkte, die Staatsverschuldung im Zusammenhang mit den Auflagen des Maastrichter Vertrages, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und nicht zuletzt die Verformung der Alterspyramide im Zusammenhang mit Alters- und Gesundheitsvorsorge. Von einer mentalen Kolonisierung der Sozialdemokraten durch den Neoliberalismus ist in diesem Zusammenhang die Rede gewesen. Auf jeden Fall haben Arbeitsmarktflexibilität, Privatisierung sowie Haushaltskonsolidierung sozialdemokratische, aber auch christdemokratische Traditionswähler irritiert. Es ist dann nur Ausdruck dieser neuen Diffusität, daß Parteiensysteme sich völlig neu formieren (Italien, in Ansätzen Frankreich) oder sich dadurch ausdifferenzieren, daß an den Rändern neopopulistische und regionalistische Parteien entstehen. Es kennzeichnet die sich verändernde Situation, daß von einem “neuen Elektorat” die Rede ist, nämlich von einer Wählerschaft, die durch Wahlabstinenz, Parteiwechsel, Protestwahl, kurz Volatilität, gekennzeichnet ist. Am auffälligsten ist in diesem Zusammenhang der – fast – europaweite Erfolg rechtspopulistischer Parteien, Le Pen in Frankreich, die Partei Pim Fortuyns in den Niederlanden, die Fortschrittspartei in Norwegen, die Dänische Volkspartei, der Vlaams Blok in Belgien, der Partido Popular in Portugal, die Lega Nord und die Alleanza Nazionale in Italien, die FPÖ in Österreich. Sie alle haben sich konstituiert und werden zusammengehalten durch ein Vorurteilssyndrom, zu dessen Elementen u. a. Fremden- und Zuwanderungsfeindlichkeit, Dramatisierung von Kriminalität sowie Hass auf die “Brüsseler EU-Bürokratie/Technokratie” gehören. Durch die Veränderungen der Großparteien, der Parteiensysteme und der Wählerschaft, auch durch den Aufstieg des Rechtspopulismus gerät jener institutionelle Unterbau des europäischen Sozialmodells in eine Krise, durch den Kompromiß- und Konsensfindung sowie Legitimationsbeschaffung einst recht problemlos möglich waren. Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen: Do Parties Still Matter? Sozialdemokraten und Christdemokraten an der Regierung (im Vergleich ausgewählter EU-Staaten). Konstitutionsbedingungen rechtspopulistischer Parteien im europäischen Vergleich. Nichtwählen im Vergleich ausgewählter EU-Staaten. Neue Rechte – konservative Kritik an etablierten Parteien. Das “neue Elektorat” im westeuropäischen Vergleich. Nachlassende Bindungskraft von Volksparteien und Wählervolatilität. (3) Strukturierung neuer Sozial- und Repräsentationsformen Neue Formen und Wege innerparteilicher Willensbildung, die sowohl für Groß- wie für kleinere Parteien gelten können, zeichnen sich in einigen europäischen Staaten ab. Im Rahmen des Graduiertenkollegs wäre hier der Frage nachzugehen, ob sich daraus neue Wege der Kompromiß- und Konsensbildung und damit auch der Legitimation eines veränderten europäischen Sozialmodells ergeben oder ob diese dadurch nicht gerade unmöglich gemacht werden. Folgende Veränderungen, die sich in mehreren europäischen Parteien erkennen lassen, sind gemeint: Personalisierung der (Partei-)Politik; direkter Appell von der Parteispitze an die Parteibasis, u. U. auch an die Öffentlichkeit, unter Umgehung traditioneller innerparteilicher Willensbildungsstrukturen und damit der mittleren Parteielite; Implementation direktdemokratischer Elemente; Knüpfen funktionaler Netzwerke (auch unter Nutzung des Internets), so daß das territoriale Organisationsprinzip teilweise aufgegeben wird; Ende bisheriger innerparteilicher Demokratie im Sinne von Kontrolle der Machtzentren durch Parteiaktivisten. An der Parteispitze gefragt sind charismatische oder organisations- und kommunikationskompetente Führer, die von oben her die Partei zusammenzuhalten bzw. zu überbrücken vermögen. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer “Bonapartisierung” der Parteien sprechen. Im Gegensatz zu einer möglichen “Bonapartisierung” europäischer Parteien wäre zu fragen, ob sich in ihnen nicht neue Organisationsformen kommunitärer Gesellung erkennen lassen, die sich in der – bislang nur theoretisch geführten – Kommunitarismusdebatte andeuten, die sich aber möglicherweise zur Basis neuer, kooperativ-konsensualer und legitimierter Sozialstaatlichkeit entfalten könnten. Anders formuliert: Können Parteien sich der Bürgergesellschaft gegenüber öffnen – oder ist die Zivilgesellschaft selbst nur eine Schimäre, wenigstens was Parteien angeht? Nach neuen Sozial-, Repräsentations- und Kommunikationsformen, nach neuen Wegen der Interessen- und Bedürfnisartikulation und –mediatisierung außerhalb traditioneller Organisationen wie Parteien und Verbänden sollte zudem angesichts des rapiden gesellschaftlichen Wandels im Kontext des Graduiertenkollegs gefragt werden. Etwa: Kann angesichts der Aktivitäten von Globalisierungskritikern schon von einer neuen sozialen Bewegung oder gar von einer neuartigen Institution gesprochen werden? Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen: “Netzwerk” versus Delegiertensystem: Zur Zurückdrängung traditioneller Willensbildungsprozesse in Mitglieder- und Funktionärsparteien. Globalisierungskritik – eine neue soziale Bewegung? III. Soziologie (vgl. auch Sozialpolitik; Wirtschaftswissenschaften) Einen Ausgangspunkt der zukünftigen soziologischen Kollegsarbeit bildet die wissenschaftliche und politische Unsicherheit darüber, wohin sich ein bis in die 80er Jahre hinein sehr robustes Modell von wirtschaftlichem Wachstum und steigenden sozialen Erträgen, das man als das bundesrepublikanische “Produktions- und Sozialmodell” der Nachkriegszeit bezeichnen kann, unter den Bedingungen verstärkten ökonomischen Strukturwandels, Beschleunigung von Innovationszyklen und zunehmender Europäisierung/Globalisierung der Austauschbeziehungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen entwickeln wird. Ohne daß das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in den institutionellen Arrangements sozialwissenschaftlich bereits ausgelotet wäre, wird die gegenwärtige Phase von großen Teilen der Sozialwissenschaften als Umbruchsituation interpretiert – in der Sprache der Regulationstheorie als Wandel von der “fordistischen” Phase des Kapitalismus zu einer (in ihren Konturen noch relativ offenen) “nachfordistischen” oder – unter der Perspektive langfristiger Trends – von “Industrialismus” zu einer wie immer gearteten “nachindustriellen Gesellschaft”. Gefragt wird deshalb nach der Art der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Entwicklung, nach den neuen Formen und Dynamiken der Arbeit und deren Bedeutung für institutionelle Arrangements, soziale Strukturierung und alltägliche Lebensweisen sowie in umgekehrter Richtung – nach der Bedeutung fortbestehender Sozialformen für eine nachindustrielle Ökonomie. Im Rahmen dieser Fragestellungen werden jeweils Beiträge zu den drei Leitfragen des Kollegs geleistet – ebenfalls mit einem besonderen Gewicht auf der dritten Frage nach den Formen und Ergebnissen des institutionellen Wandels. (1) Strukturwandel der Arbeit – Ende des Industrialismus? Die Prosperität der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik samt der Ausweitung der sozialen Leistungen basiert vor allem auf der hohen Leistungsfähigkeit der Industrie und verschaffte ihren Formen von Arbeit ein hohes Maß an Vorbildfunktion für andere Wirtschaftsbereiche. Die Leistungsfähigkeit läßt sich als Resultat aus der wechselseitigen Verstärkung des spezifischen ökonomischen Modells und des Sozialmodells der deutschen Industrie begreifen. Vier Merkmale charakterisieren diese Ordnung: (1) Durch die Pflege der Tradition in der Herstellung differenzierter, technisch exzellenter Produkte konnten die Hochqualitätssegmente des Weltmarkts besetzt werden, was bis heue die starke Exportstellung der deutschen Industrie gefestigt hat. (2) Eine starke Investitionsgüterindustrie konnte die Hochqualitätsproduzenten mit flexibler Automationstechnik versorgen, die deren technischen Anforderungen entsprach (“flexible Automatisierungs-Strategie”). (3) Die Verfügbarkeit über eine gut qualifizierte (Fach-)Arbeiterschaft und die Weiterentwicklung der dualen Berufsausbildung sicherten die Humanressourcen, die für eine Hochqualitäts-/Hochtechnologie-Produktion nötig waren; die Stärke von Berufstradition und Berufsausbildung gab auch dem Taylorismus weniger Raum als etwa in den USA. (4) Ein System von industriellen Beziehungen, das durch etablierte Modi der Interessenrepräsentanz mittels Partizipation und Kooperation gekennzeichnet war und das sich in dieser Form nur in der mittel- und großbetrieblichen Industrie entwickeln konnte, schuf einen sozialen Rahmen für kompromißorientierte Verteilungskämpfe und Interessenauseinandersetzungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen (“Konsensstrategie”). Der Erfolg dieses komplexen Produktionsmodells äußerte sich nicht zuletzt darin, daß ein Wirtschaftswachstum realisiert werden konnte, das bis in die 1980er Jahre hinein einen relativ hohen Beschäftigtenstand sichert. Erst in den Umbruchphase der 1980er Jahre und 90er Jahre trat die Begrenztheit des industrialistischen Produktionsmodells sowohl innerhalb der Industrie als auch in seiner Orientierungsfunktion für andere Wirtschaftsbereiche deutlicher zutage. Der Strukturwandel zur Dienstleistungsökonomie und die Verschärfung des internationalen Wettbewerbs, der zunehmend ein Innovationswettbewerb wurde, verlangt andere ökonomische Konzepte und andere Sozialformen der Arbeit. Die “diversifizierte Qualitätsproduktion” (Sorge/Streeck) sicherte der deutschen Industrie trotz Anteilseinbußen auch in den 90er Jahren zwar immer noch einen Spitzenplatz unter den Exportnationen. Aber unübersehbar wurde ebenso, daß Deutschland im Bereich der Spitzentechnologien hinter anderen Nationen zurückblieb und daß die niedriger gewordenen industriellen Wachstumsraten die Beschäftigung nicht mehr sichern konnten. Deutschland verlor in den 90er Jahren über 2 Millionen industrieller Arbeitsplätze – und das nicht nur in den neuen Bundesländern. Es konnte diese Verluste nicht durch eine entsprechende Expansion von Dienstleistungsbeschäftigung ausgleichen, da die Bundesrepublik hier gegenüber anderen hochentwickelten Ländern einen Nachholbedarf hat. Dies gilt nicht zuletzt für die dem internationalen Wettbewerb in besonderem Maße ausgesetzten und als besonders zukunftsträchtig geltenden “wissensintensiven Dienstleistungen”, für die sich die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft in den 90er Jahren deutlich verschlechtert hat (gemessen an Verschiebungen in den Außenhandelsbilanzen). Ursachen für die Wachstums- und Beschäftigungsschwächen der deutschen Wirtschaft werden in der aktuellen Diskussion im Fortwirken des industrialistischen Produktions- und Sozialmodells gesehen: Die industrielle Produktion hat zwar eine hohe technische Flexibilität bewiesen, die aber keine Entsprechung in der Betriebs- und Arbeitsorganisation gefunden habt. Infragegestellt werden insbesondere die Funktionalität des Modells des vertikal hochintegrierten Groß- und Mittelbetriebs für beschleunigte Innovation, die auf hoher professioneller Spezialisierung beruht – gerade bei den (wissensintensiven) Dienstleistungen hätten kleine, flexible Einheiten komparative Vorteile in der Leistungserbringung; ferner die Tauglichkeit des stark standardisierten industriellen Arbeitszeitregimes für auf individuelle Bedürfnisse ausgerichtete Dienstleistungen oder die Vorherrschaft des Normalarbeitsverhältnissen (bzw. die Kopplung von Erwerbschancen und sozialer Sicherung an diese Beschäftigungsform) bei steigenden Frauenerwerbsquoten und dem Anstieg von flexiblen Beschäftigungsformen sowie die Tragfähigkeit der dualen Ausbildung.63 Die Kritik am industrialistischen Produktions- und Sozialmodell soll im Kolleg überprüft und mit anderen europäischen Fällen kontrastiert werden. (Hier liegt ein gegenüber der abgelaufenen Phase neuer Akzent). Als innereuropäische Vergleichsfälle kommen Länder in Betracht, die im Hinblick auf industrielle Innovationsdynamik (radikale vs. inkrementelle Innovation; Spitzentechnologie-Orientierung vs. Hoch- und Mitteltechnologie), im Ausmaß und Art von Dienstleistungen, in Arbeitszeitregimes und Beschäftigungsverhältnissen, in Arbeitskrafttypus und Ausbildungssystem u.a. 63 Vgl. Crouch, Colin, David Finegold, David und Mari Sako (Hg.), 1999: Are Skills the Answer? The Political Economy of Skill Creation in Advanced Industrial Countries. Oxford/New York: Oxford University Press. vom deutschen Fall abweichen, so insbesondere Frankreich, Italien, das Vereinigte Königreich, aber auch die skandinavischen Länder. Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen: Arbeitszeitstrukturen, Beschäftigungsvolumen und Beschäftigungsqualität im internationalen Vergleich. Arbeitsorganisation und soziale Strukturierung (Typen nach Sektoren und Branchen – als dynamische Analyse). Chancen für low wage/low skill-Sektoren in Deutschland und in anderen europäischen Ländern. Frauenerwerbstätigkeit und Dienstleistungsexpansion (quantitative und qualitative Analyse). Familienfreundliche Arbeitsformen und Arbeitsgestaltung (work-life-balances). Arbeitsgestaltung und Lernchancen in der beruflichen Weiterbildung (nach Beschäftigungsfeldern und national spezifischen Fördersystemen). Internationale Arbeitsteilung/Unternehmenskooperationen an der Schnittstelle zu osteuropäischen Ländern. Niedrig entlohnte Dienstleistungen und Migration/grenzüberschreitendes Pendeln an den Grenzen zu den osteuropäischen Ländern. Nachindustrielle Beschäftigungsverhältnisse und individuelle Berufsverläufe. “Vertrauen” und “Risikoaversion” – zu den sozialen und institutionellen Bedingungen von betrieblicher Innovationsfähigkeit. Kooperation zwischen Fremden: Besitzen amerikanische Firmen Vorteile? (2) Die Transformation der institutionellen Ordnung des Industrialismus: Institutionelle Ressourcen im Übergang zur nachindustriellen Gesellschaft Der Industrialismus ist nicht nur eine Produktionsform, sondern eine institutionelle Ordnung, die sowohl für innerbetriebliche Abläufe und Kommunikation auf Dauer angelegte Verhaltensregeln setzt als auch die gesellschaftlichen Institutionen außerhalb der Erwerbsarbeit beeinflusst und von diesen beeinflusst wird; zu nennen sind hier vor allem die Institutionen der Ausbildung und des Arbeitsmarktes, der sozialen Sicherung, der industriellen Beziehungen und der Familie/Partnerbeziehungen. Im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus stellen die institutionellen Arrangements das Trägheitsmoment der Entwicklung dar, was der institutionellen Ordnung des Industrialismus weiterhin Aktualität verleiht, auch wenn die sozioökonomische Konstellation sich von der industriellen Ausgangsbasis immer weiter entfernt hat. Neoinstitutionalistisch argumentierende Ansätze sind davon ausgegangen, daß das Verhalten von Firmen vom institutionellen setting bestimmt, letzteres wiederum von unternehmerischen Strategien kaum verändert wird. Die Stabilität wird dadurch erklärt, daß Institutionen – z. B. ein Ausbildungssystem – bewährte Lösungen für spezifische Koordinationsprobleme bieten.64 Bis in die 1980er Jahre hinein, ansatzweise bis heute 65 ging man davn aus, daß gut eingebettete, “institutionalisierte” oder koordinierte Kapitalismen mit ihren Institutionen auch über die Ressourcen zur Verarbeitung von Krisen verfügen. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben aber auch gezeigt, daß derartig institutionalisierte Beziehungen keineswegs immer stabil sind. 66 Sie hängen vom Charakter staatlicher Politik und dem Grad der Verregelung, von der Existenz von politischen oder soziokulturellen Koalitionen, die bestimmte Arrangements unterstützen, ab; ferner vom Ausmaß, in dem überkommene Institutionen andauernden exogenen Veränderungen, welche die soziostrukturelle Basis des settings aufzulösen drohen, ausgesetzt sind (s.o.). Ein näherer Blick zeigt darüberhinaus, daß das, was auf den ersten Blick als kongenial 64 65 66 Vgl. Hall, Peter A. und David Soskice, 2001: Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage. Oxford: Oxford University Press. Vgl. Visser, Jelle und Anton Hemerijck, 1998: Ein holländisches Wunder? Reform des Sozialstaates und Beschäftigungswachstum in den Niederlanden. Frankfurt/New York: Campus; Torfing, Jacob, 1999: Workfare with welfare: recent reforms of the Danish welfare state, in: Journal of European Social Policy 9, 5-28. Flecker, Jörg und Thorsten Schulten, 1999: The End of Institutional Stability, in: Economic and Industrial Democracy 20, 81-115. ineinanderverwobenes Gefüge erscheint, in Wahrheit meist das Ergebnis asynchroner Prozesse und nichtintendierter Folgen war.67 Dies und die Ambiguität, die in den Institutionen angelegt ist, – darauf haben wir bereits hingewiesen, – treibt sozusagen endogen in Richtung auf Veränderung. Von “Funktionalität” und “Dysfunktionalität” der institutionellen Ordnung kann daher nur bedingt gesprochen werden. Dies gilt gerade auch für das Ausbildungssystem und das System industrieller Beziehungen, dessen Transformation in ein postindustrialistisches institutionelles setting in der weiteren Arbeit des Kollegs besonders untersucht werden soll. Von Interesse wird in diesem Zusammenhang auch die Frage sein, ob sich im Rahmen der Dezentralisierung von Tarifverträgen und der Verlagerung der Regelungsebene auf den Betrieb tatsächlich weitreichende, den innerbetrieblichen Machtverhältnissen entsprechende Veränderungen des Systems industrieller Beziehungen vollziehen – oder ob sich die “Kultur” der beiderseitigen Selbstbindung auf neue Weise durchsetzt. Die Analysen werden dabei ein besonderes Augenmerk auf die Träger dieser Transformation, auf die Ideen, die die Veränderungen leiten, und auf die von den entscheidenden Akteuren verwendeten Semantiken richten. Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen: 67 Die Doppelgesichtigkeit von Basisinstitutionen: Die widersprüchliche Rolle der Berufsausbildung, der industriellen Beziehungen und der Unternehmernetzwerke im globalen Wettbewerb. Der widersprüchliche Doppelcharakter des Berufskonzepts als Ausbildungs- und Arbeitsorganisationsprinzip (berufliche Kompetenz vs. Exklusivität von Zuständigkeiten). Globalisierung und Dezentralisierung von Wirtschaftsaktivitäten als Herausforderung für das System industrieller Beziehungen: zum Verhältnis von Zentralisierung und Dezentralisierung gewerkschaftlicher Organisation, bezogen auf die Instrumente gewerkschaftlicher Interessenpolitik (Tarifvertragsformen). Erosion oder Transformation der korporatistischen Grundlagen am Beispiel von Arbeitgeberverbänden. Transformation von gesellschaftlichen Ausbildungssystemen: Verschiebungen zwischen (mittleren) beruflichen und wissenschaftsbezogenen Bildungseinrichtungen. Vgl. Streeck, Wolfgang, 1992: Social Institutions and Economic Performance. Newbury Park: Sage. (3) Parameter sozialer Qualität: das Beispiel “Flexicurity” 68 Eine zunehmende Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen wird nicht nur von Arbeitgebern und manchen Wirtschaftswissenschaftlern als erfolgversprechende Strategie zur Überwindung der anhaltenden Arbeitslosigkeit in Deutschland gefordert, sondern auch als unvermeidbare Folge von Modernisierungsprozessen begriffen. Auch wenn der wirtschaftliche und soziale Wandel langsamer verläuft als befürchtet oder gewollt wird und das klassische Normalarbeitsverhältnis einer unbefristeten Vollzeitstelle weiterhin die Regel ist, läßt sich doch feststellen, “daß die moderaten Gesamtentwicklungen vielfach die Dynamik bei bzw. unterschiedliche Betroffenheit von einzelnen Subgruppen verdecken”.69 Die beschäftigungspolitische Diskussion versucht mit dem Konzept der “Flexicurity” betriebliche Forderungen nach Flexibilisierung mit den Bedürfnissen der Beschäftigten nach sozialer Sicherheit zu versöhnen.70 Konkret geht es um die verbesserte soziale Absicherung der flexibilisierten – vereinfacht: der in vielerlei Hinsicht (Arbeitsvertrag; Entgelt, Arbeitszeit; Sozialschutz) vom Normalarbeitsverhältnis abweichenden – Beschäftigung. Typische Bausteine von Flexicurity wären Formen der Absicherung der Übergänge in beide Richtungen zwischen Voll- und Teilzeitarbeit, auch zwischen Nichtbeschäftigung und Beschäftigung, damit verbunden Kombinationen von Markt- und Transfereinkommen, Formen beschäftigungssichernder Arbeitszeitpolitik, insb. Kontenmodelle, die Verknüpfung von lebenslanger Weiterbildung und Job-Rotation sowie Grundsicherungsmodelle. Auch wenn Flexicurity neue sozialpolitische Elemente enthält bzw. mit alten kombiniert, handelt es sich bei dieser Sichtweise doch letztlich um eine klassische, kompensatorische Sozialpolitik. Flexibilisierung der Beschäftigung bedeutet aber auch, daß das bisher eher gegenseitig abgegrenzte und/oder komplementär aufeinanderbezogene Verhältnis von Leben und Arbeit zum Bezugspunkt neuer Politiken der Nutzung von Arbeitskraft wird. So verweisen nicht nur die Entwicklung der Arbeitszeitpolitik 71 und die Auslagerung von (Erwerbs-) Arbeitstätigkeiten in die Privatsphäre auf solch eine Entgrenzung. 72 In eine ähnliche Richtung bewegen sich auch Familienpolitiken – z.B. Politiken der Vereinbarung von Beschäftigung und Familie –, die die Familie als Funktion des Arbeitsmarktes behandeln, indem sie möglichst – um mit Marx zu sprechen – jede Pore der Nichterwerbsarbeitszeit erwerbsfähiger Familienmitglieder flexibel der Beschäftigung zuführen. Unter dem Gesichtspunkt der Sozialen Qualität von Politik und Gesellschaft können Flexibilität und Verdichtung der Poren der Arbeitszeit Hand in Hand gehen, ohne daß die soziale Sicherung hier ausreichend Kompensation anböte. So wie Flexibilisierung weiter gefaßt werden sollte, ist auch der Begriff der Flexicurity u. E. in einem sehr viel weiteren Sinne zu verstehen denn als bloße Kompensation für neue beschäftigungspolitisch induzierte Risiken. Unter dem Gesichtspunkt der “Sozialen Qualität” der sich wandelnden Beschäftigungsverhältnisse wird “Flexicurity” nicht bloß zum Maßnahmepaket, sondern zu einem Gütekriterium sozialen Wandels – seiner Akteure, Gewinner und Verlierer – par excellence und zum Instrument seiner Analyse. “Flexicurity” bringt wie kaum ein anderes Konzept das Zusammenwirken der Verhältnisse und Beziehungen innerhalb und außerhalb von Arbeitsmarkt und Beschäftigung ans Licht. Ins Blickfeld geraten damit nicht nur Arbeits- und Lebenschancen von Frauen und Männern, 68 69 70 71 72 Dieser Themenbereich wird gemeinsam von Soziologie und Sozialpolitik bearbeitet. Vgl. Klammer, Ute und Katja Tillman, 2001: Flexicurity: Soziale Sicherung und Flexibilisierung der Arbeitsund Lebensverhältnisse. Düsseldorf: WSI, S. 79. Vgl. Wilthagen, Ton, 1998: “Flexicurity: A new paradigm for labour market policy reform?” Discussion Paper FS I 98-202. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung; Keller, Berndt und Hartmut Seifert, 2000: “Flexicurity – Das Konzept für mehr soziale Sicherheit flexibler Beschäftigung”, in: WSI-Mitteilungen 53 (5), 291-300. Man denke nur an die sukzessive Ausweitung des Analyserahmens von der täglichen, zur wöchentlichen, zur monatlichen, schließlich hin zur Betrachtung der Jahres- und zukünftig der Lebensarbeitszeit und der damit verbundenen Unterstellung, Lebenszeit sei Erwerbsarbeitszeit, der bestenfalls ein Konto mit einem fixen Freizeitbetrag (Sabbatical) zugestanden würde. Zum Begriff vgl. Döhl, Volker, Nick Kratzer und Dieter Sauer, 2000: “Krise der NormalArbeit(s)Politik, Entgrenzung von Arbeit – neue Anforderungen an Arbeitspolitik”, in: WSI-Mitteilungen 53 (1), 5-17. Familienmitgliedern und Singles, auch von Generationen, sondern zudem dialektische Prozesse wie die erwähnte “Entgrenzung von Arbeit”. Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen: Theorie und Empirie der “Flexicurity”. Konzepte und Instrumente der Forschungstradition der “Social Quality”. (4) Inklusion und Exklusion in der “Aktivgesellschaft” In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat als eine Reaktion auf die vorab (in 2.2.2) skizzierten Herausforderungen die Idee der Berechtigung, der Anspruch jedes Menschen auf eine menschenwürdige soziokulturell angemessene Lebensführung, nach und nach gegenüber dem Moment der Verpflichtung, der Erwartung und Einforderung aktiver Selbsthilfe durch Beschäftigungsaufnahme, dort, wo diese Idee seit der Nachkriegszeit verankert war, an Boden verloren. So haben “Mißbrauchs”- und “Hängematten”-Kampagnen im öffentlichen Bewußtsein (wieder) die Überzeugung verankert, daß es sich bei der Sozial- oder Arbeitslosenhilfe um eine bedingte diskretionäre Leistung handelt. 73 Gezielte Individualisierung des Hilfsangebots bei gleichzeitigem Ausbau staatlicher Zwangs- und Kontrollfunktionen soll das Beschäftigungspotential der erwerbsfähigen Hilfeempfänger aufdecken und dem Arbeitsmarkt zuführen. Diese “Aktivierungs”-Strategie hängt u.a. von der Vermehrung von Arbeitsplätzen jenseits des Normalarbeitsverhältnisses ab. Denn Arbeitsplätze können durch eine stark verbesserte Innovationstätigkeit nicht mehr ohne weiteres geschaffen werden: Bei mehr Produktinnovation wird der Beschäftigungseffekt positiv sein, weil durch diese Marktanteile erobert und gesichert werden können. Bei mehr Prozessinnovation ist jedoch von negativen Wirkungen auf die Beschäftigung auszugehen, denn diese dient der arbeitssparenden Rationalisierung. Es ist unwahrscheinlich, daß sich beide Wirkungen wie noch in den 1980er Jahren so aggregieren können, daß sich Innovation, Wachstum und Beschäftigung wechselseitig verstärken. Eine politische Strategie, die wieder in die Nähe von Vollbeschäftigung kommen will, setzt daher auf Arbeitsplatzvolumina außerhalb der Industrie, damit auch auf neue Arbeitszeitmodelle und neue, flexiblere Sicherungsformen (s.o.). Selbst wenn eine derartige Jobvermehrung gelingen sollte, bleibt die “Individualisierung” janusköpfig: gleichermaßen inklusions- wie exklusionsfördernd. Sie fördert das Versagen von oft nur schwerlich oder kaum zu “aktivierenden” Personen wieder deutlich zutage und verwandelt damit deren Hilfebedürftigkeit (Sozialhilfeabhängigkeit) zu einem Problem individueller Verantwortungslosigkeit, was wiederum dazu beiträgt, die Schwelle für den öffentlichen Ruf nach Kontrolle und Repression zu senken.74 All dies fügt sich in eine umfassendere Tendenz zur Delegitimierung “de-kommodifizierender” – d.h.: Marktzwänge begrenzender, arbeitsmarktexterne Lebenschancen garantierender – Sozialpolitik ein. Passend hierzu wird Armut im herrschenden Diskurs nicht mehr als Verteilungsproblem, sondern als arbeitsmarkt- und bildungspolitische Frage diskutiert und die Frage sozialer Gerechtigkeit nicht länger im Sinne der Möglichkeiten einer politischen Garantie von Teilhaberechten gestellt, sondern im Sinne einer Politik der Gewährleistung von Teilnahme- bzw. Zugangsgerechtigkeit reformuliert. Vor diesem Hintergrund stellt sich für alle europäischen Gesellschaften die Frage, ob in den Mehrheitsgruppen so viel Solidarität mobilisiert werden kann, daß die Kosten für die Weiterführung eines integrationsstiftenden Sozialmodells, das nicht (mehr) in den Arbeitsmarkt integrierte und integrierbare 73 74 Zum ambivalenten Charakter der Sozial- und Arbeitslosenhilfe zwischen Leistungsgewährung und Disziplinierung in vier deutschen politischen Systemen (Weimarer Republik; NS, DDR, Westdeutschland) vgl. Rudloff, Wilfried, 1998: Öffentliche Fürsorge, in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich. München: Oldenbourg, 191-229; für die USA vgl. Katz, Michael, 2002: The Price of Citizenship, a.a.O. Im Kapitel “The New Nannies of the Subject” verknüpft Pierre Rosanvallon “Individualisierung” konsequent mit einem neuen “Paternalismus”, der sich vom alten dadurch unterscheiden soll, daß er, so Rosanvallon, nur auf die sozioökonomischen Folgen des individuellen Handelns, nicht auf sittliche Korrektur ziele; vgl. Rosanvallon, a.a.O., 102-104. Menschen ebenso schützt wie erwerbstätige, politisch legitimationsfähig und durchsetzbar bleiben. Die Formen und Folgen des inklusionsrelevanten institutionellen Wandels lassen sich im Hinblick auf die Integrationsfähigkeit des europäischen Sozialmodells unter verschiedenen Fragestellungen untersuchen, von denen die folgenden Themenbereiche besonders wichtig erscheinen: Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen: Arbeit, Beschäftigung und sozialer Zusammenhalt: Rahmenbedingungen und Wechselwirkungen.. Nicht bewältigte soziale Ungleichheiten (Geschlecht, Migration, Qualifikation). Wandel des europäischen Sozialmodells und seine Folgen für gesellschaftliche Integration: Neubestimmung des Verhältnisses von Erwerbsbeteiligung und Bürgerrechten in Zuge der institutionellen Veränderungen in unterschiedlichen nationalen Kontexten. Leitideen des institutionellen Wandels: Vorstellungen von gesellschaftlicher Zugehörigkeit, von gesellschaftlicher Verantwortung gegenüber den Individuen und gesellschaftlichen Pflichten der Individuen. Integration, Gefährdung, Ausgrenzung – neue Formen und Prozesse der sozialen Ungleichheit. Konsequenzen betrieblicher Personal- und Qualifizierungsstrategien für Ausgrenzungsprozesse am Arbeitsmarkt und im Erwerbssystem. Organisation industrieller Beziehungen in ihren Inklusions- und Exklusionswirkungen. Neue Formen von ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen in ihren betrieblichen und gesellschaftlichen Kontexten. Entwicklung von Gegenkulturen, Gegenkräften oder Aktualisierung der Betroffenheiten – neue “lokale Sozialmodelle”. Die “Remoralisierung der Ökonomie”: Zur gesellschaftlichen Relevanz einer neuen Debatte. Integration durch Konsum: Gesellschaftliche Inklusion jenseits des Arbeits-Markts. Sozialwissenschaftliche Methoden Der Beitrag des sich seit September 2000 im Aufbau befindlichen sozialwissenschaftlichen Methodenzentrums der Sozialwissenschaftlichen Fakultät (MZS) besteht neben dem in den einzelnen Themenschwerpunkten des Antrags ausgewiesenen Forschungsinteressen des Leiters (Steffen Kühnel) vor allem in der Bereitstellung von methodischem “Know How” für die Forschungsarbeiten im Rahmen des Graduiertenkollegs. Hierzu wird zum einen das Lehr- und Studienprogramm des Kollegs ausgebaut (vgl. 2.3). Darüber hinaus bietet das MZS den Graduierten die Möglichkeit von individuellen Beratungen in Fragen der quantitativen und qualitativen Sozialforschung. IV. Wirtschaftswissenschaften Die wirtschaftswissenschaftliche Forschungsarbeit wird sich im Fortsetzungszeitraum des Graduiertenkollegs primär auf die Beantwortung von Leitfrage 3 konzentrieren. Erstens sollen Bestimmungsgründe und Hindernisse des Wandels von nationalen wie supranationalen wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und Modellen aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive erarbeitet werden. In der Realität zu beobachtende Konvergenzprozesse sollen ebenso wie fortbestehende Divergenzen in einzelnen Bereichen der sozialen Sicherung, der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik sowie der Steuer- und Sozialabgabensysteme in den europäischen Ländern untersucht werden. Zweitens stehen Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktinstitutionen in Deutschland, aber auch in den übrigen europäischen Ländern weiterhin im Mittelpunkt. Die Effizienz-, Verteilungs- und Stabilisierungswirkungen des umfangreichen Katalogs von Vorschlägen aus Wirtschaftstheorie und -politik, wie die nicht nur für den deutschen Arbeitsmarkt festgestellten “Verkrustungen” aufgebrochen werden können, interessieren hier besonders. (1) Triebkräfte und Barrieren des Wandels aus ökonomischer Perspektive Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften sind für die Bearbeitung der Kollegfragestellung nach Determinanten und Barrieren des Wandels nationaler wohlfahrtsstaatlicher Institutionen sowie des Europäi- schen Sozialmodells insbesondere zwei, relativ junge Theoriestränge relevant: die evolutionäre Ökonomik und die Neue Institutionenökonomik. Die interdisziplinäre Anlage des Graduiertenkollegs bietet die reizvolle Gelegenheit, Möglichkeiten, aber auch Grenzen dieser Ansätze im Licht der übrigen beteiligten Disziplinen, d.h. vor allem aus einer sozial- und geschichtswissenschaftlichen Perspektive, zu überprüfen. Die evolutorische Ökonomik befasst sich mit den Triebkräften des ökonomischen Wandels. Sie ist damit im Gegensatz zur traditionellen Ökonomik weniger an der Beschreibung und der Analyse vorgefundener ökonomischer Tatbestände und Ergebnisse bzw. an der Formulierung abstrakt abgeleiteter, statischer optimaler Sollzustände interessiert. Vielmehr sollen Gesetze und Bedingungen identifiziert werden, die dem ökonomischen Wandel bzw. der Entstehung und möglichen Weiterentwicklung eines aktuellen ökonomischen Zustands zugrunde liegen. 75 Zwar ist der Gegenstand der evolutorischen Ökonomik bislang hauptsächlich auf die Entstehung und Ausbreitung von Innovationen und technologischem Fortschritt 76 beschränkt geblieben. Doch scheint dieser Theorieansatz auch fruchtbare Anknüpfungspunkte für den Versuch einer ökonomischen Behandlung des Wandels von nationalen und supranationalen Institutionen und Organisationen zu bieten, kann doch die Veränderung von Institutionen auch als institutionelle Innovation begriffen werden. Institutioneller Wandel wird damit von der Nachfrage nach neuartigen Institutionen, die die das Europäische Sozialmodell charakterisierenden Effizienz- und Verteilungsnormen in höherem Ausmaß als die existierenden Institutionen erfüllen können, angetrieben. Beispielhaft zu nennen sind hier die Arbeitsmarktinstitutionen oder die Systeme der sozialen Sicherung: Während sich die wirtschaftswissenschaftliche Forschungsarbeit der vorangegangenen Kollegphasen darauf konzentriert hat, Effizienzund Verteilungswirkungen nationaler Arbeitsmarktinstitutionen oder Sozialversicherungssysteme zu überprüfen und ggf. Reformvorschläge zu formulieren, soll nun ein besonderes Augenmerk auf der Frage liegen, weshalb als erforderlich erkannte Veränderungen nicht umgesetzt werden. Es soll also hinsichtlich institutioneller Innovationen vor allem auf den Ausbreitungszusammenhang abgestellt werden. Hier spielen innerhalb des Nationalstaats u.a. kollektive Risikoaversion oder die Aktivitäten von Interessengruppen eine Rolle. Institutioneller Wandel innerhalb einer Gruppe von Ländern wird dagegen insbesondere durch Häufigkeitsabhängigkeitseffekte sowie das Ausmaß des Selektionsdrucks beeinflusst. Dieser hängt von der Intensität des internationalen Wettbewerbs sowie vom Umfang von Kosten- und Effektivitätsvorsprüngen von Vorreiterstaaten ab, die durch Reformen Vorteile im internationalen Wettbewerb realisieren (z.B. durch einen Ausbau des Bildungssektors oder durch die Einführung von ökologischen Konsumstandards) und somit zur Imitation von institutionellen Neuerungen anregen. Institutioneller Wandel ist nach dem Ansatz der Neuen Institutionenökonomie das Ergebnis einer durch exogene oder endogene Entwicklungen verursachten Änderung der relativen Preise.77 Endogene Änderungen der relativen Preise finden durch die Generierung neuen Wissens innerhalb der bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen, das zu einer Neubewertung der vorhandenen Optionen führt, statt. Werden die existierenden Institutionen als Restriktion der Handlungsmöglichkeiten empfunden, die die optimale Nutzung der durch das neue Wissen geschaffenen zusätzlichen Nutzen- oder Renditepotenziale verhindern, so werden die betroffenen Akteure versuchen, eine Veränderung der relevanten Institutionen herbeizuführen. Als Beispiel einer Verknüpfung exogener und endogener Entwicklungen kann wieder die aktuelle Reformdiskussion im Bereich der Alterssicherungssysteme angeführt werden, in der die Umstellung von umlagefinanzierten auf kapitalgedeckte Systeme im Mittelpunkt steht: Diese dürfte maßgeblich von langfristigen demographischen Veränderungen – als exogener Faktor – wie auch von der Herausbildung neuer Finanzinstrumente – als endogener Faktor – beeinflusst werden. Ein weiterer Strang der Neuen Institutionenökonomik untersucht die Rolle des horizontalen Systemwettbewerbs, also des Wettbewerbs zwischen institutionellen Regelungen in verschiedenen 75 76 77 Vgl. Witt, Ulrich, 1995: Wirtschaft und Evolution, in: Berthold, Norbert (Hg.), Allgemeine Wirtschaftstheorie. München: Vahlen, 385-410. Vgl. Nelson, Richard G. und Sidney G. Winter, 2002: Evolutionary Theorizing in Economics, in: Journal of Economic Perspectives 6 (2), 23-46. Vgl. North, a.a.O. Jurisdiktionen, als potenziellem Transmissionsriemen für institutionelle Veränderungen. Über verschiedene Sanktions- oder Kontrollmechanismen können Wirtschaftssubjekte Einfluss auf politische Entscheidungsträger zur Veränderung bestehender Institutionen nehmen. 78 “Abstimmung mit den Füßen”79 bzw. “Exit” (Abwanderung) oder “Voice”80 (das Ausüben von Druck auf politische Entscheidungsträger) sind aus institutionenökonomischer Sicht Reaktionsmöglichkeiten von privaten Haushalten oder Unternehmen auf aus ihrer Perspektive suboptimale ökonomische Institutionen. Vernachlässigt werden dagegen häufig so genannte Kontrollkosten, d.h. Kosten aufgrund der Wahrnehmung der Sanktionsmöglichkeit “Exit”, die die Mobilität von Haushalten und Unternehmen einschränken: Hier sind insbesondere Kosten der Raumüberwindung, der Suche und der Informationsbeschaffung (z.B. über Steuersätze), der Aneignung von Sprache und Regelkenntnissen sowie der Entwertung von Human- oder Sozialkapital zu beachten. Die Forschungsfragen, die sich aus dieser Perspektive für die weiteren Arbeiten im Graduiertenkolleg ergeben, knüpfen an den von Andreas Haufler geleisteten Forschungsbeitrag an (s. Arbeitsbericht 2000-2003). Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen: Erklärung der Herausbildung unterschiedlich ausgestalteter Systeme der sozialen Sicherung in Europa. “Best practice” in der europäischen Beschäftigungspolitik aus der Perspektive der evolutorischen Ökonomik. Erklärung unterschiedlicher (Sozial-)Modelle in Europa und in den USA.Konvergenztendenzen in nationalen Steuer- und Abgabensystemen. Evolutionsökonomische Erklärung von institutioneller Konvergenz und Divergenz im Europäischen Sozialmodell. Institutionenökonomische Analyse der Umsetzbarkeit grundlegender Reformen in Alterssicherungssystemen. Qualitative und quantitative Bestimmung von Lock-In-Effekten in verschiedenen Ländern in einzelnen Sozialversicherungszweigen (mehrere Arbeiten). Analyse exogener Faktoren des institutionellen Wandels in Europa. Internationaler Wettbewerb Einkommensteuerwettbewerb um private Haushalte aus institutionenökonomischer Perspektive. Internationaler Wettbewerb um private Haushalte und Unternehmen mit einer Senkung der Lohnnebenkosten im Bereich der sozialen Sicherungssysteme. Internationaler Unternehmenssteuerwettbewerb aus institutionenökonomischer Perspektive. (2) Reformen auf den Arbeitsmärkten (vgl. dazu auch Sozialpolitik; Soziologie; Arbeits- und Sozialrecht) Den Entwicklungen und dem Reformbedarf auf den Arbeitsmärkten wird angesichts andauernder Beschäftigungsprobleme sowohl innerhalb von Deutschland als auch auf der Ebene der Europäischen Union weiterhin umfangreiche Aufmerksamkeit gewidmet. Als ein entscheidender Unterschied zwischen dem US-amerikanischen Arbeitsmarkt und den (kontinental-)europäischen Arbeitsmärkten wird oft herausgestellt, daß der Trade-Off zwischen geringer Lohndifferenzierung und Beschäftigungshöhe unterschiedlich gelöst ist. Die hohe Lohnspreizung in den USA entspricht den Grenzproduktivitäten der Arbeit und ermöglicht so ein hohes Beschäftigungsniveau, da Arbeitnehmer aller Qualifikationsstufen für die Unternehmen rentabel eingesetzt werden können bzw. sich ein Markt für Dienstleistungen für private Haushalte entwickeln kann.81 Viele europäische Arbeitsmärkte weisen dagegen eine vergleichsweise geringe Lohnspreizung auf. Dieses Phänomen ist darin begründet, daß sozial- und verteilungspolitische Ziele eine höhere Priorität als das Beschäftigungsziel genießen. Auch ist die Gewerkschaftsmacht in den (kontinental-)europäischen Ländern (noch) höher, so daß die arbeitslosen Outsider die von den die beschäftigten Insidern vertretenen Gewerkschaften nicht unterbieten können; die Löhne sind daher nach unten nicht flexibel. 82 Als Resultat wird eine 78 79 80 81 82 Vgl. Erlei, Mathias et al., 1999: Neue Institutionenökonomik. Stuttgart: Schaeffer-Poeschel. Tiebout, Ch.M., 1956: A Pure Theory of Local Expenditures, in: The Journal of Political Economy 64, 416-424. Vgl. Hirschman, Albert O., 1970: Exit, Voice and Loyalty. Cambridge: Cambridge University Press. Vgl. Appelbaum, Eileen und Ronald Schettkat, 1994: Das Ende der Vollbeschäftigung? Zur Wirtschaftsentwicklung in Industrieländern, in: Wirtschaftsdienst, 74. Jg., Nr. 5, 193-202. Vgl. Layard, Richard, Stephen Nickell und Richard Jackman, 1997: Unemployment. Macroeconomic Ausschöpfung insbesondere des Potentials niedrig Qualifizierter verhindert, so daß es gerade in diesem Segment des Arbeitsmarktes zu einer steigenden und persistenten Arbeitslosigkeit kommt.83 Mit einer mangelnden Lohnspreizung wird das Fehlen eines Niedriglohnsektors impliziert, in dem auch Arbeitnehmer mit niedrigen Qualifikationen Beschäftigung finden können. Als weiterer Grund für die europäischen Beschäftigungsprobleme wird die Überregulierung auf den Arbeitsmärkten – auch als “Eurosklerose” bezeichnet – genannt, die eine wiederum besonders im Vergleich zu den USA nur geringe Flexibilität der Arbeitsmärkte bedingt. 84 Arbeitnehmerschutzregelungen können dazu führen, daß Unternehmen hohe Entlassungskosten antizipieren und daher ex ante weniger Arbeitnehmer einstellen als in einer Situation ohne entsprechende Regelungen. Dies bezieht sich zunächst auf den Kündigungsschutz, d.h. auf Kündigungsfristen und -voraussetzungen, aber auch auf Regelungen zu Abfindungszahlungen. Arbeitnehmerschutzregelungen umfassen jedoch auch noch weitere Rechte, die in der Europäischen Union einer allmählichen Harmonisierung unterliegen, etwa Mutterschutzregelungen oder zeitwerte Rechte zur Kinderbetreuung. In der aktuellen Literatur werden die Beschäftigungswirkungen von Arbeitnehmerschutzrechten u.a. auf der Basis neuerer Arbeitsmarktmodelle analysiert, wobei diese Analysen nicht zu eindeutigen Ergebnissen führen.85 Weitere Determinanten, die die Flexibilität von Arbeitsmärkten entscheidend beeinflussen, sind das Niveau sowie die Ausgestaltung der sozialen Absicherung durch Lohnersatzleistungen aus Arbeitslosenversicherung und Mindestsicherungssystemen (Sozialhilfe). Von besonderer Bedeutung ist hier vor allem das Zusammenspiel von Arbeitsmarktregulierungen – insbesondere in Form von Kündigungsschutzregelungen – und der sozialen Absicherung im Fall des Verlusts des Arbeitsplatzes. In den europäischen Ländern sind unterschiedliche Kombinationen vorzufinden: Einige Länder gestalten den Arbeitsmarkt sehr flexibel und setzen auf eine umfassende soziale Absicherung der Arbeitslosen (etwa Dänemark), während in anderen Ländern eine starke Arbeitsmarktregulierung ein relativ schwach ausgeprägtes soziales Netz kompensiert (Beispiel Spanien). Deutschland hingegen weist sowohl eine vergleichsweise umfangreiche soziale Sicherung als auch eine ausgeprägte Arbeitsmarktregulierung auf. Hier ist die Frage zu stellen, ob und in welcher Hinsicht hier in einzelnen Ländern Reformbedarf besteht, und welche Reformen geeignet sind, die Flexibilität der Arbeitsmärkte zu erhöhen und gleichzeitig eine ausreichende soziale Sicherung zu bewahren. Auch ist von Interesse, wie sich Effizienzund Beschäftigungsgewinne aus einer Deregulierung des Arbeitsmarktes und eventuelle negative Arbeitsanreize aus einer großzügigen sozialen Absicherung des Arbeitslosigkeitsrisikos zu einander verhalten.86 Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen: 83 84 85 86 Zusammenhang zwischen Lohnspreizung und Beschäftigung – theoretische Analyse und empirische Evidenz in Europa. Theoretische Begründung von Lohnrigiditäten und Möglichkeiten ihrer Beseitigung. Beschäftigungswirkungen der staatlichen Förderung eines Niedriglohnsektors in Deutschland; Möglichkeiten der Umsetzung. Theoretischer und empirischer Zusammenhang zwischen Arbeitnehmerschutzrechten und Beschäftigungsentwicklung und Bewertung von Reformvorschlägen zum Abbau dieser Arbeitnehmerschutzrechte Implikationen von Arbeitsmarktregulierung und sozialer Sicherung auf die Flexibilität des Arbeitsmarktes – Probleme und Reformvorschläge. Performance and the Labour Market. Oxford: Oxford University Press. Vgl. Siebert, Horst, 1994: Geht den Deutschen die Arbeit aus? München: Bertelsmann. Vgl. Mester, F. und Ulrich van Suntum, 1998: Weichenstellungen für eine stabilitätsorientierte Beschäftigungspolitik. Die Beispiele Neuseeland, Österreich und USA. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung. Vgl. Fella, Giulio, 2000: Efficiency Wages and Efficient Redundancy, in: European Economic Review 44 (8), 1473-1490; Goerke, Laszlo, 2001: Redundancy Pay and Collective Dismissals. CESifo working Paper, Nr. 582, München. Die innerhalb dieses Themenbereichs zu beantwortenden Fragestellungen sind mit dem Forschungsbeitrag von Peter Rühmann zum Graduiertenkolleg eng verbunden (vgl . Arbeitsbericht 2000-2003). Der zukünftige Stelleninhaber der Professur für “Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik” wird auch im Bereich der Arbeitsmarktökonomie ausgewiesen sein. V. Geschichte Der Beitrag der Geschichtswissenschaft in der zukünftigen Kollegsarbeit konzentriert sich weiterhin auf die verschiedenen nationalen Wege – Ideen, Interessen/Akteure und sich wandelnden, durchmischenden und neu durchsetzenden Institutionen – zum Wohlfahrtsstaat (Leitfrage 1); ferner – wie es sich in der laufenden Kollegsarbeit als ausgesprochen fruchtbar erwiesen hat – auf den Aspekt der Konstruiertheit sozialer Probleme. So sind “Armut”, “Exklusion”, “Arbeitslosigkeit” zunächst einmal Begriffe (Konstrukte), deren Bedeutung alles andere als gegeben ist und die von unterschiedlichen Akteuren geprägt und verbreitet werden. Die historische Perspektive soll nach wie vor zeigen, – daß die Instrumente des Europäischen Sozialmodells ein nicht zu unterschätzendes Legitimationsreservoir für die jeweilige politische Kultur transportieren, das im nationalen Rahmen erhebliche Abweichungen begründet, je nachdem ob der Staat als gesellschaftliche Veranstaltung (Großbritannien) oder die Gesellschaft als staatliche Veranstaltung (Deutschland) verstanden wird; – daß die Prozesse zur Aushandlung sozialer Bürgerrechte einer eigenen Dynamik folgen, die auf der Angebotsebene den Gesetzen des politischen Massenmarktes sowie einer fortschreitenden Professionalisierung der Dienstklasse unterlag, auf der Aneignungsebene flexible Antworten auf die “Unvollkommenheit” des Marktes und die “Unvollkommenheit” der Familie ausbildete; – daß die am Grund der “Krise des Sozialstaats” liegende Überforderung des staatlichen Sozialleistungsanspruchs keineswegs einem moralischen Verfall der Arbeitsneigung bei bestimmten Bevölkerungsgruppen zu schulden ist, sondern im Kern vielmehr auf einen historisch begründbaren Prozeß der Klientilisierung des Sicherheitsversprechens in der Implementationsphase und dessen Generalisierung in der kriegsbedingten Ausbauphase des Europäischen Sozialmodells zurückzuführen ist. In diesem Rahmen können Forschungsprojekte mit sozial- und politikgeschichtlichen sowie ideenund mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen relevant sein. Der historische Bezug wird dabei schwerpunktmäßig auf der “Sattelzeit” der Moderne seit der Jahrhundertwende liegen, wobei Rückbezüge auf die große englische Armenrechtsreform durchaus sinnvoll sind, die zusammen mit dem Institutionalisierungsschub der kontinentalen Aufklärung in gewissem Sinne als Modell für das europäische Sozialmodell gelten kann. Materiell sind die Dissertationsprojekte auf der Ebene der politischen Instrumente, der administrativen Implementierung, der sozialen Aneignung und der kulturellen Deutung des europäischen Sozialmodels anzusiedeln. Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen: Sozialreform und Wissenschaftskultur. Die Grenzen des Sozialen im Krieg. Nachbarschafts- und Kameradschaftshilfe als “coping strategies”. Selbsthilfebewegung und “grass-roots-politics”. Zur sozialen Infrastruktur der Demokratiegründung in Europa nach 1945. Das Eigene und die Fremden. Arbeitsmigration, Arbeitsstolz und politisches Verhalten in den europäischen Aufnahmegesellschaften. Bilder des Staates. Zur Ikonographie des “guten Lebens” im Wohlfahrtsstaat. VI. Arbeits- und Sozialrecht Für die Disziplin Arbeits- und Sozialrecht sind mit Blick auf das Generalthema des Graduiertenkollegs und die Zuspitzung auf die Frage des institutionellen Wandels vier Aspekte von besonderem Interesse: (1) Inwieweit läßt sich mit Blick auf die Rechtsordnungen der Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft von einem Europäischen Sozialmodell sprechen? (2) Welche Möglichkeiten eröffnet und welche Grenzen setzt das geltende deutsche Recht für Regulierung und Deregulierung? (3) Inwieweit führen die Vereinheitlichungsbestrebungen in Europa zu Gefahren oder Chancen für eine als notwendig erachtete Flexibilisierung einerseits und für die Bewahrung des erforderlichen sozialen Schutzes andererseits? (4) Mit dem zuletzt genannten Aspekt ist verstärkt ein vierter Gesichtspunkt verzahnt, nämlich der eines grundsätzlichen Wandels des Rechtsverständnisses in wichtigen Bereichen. Ad (1): “Ein” oder “mehrere Europäische Sozialmodelle”? Bestehen ohne die vereinheitlichenden Vorgaben wirklich Gemeinsamkeiten in den rechtlichen Instrumenten und/oder in den Ergebnissen? Im Bereich des Individualarbeitsrechts ginge es beispielsweise um die Definition bzw. Bandbreite des Arbeitnehmerbegriffs 87 als Grundvoraussetzung für die Anwendung der arbeitsrechtlichen Schutznormen. In Zusammenhang damit steht der Anstieg in Frankreich sogenannter “prekärer” Arbeitsverhältnisse (Befristung, Arbeitnehmerüberlassung, Scheinselbständigkeit), die zur Unterscheidung zwischen Kern- und Randbelegschaften führt. Weiterhin zu nennen sind die Ausgestaltung des Kündigungsrechts oder der Entgeltzahlungsverpflichtung des Arbeitgebers unabhängig von einer Arbeitsleistung. Im kollektiven Bereich wäre eine Auseinandersetzung mit dem Stand der Mitbestimmung auf Betriebs- und Unternehmensebene bzw. der Tarifautonomie und dem Arbeitskampf angezeigt. Hierbei wäre auch ein Blick auf die Verbandsstrukturen und deren Wandel erforderlich; die Diskussion um die Krise des Flächentarifvertrages in Deutschland ist von dem Problem der Verbandsstärke nicht zu trennen. Die Figur der Verbandsmitgliedschaft unter Ausschluß der Tarifbindung oder die Gründung tarifunwilliger Verbände sind zusätzliche Symptome. Ebenfalls wäre zu untersuchen, inwieweit sozialer Schutz partiell auf andere Weise als durch das Individualarbeitsrecht oder die autonome kollektive Gestaltung der Arbeitsbedingungen erreicht wird oder erreicht werden kann, nämlich z.B. über Sozialversicherungssysteme oder die staatliche Anordnung von Mindestarbeitsbedingungen. Ad (2): Grenzen und Chancen von Regulierung und Deregulierung Hier wäre zu untersuchen, wieweit das vorhandene Regelungsinstrumentarium (Gesetz, Tarifvertrag und Arbeitskampf, Betriebsverfassung) hinreichend Spielraum für eine Anpassung an die geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen läßt. Diese Debatte wird bereits heftig mit den Stichworten gesetzliche Tariföffnungsklauseln, Beschränkung [Vorschläge der Deregulierungs- bzw. Monopolkommission] oder Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung [Arbeitnehmer-Entsendegesetz v. 26.2.1996, jetzt sogar mit der Möglichkeit einer staatlichen Rechtsverordnung zur Festsetzung von Mindestvergütungen], Vorrang der Betriebsautonomie, Ende des Flächentarifvertrages geführt. Zugleich wäre aber auch die Frage nach den Schutzvorkehrungen zu stellen, die nach geltendem Recht verfassungsrechtlich bzw. europarechtlich gewährleistet oder lediglich nach einfachem Recht unabdingbar sind. Hier richtet sich der Blick erneut auf den Kündigungsschutz, dessen Tragweite erneut in die Diskussion geraten ist, aber auch auf die Tarifautonomie und Arbeitskampf. Beim Kündigungsschutz zeigt sich die Tendenz, der Arbeitnehmervertretung insbesondere bei der sozialer Auswahl mehr Gewicht zu verleihen, möglicherweise auf Kosten des Individualschutzes. In diesem Zusammenhang ist geradezu spektakuär die Auseinandersetzung über die Vorschläge der sogenannten “Hartz-Kommission”. Überraschend zeigen sich hier ganz neue Facetten bei der Rolle der bisherigen Bundesanstalt für Arbeit. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt bestünde z.B. in der Ausgestaltung des arbeitsrechtlichen Rechtsschutzsystems. Wie steht es um die Effektivität des Rechtsschutzes, und sind die Aufgaben zwischen Schlichtungsstellen, Schiedsgerichtsbarkeit und staatlicher Arbeitsgerichtsbarkeit sinnvoll verteilt? Auch insoweit wäre ein rechtsvergleichender Blick von Interesse. Ad (3): Konsequenzen der Rechtsvereinheitlichung und deren Bewertung 87 Vgl.dazu die laufende juristische Dissertation im Rahmen des Kollegs von Daniela Pottschmidt zum “Arbeitnehmerbegriff” in verschiedenen Ländern der EU; ferner die abgeschlossene historisch-politisch-soziologische Dissertation von Nicole Mayer-Ahuja zur Prekarisierung der Beschäftigung im Dienstleistungsbereich “Wieder Dienen lernen?” (erscheint 2003 bei edition sigma; siehe Arbeitsbericht 2000-2003). Die Vereinheitlichung kann auf eine Flexibilisierung herauslaufen, wie es im Bereich des Arbeitszeitschutzes der Fall ist. Denkbar ist aber auch eine stärkere Verrechtlichung, wie sie etwa in den Regelungen zum Entsenderecht, in der EG-Richtlinie über die Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung des Arbeitnehmers über die für seinen Arbeitsvertrag oder sein Arbeitsverhältnis geltenden Bedingungen oder in den sehr speziellen Überlegungen zur Regelung der Beweislastverteilung bei geschlechtsbezogenen Diskriminierungen begegnen. Von besonderem Interesse ist ferner, inwieweit die Betonung der Grundfreiheiten durch den EuGH und sein intensives Verständnis des Diskriminierungsverbotes zu einer Verstärkung von sozialem Schutz (Beispiel: Befristung von Lektorenverträgen, Einsatz von ausländischen Sportlern [Fall Bosman]) oder möglicherweise auch zu dessen Verringerung führt. Ad (4): Wandel im Rechtsverständnis Der “Wandel im Recht” läßt sich nicht in einer knappen Formel zusammenfassen. Häufig folgt das Recht dem sozialen Wandel. 88 Denkbar ist es aber auch, das die Setzung rechtlicher Normen die Veränderung in der “sozialen Welt” bewirkt. So treiben die europäische Gleichbehandlungsvorgaben den Prozeß der Veränderung entschieden an. Ein Wandel im Rechtsverständnis zeigt sich darin, daß zunehmend nicht mehr das deutsche “Arbeits- und Sozialrecht” als Exportmodell verstanden wird, sondern daß sich eine europäische Sicht durchzusetzen beginnt, die mit keiner spezifischen Rechtskultur verbunden ist. So hat die Richtlinie 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft (ABl. EG Nr. L 80 S. 29) noch gerade auf die besonderen Aspekte des Tendenzschutzes und damit vor allem auf das spezifische Arbeitsrecht der Kirchen Rücksicht genommen. Es wäre zu untersuchen, inwieweit sich diese Position längerfristig halten läßt. Die Europäische Aktiengesellschaft könnte zu einem Abbau der Unternehmensmitbestimmung nach deutschem Muster führen. Mit der Anwendung des europäischen Arbeitszeitrechts steht die tradierte Sonderbehandlung der Krankenhausärzte – mit Recht – auf dem Prüfstand. Es ist zwar nicht europarechtlich inspiriert, entspricht aber ebenfalls einer völlig neuen Blickrichtung, wenn statt der Bezahlung von Überstunden Arbeitszeitkonten geführt werden, die nicht auf einen späteren Freizeitausgleich abzielen, sondern z.B. in einem sogenannten “Zeitwertpapier” auch einen geldwerten Ausdruck finden. Deren rechtliche Einordnung und die damit verbundenen Rechtsfolgen gilt es zu untersuchen. Unter dem Druck der Forderung nach einer gesetzlichen Öffnung der Tarifverträge zeigen sich auch die Gewerkschaften zunehmend bereit, die Betriebspartner stärker in die Normsetzung einzubeziehen, etwa durch die Figur des “Entgeltkorridors” oder einer unternehmensbezogenen Sonderzuwendung. Ein Wandel des Rechtsverständnisses zeigt sich schließlich auch darin, daß die Bundesanstalt für Arbeit nach den Überlegungen der “Hartz-Kommission” nicht mehr als fürsorgende Behörde agieren, sondern mit privatwirtschaftlichen Zügen ausgestattet werden soll. Damit lösen sich die früher relativ klaren Konturen von öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Institutionen weiter auf, wie es bereits auf den anderen Feldern von Bahn, Post oder Flugsicherung geschehen ist oder diskutiert wird. Hierher gehört letztlich auch der Weg der Universitäten von einer unmittelbaren staatlichen Anstalt über die Stiftung öffentlichen Rechts bis hin zu den “privaten” Universitäten. Hier wären die Konsequenzen für das Arbeits- und Sozialrecht näher zu betrachten. Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen: 88 Der europarechtliche Arbeitnehmerbegriff. Vgl. Friedmann, Wolfgang, 1969: Recht und sozialer Wandel. Frankfurt a.M.: EVA. Josef Esser beschreibt unter derselben Perspektive “Das Schicksal der Prinzipien im Wandel des nationalen Rechts”; vgl. Esser, Josef, 1956: Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts. Tübingen: Mohr, 327ff. Fortschritte im Sozialen Dialog gem. Art. 138 f. EGV. Bedroht das Europarecht die Sonderstellung des kirchlichen Arbeitsrechts? Auswirkungen der Grundrechte-Charta von Nizza auf das europäische und deutsche Arbeitsrecht. Darstellung und Bewertung der europarechtlichen Einflußnahme auf das Arbeitssschutzrecht. Der Einfluß von Art. 39 Abs. 2 EG-Vertrag [ex-Artikel 48 EWG] auf die Einstellungsfreiheit privater Arbeitgeber. Konsequenzen der Neubestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht. Die Rechtssetzungskompetenz der Tarifvertragsparteien für alle Arbeitnehmer bei “betrieblichen Fragen” im Sinne des Tarifvertragsgesetzes. Unterschreitung der tariflichen Vergütung bei Gefahr der Insolvenz. Gleichheitsgebot für Arbeitgeberleistungen bei Arbeit am gleichen Ort. Der Sozialplan – Neuerungen und Entwicklungen durch Gesetzgeber und Rechtsprechung. Das “Zeitwertpapier”. Die neue Rolle der “Bundesanstalt für Arbeit”. 2.2.4 Zusammenfassung: Die Bearbeitung der Kolleg-Fragestellung im Querbezug Eine zusammenfassende Übersicht über die zuvor skizzierten Schwerpunktbereiche zukünftiger Forschung im Graduiertenkolleg bietet das umseitige Schaubild “Arbeitsschwerpunkte für Doktorand(inn)en nach Kolleg-Themenfeldern und beteiligten Disziplinen” (vgl. S. 44). 2.3 Studienprogramm Die Arbeiten des Kollegs sind nicht nur – wie von der DFG erwartet und von den drei Leitfragen nahegelegt – so weit wie sinnvoll und möglich interdisziplinär ausgerichtet. Disziplinäre Schnittmengen bestehen insbesondere zwischen historisch-soziologischen, politisch-soziologischen, rechtsvergleichenden und institutionenökonomischen Fragestellungen. Darüberhinaus sollen alle Arbeiten (wie bisher) vergleichend angelegt sein; möglich sind dabei sowohl historische als auch internationale Vergleiche. Die Interdisziplinarität setzt bekanntlich ein ebenso breites wie vertieftes Wissen des theoretischen, empirischen und methodischen Beitrags der jeweiligen Disziplin zu den übergreifenden Fragestellungen des Kollegs – in der beantragten Phase insbesondere im Hinblick auf die Fragen des Wandels von Institutionen – voraus. Dieses Wissen soll u.a. durch Lektürekurse zum jeweiligen disziplinären Stand der Forschung vermittelt werden. Zum Pflichtprogramm gehören auch regelmäßig Veranstaltungen zum Forschungsdesign, den Forschungsmethoden der beteiligten Disziplinen sowie zu den Methoden international vergleichender Sozialwissenschaften. Das Studienprogramm sah solche Veranstaltungen bereits vor. Es hat sich inhaltlich gut, formal weitgehend bewährt. Es soll daher beibehalten werden – allerdings mit einigen Modifikationen: - Anders als im Hochschulstudium sollen die Lehrveranstaltungen für die Kollegiat(inn)en im Lauf eines Semesters in Form von drei 1-2tägigen internen workshops organisiert werden (drei “Blöcke”). Der erste Block würde in die Thematik einführen (Input der jeweiligen Lehrenden), der zweite der Diskussion der fachspezifischen Literatur durch die Kollegiat(inn)en gewidmet sein, der dritte Block wird schließlich der Verknüpfung des Standes der Forschung mit den Fragestellungen der einzelnen Arbeiten dienen. Diese Organisation der Lehrveranstaltungen ermöglicht – unserer Erfahrung nach – am ehesten eine intensive inhaltliche Auseinandersetzung, den selbständigen Umgang mit dem Stand der Forschung und zugleich eine unmittelbare Anwendung des angeeigneten Wissens. - Diese internen Studien-workshops sollen durch die Möglichkeit, bei Bedarf kurzfristig auch externe (deutsche) Experten für spezielle theoretische und methodische Probleme oder inhaltliche Fragen, die durch die Hochschullehrer des Kollegs nicht oder nur ansatzweise beantwortet werden können, zur Beratung hinzuzuziehen, ergänzt werden. Der Input der Experten soll ebenfalls in Form von 1-2tägigen workshops erfolgen. Dies ermöglicht eine gezielte Konzentration der Lehre auf von den Graduierten nachgefragte Bedarfe. Wie bisher sind es die Doktorand(inn)en, die workshops und Experten vorschlagen. Das Studienangebot wird wie bislang Grundlagen für eine gemeinsame theoretische und methodologische Rahmenperspektive der interdisziplinär zusammengesetzten und an unterschiedlichen Schwerpunkten arbeitenden Kollegiat(inn)engruppe schaffen. Es soll zugleich – siehe u.a. Experten-workshops – auf spezielle Bedürfnisse eingehen, die sich im Zusammenhang mit den Dissertationsprojekten von Teilgruppen der Graduierten ergeben. Das Veranstaltungsangebot muß daher auf überschaubare Weise die Grundfragestellungen des Gesamtprogramms thematisieren, d.h. in die in 2.2 entwickelten Themenfelder einführen, den Kenntnisstand vertiefen und das nötige methodische, vor allem komparative, Wissen vermitteln; gleichzeitig soll es ausreichend Flexibilität in der Planung bewahren. Das am Antrag beteiligte Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (ZENS) (Knöbl, Lessenich, Lösche, Ostner) arbeitet überwiegend komparativ und integriert diesen Zugang auch regelmäßig in die Lehre. Ab Sommersemester 2003 bietet das ZENS Veranstaltungen im Rahmen des Studienfachs im Magister-Hauptstudium “Vergleichende Europa- und Nordamerikastudien” an. Das Kolleg wird von dieser inhaltlichen und methodischen Ausrichtung auch weiterhin profitieren. Das im folgenden präsentierte Studienschema (vgl. S. 46) ist – wie schon im ersten und zweiten Zyklus des Kollegs – als Rahmenmodell zu verstehen, dessen konkrete Ausfüllung flexibel handzuhaben sein wird. Die Kombination von aufeinander aufbauenden Lehrveranstaltungen und dazwischen geschalteten kleineren und größeren Workshops zielt auf die Synthese theoretisch-forschungsstrategischer und empirisch-forschungspraktischer Anleitung, unter Einbeziehung auch einschlägig ausgewiesener Expert(inn)en. Das Programm im einzelnen: Das Lehr- und Studienprogramm ist auf sechs Semester angelegt. Es wird jeweils um zwei Semester versetzt von der ersten und zweiten Kohorte von Graduierten durchlaufen. Es hat sich gezeigt, daß mit einem Angebot von sechs Semesterwochenstunden die Grenze der Belastbarkeit der Kollegiat(inn)en erreicht ist. Der Schwerpunkt des Angebotes liegt im ersten bis vierten Semester. Schaubild 3: Das Studienprogramm im Überblick Einführung Methoden Theorien I: Institutionalistische Ansätze Methoden I: Forschungsdesign Fachspezifik Veranst.typ Lektürekurs/ Kolloquium Semester 1 Blockseminar: Vorstellung der Projekte Doktorandenkolloquium Methoden II: Methoden vergleichender Sozialforschung 2 Fachspezifische Einführung Lektürekurs und Doktoranden-kolloquiu m Workshop I (Summer School) 3 Theorien II: Institutioneller Wandel Methoden III: Diskurs- und Inhaltsanalyse Workshop: Spezielle Methodenprobleme 4 Lektürekurs und Doktoranden-kolloquiu m Fachspezifische Vertiefung Lektürekurs und Doktoranden-kolloquiu m Workshop II (Summer School) 5 Theorien III: Europäischer Gesellschafts-vergleich Workshop: Spezielle Methodenprobleme (bei Bedarf) Lektürekurs und Doktoranden-kolloquiu m Lektürekurs und Doktoranden-kolloquiu m 6 Workshop III (Summer School) Das erste Semester besteht aus einem zweitägigen Blockseminar, in dem die Stipiendiat(inn)en ihr Forschungsvorhaben vorstellen und wechselseitig kommentieren, ferner aus einem vierzehntägigen Kolloquium, an dem alle Mitglieder des Kollegs teilnehmen und in dem die überarbeiteten Exposés von je zwei Hochschullehrern kommentiert werden. Dieses Verfahren hat sich in der Vergangenheit als fruchtbar erwiesen. Ferner werden ein obligatorisches Theorie-Seminar zu institutionalistischen Ansätzen in Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft (drei Blöcke – siehe oben) sowie ein obligatorisches Seminar (dito) zur Einführung in Fragen des Forschungsdesigns angeboten, letzteres um grundlegende Fragen der Anlage der Dissertation zu klären. Das zweite Semester ist der inhaltlichen und methodologischen Weiterentwicklung der einzelnen Dissertationsvorhaben gewidmet. Im Vordergrund stehen Methodenprobleme, die in dieser Phase des Arbeitsprozesses erfahrungsgemäß erstmalig auftauchen (Fallauswahl; Methoden der international vergleichenden Sozialforschung), sowie die fachspezifische Betreuung der einzelnen Graduierten durch Vertreter des ihnen inhaltlich jeweils am nächsten stehenden Fachgebiets. Dieses fachspezifische Angebot wird, den konkreten Untersuchungsthemen der Graduierten entsprechend, bestimmte Ausschnitte aus den Rahmenthemen des Kollegs aufgreifen. Weitergeführt wird das obligatorische Doktorandenkolloquium verbunden mit einem Lektürekurs; beides wird bis zum letzten Semester seinen festen Platz im Studienprogramm der Graduierten haben. Im Mittelpunkt des Kolloquiums stehen in diesem Semester Beiträge der Hochschullehrer zur Weiterentwicklung des Rahmenthemas, während im Lektürekurs klassische und aktuelle Texte von projektübergreifender Bedeutung gemeinsam diskutiert werden. Der erste große Workshop, der wieder im Anschluß an das zweite Semester – also Ende des Sommersemesters – stattfinden wird, nimmt die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen der ersten beiden Studiensemesters auf. Ziel des auf vier Tage angelegten Intensivseminars wird es sein, sowohl die Konturierung der Untersuchungsthemen der einzelnen Graduierten wie auch die Leitfragen und -konzepte des Kollegs entscheidend voranzutreiben. Vor allen Dingen soll der Workshop auch dazu genutzt werden, in intensiver Gruppen- und Einzelbetreuung die jeweiligen Forschungsdesigns – vor allem auch die Begründung der Fallauswahl – unter forschungspragmatischen Gesichtspunkten auszuwerten und gegebenenfalls neu auszurichten. Damit soll gewährleistet werden, daß die Phase der Themensuche und die Entscheidung über die zu untersuchenden Fälle zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu einem vorläufigen Abschluß gelangen. Als wissenschaftliche Impulsgeber in diesem Prozeß werden externe Expert(inn)en eingeladen. Diese Expert(inn)en stellen sich dem Kolleg mit ihren eigenen Forschungen (mit Bezug auf die Frage nach der Zukunft des Europäischen Sozialmodells bzw. auf die Leitfragen des Kollegs) vor, kommentieren die Texte der Doktorand(inn)en und stehen diesen in Einzelgesprächen zur Verfügung. Das dritte Semester betont erneut die eher themenübergreifend angelegte Lehre. Angesichts der Bedeutung institutionalistischer Ansätze für die Klärung der Frage nach der Re-Konfiguration des (“alten”) Europäischen Sozialmodells wird ein zweites Theorie-Seminar insbesondere theoretische Konzeptualisierungen von Prozessen institutionellen Wandels thematisieren. Zum anderen wird die Vertiefung und Spezifizierung des Methodenwissens im Mittelpunkt der Kollegtätigkeit stehen. In den beiden vorangegangenen Phasen hat sich gezeigt, daß viele (und zunehmend mehr) Doktorand(inn)en am methodischen Instrumentarium der Inhalts- bzw. Diskursanalyse interessiert sind; das (neue) dritte Methoden-Seminar soll diesem Bedarf Rechnung tragen. Im vierten Semester erfolgt die zweite Runde spezialisierter, themenzentrierter methodologischer und fachlicher Anleitung, die ein Jahr zuvor (im zweiten Semester) begonnen worden war. Ab dem fünften Semester wird das Lehrprogramm dann reduziert (der Methoden-Workshop steht nur noch bei Bedarf offen), da nun die Ausarbeitung der verschiedenen Dissertationen im Mittelpunkt des Interesses stehen muß. Entsprechend kommt in dieser Phase dem Doktorandenkolloquium besondere Bedeutung zu, das im abschließenden sechsten Semester zusammen mit dem Lektürekurs das abschließende Studienangebot bildet. Da die das Kolleg tragenden Institute regelmäßig Ringveranstaltungen anbieten, an dem die Stipendiat(inn)en nach bisheriger Erfahrung teilnehmen und auch selbst vortragen können, wird die Möglichkeit einer Kolleg-Ringveranstaltung zwar durchaus erwogen, aber letztlich von der Nachfrage (und auch dem Angebot) abhängig gemacht. Der zweite große Workshop am Ende des vierten Semester dient der Präsentation des Forschungsstands der einzelnen Stipendiat(inn)en. Im Rahmen des sechstägigen Arbeitsprogramms wird es nicht nur darum gehen, die bisherige Forschung “auf den Punkt” zu bringen und einer über den Kollegzusammenhang hinausgehenden universitären Öffentlichkeit vorzustellen. Vor allen Dingen soll der Workshop auch dazu genutzt werden, in intensiver Gruppenund Einzelbetreuung erste Forschungsergebnisse auf ihre Stringenz hin zu überprüfen. Zu diesem Zweck werden die Graduierten wieder auswärtige Expert(inn)en einladen, die ihnen für diesen Evaluationsvorgang besonders geeignet erscheinen. Im Anschluß an das sechste Semester schließlich findet der dritte große Workshop – wenn möglich eingebunden in eine größere Fachöffentlichkeit – statt, um die Ergebnisse der Stipendiat(inn)en präsentieren und deren individuelle wie kollektive wissenschaftliche Netzwerkbildung fördern zu können. Dieser dritte Workshop ist wieder auf eine Dauer von sechs Tagen ausgerichtet, und seine konkrete Gestaltung sowie die Einladung von externen Kommentatoren bzw. Korreferent(inn)en werden in enger Absprache mit den Graduierten erfolgen. Wie bereits betont, können die Graduierten je nach Bedarf kleine workshops zu bestimmten Themen organisieren. Die Seminare und workshops stehen auf Anfrage auch fortgeschrittenen Studierenden der beteiligten Fakultäten offen. Dies erhöht nicht nur die Bekanntheit des Kollegs. Es macht die Studierenden auch mit anderen – intensiveren und auf Selbständigkeit bei kontinuierlichem feedback setzenden – Formen des Studiums vertraut. 2.4 Darstellung der bisherigen Bemühungen und Leistungen der am Antrag beteiligten Einrichtungen in der Graduiertenausbildung Siehe Arbeitsberichte über die erste und zweite Förderphase. 2.5 Erwarteter Ertrag des Graduiertenkollegs und Auswirkungen auf die Entwicklung der betroffenen Fachgebiete und den Studienverlauf Die Antragsteller streben mit dem Graduiertenkolleg weiterhin eine zusätzliche institutionelle Klammer für ihre Zusammenarbeit sowie die Möglichkeit an, herausragenden Nachwuchs gezielt in einem wissenschaftlich wie politisch-praktisch relevanten Forschungsbereich zu fördern. Die positive Aufnahme des Fortsetzungsantrags würde – wie in Punkt 2.2 ausgeführt – das bereits erarbeitete Wissen gezielt erweitern und vertiefen und damit zu auch zukünftig hochaktuellen wissenschaftlichen und politischen Fragen der Gestalt und Gestaltung der in vielerlei Hinsicht unter Druck geratenen EU-europäischen Gesellschaft beitragen. Nicht zuletzt dient eine Institutionalisierung der Kooperation als Graduiertenkolleg auch als Labor für die Erprobung zukünftiger, weitergehender Kooperationen (Forschergruppe; Sonderforschungsbereich). Wie die Erfahrung zeigt, kann in diesem Fall herausragenden Absolvent(inn)en die Möglichkeit zur Fortsetzung ihrer Forschungsarbeit in einem neuen Zusammenhang geboten werden. Die Chancen, die existierende und durch die gemeinsame Kollegsarbeit intensivierte Kooperation in die Formulierung eines größeren gemeinsamen Forschungsvorhabens einmünden zu lassen, steigen durch die Neuberufungen in den Bereichen “Vergleichende Sozialwissenschaften” (Knöbl), “Politische Theorie und Ideengeschichte” (Reese-Schäfer), “Empirische Bildungsforschung” (Kraul), “Quantitative Methoden in den Sozialwissenschaften” (Kühnel), “Qualitative Methoden” (Rosenthal) “Gesellschaftstheorie” (Ruf an Jens Beckert ergangen) und “Volkswirtschaft und Sozialpolitik” (im Verfahren). Der Wissenschaftsrat hat im Mai 1994 die an einem Graduiertenkolleg beteiligten Fakultäten aufgefordert, im Rahmen des Fortsetzungsantrags über die Rückwirkungen der Institution “Graduiertenkolleg” und der konkreten Kollegsarbeit auf das jeweilige grundständigen Studiums zu berichten. Dies soll an dieser Stelle geschehen. Von der Institutionalisierung eines Kollegs geht, wie auch intendiert, in erster Linie eine Signalwirkung für die Studierenden aus, die sich im Prozeß der Entscheidung für oder gegen eine Promotion befinden. Dabei ist daran zu erinnern, daß es bei der Promotionsförderung sowohl um Nachwuchsförderung wie auch um eine fundierte, gezielte Qualifizierung für Berufsfelder außerhalb von Universität und Forschung geht, in denen die Promotion Zugangsvoraussetzung oder Karrierepromotor ist. Die seit einiger Zeit an der der Universität Göttingen (und an anderen niedersächsischen Hochschulen) laufenden Evaluationen von Studium und Lehre haben für die am Kolleg beteiligten Disziplinen, vor allem für die Sozialwissenschaften, eine im Verhältnis zur Zahl der Studienabsolvent(inn)en recht niedrige Gesamtzahl der Promotionen zutage gefördert. Auffallend ist ferner das relativ hohe Durchschnittsalter der Promovierten. Obwohl in den beteiligten Fakultäten national und international beachtete Forschung betrieben wird, ist es bisher kaum gelungen, auswärtige Studierende zum Promovieren in den jeweiligen Fächern nach Göttingen zu ziehen. Die Situation an anderen Hochschulen dürfte sich von der Göttinger kaum unterscheiden. Man kann diesen negativen Befund als Ausdruck einer mangelnden oder zumindest kaum expliziten Förderung des wissenschaftlichen bzw. qualifizierten Nachwuchses interpretieren. Initiativen bzw. Institutionen wie die Graduiertenkollegs markierten hier eine Wende und erhielten eine Leitbildfunktion für die zukünftige Promotionsförderung: Hochschullehrer und ihre Doktoranden arbeiten gemeinsam kontinuierlich vermittelt über ein gemeinsames übergreifendes Thema, erarbeitete Schwerpunkte und verbindende theoretische und methodische Zugänge auf die zügige, gleichwohl kompetente Bearbeitung von Dissertationsvorhaben hin. Fortschritts- und Qualitätskontrollen sind dadurch fast automatisch eingebaut. Im Fall unseres Kollegs können – wie bereits erwähnt – einschlägig interessierte, besonders qualifizierte Hauptfachstudierende und Doktorand(inn)en der einzelnen Fächer – nach Anmeldung – an den Veranstaltungen des Kollegs teilnehmen und dadurch Einblick in die Kollegsarbeit (einschließlich des dafür abverlangten intellektuellen und zeitlichen Engagements aller Kollegsmitglieder) gewinnen. Auch wenn wahrscheinlich die Existenz des Kollegs nicht automatisch die Zahl der Promotionswilligen steigert, so dient es doch dem qualifizierten Nachwuchs, aber auch – wie uns von einigen berichtet – den Kollegen als gründliche Information darüber, mit welchen Anforderungen für eine gelingende Promotion gerechnet werden muß und wie das Promotionsvorhaben gewinnbringend durchgeführt werden kann: im thematischen Verbund mit anderen und eingebunden in kontinuierliche kooperative Diskussion und Kontrolle. Schließlich kann man auch Rückwirkungen der “Qualitätssicherung”, z.B. der Sicherung des state of the art, wie sie im Kolleg zwangsläufig garantiert sein muß, auf die Lehrveranstaltungen im Grund- und Hauptstudium feststellen – z.B. in der wachsenden Internationalität der vermittelten Lehrinhalte und einem größeren Gewicht der Kunst wissenschaftlicher Argumentation und Methoden. 3. Strukturelle und organisatorische Voraussetzungen für die Durchführung des Graduiertenkollegs 3.1 Stellung des Graduiertenkollegs in der Universität und zu außeruniversitären Forschungseinrichtungen Das Kolleg wird gemeinsam von Mitgliedern der Fakultäten der Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, Historisch-Philologischen Wissenschaften und der Rechtswissenschaften der Universität getragen. Es kooperiert eng mit zwei etablierten Instituten, dem Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien der Universität (ZENS) und dem Soziologischen Forschungsinstitut an der Universität (SOFI), denen jeweils mehrere der Antragsteller angehören. 3.2 Einpassung des Graduiertenkollegs in die bestehende Studienstruktur Die Fachgebiete des Kollegs entsprechen den “Hauptsäulen” der sozialwissenschaftlichen Diplomausbildung in Göttingen (“Diplom-Sozialwirt”). Das Kolleg setzt somit im Bereich des Promotionsstudiums den interdisziplinären Ansatz der Göttinger Diplomausbildung fort. Hinzugekommen (vgl. oben) ist das vom ZENS – dort von der Politkwissenschaft, der Soziologie und der Sozialpolitik getragene – Hauptfachstudium “Europa- und Nordamerikastudien”, das systematisch vergleichend angelegt ist. Das Kolleg soll aber auch und vor allem Absolvent(inn)en anderer Studiengänge offen stehen (siehe Zugangsvoraussetzungen). Für die Kollegiat(inn)en kommt in erster Linie eine Promotion zum Doktor der Sozialwissenschaften (Dr. disc. pol.) in Betracht. Die entsprechende Ordnung läßt Themen aus allen Kolleg-Fachgebieten zu. Bei entsprechender Betreuung ist auch eine Promotion nach den Ordnungen für Dr. rer. pol., Dr. phil. oder Dr. jur. möglich. 3.3 Zugangsvoraussetzungen Die Aufnahme in das Kolleg erfolgt einmal jährlich. Das Kollegprogramm wird bundesweit – und gezielt im Ausland – ausgeschrieben (u.a. jeweils im Internet). Dem Antrag auf Zulassung, der bei der Geschäftsstelle des Graduiertenkollegs eingereicht wird, sind folgende Unterlagen beizufügen: - wissenschaftlicher Werdegang, Übersicht über die vorausgegangenen Studienleistungen und Kopien der Abschlußzeugnisse, die Examensarbeit, Referenzen von in der Regel zwei Hochschullehrern sowie ein Exposé des geplanten Dissertationsvorhabens, das vergleichend angelegt sein soll. Den Bewerber(inne)n wird zur Information für die Anfertigung des Exposés eine Kopie des Arbeitsberichtes der zweiten Phase sowie der Fortsetzungsantrag zugeschickt. Sie werden ausdrücklich ermuntert, sich für ein im Antrag formuliertes Thema zu entscheiden und für dessen Bearbeitung erste Überlegungen zu formulieren. Über den Antrag entscheidet eine Auswahlkommission, die von den am Graduiertenkolleg beteiligten Hochschullehrern gebildet wird. Kriterien für die Zulassung sind: - ein Diplom, ein Magister oder ein Staatsexamen in den einschlägigen Fachgebieten mit - Prädikat; Auslandsstudium (der Möglichkeit nach); Qualität, Stringenz und Originalität des Arbeitsvorhabens; gute Kenntnisse in den quantitativen und/oder qualitativen Forschungsmethoden bei einer Bewerbung für einen der sozial- oder wirtschaftswissenschaftlichen Schwerpunkte; gute Fremdsprachenkenntnisse (entsprechend dem Dissertationsthema). Die Qualität des Exposés, Kenntnis des Forschungsstandes und der entsprechenden Methoden sowie etwaige Studienaufenthalte im Ausland tragen maßgeblich zur Entscheidung über die Aufnahme bei. Das beantragte Kolleg strebt weiterhin an, den weiblichen wissenschaftlichen Nachwuchs besonders zu fördern. Es wird wie bisher erwartet, daß die Kollegiat(inn)en in der Zeit der Förderung am Ort wohnen. 3.4 Erfolgskontrollen Das Lehr- und Studienprogramm in 2.3 wurde gezielt im Hinblick auf eine Straffung des Promotionsstudiums und die kontinuierliche Erfolgskontrolle entwickelt. Besondere Bedeutung haben neben den Doktorandenkolloquien und der themenspezifischen Einzelbetreuung wiederum die Workshops. Hier sollen die Graduierten den Fortschritt in der Bearbeitung ihres Themas sowie spezifische theoretische und methodische Probleme einer – u.a. internationalen – Fachöffentlichkeit präsentieren. Die Entscheidung über eine Förderung über das erste Jahr hinaus erfolgt auf der Grundlage des Zwischenberichts – in der Regel identisch mit dem Papier, das die Grundlage der Diskussion im ersten Sommer-Workshop bildet, – und der Beurteilung der jeweiligen Betreuer. Es hat sich herausgestellt, daß die Förderdauer von maximal drei Jahren für einige Doktorand(inn)en nicht ausreicht, ihre Promotion abzuschließen. Wir führen dies – neben besonderen Probleme der Interdisziplinarität, der Komparatistik und der Auswertung von Massendaten (vgl. Arbeitsbericht) – auch darauf zurück, daß die erste Phase der Konkretisierung des Forschungsvorhabens oftmals zu lang dauert und in der anschließenden Realisierungsphase eine stärkere Orientierung auf zu erreichende Zwischenschritte (“miles stones”) nötig ist. Die Stipendien der dritten Förderungsphase sollen daher zukünftig noch expliziter als bisher intern für jeweils ein Jahr vergeben werden, wobei in den ersten beiden Jahren eine Fortsetzung der Förderung garantiert wird, wenn zu spezifizierende Zwischenziele erreicht werden. Die Fortsetzung der Förderung nach dem ersten Jahr soll davon abhängig gemacht werden, daß die Stipendiatin oder der Stipendiat (a) das bei der Bewerbung eingereichte Exposé im Hinblick auf die Forschungsfrage, die methodische Umsetzung und den Arbeitsplan konkretisiert und (b) einen Arbeitsbericht anfertigt, in dem zusätzlich der Stand der Forschung detailliert wiedergegeben wird. Die Weiterförderung nach dem zweiten Jahr soll von der Fortführung des Arbeitsberichts abhängig gemacht werden, wobei dieser bereits erste Ergebnisse etwa in Form von Rohentwürfen erster Kapitel der Dissertation enthalten soll. Die Konkretisierung des Exposés und die Arbeitsberichte sind von einem Betreuer des Dissertationsvorhabens positiv zu begutachten, wobei die Gutachten innerhalb von vier Wochen nach Eingang der Berichte zu erstellen sind. Die Abschlußprüfung am Graduiertenkolleg ist identisch mit der Promotion im Sinne der entsprechenden Promotionsordnung der zuständigen Fakultät. Die Kollegiat(inn)en können ihre Promotion in englischer Sprache abfassen.