Fortsetzungsantrag - Georg-August

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Georg-August-Universität Göttingen
Antrag
auf Fortsetzung der Förderung des
Graduiertenkollegs
DIE ZUKUNFT DES EUROPÄISCHEN
SOZIALMODELLS
Förderzeitraum
01. Oktober 2003/4 – 30. September 2006/7
Göttingen, August 2002
1. Allgemeine Angaben
1.1 Thema
Die Zukunft des Europäischen Sozialmodells
(The Future of the European Social Model)
1.2 Antragstellende Hochschullehrer(innen)
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Sprecherin: Prof. Dr. Ilona Ostner (Sozialpolitik, insb. international vergleichende), Institut
für Sozialpolitik der Georg-August-Universität, Platz der Göttinger Sieben 3, 37073
Göttingen, und Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (ZENS), Humboldtallee
3, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-7243, Fax 39-7834, e-mail [email protected]
Stellvertretender Sprecher: Prof. Dr. Peter Lösche (Politikwissenschaft), Seminar für
Politikwissenschaft, Platz der Göttinger Sieben 3, 37073 Göttingen, und Zentrum für
Europa- und Nordamerika-Studien (ZENS), Humboldtallee 3, 37073 Göttingen, Tel.
0551-39-7218, Fax: 39-9788, e-mail [email protected]
Prof. Dr. Martin Baethge (Soziologie), Soziologisches Seminar und Soziologisches
Forschungsinstitut (SOFI), Platz der Göttinger Sieben 3, 37073 Göttingen, Tel.
0551-39-7206, e-mail [email protected]
Prof. Dr. Wolfgang Knöbl (Soziologie/international vergleichende Sozialwissenschaften),
Zentrum für Europa- und Nordamerikastudien (ZENS), Humboldtallee 3, 37073
Göttingen, Tel. 0551-39-7202, e-mail [email protected]
Prof. Dr. Wolf Rosenbaum (Soziologie, Staats-, Rechts- und Wirtschaftssoziologie),
Soziologisches Seminar, Platz der Göttinger Sieben 3, 3703 Göttingen, Tel.
0551-39-7162, e-mail [email protected]
(seit 01.10.2000 Dekan der
Sozialwissenschaftlichen Fakultät)
Prof. Dr. Steffen Kühnel (sozialwissenschaftliche Methoden), Sozialwissenschaftliches
Methodenzentrum der Fakultät (MZ), Platz der Göttinger Sieben 3, 37073 Göttingen,
Tel. 0551-39-12283, e-mail [email protected]
Prof. Dr. Hansjörg Otto (Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht), Institut für Arbeitsrecht,
Platz der Göttinger Sieben 5, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-7247, e-mail
[email protected]
Prof. Dr. Gustav Kucera (Wirtschaftswissenschaften für Juristen, Schwerpunkt: Wirtschaftspolitik), Volkswirtschaftliches Seminar und Seminar für Handwerkswesen an der
Universität, Platz der Göttinger Sieben 3, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-4602, e-mail
[email protected]
NN Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik, ab 04/2003 (im Verfahren – vormals Andreas
Haufler – siehe unten)
Prof. Dr. Bernd Weisbrod (Mittlere und Neuere Geschichte), Seminar für Mittlere und
Neuere Geschichte, Platz der Göttinger Sieben 5, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-4664,
e-mail [email protected]
Assoziierte Hochschullehrer
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Prof. Dr. Horst Kern (Soziologie), Präsident der Universität (bis Oktober 2004),
Wilhelmsplatz 1, 37073 Göttingen, Tel. 0551-39-4311, e-mail [email protected]
Prof. Dr. Martin Kronauer (Soziologie), Sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut,
Friedländerweg 31, 37085 Göttingen, Tel. 0551-522050 und Fachhochschule für
Wirtschaft, Badensche Str. 50-51, 10825 Berlin Adresse, Tel. 030-857890, e-mail
[email protected]
-
PD Dr. Stephan Lessenich (Sozialpolitik, Soziologie), ZENS, Humboldtallee 3, 37073
Göttingen, Tel. 0551-39-7154, e-mail [email protected]
Erläuterungen zu den antragstellenden Hochschulehrern
1
Andreas Haufler, Professur für “Finanzwissenschaft und Sozialpolitik”, Mitantragsteller beim
letzten Antrag (2000-2003), hat zum 01.04.2002 einen Ruf an die Universität München
angenommen. Die Stelle wurde sofort für “Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik”
ausgeschrieben und kann zum 01.04.2003 besetzt werden. Jeder der für eine Berufung in Frage
kommenden Bewerber (NN) auf der Liste ist an einer Mitarbeit sehr interessiert, würde nach
Rufannahme also sofort Mitglied des Kollegs werden.
Horst Kern hat sich – bedingt durch seine Tätigkeit als Präsident der Universität – teilweise aus
der Kollegsarbeit zurückgezogen. Er nimmt jedoch regelmäßig an den Kolloquien des Kollegs
sowie an den Workshops teil; ferner betreut er auch weiterhin drei Arbeiten.
Wolfgang Knöbl hat zum 01.04.2002 den Lehrstuhl für “vergleichende Sozialwissenschaften”
am ZENS (vormals Horst Kern) übernommen (vgl. o.) und ist damit ebenfalls Mitglied des
Kollegs geworden. Er liefert für die beantragte Phase der Kollegsarbeit wichtige Beiträge zur
Frage des Wandels von Institutionen und dessen Trägern.
Martin Kronauer hat im Berichtszeitsraum 2000-2003 zwei Semester lang die Professur für
“International vergleichende Sozialwissenschaften”, die inzwischen Wolfgang Knöbl angetreten
hat, vertreten. Ab 01.10.2002 ist er als Professor Gesellschaftswissenschaft an der
Fachhochschule für Wirtschaft, Berlin, tätig, bleibt aber mit seinen Forschungen dem
Soziologischen Forschungsinstitut, Göttingen, und dem Kolleg verbunden. Martin Kronauer hat
vor und nach seiner Vertretungszeit aktiv an der Forschungs-, Lehr- und Betreuungstätigkeit im
Kolleg mitgewirkt. Seine Assoziierung als Hochschullehrer ist nicht nur wegen der aufgebauten
Betreuungsbeziehungen zu einigen Doktorand(inn)en, sondern vor allem wegen seiner Expertise
in Fragen der sozialen Teilhabe (Inklusion) bzw. des sozialen Ausschlusses (Exklusion) u.a. im
Prozeß des Umbaus von Institutionen auch zukünftig sinnvoll. Er wird weiterhin an den
Veranstaltungen des Kollegs aktiv teilnehmen.
Steffen Kühnel hat seit 01.10.2000 die Professur für “Quantitative Methoden” am
Sozialwissenschaftlichen Methodenzentrum der Fakultät, das er auch leitet, inne. Wir haben ihn
u.a. auf Empfehlung der Gutachter in das Kolleg aufgenommen, auch um die methodische
Qualität der Forschungsarbeiten zu garantieren und zu erhöhen.
Stephan Lessenich hat als Assistent (C1), jetzt habilitierter Oberassistent, am Institut für
Sozialpolitik (sozialwissenschaftliche Abteilung) der Universität seit der ersten Antragstellung
kontinuierlich am Kolleg mitgearbeitet und für die Ausrichtung von Forschung und Lehre
wichtige inhaltliche Impulse gegeben. Deshalb – wie auch aufgrund bereits bestehender
Betreuungsbeziehungen zu mehreren Doktorand(inn)en – erscheint seine Assoziierung ebenfalls
äußerst sinnvoll und angemessen.
Peter Rühmann scheidet zum Sommersemester 2003 wegen Pensionierung aus dem Kolleg aus. Die Nachfolge
Haufler (vgl. oben) wird auch im Bereich der von Peter Rühmann vertretenen Arbeitsmarktökonomik ausgewiesen
sein.
1
Angaben zu den Vorarbeiten der antragstellenden Hochschullehrer (Publikationen, Veröffentlichungen,
Projekte etc.) befinden sich im Anhang des Arbeitsberichts 2000-2003.
1.3 Beteiligte Fachgebiete
-
Sozialwissenschaften (Soziologie, Politikwissenschaft, Sozialpolitik, international
vergleichende Sozialwissenschaft, sozialwissenschaftliche Methodenlehre)
Neuere Geschichte
Volkswirtschaftslehre (und Sozialpolitik)
Rechtswissenschaften (Arbeits- und Sozialrecht)
1.4 Voraussichtliche Dauer
01.10.1997/8-30.09.2006/7
jeweils 3 Jahre (zeitversetzt zwei Kohorten à 8 Doktorand[inn]en)
1.5 Antragszeitraum
01.10.2003/4 – 30.09.2006/7
1.6 Angestrebte Zahl der Stipendien
16 Stipendien für Doktorand(inn)en für 36 Monate
2 Postdoktorand(inn)en-Stipendien
Es hat sich bewährt, die Doktorand(inn)en zeitversetzt in das Kolleg aufzunehmen: je eine Kohorte von acht
Kollegiat(inn)en. Die erste Kohorte soll – wie bisher – eine “Patenfunktion” für die folgende übernehmen (vgl.
Arbeitsbericht).
Das Kolleg plant, wie bisher, zwei bis drei nicht von der DFG finanzierte Doktorand(inn)en
aufzunehmen.
1.7 Beginn der Weiterförderung
-
Wintersemester 2003/2004 mit 8 Doktorand(inn)en-Stipendien und 1
Postdoktoranden-Stipendium
ab WS 2004/05 mit der vollen Stipendienzahl (siehe 1.6)
2. Ziele, Programm und Struktur des Graduiertenkollegs
2.1 Zusammenfassung
Ausgangspunkt von Forschung und Lehre des Kollegs bildet die Annahme eines historisch
gewachsenen, bei aller Vielfalt doch näher zu kennzeichnenden “europäischen Sozialmodells”.
Den Begriff prägte Jacques Delors Mitte der 1980er Jahre, um im europäischen
Integrationsprozeß ein Konzept ins Spiel zu bringen, mit dem sich die EU-Europäer über alle
Unterschiede hinweg identifizieren konnten. Wenn heute vom Europäischen Sozialmodell die
Rede ist, wird damit – so ein vorläufiges Ergebnis unserer bisherigen Forschungsarbeit –
allerdings ein neues Modell anvisiert, das zwar noch als spezifisch “europäisch” bezeichnet
werden kann, jedoch mit den Institutionen des “alten” Modells und den ihnen zugrundeliegenden
Ideen in mancher Hinsicht konfligiert. In der beantragten abschließenden Forschungsphase des
Kollegs soll deshalb das Ineinandergreifen von “altem” und “neuem” Sozialmodell näher
untersucht werden. Wie reagieren Institutionen des Europäischen Sozialmodells auf exogene und
endogene Herausforderungen? Mit welchen Folgen für die Bürger(innen) – mit welchen
Konsequenzen aber auch für die Modellkonstruktion selbst? Das Kolleg wird sich also bei der
Beantwortung seiner Leitfragen auf Probleme des Wandels von Institutionen, seiner
Bestimmungsfaktoren und Ergebnisse konzentrieren. Die drei Fragen, die bisher die Forschung
und Lehre des Kollegs bestimmt haben, bleiben weiterhin erkenntnisleitend, wobei nun
konsequenterweise ein besonderes Gewicht auf der dritten – letzten – Frage liegt:
1. Wie kann das “alte” Europäische Sozialmodell beschrieben und allgemein sowie in seinen
spezifischen Varianten erklärt werden?
2. Welche allgemeinen und länderspezifischen Herausforderungen an das “alte” Europäische
Sozialmodell lassen sich beschreiben und erklären?
3. Welcher Umbau, welche Anpassungsprozesse der Institutionen des “alten” Europäischen Sozialmodells können beobachtet werden? Welches “neue” Europäische Sozialmodell zeichnet
sich als Reaktion auf die in (2) ermittelten Herausforderungen ab? Welche Ideen und
welche Interessen tragen den Umbau des Europäischen Sozialmodells? Schließlich: Welche
Gewinner und Verlierer eines Umbaus des “alten” zum “neuen” Sozialmodell lassen sich
identifizieren?
2.2 Forschungsprogramm
Die folgenden Abschnitte fassen zunächst knapp die leitende Fragestellung, den Stand und die Desiderate der
geplanten Forschung zusammen (2.2.1); sie präsentieren dann die Forschungsthemen, die bereits in der laufenden
Phase die gemeinsame Arbeit des Kollegs integrieren und auch in der nächsten Phase versprechen, nicht nur den
interdisziplinären Austausch zu fördern, sondern auch wichtige Elemente der Frage nach der Zukunft des
Europäischen Sozialmodells zu bearbeiten (2.2.2 mit Schaubild auf S. 21). Ein weiterer Abschnitt (2.2.3) hebt die
spezifischen Beiträge der einzelnen Disziplinen zu Aspekten der Re-Konfiguration des Europäischen Sozialmodells
und seiner nationalen Varianten hervor. Abschnitt 2.2.4 schließlich führt die disziplinären Beiträge in einer Übersicht
zusammen.
2.2.1 Leitende Fragestellung, Stand und Desiderate der Forschung
(1) Leitende Fragestellung
Das Graduiertenkolleg wird seine leitende Fragestellung nach den Besonderheiten, den Herausforderungen und der
Zukunft des Europäischen Sozialmodells im Antragszeitraum auf die Frage des Wandels, d.h. der
Bestimmungsfaktoren und Ergebnisse des Wandels zentraler Institutionen des Modells, konzentrieren. Es will mit
der Konzentration auf die Frage der Dynamik von Institutionen und ihrer Konsequenzen im Hinblick auf Prozesse
gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion 2 der bisherigen Forschungs- und Lehrtätigkeit in der abschließenden
dreijährigen Forschungsphase einen logischen Abschluß und übergreifenden theoretischen Rahmen geben. Die
Schwerpunktsetzung fördert nicht nur den intensiven Austausch der am Programm beteiligten, im Hinblick auf
Konzepte und Methoden relativ heterogenen Disziplinen. Sie entspricht auch dem Profil der laufenden Forschung
sowohl der Kollegiat(inn)en wie auch der am Kolleg beteiligten Hochschullehrer. Die Fokussierung ist daher in
mehrfacher Hinsicht konsequent.
Im Mittelpunkt von Forschung und Lehre des Kollegs steht – nun schon traditionell – die Annahme eines historisch
gewachsenen, bei aller Vielfalt doch zu identifizierenden “Europäischen Sozialmodells”. Stärken und Schwächen
dieses Modells, Erosionstendenzen sowie auch gezielte Politiken, dieses Modell aufzulösen, schließlich Anzeichen
der Herausbildung eines neuen Europäischen Sozialmodells bilden den Hintergrund der Arbeiten des Kollegs.
Jacques Delors sprach Mitte der 1980er Jahre als einer der ersten vom “Europäischen Sozialmodell”. Er wollte (vgl.
2.1) damit eine Idee ins Spiel bringen, mit der sich die EU-Europäer über alle Unterschiede und Grenzen hinweg
identifzieren konnen sollten. In der Folge erlebte der Begriff eine wissenschaftliche und politische Konjunktur,
obwohl sich die Institutionen, auf denen jenes Sozialmodell nach Delors’ Vorstellungen aufbauen sollte, entweder
bereits in der Krise befanden oder für überholt gehalten wurden, weil sie Anpassungen an sozioökonomische und
soziokulturelle Herausforderungen be-oder verhinderten.3 Wenn heute vom Europäischen Sozialmodell die Rede ist,
wird damit – so ein vorläufiges Ergebnis unserer bisherigen Forschungsarbeit – immer schon ein “neues” Modell
anvisiert, das sich zwar als spezifisch “europäisch” von anderen Sozialmodellen (z.B. dem US-amerikanischen)
abgrenzen läßt (und auch lassen soll), jedoch bei näherer Betrachtung mit den Institutionen des “alten” Sozialmodells
und den ihnen zugrundeliegenden Ideen tendenziell konfligiert.
Wir haben in unserer bisherigen Forschungsarbeit das “Europäische Sozialmodell” zunächst als
heuristisches Konstrukt verstanden (vgl. Anträge und Berichte der Phasen 1997-2000 bzw.
2000-2003). Schreibt man ihm idealtypsierend bestimmte Eigenschaften zu, dann kam und kommt
dieses Modell in der Wirklichkeit EU-Europas bestenfalls annäherungsweise vor. Gleichzeitig ist
“gesellschaftliche Vielfalt” faktisch ein konstitutives Element des Europäischen Sozialmodells.
Darüberhinaus zielt die Rede vom Europäischen Sozialmodell auf eine Parallelität und
Komplementarität von wirtschaftlicher Entwicklung und sozialem Fortschritt, ökonomischer Dynamik
und gesellschaftlichem Ausgleich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die es nahelegen, von
einer “europäischen Gesellschaftsformation” zu sprechen, die nicht auf ein Europäisches
“Sozialpolitik”modell reduziert werden kann. Vielmehr kommen im Europäischen Sozialmodell als
historisch-konkreter
Gesellschaftsformation
zwei
Makrospezifika
zusammen
–
die
“Institutionalisierung der gesellschaftlichen Vielfalt” sowie die “Institutionalisierung des sozialen
Ausgleichs” –, die dieses Modell als einmalig ausweisen.
Die historischen Konflikte, denen Europa jahrhundertelang ausgesetzt war, erklären dessen Präferenz
für “ordered, limited, and structured diversity” (Colin Crouch). 4 Verbandsförmige Interessenkoordination, Verhandlungsdemokratie und die Gestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen nach
dem Prinzip der Subsidiarität, dem gleichwohl Solidarität vorausgehen kann, entsprechen dieser
Vielfalt. Die Ergänzung der bürgerlichen Freiheits- und politischen Teilhaberechte durch den
institutionalisierten Ausgleich ging von Europa aus – ansatzweise, aber nicht ausschließlich wiederum
2
3
4
Vgl. GK-Fortsetzungsantrag 2000-2003. Vgl. jetzt auch aus dem Kollegskontext Kronauer, Martin, 2002:
Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt a.M.: Campus.
Vgl. mit Blick auf die politische Ökonomie des Wohlfahrtsstaats z.B.: Esping-Andersen, Gøsta, 1996:
Welfare States without Work: the Impasse of Labour Shedding and Familialism in Continental European
Social Policy, in: Derselbe (Hg.), Welfare States in Transition. National Adaptations in Global Economies.
London: Sage, 66-87; Esping-Andersen, Gøsta, 1999: Social Foundations of Postindustrial Economies. Oxford:
Oxford University Press; Esping-Andersen, Gøsta, Duncan Gallie, Anton Hemerijck und John Myles, 2001: A
New Welfare Architecture for Europe? Report to the Belgian Presidency of the EU. Brussels: CEC; Ferrera,
Maurizio, Anton Hemerijck und Martin Rhodes, 2000: The Future of Social Europe: Recasting Work and
Welfare in the New Economy. Report for the Portuguese Presidency of the European Union. Mimeo; Pierson,
Paul, 1998: Irresistible Forces Forces, Immovable Objects: Post-industrial Welfare States Confront Austerity,
in: Journal of European Public Policy 5 (4), 539-560; Scharpf, Fritz W. und Vivien A. Schmidt (Hg.), 2000:
Welfare and work in the open economy. (Vol. I). Oxford: Oxford University Press.
Vgl. Crouch, Colin, 2000: Die europäische(n) Gesellschaft(en) unter dem Druck der Globalisierung, in:
Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (Hg.), Sozialmodell Europa. Konturen eines Phänomens.
Jahrbuch für Europa- und Nordamerika-Studien 4, Opladen: Leske + Budrich, 77-99.
erklärbar durch den Willen, Konfliktlinien, die sich aus der spannungsreichen Heterogenität ergaben,
aufzufangen. Marktregulierung, Universalismus, Umverteilung sind Bestandteile des sozialen
Ausgleichs. Sie haben bisher für die im Weltmaßstab einmalige Inklusion der Menschen in die
Europäische Gesellschaft gesorgt, damit deren Integration garantiert.
Beide Makrospezifika – “Vielfalt” und “sozialer Ausgleich” – scheinen wenn schon nicht in Frage
gestellt so doch neu gedacht. Offensichtlich wird ein Prozeß der europäischen Staatsbildung im
Delorschen Sinn als Einbettung der Ökonomie in einen europäisierten “strukturierten
Wirtschaftsraum” mit einer eigenständigen, zum sozialen Ausgleich kompetenten und fähigen
europäischen Handlungsebene nicht mehr angestrebt. Stattdessen gewinnt das “management by
objectives” EU-europäisch und national an Bedeutung. Die Ziele, die die weite Idee des sozialen
Ausgleichs abzulösen beginnen und diese zugleich einengen, zeigen sich insbesondere in der
Beschäftigungspolitik: Erhöhung der Bechäftigungsfähigkeit, Stärkung von Unternehmergeist und
Flexibilität sowie eine Gleichstellung der Geschlechter, die vorrangig den Imperativen des Marktes
folgt. Ein neues Europäisches Sozialmodell zeichnet sich ab.5
In der beantragten abschließenden Forschungsphase des Kollegs soll das Ineinandergreifen von
“altem” und “neuem” Sozialmodell näher untersucht werden. Dabei werden wir uns weiter an
den drei Leitfragen orientieren können, die auch bisher die Forschung und Lehre des Kollegs
bestimmt haben, konsequenterweise aber hauptsächlich an der Beantwortung des dritten
nachfolgend genannten Fragekomplexes arbeiten:
1.
Wie kann das “alte” Europäische Sozialmodell beschrieben und allgemein und in seinen spezifischen Varianten
erklärt werden? Die Frage bildet das Leitmotiv für das gemeinsam bearbeitete Themenfeld 1: “Das ‚alte’
Europäische Sozialmodell – Entstehung, Charakteristika, Varianten”.
2.
Wie kann die Tendenz zur Erosion des “alten” Europäischen Sozialmodells/seiner Elemente allgemein und
länderspezifisch beschrieben und erklärt werden? Die Frage konstituiert das gemeinsam bearbeitete
Themenfeld 2: “Endogene und exogene Herausforderungen an das ‚alte’ Europäische Sozialmodell”.
3.
Welches “neue” Europäische Sozialmodell zeichnet sich ab? Wie kann es beschrieben, wie in seiner Entwicklung (leitende Ideen und tragende Interessen/Akteure) und Gestalt (zentrale Institutionen) erklärt werden?
Welche Begründungs- und Legitimationsmuster begleiten die Maßnahmen zum Umbau oder zur Auflösung der
für das Europäische Sozialmodell charakteristischen Institutionen und Kompromisse bzw. die
gesellschaftlichen Folgen dieser Erosion? Schließlich: Welche Gewinner und Verlierer eines Umbaus des
“alten” zum “neuen” Sozialmodell lassen sich identifizieren? Solche Fragen strukturieren das nunmehr
schwerpunktmäßig gemeinsam zu erarbeitende Themenfeld 3: “Das ‚neue’ Europäische Sozialmodell: Ideen,
Interessen und Institutionen im Prozeß des Umbaus”.
(2) Stand der Forschung
Wie erwähnt wird das Graduiertenkolleg seine Leitfrage nach den Besonderheiten, den Herausforderungen und der
Zukunft des Europäischen Sozialmodells im Antragszeitraum auf die Frage des Wandels von Institutionen, seiner
Bestimmungsfaktoren und Ergebnisse, konzentrieren. Wir werden uns insbesondere für das Zusammenspiel von
Ideen und Interessen im Prozeß des institutionellen Wandels sowie für die Bedingungen interessieren, die
Veränderungen behindern oder – häufig wider Erwarten – anstoßen.
Mit dem Schwerpunkt Ursachen, Prozesse und Ergebnisse des institutionellen Wandels nimmt das Kolleg eine
allgemeine Tendenz in den vergleichenden Gesellschafts- und Kulturwissenschaften, auch der Rechtswissenschaft,
auf. 6 Hier hat sich die Forschung in den letzten Jahren von der typologisierenden Identifizierung von
5
6
Vgl. Aust, Andreas, Sigrid Leitner und Stephan Lessenich, 2002: Konjunktur und Krise des Europäischen
Sozialmodells. Ein Beitrag zur politischen Präexplantationsdiagnostik, in: Politische Vierteljahresschrift 43
(2), 272-301; Aust, Andreas, Sigrid Leitner und Stephan Lessenich, 2000: Sozialmodell Europa. Eine
konzeptionelle Annäherung, in: Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (Hg.), Sozialmodell Europa.
Konturen eines Phänomens. Jahrbuch für Europa- und Nordamerika-Studien 4, Opladen: Leske + Budrich,
7-22; Ostner, Ilona, 2000: Auf der Suche nach dem Europäischen Sozialmodell, in: ebda., 23-37.
Vgl. z.B. Crouch, Colin, 1999: Social Change in Western Europe. Oxford: Oxford University Press; Bach,
Maurizio (Hg.), 2000: Die Europäisierung nationaler Gesellschaften: Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie. Sonderheft 40. Westdeutscher Verlag: Opladen; für die Geschichtswissenschaft, vgl.
Merkmalsausprägungen einer Gesellschaft oder mehrerer Gesellschaften zur – wiederum häufig typisierenden –
Beschreibung und Erklärung von Entwicklungsprozessen bewegt.7
Die (neuerliche) Wende von den Strukturen zu den Prozessen hat in den genannten Disziplinen den Bedarf an einer
Rekonzeptualisierung vorhandener Theorien des Wandels (strukturell, institutionell, reflexiv: Wandel des Wandels)
“mittlerer Reichweite” sichtbar gemacht. 8 In diesem Zusammenhang wird zur Zeit auch die Frage nach dem
Paradigma der Modernisierung – das im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus von Ulrich
Beck, Johannes Berger oder Wolfgang Zapf wieder auf je unterschiedliche Weise als “Modernisierung der Moderne”
ins Spiel gebracht wurde, nachdem man es vor 1989 wegen seiner Normativität und Linearität noch zurückgewiesen
hatte, – wieder aktuell.9
In der Politikwissenschaft ist das Phänomen des Wandels zunächst durch die in der
politischen Kulturforschung zentrale Kategorie des “Wertewandels” wieder populär geworden. Im Zuge der Transformationsforschung der 1990er Jahre wurden dann der Wandel
bzw. Wechsel von politischen Systemen und deren Institutionen untersucht. Implizit an
Comtes Dreistadiengesetz anschließend werden drei Demokratisierungswellen unterschieden:
(1) von der französischen und amerikanischen Revolution bis in die Zeit nach dem Ersten
Weltkrieg (unterbrochen durch die Ausbreitung autoritärer und faschistischer Regime); (2)
nach dem Zweiten Weltkrieg Demokratisierung in der Bundesrepublik, Italien und Österreich
sowie in Japan und in einigen südamerikanischen Staaten; (3) seit 1974 Demokratisierung
zunächst in Südeuropa, dann Lateinamerika, Ostasien und schließlich – seit 1989/90 – in Osteuropa. 10 Vier Theoriestränge der Systemwechselforschung können unterschieden werden:
Systemtheorie/Modernisierungstheorie; Strukturalismus; Kulturalistische Ansätze; Akteurstheorien. 11 Drei Phasen von Regimewandel bzw. Regimewechsel werden analytisch
voneinander abgegrenzt: Ende des autokratischen Regimes; Institutionalisierung der
Demokratie; Konsolidierung der Demokratie. Der Forschungsfokus ist in den letzten Jahren
auf die dritte Phase gerichtet worden, nämlich die Konsolidierung von Verfassungsinstitutionen, intermediären Organisationen wie Parteien und Verbände sowie der politischen
Kultur und Zivilgesellschaft. Dabei ist umstritten, anhand welcher Kriterien von einer
konsolidierten Demokratie gesprochen werden kann.12
7
8
9
10
11
12
Haupt, Heinz-Gerhard und Jürgen Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse
international vergleichender Geschichtsschreibung. Frankfurt/New York: Campus; Nolte, Paul et al. (Hg.),
Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. München: Beck; für die Rechtswissenschaft z.B. die laufende
Kollegs-Dissertation von Torben Asmus zur Rechtsentwicklung am Beispiel des Urheberrechts, ähnlich
Robertson, David: Europe’s law, in: Prospect, Heft 71 (Februar 2002), 28-33.
Für den Bereich der Public Policy und der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung: Hall, Peter 1993:
Policy Paradigms, Social Learning and the State: The Case of Economic Policy-making in Britain, in:
Comparative Politics 25 (3), 275-296; Pierson, Paul, 1996: The New Politics of the Welfare State, in: World
Politics 48 (2), 143-178; Levy, Jonah, 1999: Vice into Virtue? Progressive Politics and Welfare Reform, in:
Politics & Society 27 (2), 239-273; Bonoli, Giuliano, Vic George und Peter Taylor-Gooby, 2000: European
Welfare Futures. Cambridge: Polity Press.
Mit Fokus auf allgemeinere, auch theoretische Fragestellungen insbesondere der Politikwissenschaft und
Politischen Soziologie zum Institutionenwandel, vgl. Göhler, Gerhard (Hg.), 1996: Institutionenwandel.
Leviathan. Sonderheft 16. Opladen: Westdeutscher Verlag; Nedelmann, Birgitta (Hg.), 1995: Politische
Institutionen im Wandel. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 35. Opladen:
Westdeutscher Verlag.
Vgl. Schelkle, Waltraud, Wolf-Hagen Krauth, Martin Kohli und Georg Elwert (Hg.), Paradigms of Social
Change: Modernization, Development, Transformation, Evolution. Frankfurt a.M.: Campus; ferner die
Beiträge von Zapf, Berger u.a. in: Leviathan 24 (1), 1996. Kritisch z.B.: Therborn, Göran, 1992: European
Modernity and Beyond. The Trajectory of European Societies 1945-2000. London: Sage.
Vgl. Huntington, Samuel P., 1993: The Third Wave. Democratization in the late twentieth century. Norman:
University of Oklahoma Press; vgl. zuletzt: Rose, Richard, 2001: Democratization Backwards: The Problem
of Third-Wave Democracies, in: British Journal of Political Science 31 (2), 331-354.
Vgl. Merkel, Wolfgang (Hg.), 1994: Systemwechsel. (Bd. 1). Opladen: Leske+Budrich; Beyme, Klaus von,
1994: Systemwechsel in Osteuropa. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Vgl. Markel, Wolfgang et al. (Hg.), 2002: Defekte Demokratien. Opladen: Leske+Budrich [i.E.].
Ein reger Austausch besteht vor allem zwischen politikwissenschaftlichen und politisch-soziologischen,
akteurszentrierten, Ansätzen zum Wandel von Institutionen und dem Neuen Institutionalismus in den
Wirtschaftswissenschaften. 13 Die Neue Institutionenökonomik widmet sich nicht nur der Begründung
bestehender ökonomischer Institutionen bzw. des institutionellen Rahmens von Volkswirtschaften und deren
Effizienzwirkungen, sondern auch den Ursachen bzw. Hindernissen ihrer langfristigen Entwicklung. Sie liefert
Erklärungen dafür, weshalb sich hinsichtlich ihrer Effizienz- und Verteilungswirkungen gegenüber den
bestehenden institutionellen Regelungen als überlegen identifizierte Reformvorschläge im politischen Prozess
nicht durchsetzen können – ein Phänomen, das als Implementations–problem bezeichnet werden kann. 14 Die
Neue Institutionenökonomik verweist insbesondere auf das Problem der Pfadabhängigkeit als Begründung für
Beharrungstendenzen bestehender institutioneller Regelungen und Restriktionen politischer Reformen: 15 Die
Erträge institutioneller Strukturen nehmen mit der zeitlichen Dauer ihres Bestehens zu, da Individuen und
Unternehmen ihre Entscheidungen gezielt darauf ausrichten. Sie nehmen auf die gegebenen Institutionen
abgestimmte spezifische Investitionen vor, die Selbstverstärkungsmechanismen zur Aufrechterhaltung eines gegebenen institutionellen Gefüges wirken lassen. So genannte “Lock-In”-Effekte, deren Ausmaß im Zeitablauf
zunimmt, erhöhen dann die Kosten von Veränderungen existierender Institutionen. Ein Beispiel ist das System
der Rentenversicherung, bei dem grundlegende Reformen erhebliche individuelle und gesamtwirtschaftliche
Übergangskosten verursachen können.
Vor allem die Soziologie aber hat sich seit ihrer Gründungsphase intensiv mit sozialen Wandlungsprozessen
beschäftigt – und dementsprechend vielfältig bzw. verwirrend ist dann auch ihr Theorieangebot16. Dennoch läßt
sich diese Vielfalt ordnen: Unverkennbar ist, daß hochabstrakte Wandlungstheorien wie die an Parsons
angelehnte Modernisierungstheorie oder die Luhmannsche Evolutions- und Differenzierungstheorie entweder
vor immensen theoriebautechnischen Problemen stehen oder für die empirische Arbeit eben aufgrund ihrer
Abstraktheit relativ folgenlos bleiben müssen. 17 Deshalb haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten eher
Theorien des Wandels in den Vordergrund geschoben, die einen klaren Akteursbezug und ein echtes Interesse
für (kontingente) historische Ereignisse und Prozesse haben. Die Forschungsheuristik der anglo-amerikanischen
Historischen Soziologie 18, in der mit unterschiedlichen grundlagentheoretischen Modellen gearbeitet wird, so
daß hier Rational Choice-Theoretiker ebenso wie Symbolische Interaktionisten zu finden sind 19 , wäre hier
ebenso zu nennen wie beispielsweise der (an den Grenzen zur Politikwissenschaft angesiedelte) akteurzentrierte
Institutionalismus 20 oder die Arbeiten, die im Umkreis des Bourdieuschen “genetischen Strukturalismus”
entstanden sind 21. Freilich haben auch diese akteurnahen makrosoziologischen Wandlungstheorien mit altbekannten Schwierigkeiten zu kämpfen. So scheint das Verhältnis zwischen “Macht” und “Kultur” vielfach
ungeklärt zu sein: Nicht zufällig lassen sich viele der Analysen entweder dem ‘kulturalistisch-konstruktivistischen’ oder dem ‘objektivistischen’ Lager zuordnen.
(3) Forschungsdesiderate
Mit dem wenig erforschten Verhältnis von – allgemein gesagt – “Macht” und “Kultur” greifen wir ein wesentliches
Desiderat der Forschungen zum institutionellen Wandel auf. Während die Mehrheit der Studien zum Politikwandel
relativ mechanisch sozioökonomische (exogene) Herausforderungen mit Spielräumen, die institutionelle
13
14
15
16
17
18
19
20
21
Vgl. Reuter, Norbert, 1996: Der Institutionalismus. Geschichte und Theorie der evolutionären Ökonomie.
Marburg: Metropolis.
Vgl. Döring, Thomas, 2001: Institutionenökonomische Fundierung finanzwissenschaftlicher Politikberatung.
Marburg: Metropolis.
Vgl. North, Douglass C., 1990: Institutions, Institutional Change and Economic Performance. Cambridge:
Cambridge University Press.
Müller, Hans-Peter und Michael Schmid (Hg.), 1995: Sozialer Wandel. Modellbildung und theoretische
Ansätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Weymann, Ansgar, 1998: Sozialer Wandel. Theorien zur Dynamik der
modernen Gesellschaft. Weinheim u.a.: Juventa.
Knöbl, Wolfgang, 2001: Spielräume der Modernisierung. Weilerswist: Velbrück.
Vgl. exemplarisch Tilly, Charles, 1984: Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons. New York:
Russell Sage.
Vgl. Pierson, Paul und Theda Skocpol, 2000: Historical Institutionalism in Political Science, Paper prepared
for presentation at the American Political Science Association Meetings, Washington D.C., August 30th –
September 2nd, 2000.
Scharpf, Fritz W., 2000: Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung.
Opladen: Leske+Budrich.
Boltanski, Luc, 1990: Die Führungskräfte. Die Entstehung einer sozialen Gruppe. Frankfurt/New York:
Campus; Bourdieu, Pierre, 2001: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes.
Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Konfigurationen für politische und gesellschaftliche Anpassungsprozesse bieten, verknüpft – womit der Wandel fast
zwangsläufig “pfadabhängig” erscheinen muß 22 –, suchen wir nach “überraschungsoffeneren” Ansätzen: nach
solchen, die sich für die soziale Konstruktion der unterstellten Reformbedarfe wie auch der anvisierten
Problemlösungen durch die im Reformprozeß involvierten Akteure und für deren handlungsleitende Ideen sowie für
das dialektische Verhältnis von “Stabilität” und “Wandel” interessieren. Wie sonst ließe sich erklären, daß es
manchmal zum “Wandel ohne Herausforderung” (“change without challenge”) 23 kommt – oder daß es die
gewandelte, “neue Sozialdemokratie”, jener Inbegriff besitzstandswahrender und -erweiternder “linker
Machtressource” gewesen ist, der beachtliche Politikwechsel gelangen?24 Auch scheinbar “erstarrte” institutionelle
Settings können sich wider Erwarten bewegen, und dies in kaum vorhergesehene Richtungen mit ebenso wenig
geahnten Folgen.25 Schließlich mögen die vermeintlichen Schwächen einer institutionellen Konfiguration durchaus
auch Ressourcen – “Tugenden” – darstellen, die im Prozeß des Politikwandels als komparativer Vorteil genutzt
werden können.26
Da der von uns unterstellte Wandel neu bzw. erst in Gang gesetzt ist27, soll sich ein Teil der Forschungs- und
Lehrtätigkeit ferner in einem weiteren Schritt darauf konzentrieren, auf der Grundlage vorhandener Konzepte einen
Set von Indikatoren zu erarbeiten, die geeignet sind, die möglichen inklusions- bzw. exklusionsrelevanten Ergebnisse
des institutionellen Wandels zu erfassen28.
2.2.2 Interdisziplinäre Forschungsschwerpunkte und forschungsleitende Konzepte
Im folgenden werden die Schwerpunkte der Forschung vorgestellt, die die zukünftige
Kollegsarbeit thematisch und disziplinär integrieren. Wir beginnen mit einer knappen
Darstellung der Herausforderungen an das Europäische Sozialmodell. Vor dieser Darstellung
scheint jedoch eine Einschränkung angebracht, die zugleich einen möglichen Arbeitsschwerpunkt umschreibt.
(1) Zur sozialen Konstruiertheit von Problemen
Institutionen verändern sich (endogen), sonst könnten sie gar nicht überdauern, und sie werden
gezielt verändert, ohne daß besondere (exogene) Herausforderungen erkennbar sind (vgl. oben).
Soziale Probleme sind “sozial konstruiert”. Selbst wenn sie objektiv meßbar sind, müssen sie erst
als solche wahrgenommen werden.29 Zwar soll die Existenz von exogenen und endogenen Prob22
23
24
25
26
27
28
29
Paradigmatisch für den Bereich der Public Policies vgl. die jüngeren Arbeiten von Esping-Andersen und
Pierson (siehe Fn. 3). Die Fixierung auf das Stabilitätsphänomen gilt selbst noch für prinzipiell am Problem
des Wandels interessierte historische Institutionalisten; vgl. z.B. Thelen, Kathleen und Sven Steinmo, 1992:
Historical institutionalism in comparative politics, in: Steinmo, Sven, Kathleen Thelen und Frank Longstreth
(Hg.), Structuring politics. Historical Institutionalism in Comparative Analysis. Cambridge: Cambridge
University Press, 1-32.
Goul Andersen, Jørgen, 2000: Change without Challenge? Welfare states, the construction of challenge and
dynamics of path dependency. CCWS Working Paper 14, Aalborg.
Ross, Fiona, 2000: Interests and Choice in the ‚Not Quite so New’ Politics of Welfare, in: Ferrera, Maurizio
und Martin Rhodes (Hg.), Recasting European Welfare States. London: Frank Cass, 11-34.
Vgl. z.B. Palier, Bruno, 2000: ‚Defrosting’ the French Welfare State, in: Ferrera, Maurizio und Martin
Rhodes (Hg.), Recasting European Welfare States. London: Frank Cass, 113-136; Lessenich, Stephan, 1996:
Umbau, Abbau, Neubau? Der deutsche Sozialstaat im Wandel. Eine Provokation, in: Leviathan 24 (2),
208-221.
Levy, Jonah, 1999: Vice into Virtue? Progressive Politics and Welfare Reform in Continental Europe, in:
Politics and Society 27 (2), 239-273. Vgl. auch Leibfried, Stephan und Elmar Rieger, 2001: Grundlagen der
Globalisierung. Perspektiven des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Vgl. z.B. für den wohlfahrtsstaatlichen Umbau seit Mitte der 1990er Jahre: Alber, Jens, 2002:
Modernisierung als Peripetie des Sozialstaats? in: Berliner Journa für Soziologie 12 (1), 5-35.
Hier kann das Graduiertenkolleg an laufende Projekte der Antragsteller Martin Baethge (“Sozioökonomische
Leistungsfähigkeit”), Steffen Kühnel und Ilona Ostner (“Social Quality Indicators”) anknüpfen, die
wiederum auf einer breiten EU-europäischen Debatte und Forschung aufbauen, vgl. z.B. aktuell: Atkinson,
Tony, Bea Cantillon, Eric Marlier und Brian Nolan, 2002: Social Indicators. The EU and Social Inclusion.
Oxford: Oxford University Press; Burchardt, Tania, Julian Le Grand und David Piachaud, 1999: Social
Exclusion in Britain 1991-1995, in: Social Policy & Adminstration 33 (3), 227-244; ferner die bereits erwähnte
Arbeit von Martin Kronauer zur “Exklusion” (siehe Fn. 2).
So reichten im 19. Jahrhundert massenhafte Verelendung und Wanderungen keineswegs aus, um soziale
lemen nicht abgestritten werden. Manche sind neu hinzugekommen, auch mögen sich alte verschärft haben. Die öffentlichkeitswirksamen Debatten zu aktuellen Herausforderungen, die
häufig von mit Politikberatung befaßten Sozialwissenschaftler(inn)en30 vorgetragen werden –
wir greifen im folgenden eine aktuelle Kritik von Renate Mayntz (2001) auf und paraphrasieren
sie für unseren Zusammenhang – unterstellen jedoch meist vor jeder empirischen Prüfung, daß
das Problem des unter Druck geratenen Wohlfahrtsstaates, Sozialmodells usw. tatsächlich
existiert und nur seiner Lösung harrt. Mayntz spricht hier von einem “Problemlösungsbias” der
Steuerungstheorie – und wir würden hinzufügen: der Politikberatung. Zwar ist politisches
Handeln – sei es der regierenden Parteien oder der Gewerkschaften – grundsätzlich
problemlösungsorientiert; unterstellt wird jedoch stets ein i.w.S. gesellschaftliches Problem, das
politisch zu lösen sei. Dabei wird im übrigen von der Fiktion ausgegangen, daß diese
Problemlösung in erster Linie, wenn nicht sogar ausschließlich, “gemeinwohlorientiert” sei. Hier
handelt es sich häufig um einen “krypto-normativen” Bias.31
Aktuelle Debatten über exogene und endogene Herausforderungen fragen folglich zu wenig,
inwieweit das vom politisch Handelnden Angestrebte tatsächlich einem vorgestellten
Gemeinwohl dienen soll und – vorausgesetzt, dieses ließe sich ohne weiteres identifizieren, –
auch dienen wird und nicht vielmehr einer für den politischen Selbsterhalt relevanten oder
anderweitig mächtigen Gruppe (ein typisches Beispiel stellt hier die Forschungsförderung dar).
Damit, so Mayntz, hängt die Ausblendung einer zweiten Frage zusammen: Ginge es tatsächlich
und vorrangig um die Lösung eines gesellschaftlichen Problems, müßte die Qualität der
zugrundeliegenden Problemdiagnose und die Paßgenauigkeit der Lösung ein wichtiges Thema
sein. Stattdessen werden Probleme mit hohem “Appeal” ins Spiel gebracht – sei es nun der
“Bildungsnotstand” oder die “Globalisierung” –, von deren “generell akzeptierter Problemhaftigkeit” man schlicht meint ausgehen zu können, die man also kaum erforscht unterstellt.
Diese kritischen Einwände sind im folgenden zu bedenken, wenn es um Problemdiagnosen und
Leitlinien der Problemlösung sowie um deren Protagonisten gehen wird. Sie stellen, wie oben
erwähnt und noch weiter ausgeführt wird, ein wichtiges Desiderat unserer Forschung dar.
(2) Herausforderungen an das Europäische Sozialmodell (alle Disziplinen)
Die in den Debatten benannten Herausforderungen an das Europäische Sozialmodell sind
bekannt und haben sich seit dem Erstantrag kaum verändert. Meist werden sie aus der
Perspektive eines veränderten politökonomischen Bezugsrahmens für das wirtschaftliche und
politische Handeln von Individuen und Gruppen heraus thematisiert. Genannt werden
technologische Innovationen, die den Produktionstyp der flexiblen Spezialisierung
hervorbrachten; neue Wettbewerber am Markt, wie die NICs (“newly industrialized countries”)
vor allem Südostasiens; in der Folge der Wettbewerb unterschiedlich institutionell eingebetteter
Kapitalismen; schließlich die Internationalisierung des Kapitalverkehrs. Diese Faktoren wirken
30
31
Reformen anzuschieben. Nach Heinz Lampert mußten zur Dringlichkeit der Problemlösung, noch die
“Problemlösungsbereitschaft” (Ideen und ihre Träger) und die “Problemlösungsfähigkeit” hinzukommen.
Lampert, Heinz, 1991: Lehrbuch der Sozialpolitik. Berlin: Springer, 147-162.
Zur teilweisen Transformation der Soziologie in Politikberatung, vgl. Kern, Horst, 2001: Die Wiederkehr der
Soziologie, in: Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Hg.), Wissenschaften 2001. Diagnosen und
Prognosen. Göttingen: Wallstein, 117-134.
Vgl. Mayntz, Renate, 2001: Zur Selektivität der steuerungstheoretischen Perspektive. MPIfG-Working Paper
01/2, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln. – Schon Georg Simmel (Soziologie. Berlin:
Duncker&Humblot, 1908) hat daran erinnert, daß der (damals kaum entwickelte Wohlfahrts-) Staat den
steuerzahlenden (durch Steuerzahlung potentiell geschädigten) Bürgern, seinen Wählern, mindestens ebenso
verpflichtet sei wie einem diffusen Allgemeinwohl, das an Überzeugungskraft um so mehr abnimmt, wie
Gesellschaften aufhören, organische Einheiten zu bilden.
sich “nach innen”, auf nationale oder – nimmt man größere Einheiten – EU-europäische
Traditionen z.B. der Ausgestaltung von Beschäftigung und Entlohnung, der Absicherung von
sozialen Risiken aller Art oder der Form der Interessenrepräsentation und -vermittlung,
überhaupt des Politikgeschäftes usw. aus. Dabei kämpfen die meisten westlichen Länder bereits
mit anderen Problemen, wie einer wachsenden Zahl älterer, nicht erwerbstätiger Menschen, die
Einkommen und Dienste brauchen; einem stagnierenden und/oder niedrigen Wachstum; oder der
Zuwanderung von Individuen und Gruppen, die erst in einem längerdauernden Prozeß in die
Aufnahmegesellschaft integriert werden können. Sie werden auch mit den Folgen erfolgreicher
Institutionalisierung von Problemlösungen konfrontiert, z.B. den gestiegenen Erwartungen der
Bürger an Wohlstand und soziale Sicherheit, sowie mit Besitzstandswahrungsinteressen aller
Art.
Neu sind nicht solche internationalen und nationalen Herausforderungen, neu ist vielmehr die wachsende Einsicht,
daß zwischen den veränderten politökonomischen Rahmenbedingungen und den politischen
Handlungsmöglichkeiten komplizierte Interdependenzen bestehen,32 die sich nicht – zumindest nicht ohne adverse
Folgen – nach einer Seite hin auflösen lassen. Diese Interdependenzen treten besonders deutlich in den Dilemmata
hervor, in denen z.B. die klassischen Verfechter des Europäischen Sozialmodells – die Gewerkschaften, die
Sozialdemokratie, teilweise auch die Christdemokratie – gefangen sind und denen sie um ihrer Zukunft willen
entkommen müssen. Typische Dilemmata, die aus der angesprochenen Interdependenz resultieren, wären etwa die
notwendige Hinwendung zu marktbefreienden, deregulierenden Politiken unter Inkaufnahme einer längerfristig
abschreckenden Wirkung auf das traditionelle Wählerpotential; oder – wiederum rückgekoppelt – der allbekannte
Versuch, die schwindende Repräsentanz dann dadurch wettzumachen, daß man nach dem Medianwähler schielt oder
allgemeiner: nach der Mitte strebt und diese zu verbreitern sucht, dabei aber riskiert, daß die ursprüngliche
Anhängerschaft sich entweder entpolitisiert oder radikalisiert.33 Man kann solche Interdependenzen auch für andere
gesellschaftliche Teilbereiche, z.B. für das Zusammenspiel von Beschäftigungspolitik, Familie und Geschlechterverhältnisse, feststellen und die damit verbundenen Dilemmata für das politische und individuelle Handeln
durchspielen.
In einer engeren soziologischen Perspektive soll der institutionelle Wandel auf die “Individualisierung (in) der
Gesellschaft” reagieren. Diese soll sich in einer “gestörten Reziprozität”, einem Mißverhältnis von Nehmen und
Geben, äußern. Die institutionellen Neujustierungen wiederum sollen berücksichtigen, daß “individualisierte”
Gesellschaften “divers”, Ungleichheiten entgrenzt und zugleich dynamischer geworden sind, was wiederum im
Umkehrschluß Maßnahmen erfordere, die unmittelbar am Individuum, nicht mehr an seiner (ohnehin kaum mehr
fixierbaren) sozialen Lage ansetzen. 34 Sind Probleme individualisiert und individualisierbar, und nimmt zugleich
dadurch – aber auch exogen, z.B. durch Migration, – die Heterogenität der europäischen Gesellschaften zu, dann
schwindet auch die Basis für universalistisch ausgerichtete Institutionen und umverteilungsorientierte
Politiken. 35 Im klassischen Spannungsfeld zwischen der gesellschaftlichen Verantwortung für individuelles
Wohlergehen einerseits und individueller Eigenverantwortung im Interesse der Allgemeinheit andererseits
werden dementsprechend verstärkt gemeinnützige Beiträge des Einzelnen politisch eingeklagt. Dabei ist es
durchaus bemerkenswert, wie intensiv gerade auf Seiten der europäischen Sozialdemokratie über “das”
32
33
34
35
Hall, Peter, 1999: The Political Economy of Europe in an Era of Interdependence, in: Kitschelt, Herbert,
Peter Lange, Gary Marks und John D. Stephens (Hg.), Continuity and Change in Contemporary Capitalism.
Cambridge: Cambridge University Press, 135-163.
Kitschelt, Herbert, 1999: European Social Democracy between Political Economy and Electoral Competition,
in: Kitschelt, Herbert, Peter Lange, Gary Marks und John D. Stephens (Hg.), Continuity and Change in
Contemporary Capitalism. Cambridge: Cambridge University Press, 317-345.
Vgl. für viele andere: Rosanvallon, Pierre, 2000: The New Social Question. Rethinking the Welfare State.
Princeton: Princeton University Press, insb. 100-106.
Zu den kontingenten Voraussetzungen universalistischer Institutionen, vgl. Rothstein, Bo, 1998: Just
Institutions Matter: The Moral and Political Logic of the Universal Welfare State. Cambridge: Cambridge
University Press. Rosanvallon, aber auch Jens Alber zufolge stellt die “Entbindung des Staates von der
Verpflichtung auf das Gleichheitsziel und seine Beschränkung auf das Ziel der Sicherung gleicher Chancen
[...] möglicherweise eine angemessene Reaktion auf die Heterogenisierung der europäischen Gesellschaften
dar, die sich als Einwanderungsgesellschaften nun auf unterschiedliche Grade der Leistungsmotivation und
Eigenverantwortung in verschiedenen Bevölkerungskreisen einstellen müssen”, vgl. Alber, Jens, 2002:
Allmählicher Umbau bei nach wie vor deutlichen nationalen Unterschieden, in: ISI (Informationsdienst
Soziale Indikatoren) 28 (Juli), 1-6.
Gemeinwohl im Singular gesprochen wird (vgl. oben). 36 Als gemeinwohlgefährdend gelten ihr zunehmend die
traditionellen
Formen
wohlfahrtsstaatlich
ermöglichter
Nicht-Erwerbstätigkeit
erwerbsfähiger
Bevölkerungsteile. 37 Die gemeinwohlinduzierte Delegitimierung wesentlicher Teile öffentlicher
Daseinsvorsorge erscheint so als paradoxe Konsequenz gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse im
Europäischen Sozialmodell.
Forschungsbedarfe bestehen in diesem Zusammenhang im Hinblick auf folgende Fragen:
-
-
Welche Vorstellungen von gesellschaftlicher Zugehörigkeit, von gesellschaftlicher Verantwortung
gegenüber den Individuen und gesellschaftlichen Pflichten der Individuen liegen – implizit und/oder explizit
– den unterschiedlichen institutionellen, wohlfahrtsstaatlichen Arrangements in den verschiedenen europäischen Ländern zugrunde? Gibt es genügend Übereinstimmungen, um in dieser Hinsicht von einem
europäischen Sozialmodell zu sprechen? Welche Veränderungen zeichnen sich ab, gehen sie in den
verschiedenen Ländern in die gleiche Richtung oder weichen sie voneinander ab?
Inwieweit ist die Balance zwischen Selbsthilfe und sozialer Sicherheit heute prekärer als früher geworden
oder gar verloren gegangen?
Inwieweit verringern oder entmutigen der soziale Wandel und soziale (z.B. wohlfahrtsstaatliche)
Institutionen Gruppenbeiträge, inwieweit fördern sie tatsächlich die strategische Nutzung?
Welche Neujustierungen der Logik sozialer Sicherung würde eine neue Balance von Nehmen und Geben
herstellen können?
Worin bestehen die Kosten solch einer Neujustierung je nach Sicherungssystem – für welche Gruppen bzw.
für die Gesellschaft insgesamt? Wie würde solch eine Neujustierung das Sicherungssystem und soziale
Ungleichheiten in den europäischen Wohlfahrtsstaaten verändern – mit welchen Folgen für die Idee des
Sozialen verändern?
Die skizzierten Herausforderungen interessieren im Kontext der zukünftigen Kollegsarbeit insbesondere unter dem
doppelten Gesichtspunkt der institutionellen Reaktionsweisen auf dieselben einerseits und ihrer Folgen für die
gesellschaftliche Inklusionskraft des Sozialmodells andererseits. Diese beiden Aspekte seien im folgenden näher
erläutert.
(3) Zum Verhältnis von Ideen und Interessen beim Umbau von Institutionen
(Knöbl, Lessenich, Lösche, Ostner, Weisbrod)
In der nächsten Forschungsphase soll die Chance genutzt werden, mit empirischen Arbeiten Klarheit in die
angesprochene Frage nach dem Zusammenspiel von “Macht” und “Kultur” zu bringen – und zwar durch eine
Zuspitzung auf die klassisch-soziologische, am prägnantesten von Max Weber formulierte Frage nach dem
Verhältnis von Ideen und Interessen38:
-
Wer (und hier ist vor allem an politische und intellektuelle Eliten zu denken) setzt bestimmte Ideen auf die
Tagesordnung und wer setzt sie – möglicherweise mit einem ganz anderen Verständnis oder eben mit ganz
anderen Interessen – praktisch um?
- Zu welchen Veränderungsprozessen kommt es dabei, wenn man davon ausgeht, daß das intellektuelle Feld
möglicherweise einer anderen Logik folgt als dasjenige der Politik?
- Welche Bezugsgesellschaften (R. Bendix) werden zu je unterschiedlichen historischen Zeiten von
intellektuellen und politischen Eliten gewählt, um Transformationsprozesse in der eigenen Gesellschaft
voranzutreiben bzw. zu legitimieren?
- Wie funktioniert der Ideentransfer von einer Gesellschaft in die andere, und wie werden Ideen in diesem
Prozeß umformuliert, also etwa dem jeweiligen nationalen Kontext angepaßt etc.?
Die übergreifende Frage nach der “Zukunft des Europäischen Sozialmodells” bietet sich für eine
Konkretisierung der hier eher abstrakt formulierte Problematik des Zusammenhangs zwischen Ideen und
Interessen an, weil sich aus ihr eine Reihe von exemplarischen Forschungsarbeiten geradezu ableiten lassen:
36
37
38
Vgl. Offe, Claus, 2001: Wessen Wohl ist das Gemeinwohl?, in: Lutz Wingert und Klaus Günther (Hg.): Die
Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. (FS Habermas). Frankfurt a.M.: Suhrkamp,
459-488.
In diesem Sinne prominent, vgl. Streeck, Wolfgang, 2000: Competitive Solidarity: Rethinking the “European
Social Model”, in: Hinrichs, Karl, Herbert Kitschelt und Helmut Wiesenthal (Hg.): Kontingenz und Krise.
Institutionenpolitik in kapitalistischen und postsozialistischen Gesellschaften. Frankfurt/New York: Campus,
245-261. Kritisch dazu, vgl. Dahrendorf, Ralf, 2000: Die globale Klasse und die neue Ungleichheit, in:
Merkur 54, Heft 619, 1057-1068.
Vgl. dazu auch Lepsius, Rainer M., 1990: Interessen und Ideen. Die Zurechnungsproblematik bei Max
Weber, in: M. Rainer Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen. Opladen: Westdeutscher Verlag, 31-43.
-
-
-
-
Es ist ganz offensichtlich so, daß die Rede vom “Europäischen Sozialmodell” vor einem bestimmten Bild
des amerikanischen Wohlfahrtsstaates und seiner Entwicklung entstanden ist. Wie wurde und wird von der
Medienöffentlichkeit im allgemeinen und von bestimmten “public intellectuals” im besonderen der
amerikanische “semi-welfare-state” wahrgenommen, und welche Reaktionsbildungen erfolg(t)en darauf?
Dies scheint gerade vor dem Hintergrund der derzeitigen Schröderschen Rede vom “deutschen Weg” wieder
aktuell zu sein, zumal auch historisch-soziologische Untersuchungen jüngst wiederum demonstriert haben,
wie verzerrt oft das Amerikabild deutscher Intellektueller war und ist.39
Transformationen nicht nur des Wohlfahrtsstaates waren immer auch von bestimmten Semantiken 40
begleitet, wobei vermutlich die Semantik des Begriffes “Modernisierung” mit derjenigen des “Sozial- oder
Wohlfahrtsstaates” eng gekoppelt war. Wie veränderte sich die Semantik einer Modernisierung des
Wohlfahrtsstaates im Laufe der Zeit (wobei hier Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen
Gesellschaften zu berücksichtigen wären), und lassen sich bestimmte historische Punkte festmachen, an
denen ein Umschlag der Semantik erfolgte? Gerade auch durch eine Untersuchung dieser Semantiken ließe
sich Aufschluß darüber erhalten, wie einheitlich “Europa” im Hinblick auf seine sozialstaatliche
Programmatik war und ist, ob sich eine allmähliche Konvergenz der Wohlfahrtsstaatssemantiken ergeben
hat oder nicht etc.
Welche (unterschiedliche) Rolle spielen politikberatende Instanzen und Institutionen in den jeweiligen
europäischen Nationen für die Formulierung von (sozial)politischen Strategien? Haben diese Institutionen
überhaupt einen nennenswerten differenzierenden Einfluß vor dem Hintergrund der Tatsache, daß große
Teile der intellektuellen Eliten ihre Ausbildung an amerikanischen Universitäten erfahren haben und noch
erfahren?
Im Sinne einer Anthropologie der Bürokratie ließe sich etwa untersuchen, ob überhaupt und wie schnell
politische Programme (Gesetze, Verordnungen) angesichts der Eigenlogik bürokratischen Handelns bzw.
des Verhaltensspielraums der Bürokraten durchgesetzt werden können. Wie ist das Verhältnis zwischen
legislatorischem Aktivismus und bürokratischer Beharrungskraft zu denken? – eine gerade für eine Theorie
sozialen Wandels entscheidende Frage.
(4) Norm und Normwandel zwischen Konsens und Kontrolle
(Lessenich, Ostner, Otto, Rosenbaum)
Der vierte thematische Schwerpunkt knüpft an Überlegungen des vorherigen unmittelbar an, indem er zunächst
ebenfalls fragt, wer zuerst Ideen ins Spiel bringt, um einen Wandel von handlungsleitenden Normen in Gang zu
setzen. Die Sozialwissenschaften nennen bekanntlich Erwartungen, die das zwischenmenschliche Handeln in einer
Gesellschaft leiten, “Normen”. Diese definieren mit dem richtigen auch das wünschenswerte, “wertvolle” Handeln in
einer Gesellschaft. Insofern orientieren und regulieren – das heißt auch: sanktionieren – Normen das Handeln, stellen
damit Erwartungssicherheit her und integrieren die Gesellschaft im Hinblick auf gemeinsame Vorstellungen des für
sie Richtigen und Guten. Gesellschaftliche Normen, also z.B. die Erwartungen der Gesellschaft gegenüber
Arbeitslosen oder gegenüber Familien, was die Sorge für ihre Mitglieder, insbesondere die Sorge für Kinder angeht,
werden den Familienmitgliedern nicht einfach “von außen” oder “von oben” – von Machteliten z.B. – aufoktroyiert.
Vielmehr spiegeln Institutionen und die in ihnen verfestigten Normen – also auch die Familie und Familiennormen –
zugleich die wechselseitigen Erwartungen der in ihnen handelnden Bürger bzw. Bürgerinnen wider. Schließlich
können sich Normen und die in ihnen enthaltenden Vorstellungen vom Guten auch ändern. Soweit sie in
Institutionen quasi “eingebaut” sind, verlangt diese Änderung einen Umbau der Institution selbst. Gesellschaftliche
Gruppen können zu der Überzeugung gelangen, daß bestimmte Normen die Lösung relevanter Probleme behindern.
Sie können versuchen, eine Normänderung “von oben” zu initiieren. Die Änderung muß aber, will sie längerfristig
erfolgreich sein, an Orientierungen der Mitglieder der Gesellschaft im Allgemeinen, einer Institution im Besonderen
anknüpfen.
Normen sind, damit ihnen entsprochen wird, auf Konsens angewiesen. Die Präferenzen der Mitglieder müssen sich
in einer Gesellschaft ausdrücken können. Eine Mobilisierung des Konsenses, der Übereinstimmung mit
gesellschaftlichen Erwartungen, “von oben” kann die Mobilisierung “von unten” nicht wirksam ersetzen. Jede
Manipulation der Konsensbildung führt dazu, daß die Übereinstimmung mit den Normen nur oberflächlich, daher
kurzlebig ist und längerfristig unwirksam wird. 41 Die zur Lohnarbeit verpflichteten Arbeitslosen oder
39
40
41
Vgl. etwa Kamphausen, Georg, 2002: Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890.
Weilerswist 2002: Velbrück.
Vgl. Lessenich, Stephan (Hg.), 2003: Wohlfahrtsstaatliche Semantiken. Frankfurt/New York: Campus [in
Vorbereitung].
Vgl. Etzioni, Amitai, 1979: Elemente einer Makrosoziologie, in: Wolfgang Zapf (Hg.), Theorien sozialen
Wandels. Königstein: Athenäum, 147-176. Das Zusammenspiel von Konsens und Kontrolle (bei fehlendem
Sozialhilfeempfänger würden sich möglicherweise irgendwie um die erwartete Leistung drücken, “bummeln”, – die
Familienmitglieder sich wahrscheinlich der von oben verordneten Unterstützungsnorm auf Dauer schlicht entziehen
oder sie eigensinnig wenden. Menschen können ihre wechselseitigen Erwartungen und die sie tragenden Ideen auch
unabhängig von und gegen Institutionen ändern. Man kann die Veränderung aber nicht einfach “von oben”
verordnen, z.B. (west)deutschen Müttern z.B. durch Leitbild-Diskurse nahelegen, sich wie schwedische zu verhalten
und die Kinder wie diese vom Kleinstkindalter an der öffentlichen Betreuung zu überantworten. Die Änderung muß
“von unten” nach “oben” getragen werden, soll sie stabil sein und sich gesellschaftlich durchsetzen.
Ein Schwerpunkt der Kollegsarbeit soll sich noch stärker als bisher42 auf die Frage des Wandels von Leitbildern in
verschiedenen Politikfeldern konzentrieren. Bildungs-, Beschäftigungs- oder Familienpolitik bieten sich für diese
Untersuchung angesichts der aktuellen, vieldiskutierten Herausforderungen besonders an.
-
-
-
So könnte man herausarbeiten, welche Gruppen welche Diskurse mit Blick auf welche Zielgruppen initiieren;
auf welche wahrgenommene Problemanalyse sich diese Diskurse stützen und – falls es sich um Elitendiskurse
handelt – welche Probleme umgekehrt von den Adressaten der Diskurse artikuliert werden. Zu fragen wäre
auch, welche Anleihen bei welchen Vorbildern (Leitbildern anderer Länder) genommen werden. Schließlich
wären in diesem Zusammenhang Möglichkeiten und Grenzen insbesondere des verordneten “Lernens von
Anderen” zu untersuchen (Frage nach dem “institutional fit”, der Kompatibilität von Ideen und Institutionen).43
Normen regeln in der Familie, wer (Frau oder Mann, Mutter oder Vater) welche Aufgaben wann (im Laufe
eines Tages, einer Woche, einer Lebensphase) in welcher Form (unbezahlt oder bezahlt; marktvermittelt oder
durch Eigenarbeit) in der Familie und für die Familie übernehmen, ferner wie sich die Gesellschaft zu Familien
verhalten soll: Soll sie Familien sich selbst überlassen? Soll sie ihr Leistungen abnehmen und in eine öffentliche
Aufgabe verwandeln? Oder soll sie Familien helfen, selbst die Leistungen zu erbringen, die für ihr Wohlergehen
wichtig sind? Ähnliche Fragen ließen sich im Hinblick auf Arbeitsmarkt und Beschäftigung formulieren. Es gibt
nur wenige Untersuchungen, die unterschiedliche Präferenzen der unmittelbar Betroffenen (Frauen und Männer
in Familie und Arbeitsmarkt) erheben und erklären.44
Die modernen Gesellschaften der Gegenwart unterscheiden sich in ihren Antworten auf die oben gestellten
Fragen. Entsprechend verschieden sind bspw. ihre Familienpolitiken. Manche Länder haben bestenfalls eine
“implizite” Familienpolitik: Maßnahmen für Familien sind dann “verpackt” in Leistungen für bestimmte
Gruppen (z.B. Kinder, Alleinerziehende), die familiale Teilkategorien darstellen. Andere betreiben
Familienpolitik als Beschäftigungspolitik: indem sie Familien von bestimmten Leistungen (für Kinder oder
ältere Familienangehörige) und damit für den Arbeitsmarkt freistellen, um so für eine hohe Beschäftigung
aller Erwerbsfähigen – Frauen wie Männer – zu sorgen. Die meisten Länder kombinieren unterschiedliche
Erwartungen an und Hilfen für Familien. Familie und Arbeitsmarkt haben daher je nach Land
unterschiedliche institutionelle Schnittstellen. Diese Schnittstellen entscheiden wiederum über das Ausmaß,
in dem erwerbsfähige Familienmitglieder für die Beschäftigung mobilisiert werden können. Eine
institutionelle Neujustierung des Zusammenspiels von Familie und Arbeitsmarkt ist auf den Konsens der
unmittelbar Betroffenen angewiesen. Wir wissen zu wenig darüber, wie der Konsens über das
Zusammenspiel von Familie und Beschäftigung in verschiedenen Ländern der EU hergestellt wurde und
wird.
(5) Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung – Bestimmungsfaktoren institutionellen Wandels
Kern, Knöbl, Kucera, Lessenich, Weisbrod)
(Baethge,
Der Historische Institutionalismus fragt nach den politischen Bedingungen und Umständen institutioneller
Gründungsakte (formative choices) und versucht die Zeitpunkte, an denen Institutionen neu orientiert werden, sowie
42
43
44
oder schwachem Konsens) bildet die Grundlage von Etzionis Buch “Die aktive Gesellschaft”; vgl. Etzioni,
Amitai, 1968: The Active Society: A Theory of Societal and Political Processes. New York: Free Press. Zur
Frage der “Ordnung des Konsenses” vgl. auch das laufende Dissertationsprojekt von Silke van Dyk.
So untersuchte Diana Auth in ihrer im Rahmen des Kollegs verfaßten Arbeit “Wandel im Schneckentempo.
Arbeitszeitpolitik und Geschlechtergleichheit im deutschen Wohlfahrtsstaat” (Opladen: Leske+Budrich 2002)
das Zusammenspiel von sich verändernden Arbeitszeit- und “Geschlechter”normen auf den Feldern der
Alterssicherungs- und Kinderbetreuungspolitik.
Vgl. dazu aus dem Kollegskontext Trampusch, Christine, 2000: Grenzen der Diffusion. Die formative Phase
der Arbeitsmarktpolitik in den Niederlanden, in: Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (Hg.),
Sozialmodell Europa. Konturen eines Phänomens. Jahrbuch für Europa- und Nordamerika-Studien 4,
Opladen: Leske+Budrich, 153-177.
Vgl. mit Blick auf Präferenzen in der Kinderbetreuung: Sims-Schouten, Wendy, 2000: Child Care Services and
parents’ attitudes in England, Finland and Greece, in: Pfenning, Astrid und Thomas Bahle (Hg.), Families and
family policies in Europe. Comparative Perspectives. Frankfurt a. M.: Lang, 270-288.
jenes Erbe (“legacy of the past”, policy feedback) zu identifizieren, das den Handlungspielraum bzw. die Optionen
definiert, die den Akteuren für Veränderungen offenstehen. 45 Damit richtet der Ansatz den Blick zuerst auf
Kontinuitäten und Stabilität – oft zulasten der Identifizierung des Neuen im vermeintlich Alten. So können
Institutionen bereits in der sogenannten “formativen Phase” ambivalent angelegt sein; diese Ambivalenzen können
wiederum beides – das Überleben der Institution über kritische historische Ereignisse hinweg und deren “Umkippen
in eine Richtung” und damit den Wechsel der Logik, den “Pfadwechsel”, – bewirken, 46 ohne daß dadurch die
Institution selbst verschwunden wäre.47
So versteckte z.B. die deutsche Sozialversicherung mit ihren verschiedenen Zweigen (Säulen) auch verschiedene
Prinzipien (Versicherung, Versorgung, Fürsorge) unter einem Dach. Das machte sie anpassungsfähig, ermöglichte
zugleich kontinuierliche Neujustierungen, auch Neukombinationen, dieser Prinzipien in den einzelnen Zweigen.
Einfach gewendet: Wo “Sozialversicherung” draufsteht, ist unter Umständen nurmehr wenig “soziale” (solidarische)
Versicherung drin.48 Es ist anzunehmen, daß Institutionen auch in anderen Ländern der Europäischen Union nicht
einsinnig, sondern mehrdeutig angelegt waren und sind; daß daher möglicherweise auch mehr Konvergenz im
Wandel von Institutionen erwartet werden kann als der Schein nationaler institutioneller Eigensinnigkeit ahnen laßt.
Die Entwicklung der Familienpolitik bzw. die Schnittstelle zwischen Familie und Arbeitsmarkt wiederum ist in
hohem Maße von Veränderungen der gesellschaftlichen Erwartungen an Familien, die im Lauf des 20. Jahrhunderts
als langsamer Aufstieg, dann als recht zügige Erosion der Ernährernorm und der Ernährerfamilie beschrieben
werden können,49 bestimmt gewesen. Wie aktuelle Untersuchungen zeigen, führt die Schwächung dieser Norm
keineswegs zu deren Verschwinden.50 Man kann die Persistenz der Norm auf den ersten Blick in Kategorien der
“Pfadabhängigkeit” interpretieren. Tatsächlich bietet die “Ernährernorm” ein gutes Beispiel dafür, wie durch
eine Entinstitutionalisierung einer Norm, also durch deren Schwächung 51, diese so flexibilisiert wird, daß an
neue Herausforderungen angepaßte Haushaltensformen entstehen, in denen der Mann zwar nicht mehr Allein-,
aber doch maßgeblicher Ernährer/Verdiener bleibt. Ähnlich ließe sich für die Ehe argumentieren, die durch
Entinstitutionalisierung zwar – durchaus zeitgemäß – mehr zur individuellen Disposition gestellt wurde, dadurch
aber offen für Sinngebungen wurde, die jene Individualisierungstendenzen konterkarieren: Liebe und Dauer.
Häufig unterstellt Politik allerdings einen vollkommen vollzogenen Normwandel und orientiert an dieser
Unterstellung Reformmaßnahmen. Dies kann zu sozialen Risiken neuer Art führen.
Zukünftige Forschungen im Graduiertenkolleg sollen verstärkt von der prinzipiellen Ambiguität
jeder Institutionalisierung ausgehen, die bestimmten Akteuren – die Gunst der Stunde
vorausgesetzt – Einfallstore zu teils einschneidenden Eingriffen ermöglichen kann. Es bleiben
hier nämlich einstweilen wichtige Fragen offen: z.B. danach, wie strategisches,
“anti-institutioneller” Handeln in institutionellen Kontexten möglich ist, welche Faktoren das
“timing” von Entinstitutionalisierungsprozessen bestimmen und welche gesellschaftlichen
45
46
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48
49
50
51
Pierson, Paul, 1993: When Effect Becomes Cause: Policy Feedback and Political Change, in: World Politics
45, 595-628.
Vgl. Lockwood, David, 1979: Systemintegration und Sozialintegration, in: Wolfgang Zapf (Hg.), Theorien
sozialen Wandels. Königstein: Athenäum, 124-137. Lockwood betont die Spannungen und Widersprüche auf
der (Teil-) Systemebene, die den Wandel auslösen können. Solche eine Spannung besteht z.B. zwischen
Markt und Wohlfahrtsstaat, auch zwischen Markt und Familie.
Vgl. dazu ausführlich: Lessenich, Stephan: Dynamischer Immobilismus. Zur Dialektik von Kontinuität und
Wandel im deutschen Sozialmodell. Habilitationsschrift. Sozialwissenschaftliche Fakultät. Universität
Göttingen (erscheint Frankfurt/New York: Campus, 2003).
Zu aktuellen Umbautendenzen in Deutschland, vgl. auch: Ostner, Ilona, Sigrid Leitner und Stephan
Lessenich, 2001: Sozialpolitische Herausforderungen. Zukunft und Perspektiven des Wohlfahrtsstaates in der
Bundesrepublik. Arbeitspapier 49 (Zukunft der Politik). Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf.
Janssens, Angélique, 1998: The Rise and Decline of the Male Breadwinner Family? An Overview of the Debate,
in: Dies (Hg.), The Rise and Decline of the Male Breadwinner Family? Studies in gendered patterns of labour
division and household organization. Cambridge: Cambridge University Press, 1-23.
Lewis, Jane, 2001: The Decline of the Male Breadwinner Model: Implications for Work and Care, in: Social
Politics (8) 2, 152-169; Blossfeld, Hans-Peter und Sonja Drobnic (Hg.), 2002: Careers of Couples in
Contemporary Societies. From Male Breadwinner to Dual Earner Families. Oxford: Oxford University
Press.
Vgl. zu Formen und Prozessen der Entinstitutionalisierung: Nedelmann, Birgitta, 1995: Gegensätze und
Dynamik politischer Institutionen, in: Dieselbe (Hg)., Politische Institutionen im Wandel. Kölner Zeitschrift
für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 35. Opladen: Westdeutscher Verlag, 15-40; Lepsius, M.
Rainer, 1995: Institutionenanalyse und Institutionenpolitik, in: ebda., 392-403.
Konsequenzen (mit welchen neuen “trade-offs”) institutioneller Wandel zeitigt. Diese Fragen
leiten zum letzten thematischen Schwerpunkt der künftigen Kollegsarbeit über.
(6) Folgen des institutionellen Wandels
(Kronauer, Kühnel, Lösche, Ostner)
Die Integrationskraft des “Europäischen Sozialmodells” nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte wesentlich auf der
Verbindung von (relativer) Vollbeschäftigung mit einer Anhebung des allgemeinen Wohlstands und der
Ausweitung sozialstaatlicher Sicherungen und Dienstleistungen. Einbindung in die gesellschaftlich anerkannte
und geförderte Arbeitsteilung (einschließlich der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern) sowie
institutionalisierte Teilhabe am Lebenstandard und den Lebenschancen der Gesellschaft, vermittelt über
Bürgerrechte, bildeten, jeweils im nationalstaatlichen Rahmen, die Voraussetzungen von gesellschaftlicher
Zugehörigkeit. Dabei erwies sich die enge Verbindung von Vollbeschäftigung und sozialstaatlichen Leistungen
(oder, auf individueller Ebene, von Erwerbsbeteiligung und sozialen Rechten) als ebenso charakteristisch für das
Sozialmodell wie problematisch für seine Zukunft. 52 Denn unter Bedingungen verschärften internationalen
Wettbewerbs und nachlassenden Wachstums geraten gerade die individuellen und kollektiven
Sicherheitsverbürgungen, die den (insb. nord- und west-) europäischen Wohlfahrtsstaat charakterisieren, in die
Kritik. Erwerbsbeteiligung und soziale Rechte – “Kommodifizierung” und “Dekommodifizierung” – werden
zunehmend voneinander entkoppelt und gegeneinander gestellt: Der Wohlfahrtsstaat erscheint nicht mehr als
Korrelat, sondern als Konkurrenz zur Arbeitsgesellschaft. Entsprechend gehen die Bemühungen europaweit
dahin, die Institutionen des Wohlfahrtsstaates zugunsten des Arbeitsanreizes ab- und im Sinne der
Beschäftigungsfähigkeit umzubauen.
Die Formen und Folgen dieses institutionellen Wandels lassen sich im Hinblick auf die Integrationsfähigkeit des
Europäischen Sozialmodells unter verschiedenen Fragestellungen untersuchen, von denen die folgenden
besonders wichtig erscheinen:
-
-
-
-
52
53
Krise der Integrationskapazität des Europäischen Sozialmodells: Für wen, auf welche Weise und seit wann
wirken institutionelle Arrangements im Rahmen des europäischen Sozialmodells selbst ausgrenzend? Zu
berücksichtigen wären dabei ausgrenzende oder partiell ausgrenzende Mechanismen, die von vornherein
“eingebaut” waren in die wohlfahrtsstaatlichen Regelungen und Praktiken, wie etwa in der Arbeitsteilung
zwischen den Geschlechtern oder gegenüber Migranten53, sowie deren Zuspitzungen zum Legitimitäts- oder
aber Integrationsproblem. Zu berücksichtigen wäre aber auch der Funktionswandel von Institutionen, ihr
Verlust an integrativer Wirkung, unter veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen, wie etwa der
Funktionswandel von Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung angesichts anhaltend hoher Arbeitslosigkeit
und insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit, oder auch die veränderte Wirkung des Bildungssystems
angesichts neuer Anforderungen in der Erwerbsarbeit und einer wieder zunehmenden Bedeutung des
Ungleichheitsmerkmals Qualifikation.
“Linke Machtressourcen”, neue Sozialdemokratie und Sozialintegration: Sozialdemokratische Parteien
galten im 20. Jahrhundert als die treibenden Kräfte einer umfassenden (universalistischen) Inklusion der
lohnabhängigen Schichten in die Industriegesellschaft. Warum sind es heute wiederum
“sozialdemokratische Parteien”, die den Abschied von egalitären und universalistischen Ideen und
Progammen in Richtung auf kategoriale (und tendenziell autoritäre) Maßnahmen vorantreiben?
Wandel des Europäischen Sozialmodells und seine Folgen für gesellschaftliche Integration: Wie wird das
Verhältnis von Erwerbsbeteiligung und Bürgerrechten im Zuge der institutionellen Veränderungen in
unterschiedlichen nationalen Kontexten neu bestimmt? Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer in diesen
Prozessen der Neubestimmung? Zeichnen sich Integrations- und Zugehörigkeitsweisen ab, die trotz Umbrüchen in der Erwerbsarbeit und neuen Lebensformen gesellschaftliche Wechselseitigkeit und Partizipation
gewährleisten können? Wie verhalten sich in diesem Zusammenhang nationalstaatliche und supranationale
Regelungen zueinander?
Integration, Gefährdung, Ausgrenzung – neue Formen und Prozesse der sozialen Ungleichheit: Mit der
Krise der Integrationsfähigkeit des Europäischen Sozialmodells treten neue Formen der sozialen
Ungleichheit auf. Neu sind sie vor allem insofern, als sie vor dem Hintergrund eben jener historisch
besonderen Integrationsphase mit ihrem hohen Maß an materieller und institutioneller Einbindung der
arbeitenden Bevölkerung auftreten und erlebt werden. Wie verhält sich Ungleichheit gemessen an Teilhabechancen zur “vertikalen” Klassen- und Schichtungsungleichheit? Wie wirken unterschiedliche “welfare
Vgl. Katz, Michael, 2001: The Price of Citizenship. Redefining the American Welfare State. New York:
Metropolitan Books.
Vgl. hierzu etwa das laufende Promotionsvorhaben von Holk Stobbe.
regimes” auf Ausgrenzungsprozesse? Was bestimmt die Dynamik von Ausgrenzungsprozessen, wie und in
welchem Maße kommt es in unterschiedlichen nationalen und institutionellen Kontexten zur Reproduktion
von Gefährdungs- und Ausgrenzungslagen?
Zusammengefaßt:
In der abschließenden Forschungs- und Studienphase des Kollegs (2003-2006/7) soll die Frage nach der Zukunft
des Europäischen Sozialmodells schwerpunktmäßig unter dem Gesichtspunkt der Bestimmungsfaktoren und der
Ergebnisse des Wandels zentraler Institutionen des Modells bearbeitet werden. Wir untersuchen die Debatten
über exogene und endogene Herausforderungen des Europäischen Sozialmodells, fragen nach deren Trägern und
den diese leitenden Ideen (Verhältnis von Ideen und Interessen), verfolgen Prozesse des Umbaus und der Umbzw. Neuprogrammierung der tragenden Institutionen des Modells (Normwandel zwischen Konsens und
Kontrolle; Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung) und versuchen mögliche alte und neue Gewinner
und Verlierer dieser Veränderungen zu identifizieren (Folgen des institutionellen Wandels). Insgesamt geht es
um eine Einschätzung der Schnittmenge zwischen “altem” und “neuem” Sozialmodell (vgl. Schaubild
“Interdisziplinäre Forschungsschwerpunkte”). Was bleibt vom “alten” im “neuen” Sozialmodell? Welche
Europäische Gesellschaftsformation (vgl. oben 2.2.1 und Arbeitsbericht) mit welchen konstitutiven Merkmalen
bildet sich aus?
Schaubild 1: Interdisziplinäre Forschungsschwerpunkte
Soziale Konstruiertheit
Herausforderungen
“altes” ESM
“neues” ESM
Folgen
Ideen und Interessen
Normen und Normwandel
Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung
2.2.3 Der Beitrag der einzelnen Disziplinen
Dieser Abschnitt präsentiert den spezifischen Beitrag der einzelnen Disziplinen und ihrer Vertreter(inn)en zu den
Leitfragen und übergreifenden Themen des Kollegs (vgl. auch die Kurzberichte der antragstellenden
Hochschullehrer im Arbeitsbericht 2000-2003). Obwohl die Beiträge hier nach Disziplinen getrennt aufgeführt
werden, sind die inhaltlichen Überschneidungen offensichtlich. Diese Schnittstellen bieten den Anreiz – und in
gewissem Maße auch den Zwang – zum interdiziplinären Austausch.
I. Sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Sozialpolitik
Die Sozialpolitik wird mit mehreren Schwerpunktthemen, die aktuelle Herausforderungen an
den Wohlfahrtsstaat und allgemeiner: an dessen Inklusionskraft behandeln, einen Beitrag vor
allem zu den Leitfragen 2 und 3 des Kollegs leisten. Die Themen werden in ähnlicher und
fachspezifisch modifizierter Weise auch von einigen der anderen Disziplinen bzw. in enger
Kooperation mit diesen bearbeitet. Dies gilt insbesondere für die eher soziologischen [(3) und
(4)] und die – auch – wirtschaftswissenschaftlichen Fragenstellungen [(1) und (2)].
(1) “Hausgemachte” Probleme und das “Veralten wohlfahrtsstaatlicher Arrangements” – Ursachen und
Perspektiven im Vergleich
Wir haben darauf hingewiesen, daß die Krise des Europäischen Sozialmodells, hier: der EU-europäischen
Wohlfahrtsstaaten, auch “hausgemacht” sein kann. Der Wohlfahrtsstaat stellt demzufolge zwar eine
gelungene Problemlösung dar, er muß aber zunehmend mit den Folgeproblemen seines Erfolgs kämpfen.
Wohlfahrtsstaatliche Inklusion kann, je nach Inklusionslogik, zu Armuts- oder Arbeitslosigkeitsfallen, zu
moral hazard und freeriding, also zu gestörter Reziprozität und/oder zur Verfestigung partikularer
Interessen privilegierter Gruppen auf Kosten einer wachsenden Zahl von “Außenseitern” führen. Die
Leistungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates geht zum anderen aber auch darum zurück, weil ein –
möglicherweise größer werdender – Teil der angebotenen Lösungen auf Probleme einer bestimmten
Epoche zugeschnitten war.54 In der Folge sinkt sein Inklusionspotential. Mit dem Partikularismus von
Sicherungsleistungen steigen auch – oder: wieder – die Legitimations–probleme des Wohlfahrtsstaates.
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen
 Wohlfahrtsstaatliche Dynamiken im Vergleich – Phänomene, Konzepte, Perspektiven.
 Sozialmoralische Ressourcen wohlfahrtsstaatlicher Inklusion.
 Krisendiskurse, Krisenpolitik, Krisenrealität und die Rolle der Eliten beim Umbau des Wohlfahrtsstaates.
(2) Zwischen Solidarität und Reziprozität: Der europäische Wohlfahrtsstaat im Wandel
Der Wohlfahrtsstaat kann als ein institutionelles Arrangement zur Organisation von Solidarität im
Kooperationszusammenhang moderner Gesellschaften charakterisiert werden. 55 Die Institutionen des
Wohlfahrtsstaats knüpfen ein komplexes Netz gesellschaftlicher Rechte und Pflichten und verkörpern in
sich die verallgemeinertern Gegenseitigkeitserwartungen der Gesellschaftsmitglieder. Reziprozität kann
als allgemeines regulatives Prinzip wohlfahrtsstaatlicher Systeme gelten – gleichsam als die
gesellschaftliche “Meta-Norm”, die gerade aufgrund ihrer Unbestimmtheit in sachlicher, zeitlicher und
sozialer Hinsicht soziale Beziehungsgeflechte dauerhaft zu stabilisieren vermag. Im Zuge der
wirtschaftlichen Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg schien sich das sozialmoralische Fundament des
europäischen Wohlfahrtsstaates nach und nach erweitert zu haben – von der Reziprozität zur Solidarität,
d.h. vom Prinzip des (wenn auch zeitverzögerten) “gerechten” zum Prinzip des “ungleichen Tausches”,
von dem im Zweifelsfall auch noch diejenigen profitieren, die aktuell – und womöglich dauerhaft – keine,
zumindest keine äquivalenten, Gegenleistungen erbringen können. Dieser wohlfahrtsstaatlich organisierte
Solidaritätszusammenhang ist in der jüngsten Vergangenheit europaweit unter Druck geraten: soziale
Rechte ohne korrespondierende Pflichten scheinen nicht mehr legitimierbar zu sein, der Empfang von
Sozialleistungen wird zunehmend unter moralische und verhaltensbezogene Vorbehalte gestellt. Die
Frage, wie dieser Prozeß einer “entsolidarisierenden” Reform des europäischen Wohlfahrtsstaates genau
verläuft, ist einen eigenen Forschungsschwerpunkt wert. Wer sind die Initiatoren dieser Reform? Mit
welchen Zielsetzungen und Rechtfertigungssemantiken wird sie betrieben? Welche institutionellen und
sozialen Konsequenzen zeitigt sie? Wie läßt sie sich im internationalen Vergleich differenzierend
beschreiben und erklären?
54
55
Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver, 1997: Herausforderungen des Sozialstaates. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Vgl. ebda., 141ff.; für den deutschen Sozialstaat: Tragl, Torsten, 2000: Solidarität und Sozialstaat. München:
Hampp; als Vorüberlegungen für den internationalen Vergleich, vgl. Lessenich, Stephan, 1999: Back to
Basics? Vielfalt und Verfall wohlfahrtsstaatlich organisierter Solidarität in Europa, in: Zeitschrift für
Sozialreform 45 (1), 24-38.
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen:



Wohlfahrtsstaaten als Solidaritätsarrangements: Regimespezifische Unterschiede.
Von der Solidarität zur Reziprozität: Die wohlfahrtsstaatliche Semantik im Wandel.
Reform der Sozialversicherungssysteme im Ländervergleich: Back to Basics?
(3) Flexibilisierung der Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Ungleichheit
(vgl. auch Soziologie)
Die flexible und individualisierte Erwerbsgesellschaft bricht in vielerlei Hinsicht mit der Normalarbeitsgesellschaft. So wird erstens, um Jobs zu schaffen, der Idee der Gleichheit und Angleichung der
Lebensverhältnisse jene der Beschäftigungsfähigkeit entgegengesetzt: Es geht nun darum, den Menschen
vergleichbare Startbedingungen zu schaffen, z.B. das Recht auf eine Grundausbildung und die
Möglichkeit auf Einmündung in einen Job. Voraussetzung der Gleichheit der Beschäftigungsfähigkeit ist
– vor allem in den kontinental-EU-europäischen Ländern – eine noch zu schaffende, nach unten offene
Sozial- und Lohnstruktur, die – so das politische Projekt – durch Lohnsubventionen und/oder
Negativsteuern gesockelt werden soll. Die Kehrseite dieser Entwicklung besteht in der Gefahr der
Wiederkehr 56 einer an ökonomische Rentabilitätskalküle angekoppelten Hierarchisierung von
Problemlagen und in der Folge in der Gefahr der Ausgrenzung und Schlechterbehandlung der nicht oder
nicht mehr Beschäftigungsfähigen: der alten, der chronisch kranken oder der geistig behinderten
Menschen.57
Zweitens wird mit der Idee der ökonomischen Unabhängigkeit gebrochen – die conditio sine qua non der
‘Freiheit zu gehen’, auf die der Feminismus der letzten Jahre pochte. Um Arbeitsplätze zu vermehren und
die Erwerbsquote zu erhöhen, müssen Beschäftigung und existenzsicherndes Einkommen entkoppelt
werden. Sich auf ein einziges Einkommen im Haushalt zu verlassen, wird zu einer riskanten Strategie in
Zeiten flexibler Beschäftigung. Immer weniger Männer werden in Zukunft eine Familie alleine ernähren
können. Sie sind – wie die Mehrheit der Frauen – auf ein zweites Einkommen und die Kombination
verschiedener Einkommensarten angewiesen. Armut im Fall von Arbeitslosigkeit und
Niedriglohnbeschäftigung oder wegen Scheidung und Alleinerziehen wird in diesem Zusammenhang mit
dem Fehlen eines zweiten (oder dritten) Einkommens im Haushalt erklärt. Aus dem Blick gerät allzu
leicht, daß sich in den letzten Jahren die Heiratschancen – damit auch die Möglichkeiten, auf ein zweites
Einkommen zurückzugreifen, – gerade derjenigen verschlechtert haben, die über keine guten Erwerbsund Einkommenschancen verfügen.58
Flexible Beschäftigung verlangt drittens den Umstieg sozialer Sicherung von der Status- zur
Mindestsicherung und “Passagen”sicherung. Mindestsicherungen werden zu einem tragenden Element in
einem sich vermutlich polarisierenden Sicherungssystem: die steuerfinanzierte bedarfs- oder
einkommensgeprüfte Mindestsicherung am einen Ende des Kontinuums, kapitalgedeckte Versicherungen
am anderen, dazwischen erwerbsabhängige Zusatzsicherungen und verschiedene Kombinationen der drei
Elemente. Damit wird aber möglicherweise ein Teufelskreis in Gang gesetzt: Eine großzügige
Mindestsicherung verlangt die Solidarität der Mittelschichten; profitieren diese nicht vom System, sind sie
gar durch die Bedarfs- und Einkommensprüfung davon ausgeschlossen, dann sinkt ihre Bereitschaft, die
Mindestsicherung zu finanzieren. Diese wird immer geringfügiger, wie etwa der britische Fall lehrt. Über
56
57
58
Der von Hans Günter Hockerts 1998 herausgegebene Band: Drei Wege der Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur,
Bundesrepublik und DDR im Vergleich. München: Oldenbourg, bietet beeindruckende historische Beispiele für
die unheilvolle Verkoppelung von Nützlichkeits- (im NS) oder Produktivitätskriterien (in der DDR) und
Bereitstellung von Gesundheits- und Fürsorgeleistungen. Rudloff betont, daß auch die Bundesrepublik in ihrer
Fürsorge- bzw. Sozialhilfepolitik der Arbeitshaus- und Arbeitspflichttradition verhaftet blieb, diese jedoch durch
die Bedingungen der Vollbeschäftigung entschärft wurde; vgl. Rudloff, Wilfried, 1999: Öffentliche Fürsorge, in:
ebda., 191-229.
Hauser, Richard, 1999: Tendenzen zur Herausbildung einer Unterklasse? in Wolfgang Glatzer und Ilona
Ostner (Hg.), Deutschland im Wandel. Sozialstrukturelle Analysen. Opladen: Leske + Budrich, 133-145.
Oppenheimer, Valerie Kincade, 1994: Women’s Rising Employment and the Future of the Family in
Industrial Societies, in: Population and Development Review 20, 293-342.
die Inklusivität des Sozialmodells entscheiden in Zukunft insbesondere die Zugangsregeln für und der
Umfang von erwerbsunabhängigen Sicherungsleistungen (Geld und Dienste).
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen:




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Neuverteilung von Arbeit, Einkommen und Lebenschancen im Ländervergleich.
Arbeitsmarkt, Haushaltsdynamik und soziale Sicherung – theoretische und empirische Analysen.
Einkommensquellen und Einkommensverteilung im Haushalt im historischen und im Ländervergleich.
Armutsrisiken und soziale Verwundbarkeit in der individualisierten Erwerbsgesellschaft.
Armutsdiskurs und Armutspolitik im Wandel.
(4) Familie und Geschlechterverhältnisse in der De-Familisierung
Auch in der Bundesrepublik befindet sich das Ernährermodell auf dem Rückzug. Immer mehr
Haushalte verfügen über zwei Erwerbstätige. Dennoch gilt Deutschland im internationalen Vergleich
immer noch als Nachzügler einer Entwicklung, die durch “De-Familisierung” – konkret: die
Entlastung der Familien von ihren Aufgaben – lebenslauf- und familienphasenspezifische Risiken
(Kinderarmut; Altersarmut von Frauen) verringern und zugleich die Funktionsfähigkeit der
Sozialversicherung garantieren will. Hinzu gekommen sind neue Studien (PISA!), die auf einen von
Familien nicht mehr allein zu bewältigenden “Bildungsnotstand” verweisen und im Interesse des
kindlichen Humankapitals für frühkindliche Vorschulerziehung plädieren.
Das Konzept der De-Familisierung geht auf die Wohlfahrtsstaatstypologie Esping-Andersens zurück.
Bekanntlich entwickelte dieser drei normative Gütekriterien moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit und
kombinierte deren Ausprägungen zu drei unterschiedlichen Welten des Wohlfahrtskapitalismus: der
liberalen, der konservativen und der – entwickeltsten – sozialdemokratischen “Welt”. Im modernen
Wohlfahrtsstaat sollten die Erwerbstätigen erstens qua Bürgerstatus einen Rechtsanspruch auf
Sozialleistungen haben; diese sollten zweitens so bemessen sein, daß die Erwerbstätigen im Fall der
typischen Risiken des Erwerbslebens (dazu zählt auch die Elternschaft) auf hohe Lohnersatzleistungen
zurückgreifen können (“De-Kommodifizierung”); drittens sollte Sozialpolitik schließlich die
Gleichheit der Lebensverhältnisse, auch zwischen den Geschlechtern, fördern (“De-Stratifizierung”).
Die Geschlechtergleichheit ließ sich aber nur durch ein verändertes Verhältnis von privater und
öffentlicher Sphäre herstellen. Feministinnnen führten für dieses Verhältnis das Konzept der
“De-Familisierung” ein. Frauen, so die These, müßten, um dem Mann vergleichbar in den
Arbeitsmarkt integriert zu sein, erst wie dieser “kommodifiziert” (beschäftigungsfähig) – konkret: von
der Pflicht, zuhause für Kinder und ältere Familienangehörige zu sorgen, befreit, also
“de-familialisiert”, – werden.
Esping-Andersen sah auch als einer der ersten im “Familismus” den Kern einer überholten
Wohlfahrtsstaatlichkeit: Dieser verhindere die Vermehrung von Dienstleistungstätigkeiten im
öffentlichen und privaten Sektor, also Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen, erhöhe dadurch die
Kosten des Kinderhabens, was sich in niedrigen Geburtenraten und in der Folge in der Krise der auf
dem Generationenvertrag aufbauenden Sozialversicherungssysteme der kontinentaleuropäischen
Wohlfahrtsstaaten äußere. Ein neues Verständnis von Familie müsse sich von diesem Familialismus
verabschieden. Die Befreiung der Familie von ihren Betreuungspflichten und die Individualisierung
von Kindheit und Alter sollen – wie so oft mit Blick auf Schweden, Dänemark oder Finnland – gleich
mehreren politischen Zielen dienen: der Erhöhung der Zahl erwerbstätiger Frauen, der Verwirklichung
des “Kinderwunsches”, konkret: der Steigerung der Geburten, insgesamt dem Umbau des
Wohlfahrtsstaats in Zeiten neuer ökonomischer Herausforderungen.
Die Idee, die hinter dem Konzept der De-Familisierung stand, fand rasch Eingang in die
Stellungnahmen und Vorschläge von OECD und EU. Feministinnen konnten erfolgreich für eine
De-Familisierung plädieren, weil das überkommene “wohlfahrtsstaatliche Arrangement”, z.B. das
Ernährer-Modell oder der Generationenvertrag, in die Krise geraten war. Dieser Umbau wird seit den
1980er Jahren von der OECD entworfen, seit den 1990er Jahren beschäftigt sie sich dabei auch mit
Fragen frühkindlicher Bildung (early childhood education), Betreuung von Kindern und alten
Menschen (care) und , wie sie es selbst nennt, “familienfreundlichen” Sozialpolitiken.
Die Strategie einer De-Familisierung trifft nicht nur auf sehr unterschiedliche Familienpolitikregime in
den Ländern der EU.59 Sie konfligiert möglicherweise auch mit je spezifischen kulturellen Praktiken
unterschiedlicher Gruppen von Familien und Familienmitgliedern in den verschiedenen Ländern der
EU. 60 Damit sind bisher kaum untersuchte Fragen des Normwandels und seiner Richtung
angesprochen. Darüberhinaus unterstellt die De-Familisierung ungeprüft eine Individualisierung der
erwerbsfähigen Mitglieder durch Erwerbsarbeit, die diese von familialer Solidarität – auch von
gesellschaftlicher – weitgehend unabhängig machen sollen.
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen:
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Ideen und Interessen in der Kinderbetreuungspolitik im Ländervergleich
Familisierung und De-Familisierung sozialer Risiken
Familienpolitik als Beschäftigungspolitik – der Beitrag von OECD und EU
Familienpolitische Leitbilder im Wandel
(5) Institutionelle Voraussetzungen und Grenzen Europäischer Sozialpolitik61
Über die Zukunft des Europäischen Sozialmodells wird wesentlich in Europa selbst, konkret: auf der
supranationalen Ebene der Europäischen Union und ihrer politischen Gestaltungsfähigkeit entschieden.
Die europäischen Instanzen haben ihre Politik bisher überwiegend auf eine Markthemmnisse beseitigende
Politik der negativen Integration, weniger auf eine “marktkorrigierende” Politik der positiven Integration,
der Gestaltung und Angleichung individueller und kollektiver Lebensbedingungen, ausgerichtet. Dies
liegt nicht nur an der besonderen – ökonomischen – Logik der Europäischen Integration und an der
Spezifik des supranationalen Akteurs, der kaum über Mittel und die demokratische Legitimation zur
Umverteilung verfügt und in seinen Aktionen die entstehenden Kosten für die Mitgliedsländer in
Rechnung zu stellen hat. Es liegt auch daran, daß die EU bisher unter ihrem Dach verschiedene,
konkurrierende Modelle wohlfahrtsstaatlicher Inklusion und Intervention versammelt. Doch könnten die
jeweiligen Besonderheiten wohlfahrtsstaatlicher Inklusion durchaus auch zum Ausgangspunkt eines
Annäherungsprozesses werden, der darauf hinausliefe, oberhalb eines institutionenneutral gehaltenen
quantitativen Sicherungssockels Raum für qualitative, dem jeweiligen Sozialmodell (und seiner
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit) entsprechende Fortentwicklungen und Innovationen sozialpolitischer
Regulierung zu lassen.62 Die sozialpolitischen Arbeiten im Kolleg werden die Chancen ausloten, die auf
dem Weg durch das dynamische Mehrebenensystem für eine europapolitische Revitalisierung des
Sozialmodells bestehen.
Mögliche Themenbereiche für Dissertationen:
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61
62
Mindestsicherungen in der Europäischen Union – Konvergenz der Ziele, Divergenz der Lösungen?
Supranationalisierung industrieller Beziehungen – Chancen für eine europäische Sozialpolitik?
Beschäftigungsförderung als Motor der EU-Sozialpolitik?
Die EU-Ost-Erweiterung als Herausforderung für das Europäische Sozialmodell.
Daly, Mary, 2000: A Fine Balance: Women’s Labour Market Participation in International Comparison, in: Fritz
W. Scharpf und Vivien A. Schmidt (Hg.), Welfare and Work in the Open Economy. (Vol II). Oxford: Oxford
University Press, 467-511; Michel, Sonya, 2002: Dilemmas of Child Care, in: Sonya Michel und Rianne Mahon
(Hg.), Child Care Policy at the Crossroads. New York: Routledge, 333-338.
Hakim, Catherine, 2000: Work-Lifestyle Choices in the 21st Century. Oxford: Oxford University Press.
Vgl. dazu auch den Beitrag der Wirtschaftswissenschaften und des Arbeitsrechts. Es besteht selbstverständlich
kein Monopol der Sozialpolitik für diesen Schwerpunkt. Er wird bereits in der laufenden Kollegsarbeit
interdisziplinär und von den anderen Disziplinen entsprechend dem jeweiligen fachlichen Zugriff bearbeitet.
Vgl. Scharpf, Fritz W., 1998: Jenseits der Regime-Debatte: Ökonomische Integration, Demokratie und
Wohlfahrtsstaat in Europa, in: Lessenich, Stephan und Ilona Ostner (Hg.), Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Der Sozialstaat in vergleichender Perspektive. Frankfurt/New York: Campus, 321-349.
II. Politikwissenschaft
Die Politikwissenschaft wird sich im Rahmen des Graduiertenkollegs in den drei zentralen Themenfeldern des
Kollegs bewegen und dabei auch zukünftig den Fokus auf die politisch-institutionelle Begründung und
Absicherung sowie auf die politisch-institutionellen Veränderungen und Erosionen des europäischen
Sozialmodells richten. Im Mittelpunkt stehen weiterhin Parteien und der sie bedingende und formierende
gesellschaftliche, politisch-kulturelle, mentale und organisatorische Kontext (vgl. Erstantrag). Dabei wird nach
wie vor von der Hypothese ausgegangen, daß insbesondere sozialdemokratische und katholische, aber auch
konservativ-protestantische oder liberal-protestantische Parteien als wichtigste mediatisierende Institutionen
zwischen Gesellschaft und politisch-administrativem System wesentlich dazu beigetragen haben und noch dazu
beitragen, jene Kooperation und jenen Konsensus zwischen Politik, Unternehmen und Arbeitnehmerschaft zu
schaffen, die das europäische Sozialmodell ausmachen. Oder anders formuliert: Solidarität und
wohlfahrtsstaatlicher Inklusionspolitik lag ein Institutionengefüge von Parteien, Gewerkschaften, Verbänden,
aber auch anderen Organisationen wie Freizeitvereinen zugrunde, das eine Kompromißfindung zwischen
divergierenden politischen Positionen und sozialen Interessen überhaupt erst möglich machte und auf diese
Weise entscheidend zur Legitimation des europäischen Sozialmodells beitrug.
Angesichts genereller sozialökonomischer Entwicklungen, die mit Stichworten wie
Globalisierung, Tertiarisierung, Entstrukturierung, Segmentierung, Fragmentierung,
Pluralisierung, Regionalisierung, Informalisierung und Individualisierung angedeutet werden,
verändert sich nicht nur der die Parteien umgebende Kontext, sondern es verändern sich auch
diese selbst, so daß erprobte Institutionen der Kompromiß- und Konsensfindung heute in die
Krise geraten. Traditionelle Massen-, Mitglieder- und Funktionärsparteien, aber auch ganze
Parteiensysteme scheinen sich selbst zunehmend zu blockieren, politikunfähig zu werden. Der
Wandel der Parteien und Parteiensysteme zeichnet sich an der Oberfläche durch die
Überalterung der Parteimitglieder und -aktivisten und die Erstarrung ihrer historisch
überkommenen Organisationsstrukturen aus, durch die kontinuierlich nachlassende
Bindungsfähigkeit gegenüber den Wählern, die regelrechte Abkoppelung der Stammwähler
und nicht zuletzt durch die Erfolge rechtspopulistischer Parteien in vielen Staaten Europas.
Kurz: Parteien kommen immer weniger die ihnen traditionell und handbuchartig
zugeschriebenen Funktionen von Interessenvermittlung, Interessenaggregation und
Interessenartikulation und mithin Legitimation des jeweiligen politischen Systems insgesamt
nach, sie werden weitgehend auf die Elitenauswahlfunktion reduziert. Allerdings: Neue
Formen politischer Vermittlung und Entscheidungsfindung zeichnen sich in den Parteien (und
in den politischen Systemen insgesamt) ab, die typologisierend zwischen den Polen
“Bonapartisierung” und “Kommunitarisierung” verortet werden können.
Zeitlich würden die politikwissenschaftlichen Beiträge zum Graduiertenkolleg sich zwischen ausgehendem 19.
Jahrhundert und Gegenwart bewegen und mit der Frage in die Zukunft verknüpft werden, ob sich bereits heute
neue Formen künftiger Interessenvermittlung und politischer Legitimation erkennen lassen, die ein neues
europäisches Sozialmodell ausmachen könnten.
(1) Sozialmoralische Milieus und politische Organisationen
Ursprünglich orientiert am deutschen Beispiel wird davon ausgegangen, daß Parteien (und hier
insbesondere sozialdemokratische und katholische) im Kontext sozialmoralischer Milieus zu begreifen
und in ihrer sozialstaatlichen Politik zu interpretieren sind. Sozialmoralische Milieus konstituierten
sich aufgrund einer ihnen je gemeinsamen sozialdemographischen Basis (Facharbeiter für das
sozialdemokratische, Religion für das katholische Beispiel); einer integrierenden Programmatik,
Symbolik, Ritualität und Sprache; einem mehr oder minder ausdifferenzierten Organisationsnetzwerk.
Erstaunlich ist die Kontinuität dieser sozialmoralischen Milieus, die trotz Nationalsozialismus bis in
den Ausgang der 50er Jahre reichte. Konkret: Der bundesrepublikanische Sozialstaat wurde
entsprechend im Konsens von CDU, SPD und DGB geschaffen und legitimiert. Vergleichbare
Entwicklungen bzw. Ansätze von Entwicklungen gab es in Österreich, den Niederlanden, Belgien, den
skandinavischen Staaten, weniger deutlich in Großbritannien und Frankreich. Eben diese
sozialmoralischen Milieus
sind zunehmend erodiert: Ihnen fehlt heute weitgehend das
organisatorische Unterfutter, das intensive alltagsweltliche Kommunikation ermöglichte. Traditionelle
Parteiorganisationen erstarrten, konnten von ihren – regierenden – Führern gleichsam auf ein
Abstellgleis geschoben werden. Es mangelt an normativen Leitideen, die auch durch Diskussionen um
den “Dritten Weg” oder die “neue Mitte” nicht ersetzt werden. Schließlich fehlt es an sozialer,
religiöser oder generationsspezifischer Verankerung. Die immer wieder beschworene “Krise”
sozialdemokratischer und christdemokratischer Parteien hat hier eine ihrer wesentlichen Ursachen.
Einstige Stammwähler und ihre Partei scheinen voneinander abgekoppelt; zugespitzt formuliert:
Stammwähler scheinen freigesetzt, sind nicht zuletzt wegen der Regierungspraxis
sozialdemokratischer und christdemokratischer Parteien rechtspopulistisch anfällig. Gleichwohl: Noch
vorhandene Restmilieus – vielleicht nicht viel mehr als historische Reminiszenzen – verleihen den
Parteien Profil, geben ihnen ein gewisses Maß an Stetigkeit. Ihre Politik erschiene sonst noch
beliebiger, substanzloser.
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen:
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Erosion sozialmoralischer Milieus und der Wandel sozialdemokratischer und christdemokratischer
Parteien: Ein Vergleich zwischen Deutschland, Österreich und den Niederlanden.
Über das “Altwerden” sozialdemokratischer und christdemokratischer Parteien: Alters- und
Organisationsstrukturen im Vergleich.
“Dritter Weg” und “neue Mitte”: Innovative reformistische Theorieansätze oder Legitimationsversuche der
“spin doctors”?
(2) Das Ende der traditionellen Volksparteien
Bereits in den 60er Jahren setzten sich massiv Modernisierungsschübe durch, und sozialmoralische
Milieus begannen zu erodieren, Massenkulturen ersetzten Milieukulturen, Parteien gerieten
zunehmend in Krisensituationen, nationale Parteiensysteme differenzierten sich aus. Traditionelle
Volksparteien, Großparteien wie SPD, CDU, SPÖ, ÖVP, die skandinavischen Sozialdemokraten, auch
die Labour Party sind aktuell, wenn sie an der Regierung (beteiligt) waren, mit dem Dilemma
konfrontiert, eine politische Praxis zu verfolgen, die sie möglicherweise ihrer Stammwählerschaft
entfremdet und diese freisetzt für Nichtwahl und Protestwahl (einschließlich rechtspopulistischer
Optionen). Zu den Restriktionen sozialdemokratischer, aber auch christdemokratischer Politik gehören
u. a. die Globalisierung der Finanzmärkte, die Europäisierung der Güter- und Arbeitsmärkte, die
Staatsverschuldung im Zusammenhang mit den Auflagen des Maastrichter Vertrages, die
Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und nicht zuletzt die Verformung der Alterspyramide
im Zusammenhang mit Alters- und Gesundheitsvorsorge. Von einer mentalen Kolonisierung der
Sozialdemokraten durch den Neoliberalismus ist in diesem Zusammenhang die Rede gewesen. Auf
jeden Fall haben Arbeitsmarktflexibilität, Privatisierung sowie Haushaltskonsolidierung sozialdemokratische, aber auch christdemokratische Traditionswähler irritiert.
Es ist dann nur Ausdruck dieser neuen Diffusität, daß Parteiensysteme sich völlig neu formieren
(Italien, in Ansätzen Frankreich) oder sich dadurch ausdifferenzieren, daß an den Rändern
neopopulistische und regionalistische Parteien entstehen. Es kennzeichnet die sich verändernde
Situation, daß von einem “neuen Elektorat” die Rede ist, nämlich von einer Wählerschaft, die durch
Wahlabstinenz, Parteiwechsel, Protestwahl, kurz Volatilität, gekennzeichnet ist. Am auffälligsten ist in
diesem Zusammenhang der – fast – europaweite Erfolg rechtspopulistischer Parteien, Le Pen in
Frankreich, die Partei Pim Fortuyns in den Niederlanden, die Fortschrittspartei in Norwegen, die
Dänische Volkspartei, der Vlaams Blok in Belgien, der Partido Popular in Portugal, die Lega Nord
und die Alleanza Nazionale in Italien, die FPÖ in Österreich. Sie alle haben sich konstituiert und
werden zusammengehalten durch ein Vorurteilssyndrom, zu dessen Elementen u. a. Fremden- und
Zuwanderungsfeindlichkeit, Dramatisierung von Kriminalität sowie Hass auf die “Brüsseler
EU-Bürokratie/Technokratie” gehören.
Durch die Veränderungen der Großparteien, der
Parteiensysteme und der Wählerschaft, auch durch den Aufstieg des Rechtspopulismus gerät jener
institutionelle Unterbau des europäischen Sozialmodells in eine Krise, durch den Kompromiß- und
Konsensfindung sowie Legitimationsbeschaffung einst recht problemlos möglich waren.
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen:
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Do Parties Still Matter? Sozialdemokraten und Christdemokraten an der Regierung (im Vergleich
ausgewählter EU-Staaten).
Konstitutionsbedingungen rechtspopulistischer Parteien im europäischen Vergleich.
Nichtwählen im Vergleich ausgewählter EU-Staaten.
Neue Rechte – konservative Kritik an etablierten Parteien.
Das “neue Elektorat” im westeuropäischen Vergleich. Nachlassende Bindungskraft von Volksparteien und
Wählervolatilität.
(3) Strukturierung neuer Sozial- und Repräsentationsformen
Neue Formen und Wege innerparteilicher Willensbildung, die sowohl für Groß- wie für kleinere Parteien gelten können, zeichnen sich in einigen europäischen Staaten ab. Im Rahmen des
Graduiertenkollegs wäre hier der Frage nachzugehen, ob sich daraus neue Wege der Kompromiß- und
Konsensbildung und damit auch der Legitimation eines veränderten europäischen Sozialmodells
ergeben oder ob diese dadurch nicht gerade unmöglich gemacht werden.
Folgende Veränderungen, die sich in mehreren europäischen Parteien erkennen lassen, sind gemeint:
Personalisierung der (Partei-)Politik; direkter Appell von der Parteispitze an die Parteibasis, u. U. auch
an die Öffentlichkeit, unter Umgehung traditioneller innerparteilicher Willensbildungsstrukturen und
damit der mittleren Parteielite; Implementation direktdemokratischer Elemente; Knüpfen funktionaler
Netzwerke (auch unter Nutzung des Internets), so daß das territoriale Organisationsprinzip teilweise
aufgegeben wird; Ende bisheriger innerparteilicher Demokratie im Sinne von Kontrolle der Machtzentren durch Parteiaktivisten. An der Parteispitze gefragt sind charismatische oder organisations- und
kommunikationskompetente Führer, die von oben her die Partei zusammenzuhalten bzw. zu überbrücken vermögen. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer “Bonapartisierung” der Parteien sprechen. Im Gegensatz zu einer möglichen “Bonapartisierung” europäischer Parteien wäre zu fragen, ob
sich in ihnen nicht neue Organisationsformen kommunitärer Gesellung erkennen lassen, die sich in der
– bislang nur theoretisch geführten – Kommunitarismusdebatte andeuten, die sich aber
möglicherweise zur Basis neuer, kooperativ-konsensualer und legitimierter Sozialstaatlichkeit
entfalten könnten. Anders formuliert: Können Parteien sich der Bürgergesellschaft gegenüber öffnen –
oder ist die Zivilgesellschaft selbst nur eine Schimäre, wenigstens was Parteien angeht? Nach neuen
Sozial-, Repräsentations- und Kommunikationsformen, nach neuen Wegen der Interessen- und
Bedürfnisartikulation und –mediatisierung außerhalb traditioneller Organisationen wie Parteien und
Verbänden sollte zudem angesichts des rapiden gesellschaftlichen Wandels im Kontext des
Graduiertenkollegs gefragt werden. Etwa: Kann angesichts der Aktivitäten von Globalisierungskritikern schon von einer neuen sozialen Bewegung oder gar von einer neuartigen Institution
gesprochen werden?
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen:
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“Netzwerk” versus Delegiertensystem: Zur Zurückdrängung traditioneller Willensbildungsprozesse in
Mitglieder- und Funktionärsparteien.
Globalisierungskritik – eine neue soziale Bewegung?
III. Soziologie (vgl. auch Sozialpolitik; Wirtschaftswissenschaften)
Einen Ausgangspunkt der zukünftigen soziologischen Kollegsarbeit bildet die wissenschaftliche und politische
Unsicherheit darüber, wohin sich ein bis in die 80er Jahre hinein sehr robustes Modell von wirtschaftlichem
Wachstum und steigenden sozialen Erträgen, das man als das bundesrepublikanische “Produktions- und
Sozialmodell” der Nachkriegszeit bezeichnen kann, unter den Bedingungen verstärkten ökonomischen
Strukturwandels, Beschleunigung von Innovationszyklen und zunehmender Europäisierung/Globalisierung der
Austauschbeziehungen auf allen gesellschaftlichen Ebenen entwickeln wird. Ohne daß das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in den institutionellen Arrangements sozialwissenschaftlich bereits ausgelotet wäre,
wird die gegenwärtige Phase von großen Teilen der Sozialwissenschaften als Umbruchsituation interpretiert – in
der Sprache der Regulationstheorie als Wandel von der “fordistischen” Phase des Kapitalismus zu einer (in ihren
Konturen noch relativ offenen) “nachfordistischen” oder – unter der Perspektive langfristiger Trends – von
“Industrialismus” zu einer wie immer gearteten “nachindustriellen Gesellschaft”.
Gefragt wird deshalb nach der Art der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Entwicklung, nach den neuen Formen
und Dynamiken der Arbeit und deren Bedeutung für institutionelle Arrangements, soziale Strukturierung und
alltägliche Lebensweisen sowie in umgekehrter Richtung – nach der Bedeutung fortbestehender Sozialformen
für eine nachindustrielle Ökonomie. Im Rahmen dieser Fragestellungen werden jeweils Beiträge zu den drei
Leitfragen des Kollegs geleistet – ebenfalls mit einem besonderen Gewicht auf der dritten Frage nach den
Formen und Ergebnissen des institutionellen Wandels.
(1) Strukturwandel der Arbeit – Ende des Industrialismus?
Die Prosperität der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik samt der Ausweitung der sozialen
Leistungen basiert vor allem auf der hohen Leistungsfähigkeit der Industrie und verschaffte ihren Formen von Arbeit ein hohes Maß an Vorbildfunktion für andere Wirtschaftsbereiche. Die
Leistungsfähigkeit läßt sich als Resultat aus der wechselseitigen Verstärkung des spezifischen
ökonomischen Modells und des Sozialmodells der deutschen Industrie begreifen. Vier Merkmale
charakterisieren diese Ordnung: (1) Durch die Pflege der Tradition in der Herstellung differenzierter,
technisch exzellenter Produkte konnten die Hochqualitätssegmente des Weltmarkts besetzt werden,
was bis heue die starke Exportstellung der deutschen Industrie gefestigt hat. (2) Eine starke
Investitionsgüterindustrie konnte die Hochqualitätsproduzenten mit flexibler Automationstechnik
versorgen, die deren technischen Anforderungen entsprach (“flexible Automatisierungs-Strategie”).
(3) Die Verfügbarkeit über eine gut qualifizierte (Fach-)Arbeiterschaft und die Weiterentwicklung der
dualen Berufsausbildung sicherten die Humanressourcen, die für eine Hochqualitäts-/Hochtechnologie-Produktion nötig waren; die Stärke von Berufstradition und Berufsausbildung gab auch dem
Taylorismus weniger Raum als etwa in den USA. (4) Ein System von industriellen Beziehungen, das
durch etablierte Modi der Interessenrepräsentanz mittels Partizipation und Kooperation gekennzeichnet war und das sich in dieser Form nur in der mittel- und großbetrieblichen Industrie entwickeln
konnte, schuf einen sozialen Rahmen für kompromißorientierte Verteilungskämpfe und
Interessenauseinandersetzungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen (“Konsensstrategie”). Der Erfolg dieses komplexen Produktionsmodells äußerte sich nicht zuletzt darin, daß ein
Wirtschaftswachstum realisiert werden konnte, das bis in die 1980er Jahre hinein einen relativ hohen
Beschäftigtenstand sichert.
Erst in den Umbruchphase der 1980er Jahre und 90er Jahre trat die Begrenztheit des industrialistischen
Produktionsmodells sowohl innerhalb der Industrie als auch in seiner Orientierungsfunktion für andere
Wirtschaftsbereiche deutlicher zutage. Der Strukturwandel zur Dienstleistungsökonomie und die Verschärfung des internationalen Wettbewerbs, der zunehmend ein Innovationswettbewerb wurde,
verlangt andere ökonomische Konzepte und andere Sozialformen der Arbeit. Die “diversifizierte
Qualitätsproduktion” (Sorge/Streeck) sicherte der deutschen Industrie trotz Anteilseinbußen auch in
den 90er Jahren zwar immer noch einen Spitzenplatz unter den Exportnationen. Aber unübersehbar
wurde ebenso, daß Deutschland im Bereich der Spitzentechnologien hinter anderen Nationen
zurückblieb und daß die niedriger gewordenen industriellen Wachstumsraten die Beschäftigung nicht
mehr sichern konnten. Deutschland verlor in den 90er Jahren über 2 Millionen industrieller
Arbeitsplätze – und das nicht nur in den neuen Bundesländern. Es konnte diese Verluste nicht durch
eine entsprechende Expansion von Dienstleistungsbeschäftigung ausgleichen, da die Bundesrepublik
hier gegenüber anderen hochentwickelten Ländern einen Nachholbedarf hat. Dies gilt nicht zuletzt für
die dem internationalen Wettbewerb in besonderem Maße ausgesetzten und als besonders
zukunftsträchtig geltenden “wissensintensiven Dienstleistungen”, für die sich die Konkurrenzfähigkeit
der deutschen Wirtschaft in den 90er Jahren deutlich verschlechtert hat (gemessen an Verschiebungen
in den Außenhandelsbilanzen).
Ursachen für die Wachstums- und Beschäftigungsschwächen der deutschen Wirtschaft werden in der
aktuellen Diskussion im Fortwirken des industrialistischen Produktions- und Sozialmodells gesehen:
Die industrielle Produktion hat zwar eine hohe technische Flexibilität bewiesen, die aber keine
Entsprechung in der Betriebs- und Arbeitsorganisation gefunden habt. Infragegestellt werden
insbesondere die Funktionalität des Modells des vertikal hochintegrierten Groß- und Mittelbetriebs für
beschleunigte Innovation, die auf hoher professioneller Spezialisierung beruht – gerade bei den
(wissensintensiven) Dienstleistungen hätten kleine, flexible Einheiten komparative Vorteile in der
Leistungserbringung; ferner die Tauglichkeit des stark standardisierten industriellen Arbeitszeitregimes für auf individuelle Bedürfnisse ausgerichtete Dienstleistungen oder die Vorherrschaft des
Normalarbeitsverhältnissen (bzw. die Kopplung von Erwerbschancen und sozialer Sicherung an diese
Beschäftigungsform) bei steigenden Frauenerwerbsquoten und dem Anstieg von flexiblen
Beschäftigungsformen sowie die Tragfähigkeit der dualen Ausbildung.63
Die Kritik am industrialistischen Produktions- und Sozialmodell soll im Kolleg überprüft und mit
anderen europäischen Fällen kontrastiert werden. (Hier liegt ein gegenüber der abgelaufenen Phase
neuer Akzent). Als innereuropäische Vergleichsfälle kommen Länder in Betracht, die im Hinblick auf
industrielle Innovationsdynamik (radikale vs. inkrementelle Innovation; Spitzentechnologie-Orientierung vs. Hoch- und Mitteltechnologie), im Ausmaß und Art von Dienstleistungen, in
Arbeitszeitregimes und Beschäftigungsverhältnissen, in Arbeitskrafttypus und Ausbildungssystem u.a.
63
Vgl. Crouch, Colin, David Finegold, David und Mari Sako (Hg.), 1999: Are Skills the Answer? The Political
Economy of Skill Creation in Advanced Industrial Countries. Oxford/New York: Oxford University Press.
vom deutschen Fall abweichen, so insbesondere Frankreich, Italien, das Vereinigte Königreich, aber
auch die skandinavischen Länder.
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen:
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Arbeitszeitstrukturen, Beschäftigungsvolumen und Beschäftigungsqualität im internationalen Vergleich.
Arbeitsorganisation und soziale Strukturierung (Typen nach Sektoren und Branchen – als dynamische
Analyse).
Chancen für low wage/low skill-Sektoren in Deutschland und in anderen europäischen Ländern.
Frauenerwerbstätigkeit und Dienstleistungsexpansion (quantitative und qualitative Analyse).
Familienfreundliche Arbeitsformen und Arbeitsgestaltung (work-life-balances).
Arbeitsgestaltung und Lernchancen in der beruflichen Weiterbildung (nach Beschäftigungsfeldern und
national spezifischen Fördersystemen).
Internationale Arbeitsteilung/Unternehmenskooperationen an der Schnittstelle zu osteuropäischen Ländern.
Niedrig entlohnte Dienstleistungen und Migration/grenzüberschreitendes Pendeln an den Grenzen zu den
osteuropäischen Ländern.
Nachindustrielle Beschäftigungsverhältnisse und individuelle Berufsverläufe.
“Vertrauen” und “Risikoaversion” – zu den sozialen und institutionellen Bedingungen von betrieblicher
Innovationsfähigkeit.
Kooperation zwischen Fremden: Besitzen amerikanische Firmen Vorteile?
(2) Die Transformation der institutionellen Ordnung des Industrialismus: Institutionelle Ressourcen
im Übergang zur nachindustriellen Gesellschaft
Der Industrialismus ist nicht nur eine Produktionsform, sondern eine institutionelle Ordnung, die sowohl
für innerbetriebliche Abläufe und Kommunikation auf Dauer angelegte Verhaltensregeln setzt als auch
die gesellschaftlichen Institutionen außerhalb der Erwerbsarbeit beeinflusst und von diesen beeinflusst
wird; zu nennen sind hier vor allem die Institutionen der Ausbildung und des Arbeitsmarktes, der sozialen
Sicherung, der industriellen Beziehungen und der Familie/Partnerbeziehungen.
Im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus stellen die institutionellen Arrangements das
Trägheitsmoment der Entwicklung dar, was der institutionellen Ordnung des Industrialismus weiterhin
Aktualität verleiht, auch wenn die sozioökonomische Konstellation sich von der industriellen
Ausgangsbasis immer weiter entfernt hat. Neoinstitutionalistisch argumentierende Ansätze sind davon
ausgegangen, daß das Verhalten von Firmen vom institutionellen setting bestimmt, letzteres wiederum
von unternehmerischen Strategien kaum verändert wird. Die Stabilität wird dadurch erklärt, daß
Institutionen – z. B. ein Ausbildungssystem – bewährte Lösungen für spezifische Koordinationsprobleme
bieten.64
Bis in die 1980er Jahre hinein, ansatzweise bis heute 65 ging man davn aus, daß gut eingebettete,
“institutionalisierte” oder koordinierte Kapitalismen mit ihren Institutionen auch über die Ressourcen zur
Verarbeitung von Krisen verfügen. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben aber auch gezeigt, daß
derartig institutionalisierte Beziehungen keineswegs immer stabil sind. 66 Sie hängen vom Charakter
staatlicher Politik und dem Grad der Verregelung, von der Existenz von politischen oder soziokulturellen
Koalitionen, die bestimmte Arrangements unterstützen, ab; ferner vom Ausmaß, in dem überkommene
Institutionen andauernden exogenen Veränderungen, welche die soziostrukturelle Basis des settings
aufzulösen drohen, ausgesetzt sind (s.o.).
Ein näherer Blick zeigt darüberhinaus, daß das, was auf den ersten Blick als kongenial
64
65
66
Vgl. Hall, Peter A. und David Soskice, 2001: Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of
Comparative Advantage. Oxford: Oxford University Press.
Vgl. Visser, Jelle und Anton Hemerijck, 1998: Ein holländisches Wunder? Reform des Sozialstaates und
Beschäftigungswachstum in den Niederlanden. Frankfurt/New York: Campus; Torfing, Jacob, 1999:
Workfare with welfare: recent reforms of the Danish welfare state, in: Journal of European Social Policy 9,
5-28.
Flecker, Jörg und Thorsten Schulten, 1999: The End of Institutional Stability, in: Economic and Industrial
Democracy 20, 81-115.
ineinanderverwobenes Gefüge erscheint, in Wahrheit meist das Ergebnis asynchroner Prozesse und
nichtintendierter Folgen war.67 Dies und die Ambiguität, die in den Institutionen angelegt ist, – darauf
haben wir bereits hingewiesen, – treibt sozusagen endogen in Richtung auf Veränderung. Von
“Funktionalität” und “Dysfunktionalität” der institutionellen Ordnung kann daher nur bedingt gesprochen
werden. Dies gilt gerade auch für das Ausbildungssystem und das System industrieller Beziehungen,
dessen Transformation in ein postindustrialistisches institutionelles setting in der weiteren Arbeit des
Kollegs besonders untersucht werden soll. Von Interesse wird in diesem Zusammenhang auch die Frage
sein, ob sich im Rahmen der Dezentralisierung von Tarifverträgen und der Verlagerung der
Regelungsebene auf den Betrieb tatsächlich weitreichende, den innerbetrieblichen Machtverhältnissen
entsprechende Veränderungen des Systems industrieller Beziehungen vollziehen – oder ob sich die
“Kultur” der beiderseitigen Selbstbindung auf neue Weise durchsetzt. Die Analysen werden dabei ein
besonderes Augenmerk auf die Träger dieser Transformation, auf die Ideen, die die Veränderungen leiten,
und auf die von den entscheidenden Akteuren verwendeten Semantiken richten.
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen:
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67
Die Doppelgesichtigkeit von Basisinstitutionen: Die widersprüchliche Rolle der Berufsausbildung, der
industriellen Beziehungen und der Unternehmernetzwerke im globalen Wettbewerb.
Der widersprüchliche Doppelcharakter des Berufskonzepts als Ausbildungs- und Arbeitsorganisationsprinzip
(berufliche Kompetenz vs. Exklusivität von Zuständigkeiten).
Globalisierung und Dezentralisierung von Wirtschaftsaktivitäten als Herausforderung für das System
industrieller Beziehungen:
zum Verhältnis von Zentralisierung und Dezentralisierung gewerkschaftlicher Organisation,
bezogen auf die Instrumente gewerkschaftlicher Interessenpolitik (Tarifvertragsformen).
Erosion oder Transformation der korporatistischen Grundlagen am Beispiel von Arbeitgeberverbänden.
Transformation von gesellschaftlichen Ausbildungssystemen: Verschiebungen zwischen (mittleren) beruflichen
und wissenschaftsbezogenen Bildungseinrichtungen.
Vgl. Streeck, Wolfgang, 1992: Social Institutions and Economic Performance. Newbury Park: Sage.
(3) Parameter sozialer Qualität: das Beispiel “Flexicurity”
68
Eine zunehmende Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen wird nicht nur von Arbeitgebern
und manchen Wirtschaftswissenschaftlern als erfolgversprechende Strategie zur Überwindung der
anhaltenden Arbeitslosigkeit in Deutschland gefordert, sondern auch als unvermeidbare Folge von
Modernisierungsprozessen begriffen. Auch wenn der wirtschaftliche und soziale Wandel langsamer
verläuft als befürchtet oder gewollt wird und das klassische Normalarbeitsverhältnis einer
unbefristeten Vollzeitstelle weiterhin die Regel ist, läßt sich doch feststellen, “daß die moderaten
Gesamtentwicklungen vielfach die Dynamik bei bzw. unterschiedliche Betroffenheit von einzelnen
Subgruppen verdecken”.69
Die beschäftigungspolitische Diskussion versucht mit dem Konzept der “Flexicurity” betriebliche
Forderungen nach Flexibilisierung mit den Bedürfnissen der Beschäftigten nach sozialer Sicherheit zu
versöhnen.70 Konkret geht es um die verbesserte soziale Absicherung der flexibilisierten – vereinfacht:
der in vielerlei Hinsicht (Arbeitsvertrag; Entgelt, Arbeitszeit; Sozialschutz) vom
Normalarbeitsverhältnis abweichenden – Beschäftigung. Typische Bausteine von Flexicurity wären
Formen der Absicherung der Übergänge in beide Richtungen zwischen Voll- und Teilzeitarbeit, auch
zwischen Nichtbeschäftigung und Beschäftigung, damit verbunden Kombinationen von Markt- und
Transfereinkommen, Formen beschäftigungssichernder Arbeitszeitpolitik, insb. Kontenmodelle, die
Verknüpfung von lebenslanger Weiterbildung und Job-Rotation sowie Grundsicherungsmodelle. Auch
wenn Flexicurity neue sozialpolitische Elemente enthält bzw. mit alten kombiniert, handelt es sich bei
dieser Sichtweise doch letztlich um eine klassische, kompensatorische Sozialpolitik.
Flexibilisierung der Beschäftigung bedeutet aber auch, daß das bisher eher gegenseitig abgegrenzte
und/oder komplementär aufeinanderbezogene Verhältnis von Leben und Arbeit zum Bezugspunkt
neuer Politiken der Nutzung von Arbeitskraft wird. So verweisen nicht nur die Entwicklung der
Arbeitszeitpolitik 71 und die Auslagerung von (Erwerbs-) Arbeitstätigkeiten in die Privatsphäre auf
solch eine Entgrenzung. 72 In eine ähnliche Richtung bewegen sich auch Familienpolitiken – z.B.
Politiken der Vereinbarung von Beschäftigung und Familie –, die die Familie als Funktion des
Arbeitsmarktes behandeln, indem sie möglichst – um mit Marx zu sprechen – jede Pore der
Nichterwerbsarbeitszeit erwerbsfähiger Familienmitglieder flexibel der Beschäftigung zuführen. Unter
dem Gesichtspunkt der Sozialen Qualität von Politik und Gesellschaft können Flexibilität und
Verdichtung der Poren der Arbeitszeit Hand in Hand gehen, ohne daß die soziale Sicherung hier
ausreichend Kompensation anböte.
So wie Flexibilisierung weiter gefaßt werden sollte, ist auch der Begriff der Flexicurity u. E. in einem
sehr viel weiteren Sinne zu verstehen denn als bloße Kompensation für neue beschäftigungspolitisch
induzierte Risiken. Unter dem Gesichtspunkt der “Sozialen Qualität” der sich wandelnden
Beschäftigungsverhältnisse wird “Flexicurity” nicht bloß zum Maßnahmepaket, sondern zu einem
Gütekriterium sozialen Wandels – seiner Akteure, Gewinner und Verlierer – par excellence und zum
Instrument seiner Analyse. “Flexicurity” bringt wie kaum ein anderes Konzept das Zusammenwirken
der Verhältnisse und Beziehungen innerhalb und außerhalb von Arbeitsmarkt und Beschäftigung ans
Licht. Ins Blickfeld geraten damit nicht nur Arbeits- und Lebenschancen von Frauen und Männern,
68
69
70
71
72
Dieser Themenbereich wird gemeinsam von Soziologie und Sozialpolitik bearbeitet.
Vgl. Klammer, Ute und Katja Tillman, 2001: Flexicurity: Soziale Sicherung und Flexibilisierung der Arbeitsund Lebensverhältnisse. Düsseldorf: WSI, S. 79.
Vgl. Wilthagen, Ton, 1998: “Flexicurity: A new paradigm for labour market policy reform?” Discussion
Paper FS I 98-202. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung; Keller, Berndt und Hartmut Seifert,
2000: “Flexicurity – Das Konzept für mehr soziale Sicherheit flexibler Beschäftigung”, in: WSI-Mitteilungen
53 (5), 291-300.
Man denke nur an die sukzessive Ausweitung des Analyserahmens von der täglichen, zur wöchentlichen, zur
monatlichen, schließlich hin zur Betrachtung der Jahres- und zukünftig der Lebensarbeitszeit und der damit
verbundenen Unterstellung, Lebenszeit sei Erwerbsarbeitszeit, der bestenfalls ein Konto mit einem fixen
Freizeitbetrag (Sabbatical) zugestanden würde.
Zum Begriff vgl. Döhl, Volker, Nick Kratzer und Dieter Sauer, 2000: “Krise der NormalArbeit(s)Politik,
Entgrenzung von Arbeit – neue Anforderungen an Arbeitspolitik”, in: WSI-Mitteilungen 53 (1), 5-17.
Familienmitgliedern und Singles, auch von Generationen, sondern zudem dialektische Prozesse wie
die erwähnte “Entgrenzung von Arbeit”.
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen:
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Theorie und Empirie der “Flexicurity”.
Konzepte und Instrumente der Forschungstradition der “Social Quality”.
(4) Inklusion und Exklusion in der “Aktivgesellschaft”
In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat als eine Reaktion auf die vorab (in 2.2.2) skizzierten
Herausforderungen die Idee der Berechtigung, der Anspruch jedes Menschen auf eine
menschenwürdige soziokulturell angemessene Lebensführung, nach und nach gegenüber dem
Moment der Verpflichtung, der Erwartung und Einforderung aktiver Selbsthilfe durch Beschäftigungsaufnahme, dort, wo diese Idee seit der Nachkriegszeit verankert war, an Boden verloren. So haben
“Mißbrauchs”- und “Hängematten”-Kampagnen im öffentlichen Bewußtsein (wieder) die
Überzeugung verankert, daß es sich bei der Sozial- oder Arbeitslosenhilfe um eine bedingte
diskretionäre Leistung handelt. 73 Gezielte Individualisierung des Hilfsangebots bei gleichzeitigem
Ausbau staatlicher Zwangs- und Kontrollfunktionen soll das Beschäftigungspotential der
erwerbsfähigen Hilfeempfänger aufdecken und dem Arbeitsmarkt zuführen.
Diese “Aktivierungs”-Strategie hängt u.a. von der Vermehrung von Arbeitsplätzen jenseits des
Normalarbeitsverhältnisses ab. Denn Arbeitsplätze können durch eine stark verbesserte Innovationstätigkeit nicht mehr ohne weiteres geschaffen werden: Bei mehr Produktinnovation wird der
Beschäftigungseffekt positiv sein, weil durch diese Marktanteile erobert und gesichert werden können.
Bei mehr Prozessinnovation ist jedoch von negativen Wirkungen auf die Beschäftigung auszugehen, denn
diese dient der arbeitssparenden Rationalisierung. Es ist unwahrscheinlich, daß sich beide Wirkungen wie
noch in den 1980er Jahren so aggregieren können, daß sich Innovation, Wachstum und Beschäftigung
wechselseitig verstärken. Eine politische Strategie, die wieder in die Nähe von Vollbeschäftigung
kommen will, setzt daher auf Arbeitsplatzvolumina außerhalb der Industrie, damit auch auf neue
Arbeitszeitmodelle und neue, flexiblere Sicherungsformen (s.o.).
Selbst wenn eine derartige Jobvermehrung gelingen sollte, bleibt die “Individualisierung” janusköpfig:
gleichermaßen inklusions- wie exklusionsfördernd. Sie fördert das Versagen von oft nur schwerlich
oder kaum zu “aktivierenden” Personen wieder deutlich zutage und verwandelt damit deren
Hilfebedürftigkeit (Sozialhilfeabhängigkeit) zu einem Problem individueller Verantwortungslosigkeit,
was wiederum dazu beiträgt, die Schwelle für den öffentlichen Ruf nach Kontrolle und Repression zu
senken.74 All dies fügt sich in eine umfassendere Tendenz zur Delegitimierung “de-kommodifizierender” – d.h.: Marktzwänge begrenzender, arbeitsmarktexterne Lebenschancen garantierender –
Sozialpolitik ein. Passend hierzu wird Armut im herrschenden Diskurs nicht mehr als Verteilungsproblem, sondern als arbeitsmarkt- und bildungspolitische Frage diskutiert und die Frage sozialer
Gerechtigkeit nicht länger im Sinne der Möglichkeiten einer politischen Garantie von Teilhaberechten
gestellt, sondern im Sinne einer Politik der Gewährleistung von Teilnahme- bzw.
Zugangsgerechtigkeit reformuliert.
Vor diesem Hintergrund stellt sich für alle europäischen Gesellschaften die Frage, ob in den
Mehrheitsgruppen so viel Solidarität mobilisiert werden kann, daß die Kosten für die Weiterführung eines
integrationsstiftenden Sozialmodells, das nicht (mehr) in den Arbeitsmarkt integrierte und integrierbare
73
74
Zum ambivalenten Charakter der Sozial- und Arbeitslosenhilfe zwischen Leistungsgewährung und
Disziplinierung in vier deutschen politischen Systemen (Weimarer Republik; NS, DDR, Westdeutschland)
vgl. Rudloff, Wilfried, 1998: Öffentliche Fürsorge, in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Drei Wege deutscher
Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich. München: Oldenbourg, 191-229;
für die USA vgl. Katz, Michael, 2002: The Price of Citizenship, a.a.O.
Im Kapitel “The New Nannies of the Subject” verknüpft Pierre Rosanvallon “Individualisierung” konsequent
mit einem neuen “Paternalismus”, der sich vom alten dadurch unterscheiden soll, daß er, so Rosanvallon, nur
auf die sozioökonomischen Folgen des individuellen Handelns, nicht auf sittliche Korrektur ziele; vgl.
Rosanvallon, a.a.O., 102-104.
Menschen ebenso schützt wie erwerbstätige, politisch legitimationsfähig und durchsetzbar bleiben. Die
Formen und Folgen des inklusionsrelevanten institutionellen Wandels lassen sich im Hinblick auf die
Integrationsfähigkeit des europäischen Sozialmodells unter verschiedenen Fragestellungen
untersuchen, von denen die folgenden Themenbereiche besonders wichtig erscheinen:
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen:
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Arbeit, Beschäftigung und sozialer Zusammenhalt: Rahmenbedingungen und Wechselwirkungen..
Nicht bewältigte soziale Ungleichheiten (Geschlecht, Migration, Qualifikation).
Wandel des europäischen Sozialmodells und seine Folgen für gesellschaftliche Integration: Neubestimmung des
Verhältnisses von Erwerbsbeteiligung und Bürgerrechten in Zuge der institutionellen Veränderungen in
unterschiedlichen nationalen Kontexten.
Leitideen des institutionellen Wandels: Vorstellungen von gesellschaftlicher Zugehörigkeit, von
gesellschaftlicher Verantwortung gegenüber den Individuen und gesellschaftlichen Pflichten der Individuen.
Integration, Gefährdung, Ausgrenzung – neue Formen und Prozesse der sozialen Ungleichheit.
Konsequenzen betrieblicher Personal- und Qualifizierungsstrategien für Ausgrenzungsprozesse am
Arbeitsmarkt und im Erwerbssystem.
Organisation industrieller Beziehungen in ihren Inklusions- und Exklusionswirkungen.
Neue Formen von ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen in ihren betrieblichen und gesellschaftlichen
Kontexten.
Entwicklung von Gegenkulturen, Gegenkräften oder Aktualisierung der Betroffenheiten – neue “lokale
Sozialmodelle”.
Die “Remoralisierung der Ökonomie”: Zur gesellschaftlichen Relevanz einer neuen Debatte.
Integration durch Konsum: Gesellschaftliche Inklusion jenseits des Arbeits-Markts.
Sozialwissenschaftliche Methoden
Der Beitrag des sich seit September 2000 im Aufbau befindlichen sozialwissenschaftlichen Methodenzentrums
der Sozialwissenschaftlichen Fakultät (MZS) besteht neben dem in den einzelnen Themenschwerpunkten des
Antrags ausgewiesenen Forschungsinteressen des Leiters (Steffen Kühnel) vor allem in der Bereitstellung von
methodischem “Know How” für die Forschungsarbeiten im Rahmen des Graduiertenkollegs. Hierzu wird zum
einen das Lehr- und Studienprogramm des Kollegs ausgebaut (vgl. 2.3). Darüber hinaus bietet das MZS den
Graduierten die Möglichkeit von individuellen Beratungen in Fragen der quantitativen und qualitativen
Sozialforschung.
IV. Wirtschaftswissenschaften
Die wirtschaftswissenschaftliche Forschungsarbeit wird sich im Fortsetzungszeitraum des
Graduiertenkollegs primär auf die Beantwortung von Leitfrage 3 konzentrieren. Erstens sollen
Bestimmungsgründe und Hindernisse des Wandels von nationalen wie supranationalen wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und Modellen aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive erarbeitet werden. In der Realität zu beobachtende Konvergenzprozesse sollen ebenso
wie fortbestehende Divergenzen in einzelnen Bereichen der sozialen Sicherung, der
Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik sowie der Steuer- und Sozialabgabensysteme in den
europäischen Ländern untersucht werden. Zweitens stehen Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktinstitutionen in Deutschland, aber auch in den übrigen europäischen Ländern weiterhin im
Mittelpunkt. Die Effizienz-, Verteilungs- und Stabilisierungswirkungen des umfangreichen
Katalogs von Vorschlägen aus Wirtschaftstheorie und -politik, wie die nicht nur für den
deutschen Arbeitsmarkt festgestellten “Verkrustungen” aufgebrochen werden können,
interessieren hier besonders.
(1) Triebkräfte und Barrieren des Wandels aus ökonomischer Perspektive
Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften sind für die Bearbeitung der Kollegfragestellung nach Determinanten und Barrieren des Wandels nationaler wohlfahrtsstaatlicher Institutionen sowie des Europäi-
schen Sozialmodells insbesondere zwei, relativ junge Theoriestränge relevant: die evolutionäre
Ökonomik und die Neue Institutionenökonomik. Die interdisziplinäre Anlage des Graduiertenkollegs
bietet die reizvolle Gelegenheit, Möglichkeiten, aber auch Grenzen dieser Ansätze im Licht der
übrigen beteiligten Disziplinen, d.h. vor allem aus einer sozial- und geschichtswissenschaftlichen
Perspektive, zu überprüfen.
Die evolutorische Ökonomik befasst sich mit den Triebkräften des ökonomischen Wandels. Sie ist
damit im Gegensatz zur traditionellen Ökonomik weniger an der Beschreibung und der Analyse
vorgefundener ökonomischer Tatbestände und Ergebnisse bzw. an der Formulierung abstrakt
abgeleiteter, statischer optimaler Sollzustände interessiert. Vielmehr sollen Gesetze und Bedingungen
identifiziert werden, die dem ökonomischen Wandel bzw. der Entstehung und möglichen
Weiterentwicklung eines aktuellen ökonomischen Zustands zugrunde liegen. 75 Zwar ist der
Gegenstand der evolutorischen Ökonomik bislang hauptsächlich auf die Entstehung und Ausbreitung
von Innovationen und technologischem Fortschritt 76 beschränkt geblieben. Doch scheint dieser
Theorieansatz auch fruchtbare Anknüpfungspunkte für den Versuch einer ökonomischen Behandlung
des Wandels von nationalen und supranationalen Institutionen und Organisationen zu bieten, kann
doch die Veränderung von Institutionen auch als institutionelle Innovation begriffen werden.
Institutioneller Wandel wird damit von der Nachfrage nach neuartigen Institutionen, die die das
Europäische Sozialmodell charakterisierenden Effizienz- und Verteilungsnormen in höherem Ausmaß
als die existierenden Institutionen erfüllen können, angetrieben. Beispielhaft zu nennen sind hier die
Arbeitsmarktinstitutionen oder die Systeme der sozialen Sicherung: Während sich die
wirtschaftswissenschaftliche Forschungsarbeit der vorangegangenen Kollegphasen darauf konzentriert
hat,
Effizienzund
Verteilungswirkungen
nationaler
Arbeitsmarktinstitutionen
oder
Sozialversicherungssysteme zu überprüfen und ggf. Reformvorschläge zu formulieren, soll nun ein
besonderes Augenmerk auf der Frage liegen, weshalb als erforderlich erkannte Veränderungen nicht
umgesetzt werden. Es soll also hinsichtlich institutioneller Innovationen vor allem auf den
Ausbreitungszusammenhang abgestellt werden. Hier spielen innerhalb des Nationalstaats u.a.
kollektive Risikoaversion oder die Aktivitäten von Interessengruppen eine Rolle. Institutioneller
Wandel innerhalb einer Gruppe von Ländern wird dagegen insbesondere durch Häufigkeitsabhängigkeitseffekte sowie das Ausmaß des Selektionsdrucks beeinflusst. Dieser hängt von der
Intensität des internationalen Wettbewerbs sowie vom Umfang von Kosten- und
Effektivitätsvorsprüngen von Vorreiterstaaten ab, die durch Reformen Vorteile im internationalen
Wettbewerb realisieren (z.B. durch einen Ausbau des Bildungssektors oder durch die Einführung von
ökologischen Konsumstandards) und somit zur Imitation von institutionellen Neuerungen anregen.
Institutioneller Wandel ist nach dem Ansatz der Neuen Institutionenökonomie das Ergebnis einer
durch exogene oder endogene Entwicklungen verursachten Änderung der relativen Preise.77 Endogene
Änderungen der relativen Preise finden durch die Generierung neuen Wissens innerhalb der
bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen, das zu einer Neubewertung der vorhandenen
Optionen führt, statt. Werden die existierenden Institutionen als Restriktion der Handlungsmöglichkeiten empfunden, die die optimale Nutzung der durch das neue Wissen geschaffenen
zusätzlichen Nutzen- oder Renditepotenziale verhindern, so werden die betroffenen Akteure
versuchen, eine Veränderung der relevanten Institutionen herbeizuführen. Als Beispiel einer
Verknüpfung exogener und endogener Entwicklungen kann wieder die aktuelle Reformdiskussion im
Bereich der Alterssicherungssysteme angeführt werden, in der die Umstellung von umlagefinanzierten
auf kapitalgedeckte Systeme im Mittelpunkt steht: Diese dürfte maßgeblich von langfristigen
demographischen Veränderungen – als exogener Faktor – wie auch von der Herausbildung neuer
Finanzinstrumente – als endogener Faktor – beeinflusst werden.
Ein weiterer Strang der Neuen Institutionenökonomik untersucht die Rolle des horizontalen Systemwettbewerbs, also des Wettbewerbs zwischen institutionellen Regelungen in verschiedenen
75
76
77
Vgl. Witt, Ulrich, 1995: Wirtschaft und Evolution, in: Berthold, Norbert (Hg.), Allgemeine Wirtschaftstheorie. München: Vahlen, 385-410.
Vgl. Nelson, Richard G. und Sidney G. Winter, 2002: Evolutionary Theorizing in Economics, in: Journal of
Economic Perspectives 6 (2), 23-46.
Vgl. North, a.a.O.
Jurisdiktionen, als potenziellem Transmissionsriemen für institutionelle Veränderungen. Über
verschiedene Sanktions- oder Kontrollmechanismen können Wirtschaftssubjekte Einfluss auf
politische Entscheidungsträger zur Veränderung bestehender Institutionen nehmen. 78 “Abstimmung
mit den Füßen”79 bzw. “Exit” (Abwanderung) oder “Voice”80 (das Ausüben von Druck auf politische
Entscheidungsträger) sind aus institutionenökonomischer Sicht Reaktionsmöglichkeiten von privaten
Haushalten oder Unternehmen auf aus ihrer Perspektive suboptimale ökonomische Institutionen.
Vernachlässigt werden dagegen häufig so genannte Kontrollkosten, d.h. Kosten aufgrund der
Wahrnehmung der Sanktionsmöglichkeit “Exit”, die die Mobilität von Haushalten und Unternehmen
einschränken: Hier sind insbesondere Kosten der Raumüberwindung, der Suche und der
Informationsbeschaffung (z.B. über Steuersätze), der Aneignung von Sprache und Regelkenntnissen
sowie der Entwertung von Human- oder Sozialkapital zu beachten. Die Forschungsfragen, die sich aus
dieser Perspektive für die weiteren Arbeiten im Graduiertenkolleg ergeben, knüpfen an den von
Andreas Haufler geleisteten Forschungsbeitrag an (s. Arbeitsbericht 2000-2003).
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen:
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Erklärung der Herausbildung unterschiedlich ausgestalteter Systeme der sozialen Sicherung in Europa.
“Best practice” in der europäischen Beschäftigungspolitik aus der Perspektive der evolutorischen
Ökonomik.
Erklärung unterschiedlicher (Sozial-)Modelle in Europa und in den USA.Konvergenztendenzen in
nationalen Steuer- und Abgabensystemen.
Evolutionsökonomische Erklärung von institutioneller Konvergenz und Divergenz im Europäischen
Sozialmodell.
Institutionenökonomische Analyse der Umsetzbarkeit grundlegender Reformen in Alterssicherungssystemen.
Qualitative und quantitative Bestimmung von Lock-In-Effekten in verschiedenen Ländern in einzelnen
Sozialversicherungszweigen (mehrere Arbeiten).
Analyse exogener Faktoren des institutionellen Wandels in Europa.
Internationaler Wettbewerb Einkommensteuerwettbewerb um private Haushalte aus institutionenökonomischer Perspektive.
Internationaler Wettbewerb um private Haushalte und Unternehmen mit einer Senkung der
Lohnnebenkosten im Bereich der sozialen Sicherungssysteme.
Internationaler Unternehmenssteuerwettbewerb aus institutionenökonomischer Perspektive.
(2) Reformen auf den Arbeitsmärkten (vgl. dazu auch Sozialpolitik; Soziologie; Arbeits- und Sozialrecht)
Den Entwicklungen und dem Reformbedarf auf den Arbeitsmärkten wird angesichts andauernder Beschäftigungsprobleme sowohl innerhalb von Deutschland als auch auf der Ebene der Europäischen
Union weiterhin umfangreiche Aufmerksamkeit gewidmet. Als ein entscheidender Unterschied
zwischen dem US-amerikanischen Arbeitsmarkt und den (kontinental-)europäischen Arbeitsmärkten
wird oft herausgestellt, daß der Trade-Off zwischen geringer Lohndifferenzierung und
Beschäftigungshöhe unterschiedlich gelöst ist. Die hohe Lohnspreizung in den USA entspricht den
Grenzproduktivitäten der Arbeit und ermöglicht so ein hohes Beschäftigungsniveau, da Arbeitnehmer
aller Qualifikationsstufen für die Unternehmen rentabel eingesetzt werden können bzw. sich ein Markt
für Dienstleistungen für private Haushalte entwickeln kann.81 Viele europäische Arbeitsmärkte weisen
dagegen eine vergleichsweise geringe Lohnspreizung auf. Dieses Phänomen ist darin begründet, daß
sozial- und verteilungspolitische Ziele eine höhere Priorität als das Beschäftigungsziel genießen. Auch
ist die Gewerkschaftsmacht in den (kontinental-)europäischen Ländern (noch) höher, so daß die
arbeitslosen Outsider die von den die beschäftigten Insidern vertretenen Gewerkschaften nicht
unterbieten können; die Löhne sind daher nach unten nicht flexibel. 82 Als Resultat wird eine
78
79
80
81
82
Vgl. Erlei, Mathias et al., 1999: Neue Institutionenökonomik. Stuttgart: Schaeffer-Poeschel.
Tiebout, Ch.M., 1956: A Pure Theory of Local Expenditures, in: The Journal of Political Economy 64,
416-424.
Vgl. Hirschman, Albert O., 1970: Exit, Voice and Loyalty. Cambridge: Cambridge University Press.
Vgl. Appelbaum, Eileen und Ronald Schettkat, 1994: Das Ende der Vollbeschäftigung? Zur Wirtschaftsentwicklung in Industrieländern, in: Wirtschaftsdienst, 74. Jg., Nr. 5, 193-202.
Vgl. Layard, Richard, Stephen Nickell und Richard Jackman, 1997: Unemployment. Macroeconomic
Ausschöpfung insbesondere des Potentials niedrig Qualifizierter verhindert, so daß es gerade in
diesem Segment des Arbeitsmarktes zu einer steigenden und persistenten Arbeitslosigkeit kommt.83
Mit einer mangelnden Lohnspreizung wird das Fehlen eines Niedriglohnsektors impliziert, in dem
auch Arbeitnehmer mit niedrigen Qualifikationen Beschäftigung finden können.
Als weiterer Grund für die europäischen Beschäftigungsprobleme wird die Überregulierung auf den
Arbeitsmärkten – auch als “Eurosklerose” bezeichnet – genannt, die eine wiederum besonders im Vergleich zu den USA nur geringe Flexibilität der Arbeitsmärkte bedingt. 84 Arbeitnehmerschutzregelungen können dazu führen, daß Unternehmen hohe Entlassungskosten antizipieren und
daher ex ante weniger Arbeitnehmer einstellen als in einer Situation ohne entsprechende Regelungen.
Dies bezieht sich zunächst auf den Kündigungsschutz, d.h. auf Kündigungsfristen und
-voraussetzungen, aber auch auf Regelungen zu Abfindungszahlungen. Arbeitnehmerschutzregelungen
umfassen jedoch auch noch weitere Rechte, die in der Europäischen Union einer allmählichen
Harmonisierung unterliegen, etwa Mutterschutzregelungen oder zeitwerte Rechte zur
Kinderbetreuung. In der aktuellen Literatur werden die Beschäftigungswirkungen von Arbeitnehmerschutzrechten u.a. auf der Basis neuerer Arbeitsmarktmodelle analysiert, wobei diese Analysen nicht
zu eindeutigen Ergebnissen führen.85
Weitere Determinanten, die die Flexibilität von Arbeitsmärkten entscheidend beeinflussen, sind das
Niveau sowie die Ausgestaltung der sozialen Absicherung durch Lohnersatzleistungen aus Arbeitslosenversicherung und Mindestsicherungssystemen (Sozialhilfe). Von besonderer Bedeutung ist hier vor
allem das Zusammenspiel von Arbeitsmarktregulierungen – insbesondere in Form von Kündigungsschutzregelungen – und der sozialen Absicherung im Fall des Verlusts des Arbeitsplatzes. In den europäischen Ländern sind unterschiedliche Kombinationen vorzufinden: Einige Länder gestalten den Arbeitsmarkt sehr flexibel und setzen auf eine umfassende soziale Absicherung der Arbeitslosen (etwa
Dänemark), während in anderen Ländern eine starke Arbeitsmarktregulierung ein relativ schwach
ausgeprägtes soziales Netz kompensiert (Beispiel Spanien). Deutschland hingegen weist sowohl eine
vergleichsweise umfangreiche soziale Sicherung als auch eine ausgeprägte Arbeitsmarktregulierung
auf. Hier ist die Frage zu stellen, ob und in welcher Hinsicht hier in einzelnen Ländern Reformbedarf
besteht, und welche Reformen geeignet sind, die Flexibilität der Arbeitsmärkte zu erhöhen und gleichzeitig eine ausreichende soziale Sicherung zu bewahren. Auch ist von Interesse, wie sich Effizienzund Beschäftigungsgewinne aus einer Deregulierung des Arbeitsmarktes und eventuelle negative
Arbeitsanreize aus einer großzügigen sozialen Absicherung des Arbeitslosigkeitsrisikos zu einander
verhalten.86
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen:
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83
84
85
86
Zusammenhang zwischen Lohnspreizung und Beschäftigung – theoretische Analyse und empirische Evidenz
in Europa.
Theoretische Begründung von Lohnrigiditäten und Möglichkeiten ihrer Beseitigung.
Beschäftigungswirkungen der staatlichen Förderung eines Niedriglohnsektors in Deutschland;
Möglichkeiten der Umsetzung.
Theoretischer und empirischer Zusammenhang zwischen Arbeitnehmerschutzrechten und Beschäftigungsentwicklung und Bewertung von Reformvorschlägen zum Abbau dieser Arbeitnehmerschutzrechte
Implikationen von Arbeitsmarktregulierung und sozialer Sicherung auf die Flexibilität des Arbeitsmarktes –
Probleme und Reformvorschläge.
Performance and the Labour Market. Oxford: Oxford University Press.
Vgl. Siebert, Horst, 1994: Geht den Deutschen die Arbeit aus? München: Bertelsmann.
Vgl. Mester, F. und Ulrich van Suntum, 1998: Weichenstellungen für eine stabilitätsorientierte
Beschäftigungspolitik. Die Beispiele Neuseeland, Österreich und USA. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.
Vgl. Fella, Giulio, 2000: Efficiency Wages and Efficient Redundancy, in: European Economic Review 44
(8), 1473-1490; Goerke, Laszlo, 2001: Redundancy Pay and Collective Dismissals. CESifo working Paper,
Nr. 582, München.
Die innerhalb dieses Themenbereichs zu beantwortenden Fragestellungen sind mit dem Forschungsbeitrag
von Peter Rühmann zum Graduiertenkolleg eng verbunden (vgl . Arbeitsbericht 2000-2003). Der zukünftige
Stelleninhaber der Professur für “Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik” wird auch im Bereich der
Arbeitsmarktökonomie ausgewiesen sein.
V. Geschichte
Der Beitrag der Geschichtswissenschaft in der zukünftigen Kollegsarbeit konzentriert sich weiterhin auf die
verschiedenen nationalen Wege – Ideen, Interessen/Akteure und sich wandelnden, durchmischenden und neu
durchsetzenden Institutionen – zum Wohlfahrtsstaat (Leitfrage 1); ferner – wie es sich in der laufenden Kollegsarbeit
als ausgesprochen fruchtbar erwiesen hat – auf den Aspekt der Konstruiertheit sozialer Probleme. So sind “Armut”,
“Exklusion”, “Arbeitslosigkeit” zunächst einmal Begriffe (Konstrukte), deren Bedeutung alles andere als gegeben ist
und die von unterschiedlichen Akteuren geprägt und verbreitet werden.
Die historische Perspektive soll nach wie vor zeigen,
– daß die Instrumente des Europäischen Sozialmodells ein nicht zu unterschätzendes
Legitimationsreservoir für die jeweilige politische Kultur transportieren, das im nationalen Rahmen
erhebliche Abweichungen begründet, je nachdem ob der Staat als gesellschaftliche Veranstaltung
(Großbritannien) oder die Gesellschaft als staatliche Veranstaltung (Deutschland) verstanden wird;
– daß die Prozesse zur Aushandlung sozialer Bürgerrechte einer eigenen Dynamik folgen, die auf der
Angebotsebene den Gesetzen des politischen Massenmarktes sowie einer fortschreitenden
Professionalisierung der Dienstklasse unterlag, auf der Aneignungsebene flexible Antworten auf
die “Unvollkommenheit” des Marktes und die “Unvollkommenheit” der Familie ausbildete;
– daß die am Grund der “Krise des Sozialstaats” liegende Überforderung des staatlichen Sozialleistungsanspruchs keineswegs einem moralischen Verfall der Arbeitsneigung bei bestimmten
Bevölkerungsgruppen zu schulden ist, sondern im Kern vielmehr auf einen historisch begründbaren
Prozeß der Klientilisierung des Sicherheitsversprechens in der Implementationsphase und dessen
Generalisierung in der kriegsbedingten Ausbauphase des Europäischen Sozialmodells zurückzuführen ist.
In diesem Rahmen können Forschungsprojekte mit sozial- und politikgeschichtlichen sowie ideenund mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen relevant sein. Der historische Bezug wird dabei
schwerpunktmäßig auf der “Sattelzeit” der Moderne seit der Jahrhundertwende liegen, wobei
Rückbezüge auf die große englische Armenrechtsreform durchaus sinnvoll sind, die zusammen mit
dem Institutionalisierungsschub der kontinentalen Aufklärung in gewissem Sinne als Modell für das
europäische Sozialmodell gelten kann. Materiell sind die Dissertationsprojekte auf der Ebene der
politischen Instrumente, der administrativen Implementierung, der sozialen Aneignung und der
kulturellen Deutung des europäischen Sozialmodels anzusiedeln.
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen:
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Sozialreform und Wissenschaftskultur.
Die Grenzen des Sozialen im Krieg. Nachbarschafts- und Kameradschaftshilfe als “coping strategies”.
Selbsthilfebewegung und “grass-roots-politics”. Zur sozialen Infrastruktur der Demokratiegründung in
Europa nach 1945.
Das Eigene und die Fremden. Arbeitsmigration, Arbeitsstolz und politisches Verhalten in den europäischen
Aufnahmegesellschaften.
Bilder des Staates. Zur Ikonographie des “guten Lebens” im Wohlfahrtsstaat.
VI. Arbeits- und Sozialrecht
Für die Disziplin Arbeits- und Sozialrecht sind mit Blick auf das Generalthema des Graduiertenkollegs und die
Zuspitzung auf die Frage des institutionellen Wandels vier Aspekte von besonderem Interesse:
(1) Inwieweit läßt sich mit Blick auf die Rechtsordnungen der Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft von
einem Europäischen Sozialmodell sprechen?
(2) Welche Möglichkeiten eröffnet und welche Grenzen setzt das geltende deutsche Recht für Regulierung und
Deregulierung?
(3) Inwieweit führen die Vereinheitlichungsbestrebungen in Europa zu Gefahren oder Chancen für eine als
notwendig erachtete Flexibilisierung einerseits und für die Bewahrung des erforderlichen sozialen Schutzes
andererseits?
(4) Mit dem zuletzt genannten Aspekt ist verstärkt ein vierter Gesichtspunkt verzahnt, nämlich der eines
grundsätzlichen Wandels des Rechtsverständnisses in wichtigen Bereichen.
Ad (1): “Ein” oder “mehrere Europäische Sozialmodelle”?
Bestehen ohne die vereinheitlichenden Vorgaben wirklich Gemeinsamkeiten in den rechtlichen Instrumenten und/oder in den Ergebnissen? Im Bereich des Individualarbeitsrechts ginge es beispielsweise
um die Definition bzw. Bandbreite des Arbeitnehmerbegriffs 87 als Grundvoraussetzung für die
Anwendung der arbeitsrechtlichen Schutznormen. In Zusammenhang damit steht der Anstieg in
Frankreich sogenannter “prekärer” Arbeitsverhältnisse (Befristung, Arbeitnehmerüberlassung,
Scheinselbständigkeit), die zur Unterscheidung zwischen Kern- und Randbelegschaften führt.
Weiterhin zu nennen sind die Ausgestaltung des Kündigungsrechts oder der Entgeltzahlungsverpflichtung des Arbeitgebers unabhängig von einer Arbeitsleistung. Im kollektiven Bereich wäre eine
Auseinandersetzung mit dem Stand der Mitbestimmung auf Betriebs- und Unternehmensebene bzw.
der Tarifautonomie und dem Arbeitskampf angezeigt. Hierbei wäre auch ein Blick auf die
Verbandsstrukturen und deren Wandel erforderlich; die Diskussion um die Krise des
Flächentarifvertrages in Deutschland ist von dem Problem der Verbandsstärke nicht zu trennen. Die
Figur der Verbandsmitgliedschaft unter Ausschluß der Tarifbindung oder die Gründung tarifunwilliger
Verbände sind zusätzliche Symptome. Ebenfalls wäre zu untersuchen, inwieweit sozialer Schutz
partiell auf andere Weise als durch das Individualarbeitsrecht oder die autonome kollektive Gestaltung
der Arbeitsbedingungen erreicht wird oder erreicht werden kann, nämlich z.B. über
Sozialversicherungssysteme oder die staatliche Anordnung von Mindestarbeitsbedingungen.
Ad (2): Grenzen und Chancen von Regulierung und Deregulierung
Hier wäre zu untersuchen, wieweit das vorhandene Regelungsinstrumentarium (Gesetz, Tarifvertrag
und Arbeitskampf, Betriebsverfassung) hinreichend Spielraum für eine Anpassung an die geänderten
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen läßt. Diese Debatte wird bereits heftig mit den Stichworten gesetzliche Tariföffnungsklauseln, Beschränkung [Vorschläge der Deregulierungs- bzw. Monopolkommission] oder Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung [Arbeitnehmer-Entsendegesetz v.
26.2.1996, jetzt sogar mit der Möglichkeit einer staatlichen Rechtsverordnung zur Festsetzung von
Mindestvergütungen], Vorrang der Betriebsautonomie, Ende des Flächentarifvertrages geführt.
Zugleich wäre aber auch die Frage nach den Schutzvorkehrungen zu stellen, die nach geltendem Recht
verfassungsrechtlich bzw. europarechtlich gewährleistet oder lediglich nach einfachem Recht
unabdingbar sind. Hier richtet sich der Blick erneut auf den Kündigungsschutz, dessen Tragweite
erneut in die Diskussion geraten ist, aber auch auf die Tarifautonomie und Arbeitskampf. Beim
Kündigungsschutz zeigt sich die Tendenz, der Arbeitnehmervertretung insbesondere bei der sozialer
Auswahl mehr Gewicht zu verleihen, möglicherweise auf Kosten des Individualschutzes. In diesem
Zusammenhang ist geradezu spektakuär die Auseinandersetzung über die Vorschläge der sogenannten
“Hartz-Kommission”. Überraschend zeigen sich hier ganz neue Facetten bei der Rolle der bisherigen
Bundesanstalt für Arbeit. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt bestünde z.B. in der Ausgestaltung des
arbeitsrechtlichen Rechtsschutzsystems. Wie steht es um die Effektivität des Rechtsschutzes, und sind
die
Aufgaben
zwischen
Schlichtungsstellen,
Schiedsgerichtsbarkeit
und
staatlicher
Arbeitsgerichtsbarkeit sinnvoll verteilt? Auch insoweit wäre ein rechtsvergleichender Blick von
Interesse.
Ad (3): Konsequenzen der Rechtsvereinheitlichung und deren Bewertung
87
Vgl.dazu die laufende juristische Dissertation im Rahmen des Kollegs von Daniela Pottschmidt zum “Arbeitnehmerbegriff”
in
verschiedenen
Ländern
der
EU;
ferner
die
abgeschlossene
historisch-politisch-soziologische Dissertation von Nicole Mayer-Ahuja zur Prekarisierung der Beschäftigung
im Dienstleistungsbereich “Wieder Dienen lernen?” (erscheint 2003 bei edition sigma; siehe Arbeitsbericht
2000-2003).
Die Vereinheitlichung kann auf eine Flexibilisierung herauslaufen, wie es im Bereich des Arbeitszeitschutzes der Fall ist. Denkbar ist aber auch eine stärkere Verrechtlichung, wie sie etwa in den
Regelungen zum Entsenderecht, in der EG-Richtlinie über die Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung des Arbeitnehmers über die für seinen Arbeitsvertrag oder sein Arbeitsverhältnis geltenden
Bedingungen oder in den sehr speziellen Überlegungen zur Regelung der Beweislastverteilung bei
geschlechtsbezogenen Diskriminierungen begegnen. Von besonderem Interesse ist ferner, inwieweit
die Betonung der Grundfreiheiten durch den EuGH und sein intensives Verständnis des
Diskriminierungsverbotes zu einer Verstärkung von sozialem Schutz (Beispiel: Befristung von
Lektorenverträgen, Einsatz von ausländischen Sportlern [Fall Bosman]) oder möglicherweise auch zu
dessen Verringerung führt.
Ad (4): Wandel im Rechtsverständnis
Der “Wandel im Recht” läßt sich nicht in einer knappen Formel zusammenfassen. Häufig folgt das
Recht dem sozialen Wandel. 88 Denkbar ist es aber auch, das die Setzung rechtlicher Normen die
Veränderung in der “sozialen Welt” bewirkt. So treiben die europäische Gleichbehandlungsvorgaben
den Prozeß der Veränderung entschieden an. Ein Wandel im Rechtsverständnis zeigt sich darin, daß
zunehmend nicht mehr das deutsche “Arbeits- und Sozialrecht” als Exportmodell verstanden wird,
sondern daß sich eine europäische Sicht durchzusetzen beginnt, die mit keiner spezifischen
Rechtskultur verbunden ist. So hat die Richtlinie 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 11. März 2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und
Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft (ABl. EG Nr. L 80 S. 29) noch gerade
auf die besonderen Aspekte des Tendenzschutzes und damit vor allem auf das spezifische Arbeitsrecht
der Kirchen Rücksicht genommen. Es wäre zu untersuchen, inwieweit sich diese Position längerfristig
halten läßt. Die Europäische Aktiengesellschaft könnte zu einem Abbau der
Unternehmensmitbestimmung nach deutschem Muster führen. Mit der Anwendung des europäischen
Arbeitszeitrechts steht die tradierte Sonderbehandlung der Krankenhausärzte – mit Recht – auf dem
Prüfstand.
Es ist zwar nicht europarechtlich inspiriert, entspricht aber ebenfalls einer völlig neuen Blickrichtung,
wenn statt der Bezahlung von Überstunden Arbeitszeitkonten geführt werden, die nicht auf einen
späteren Freizeitausgleich abzielen, sondern z.B. in einem sogenannten “Zeitwertpapier” auch einen
geldwerten Ausdruck finden. Deren rechtliche Einordnung und die damit verbundenen Rechtsfolgen
gilt es zu untersuchen. Unter dem Druck der Forderung nach einer gesetzlichen Öffnung der
Tarifverträge zeigen sich auch die Gewerkschaften zunehmend bereit, die Betriebspartner stärker in
die Normsetzung einzubeziehen, etwa durch die Figur des “Entgeltkorridors” oder einer
unternehmensbezogenen Sonderzuwendung.
Ein Wandel des Rechtsverständnisses zeigt sich schließlich auch darin, daß die Bundesanstalt für Arbeit nach den Überlegungen der “Hartz-Kommission” nicht mehr als fürsorgende Behörde agieren,
sondern mit privatwirtschaftlichen Zügen ausgestattet werden soll. Damit lösen sich die früher relativ
klaren Konturen von öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Institutionen weiter auf, wie es
bereits auf den anderen Feldern von Bahn, Post oder Flugsicherung geschehen ist oder diskutiert wird.
Hierher gehört letztlich auch der Weg der Universitäten von einer unmittelbaren staatlichen Anstalt
über die Stiftung öffentlichen Rechts bis hin zu den “privaten” Universitäten. Hier wären die
Konsequenzen für das Arbeits- und Sozialrecht näher zu betrachten.
Exemplarische Themenbereiche für Dissertationen:

88
Der europarechtliche Arbeitnehmerbegriff.
Vgl. Friedmann, Wolfgang, 1969: Recht und sozialer Wandel. Frankfurt a.M.: EVA. Josef Esser beschreibt
unter derselben Perspektive “Das Schicksal der Prinzipien im Wandel des nationalen Rechts”; vgl. Esser,
Josef, 1956: Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts. Tübingen: Mohr, 327ff.
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Fortschritte im Sozialen Dialog gem. Art. 138 f. EGV.
Bedroht das Europarecht die Sonderstellung des kirchlichen Arbeitsrechts?
Auswirkungen der Grundrechte-Charta von Nizza auf das europäische und deutsche Arbeitsrecht.
Darstellung und Bewertung der europarechtlichen Einflußnahme auf das Arbeitssschutzrecht.
Der Einfluß von Art. 39 Abs. 2 EG-Vertrag [ex-Artikel 48 EWG] auf die Einstellungsfreiheit privater
Arbeitgeber.
Konsequenzen der Neubestimmung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht.
Die Rechtssetzungskompetenz der Tarifvertragsparteien für alle Arbeitnehmer bei “betrieblichen Fragen”
im Sinne des Tarifvertragsgesetzes.
Unterschreitung der tariflichen Vergütung bei Gefahr der Insolvenz.
Gleichheitsgebot für Arbeitgeberleistungen bei Arbeit am gleichen Ort.
Der Sozialplan – Neuerungen und Entwicklungen durch Gesetzgeber und Rechtsprechung.
Das “Zeitwertpapier”.
Die neue Rolle der “Bundesanstalt für Arbeit”.
2.2.4 Zusammenfassung: Die Bearbeitung der Kolleg-Fragestellung im Querbezug
Eine zusammenfassende Übersicht über die zuvor skizzierten Schwerpunktbereiche zukünftiger
Forschung im Graduiertenkolleg bietet das umseitige Schaubild “Arbeitsschwerpunkte für
Doktorand(inn)en nach Kolleg-Themenfeldern und beteiligten Disziplinen” (vgl. S. 44).
2.3 Studienprogramm
Die Arbeiten des Kollegs sind nicht nur – wie von der DFG erwartet und von den drei Leitfragen nahegelegt – so
weit wie sinnvoll und möglich interdisziplinär ausgerichtet. Disziplinäre Schnittmengen bestehen insbesondere
zwischen
historisch-soziologischen,
politisch-soziologischen,
rechtsvergleichenden
und
institutionenökonomischen Fragestellungen. Darüberhinaus sollen alle Arbeiten (wie bisher) vergleichend
angelegt sein; möglich sind dabei sowohl historische als auch internationale Vergleiche.
Die Interdisziplinarität setzt bekanntlich ein ebenso breites wie vertieftes Wissen des theoretischen, empirischen
und methodischen Beitrags der jeweiligen Disziplin zu den übergreifenden Fragestellungen des Kollegs – in der
beantragten Phase insbesondere im Hinblick auf die Fragen des Wandels von Institutionen – voraus. Dieses
Wissen soll u.a. durch Lektürekurse zum jeweiligen disziplinären Stand der Forschung vermittelt werden. Zum
Pflichtprogramm gehören auch regelmäßig Veranstaltungen zum Forschungsdesign, den Forschungsmethoden
der beteiligten Disziplinen sowie zu den Methoden international vergleichender Sozialwissenschaften.
Das Studienprogramm sah solche Veranstaltungen bereits vor. Es hat sich inhaltlich gut, formal weitgehend
bewährt. Es soll daher beibehalten werden – allerdings mit einigen Modifikationen:
-
Anders als im Hochschulstudium sollen die Lehrveranstaltungen für die Kollegiat(inn)en im Lauf eines
Semesters in Form von drei 1-2tägigen internen workshops organisiert werden (drei “Blöcke”). Der erste
Block würde in die Thematik einführen (Input der jeweiligen Lehrenden), der zweite der Diskussion der
fachspezifischen Literatur durch die Kollegiat(inn)en gewidmet sein, der dritte Block wird schließlich der
Verknüpfung des Standes der Forschung mit den Fragestellungen der einzelnen Arbeiten dienen. Diese
Organisation der Lehrveranstaltungen ermöglicht – unserer Erfahrung nach – am ehesten eine intensive
inhaltliche Auseinandersetzung, den selbständigen Umgang mit dem Stand der Forschung und zugleich eine
unmittelbare Anwendung des angeeigneten Wissens.
-
Diese internen Studien-workshops sollen durch die Möglichkeit, bei Bedarf kurzfristig auch externe
(deutsche) Experten für spezielle theoretische und methodische Probleme oder inhaltliche Fragen, die durch
die Hochschullehrer des Kollegs nicht oder nur ansatzweise beantwortet werden können, zur Beratung
hinzuzuziehen, ergänzt werden. Der Input der Experten soll ebenfalls in Form von 1-2tägigen workshops
erfolgen. Dies ermöglicht eine gezielte Konzentration der Lehre auf von den Graduierten nachgefragte
Bedarfe. Wie bisher sind es die Doktorand(inn)en, die workshops und Experten vorschlagen.
Das Studienangebot wird wie bislang Grundlagen für eine gemeinsame theoretische und methodologische
Rahmenperspektive der interdisziplinär zusammengesetzten und an unterschiedlichen Schwerpunkten
arbeitenden Kollegiat(inn)engruppe schaffen. Es soll zugleich – siehe u.a. Experten-workshops – auf spezielle
Bedürfnisse eingehen, die sich im Zusammenhang mit den Dissertationsprojekten von Teilgruppen der
Graduierten ergeben. Das Veranstaltungsangebot muß daher auf überschaubare Weise die Grundfragestellungen
des Gesamtprogramms thematisieren, d.h. in die in 2.2 entwickelten Themenfelder einführen, den Kenntnisstand
vertiefen und das nötige methodische, vor allem komparative, Wissen vermitteln; gleichzeitig soll es ausreichend
Flexibilität in der Planung bewahren.
Das am Antrag beteiligte Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien (ZENS) (Knöbl, Lessenich, Lösche,
Ostner) arbeitet überwiegend komparativ und integriert diesen Zugang auch regelmäßig in die Lehre. Ab
Sommersemester 2003 bietet das ZENS Veranstaltungen im Rahmen des Studienfachs im
Magister-Hauptstudium “Vergleichende Europa- und Nordamerikastudien” an. Das Kolleg wird von dieser
inhaltlichen und methodischen Ausrichtung auch weiterhin profitieren.
Das im folgenden präsentierte Studienschema (vgl. S. 46) ist – wie schon im ersten und zweiten Zyklus des
Kollegs – als Rahmenmodell zu verstehen, dessen konkrete Ausfüllung flexibel handzuhaben sein wird. Die
Kombination von aufeinander aufbauenden Lehrveranstaltungen und dazwischen geschalteten kleineren und
größeren
Workshops
zielt
auf
die
Synthese
theoretisch-forschungsstrategischer
und
empirisch-forschungspraktischer Anleitung, unter Einbeziehung auch einschlägig ausgewiesener Expert(inn)en.
Das Programm im einzelnen:
Das Lehr- und Studienprogramm ist auf sechs Semester angelegt. Es wird jeweils um zwei Semester versetzt von der
ersten und zweiten Kohorte von Graduierten durchlaufen. Es hat sich gezeigt, daß mit einem Angebot von sechs
Semesterwochenstunden die Grenze der Belastbarkeit der Kollegiat(inn)en erreicht ist. Der Schwerpunkt des
Angebotes liegt im ersten bis vierten Semester.
Schaubild 3: Das Studienprogramm im Überblick
Einführung
Methoden
Theorien I:
Institutionalistische
Ansätze
Methoden I:
Forschungsdesign
Fachspezifik
Veranst.typ
Lektürekurs/
Kolloquium
Semester
1
Blockseminar:
Vorstellung der
Projekte
Doktorandenkolloquium
Methoden II:
Methoden
vergleichender
Sozialforschung
2
Fachspezifische
Einführung
Lektürekurs
und
Doktoranden-kolloquiu
m
Workshop I (Summer School)
3
Theorien II:
Institutioneller Wandel
Methoden III:
Diskurs- und
Inhaltsanalyse
Workshop: Spezielle
Methodenprobleme
4
Lektürekurs
und
Doktoranden-kolloquiu
m
Fachspezifische
Vertiefung
Lektürekurs
und
Doktoranden-kolloquiu
m
Workshop II (Summer School)
5
Theorien III:
Europäischer
Gesellschafts-vergleich
Workshop: Spezielle
Methodenprobleme
(bei Bedarf)
Lektürekurs
und
Doktoranden-kolloquiu
m
Lektürekurs
und
Doktoranden-kolloquiu
m
6
Workshop III (Summer School)
Das erste Semester besteht aus einem zweitägigen Blockseminar, in dem die Stipiendiat(inn)en ihr
Forschungsvorhaben vorstellen und wechselseitig kommentieren, ferner aus einem vierzehntägigen Kolloquium, an
dem alle Mitglieder des Kollegs teilnehmen und in dem die überarbeiteten Exposés von je zwei Hochschullehrern
kommentiert werden. Dieses Verfahren hat sich in der Vergangenheit als fruchtbar erwiesen. Ferner werden ein
obligatorisches Theorie-Seminar zu institutionalistischen Ansätzen in Politikwissenschaft, Soziologie und
Wirtschaftswissenschaft (drei Blöcke – siehe oben) sowie ein obligatorisches Seminar (dito) zur Einführung in
Fragen des Forschungsdesigns angeboten, letzteres um grundlegende Fragen der Anlage der Dissertation zu klären.
Das zweite Semester ist der inhaltlichen und methodologischen Weiterentwicklung der einzelnen
Dissertationsvorhaben gewidmet. Im Vordergrund stehen Methodenprobleme, die in dieser Phase des
Arbeitsprozesses erfahrungsgemäß erstmalig auftauchen (Fallauswahl; Methoden der international vergleichenden
Sozialforschung), sowie die fachspezifische Betreuung der einzelnen Graduierten durch Vertreter des ihnen inhaltlich
jeweils am nächsten stehenden Fachgebiets. Dieses fachspezifische Angebot wird, den konkreten Untersuchungsthemen der Graduierten entsprechend, bestimmte Ausschnitte aus den Rahmenthemen des Kollegs aufgreifen.
Weitergeführt wird das obligatorische Doktorandenkolloquium verbunden mit einem Lektürekurs; beides wird bis
zum letzten Semester seinen festen Platz im Studienprogramm der Graduierten haben. Im Mittelpunkt des
Kolloquiums stehen in diesem Semester Beiträge der Hochschullehrer zur Weiterentwicklung des Rahmenthemas,
während im Lektürekurs klassische und aktuelle Texte von projektübergreifender Bedeutung gemeinsam diskutiert
werden.
Der erste große Workshop, der wieder im Anschluß an das zweite Semester – also Ende des Sommersemesters –
stattfinden wird, nimmt die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen der ersten beiden Studiensemesters auf. Ziel des auf
vier Tage angelegten Intensivseminars wird es sein, sowohl die Konturierung der Untersuchungsthemen der einzelnen Graduierten wie auch die Leitfragen und -konzepte des Kollegs entscheidend voranzutreiben. Vor allen Dingen
soll der Workshop auch dazu genutzt werden, in intensiver Gruppen- und Einzelbetreuung die jeweiligen
Forschungsdesigns – vor allem auch die Begründung der Fallauswahl – unter forschungspragmatischen Gesichtspunkten auszuwerten und gegebenenfalls neu auszurichten. Damit soll gewährleistet werden, daß die Phase der
Themensuche und die Entscheidung über die zu untersuchenden Fälle zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu einem
vorläufigen Abschluß gelangen. Als wissenschaftliche Impulsgeber in diesem Prozeß werden externe Expert(inn)en
eingeladen. Diese Expert(inn)en stellen sich dem Kolleg mit ihren eigenen Forschungen (mit Bezug auf die Frage
nach der Zukunft des Europäischen Sozialmodells bzw. auf die Leitfragen des Kollegs) vor, kommentieren die Texte
der Doktorand(inn)en und stehen diesen in Einzelgesprächen zur Verfügung.
Das dritte Semester betont erneut die eher themenübergreifend angelegte Lehre. Angesichts der Bedeutung
institutionalistischer Ansätze für die Klärung der Frage nach der Re-Konfiguration des (“alten”) Europäischen
Sozialmodells wird ein zweites Theorie-Seminar insbesondere theoretische Konzeptualisierungen von Prozessen
institutionellen Wandels thematisieren. Zum anderen wird die Vertiefung und Spezifizierung des Methodenwissens
im Mittelpunkt der Kollegtätigkeit stehen. In den beiden vorangegangenen Phasen hat sich gezeigt, daß viele (und
zunehmend mehr) Doktorand(inn)en am methodischen Instrumentarium der Inhalts- bzw. Diskursanalyse interessiert
sind; das (neue) dritte Methoden-Seminar soll diesem Bedarf Rechnung tragen.
Im vierten Semester erfolgt die zweite Runde spezialisierter, themenzentrierter methodologischer und fachlicher
Anleitung, die ein Jahr zuvor (im zweiten Semester) begonnen worden war. Ab dem fünften Semester wird das
Lehrprogramm dann reduziert (der Methoden-Workshop steht nur noch bei Bedarf offen), da nun die Ausarbeitung
der verschiedenen Dissertationen im Mittelpunkt des Interesses stehen muß. Entsprechend kommt in dieser Phase
dem Doktorandenkolloquium besondere Bedeutung zu, das im abschließenden sechsten Semester zusammen mit
dem Lektürekurs das abschließende Studienangebot bildet. Da die das Kolleg tragenden Institute regelmäßig
Ringveranstaltungen anbieten, an dem die Stipendiat(inn)en nach bisheriger Erfahrung teilnehmen und auch selbst
vortragen können, wird die Möglichkeit einer Kolleg-Ringveranstaltung zwar durchaus erwogen, aber letztlich von
der Nachfrage (und auch dem Angebot) abhängig gemacht.
Der zweite große Workshop am Ende des vierten Semester dient der Präsentation des Forschungsstands der einzelnen
Stipendiat(inn)en. Im Rahmen des sechstägigen Arbeitsprogramms wird es nicht nur darum gehen, die bisherige
Forschung “auf den Punkt” zu bringen und einer über den Kollegzusammenhang hinausgehenden universitären
Öffentlichkeit vorzustellen. Vor allen Dingen soll der Workshop auch dazu genutzt werden, in intensiver Gruppenund Einzelbetreuung erste Forschungsergebnisse auf ihre Stringenz hin zu überprüfen. Zu diesem Zweck werden die
Graduierten wieder auswärtige Expert(inn)en einladen, die ihnen für diesen Evaluationsvorgang besonders geeignet
erscheinen.
Im Anschluß an das sechste Semester schließlich findet der dritte große Workshop – wenn
möglich eingebunden in eine größere Fachöffentlichkeit – statt, um die Ergebnisse der
Stipendiat(inn)en präsentieren und deren individuelle wie kollektive wissenschaftliche
Netzwerkbildung fördern zu können. Dieser dritte Workshop ist wieder auf eine Dauer von sechs
Tagen ausgerichtet, und seine konkrete Gestaltung sowie die Einladung von externen
Kommentatoren bzw. Korreferent(inn)en werden in enger Absprache mit den Graduierten
erfolgen.
Wie bereits betont, können die Graduierten je nach Bedarf kleine workshops zu bestimmten
Themen organisieren. Die Seminare und workshops stehen auf Anfrage auch fortgeschrittenen
Studierenden der beteiligten Fakultäten offen. Dies erhöht nicht nur die Bekanntheit des Kollegs.
Es macht die Studierenden auch mit anderen – intensiveren und auf Selbständigkeit bei
kontinuierlichem feedback setzenden – Formen des Studiums vertraut.
2.4 Darstellung der bisherigen Bemühungen und Leistungen der am Antrag beteiligten
Einrichtungen in der Graduiertenausbildung
Siehe Arbeitsberichte über die erste und zweite Förderphase.
2.5 Erwarteter Ertrag des Graduiertenkollegs und Auswirkungen auf die
Entwicklung der betroffenen Fachgebiete und den Studienverlauf
Die Antragsteller streben mit dem Graduiertenkolleg weiterhin eine zusätzliche institutionelle Klammer für ihre
Zusammenarbeit sowie die Möglichkeit an, herausragenden Nachwuchs gezielt in einem wissenschaftlich wie
politisch-praktisch relevanten Forschungsbereich zu fördern. Die positive Aufnahme des Fortsetzungsantrags würde
– wie in Punkt 2.2 ausgeführt – das bereits erarbeitete Wissen gezielt erweitern und vertiefen und damit zu auch
zukünftig hochaktuellen wissenschaftlichen und politischen Fragen der Gestalt und Gestaltung der in vielerlei
Hinsicht unter Druck geratenen EU-europäischen Gesellschaft beitragen.
Nicht zuletzt dient eine Institutionalisierung der Kooperation als Graduiertenkolleg auch als Labor für die Erprobung
zukünftiger, weitergehender Kooperationen (Forschergruppe; Sonderforschungsbereich). Wie die Erfahrung zeigt,
kann in diesem Fall herausragenden Absolvent(inn)en die Möglichkeit zur Fortsetzung ihrer Forschungsarbeit in
einem neuen Zusammenhang geboten werden. Die Chancen, die existierende und durch die gemeinsame
Kollegsarbeit intensivierte Kooperation in die Formulierung eines größeren gemeinsamen Forschungsvorhabens
einmünden zu lassen, steigen durch die Neuberufungen in den Bereichen “Vergleichende Sozialwissenschaften”
(Knöbl), “Politische Theorie und Ideengeschichte” (Reese-Schäfer), “Empirische Bildungsforschung” (Kraul),
“Quantitative Methoden in den Sozialwissenschaften” (Kühnel), “Qualitative Methoden” (Rosenthal)
“Gesellschaftstheorie” (Ruf an Jens Beckert ergangen) und “Volkswirtschaft und Sozialpolitik” (im Verfahren).
Der Wissenschaftsrat hat im Mai 1994 die an einem Graduiertenkolleg beteiligten Fakultäten
aufgefordert, im Rahmen des Fortsetzungsantrags über die Rückwirkungen der Institution “Graduiertenkolleg” und der konkreten Kollegsarbeit auf das jeweilige grundständigen Studiums zu berichten. Dies
soll an dieser Stelle geschehen.
Von der Institutionalisierung eines Kollegs geht, wie auch intendiert, in erster Linie eine Signalwirkung
für die Studierenden aus, die sich im Prozeß der Entscheidung für oder gegen eine Promotion befinden.
Dabei ist daran zu erinnern, daß es bei der Promotionsförderung sowohl um Nachwuchsförderung wie
auch um eine fundierte, gezielte Qualifizierung für Berufsfelder außerhalb von Universität und Forschung
geht, in denen die Promotion Zugangsvoraussetzung oder Karrierepromotor ist.
Die seit einiger Zeit an der der Universität Göttingen (und an anderen niedersächsischen Hochschulen)
laufenden Evaluationen von Studium und Lehre haben für die am Kolleg beteiligten Disziplinen, vor
allem für die Sozialwissenschaften, eine im Verhältnis zur Zahl der Studienabsolvent(inn)en recht niedrige Gesamtzahl der Promotionen zutage gefördert. Auffallend ist ferner das relativ hohe Durchschnittsalter
der Promovierten. Obwohl in den beteiligten Fakultäten national und international beachtete Forschung
betrieben wird, ist es bisher kaum gelungen, auswärtige Studierende zum Promovieren in den jeweiligen
Fächern nach Göttingen zu ziehen. Die Situation an anderen Hochschulen dürfte sich von der Göttinger
kaum unterscheiden. Man kann diesen negativen Befund als Ausdruck einer mangelnden oder zumindest
kaum expliziten Förderung des wissenschaftlichen bzw. qualifizierten Nachwuchses interpretieren.
Initiativen bzw. Institutionen wie die Graduiertenkollegs markierten hier eine Wende und erhielten eine
Leitbildfunktion für die zukünftige Promotionsförderung: Hochschullehrer und ihre Doktoranden arbeiten
gemeinsam kontinuierlich vermittelt über ein gemeinsames übergreifendes Thema, erarbeitete
Schwerpunkte und verbindende theoretische und methodische Zugänge auf die zügige, gleichwohl
kompetente Bearbeitung von Dissertationsvorhaben hin. Fortschritts- und Qualitätskontrollen sind
dadurch fast automatisch eingebaut. Im Fall unseres Kollegs können – wie bereits erwähnt – einschlägig
interessierte, besonders qualifizierte Hauptfachstudierende und Doktorand(inn)en der einzelnen Fächer –
nach Anmeldung – an den Veranstaltungen des Kollegs teilnehmen und dadurch Einblick in die
Kollegsarbeit (einschließlich des dafür abverlangten intellektuellen und zeitlichen Engagements aller
Kollegsmitglieder) gewinnen.
Auch wenn wahrscheinlich die Existenz des Kollegs nicht automatisch die Zahl der Promotionswilligen
steigert, so dient es doch dem qualifizierten Nachwuchs, aber auch – wie uns von einigen berichtet – den
Kollegen als gründliche Information darüber, mit welchen Anforderungen für eine gelingende Promotion
gerechnet werden muß und wie das Promotionsvorhaben gewinnbringend durchgeführt werden kann: im
thematischen Verbund mit anderen und eingebunden in kontinuierliche kooperative Diskussion und Kontrolle. Schließlich kann man auch Rückwirkungen der “Qualitätssicherung”, z.B. der Sicherung des state
of the art, wie sie im Kolleg zwangsläufig garantiert sein muß, auf die Lehrveranstaltungen im Grund- und
Hauptstudium feststellen – z.B. in der wachsenden Internationalität der vermittelten Lehrinhalte und
einem größeren Gewicht der Kunst wissenschaftlicher Argumentation und Methoden.
3. Strukturelle und organisatorische Voraussetzungen für die
Durchführung des Graduiertenkollegs
3.1 Stellung des Graduiertenkollegs in der Universität und zu außeruniversitären
Forschungseinrichtungen
Das Kolleg wird gemeinsam von Mitgliedern der Fakultäten der Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften,
Historisch-Philologischen Wissenschaften und der Rechtswissenschaften der Universität getragen. Es kooperiert eng
mit zwei etablierten Instituten, dem Zentrum für Europa- und Nordamerika-Studien der Universität (ZENS) und dem
Soziologischen Forschungsinstitut an der Universität (SOFI), denen jeweils mehrere der Antragsteller angehören.
3.2 Einpassung des Graduiertenkollegs in die bestehende Studienstruktur
Die Fachgebiete des Kollegs entsprechen den “Hauptsäulen” der sozialwissenschaftlichen Diplomausbildung in
Göttingen (“Diplom-Sozialwirt”). Das Kolleg setzt somit im Bereich des Promotionsstudiums den interdisziplinären
Ansatz der Göttinger Diplomausbildung fort. Hinzugekommen (vgl. oben) ist das vom ZENS – dort von der
Politkwissenschaft, der Soziologie und der Sozialpolitik getragene – Hauptfachstudium “Europa- und
Nordamerikastudien”, das systematisch vergleichend angelegt ist. Das Kolleg soll aber auch und vor allem
Absolvent(inn)en anderer Studiengänge offen stehen (siehe Zugangsvoraussetzungen).
Für die Kollegiat(inn)en kommt in erster Linie eine Promotion zum Doktor der Sozialwissenschaften (Dr. disc. pol.)
in Betracht. Die entsprechende Ordnung läßt Themen aus allen Kolleg-Fachgebieten zu. Bei entsprechender
Betreuung ist auch eine Promotion nach den Ordnungen für Dr. rer. pol., Dr. phil. oder Dr. jur. möglich.
3.3 Zugangsvoraussetzungen
Die Aufnahme in das Kolleg erfolgt einmal jährlich. Das Kollegprogramm wird bundesweit –
und gezielt im Ausland – ausgeschrieben (u.a. jeweils im Internet). Dem Antrag auf Zulassung,
der bei der Geschäftsstelle des Graduiertenkollegs eingereicht wird, sind folgende Unterlagen
beizufügen:
-
wissenschaftlicher Werdegang,
Übersicht über die vorausgegangenen Studienleistungen und Kopien der
Abschlußzeugnisse,
die Examensarbeit,
Referenzen von in der Regel zwei Hochschullehrern sowie
ein Exposé des geplanten Dissertationsvorhabens, das vergleichend angelegt sein soll.
Den Bewerber(inne)n wird zur Information für die Anfertigung des Exposés eine Kopie des
Arbeitsberichtes der zweiten Phase sowie der Fortsetzungsantrag zugeschickt. Sie werden
ausdrücklich ermuntert, sich für ein im Antrag formuliertes Thema zu entscheiden und für dessen
Bearbeitung erste Überlegungen zu formulieren.
Über den Antrag entscheidet eine Auswahlkommission, die von den am Graduiertenkolleg beteiligten
Hochschullehrern gebildet wird. Kriterien für die Zulassung sind:
-
ein Diplom, ein Magister oder ein Staatsexamen in den einschlägigen Fachgebieten mit
-
Prädikat;
Auslandsstudium (der Möglichkeit nach);
Qualität, Stringenz und Originalität des Arbeitsvorhabens;
gute Kenntnisse in den quantitativen und/oder qualitativen Forschungsmethoden bei einer
Bewerbung für einen der sozial- oder wirtschaftswissenschaftlichen Schwerpunkte;
gute Fremdsprachenkenntnisse (entsprechend dem Dissertationsthema).
Die Qualität des Exposés, Kenntnis des Forschungsstandes und der entsprechenden Methoden sowie etwaige
Studienaufenthalte im Ausland tragen maßgeblich zur Entscheidung über die Aufnahme bei.
Das beantragte Kolleg strebt weiterhin an, den weiblichen wissenschaftlichen Nachwuchs besonders zu fördern.
Es wird wie bisher erwartet, daß die Kollegiat(inn)en in der Zeit der Förderung am Ort wohnen.
3.4 Erfolgskontrollen
Das Lehr- und Studienprogramm in 2.3 wurde gezielt im Hinblick auf eine Straffung des Promotionsstudiums und
die kontinuierliche Erfolgskontrolle entwickelt. Besondere Bedeutung haben neben den Doktorandenkolloquien und
der themenspezifischen Einzelbetreuung wiederum die Workshops. Hier sollen die Graduierten den Fortschritt in der
Bearbeitung ihres Themas sowie spezifische theoretische und methodische Probleme einer – u.a. internationalen –
Fachöffentlichkeit präsentieren. Die Entscheidung über eine Förderung über das erste Jahr hinaus erfolgt auf der
Grundlage des Zwischenberichts – in der Regel identisch mit dem Papier, das die Grundlage der Diskussion im
ersten Sommer-Workshop bildet, – und der Beurteilung der jeweiligen Betreuer.
Es hat sich herausgestellt, daß die Förderdauer von maximal drei Jahren für einige Doktorand(inn)en
nicht ausreicht, ihre Promotion abzuschließen. Wir führen dies – neben besonderen Probleme der
Interdisziplinarität, der Komparatistik und der Auswertung von Massendaten (vgl. Arbeitsbericht) –
auch darauf zurück, daß die erste Phase der Konkretisierung des Forschungsvorhabens oftmals zu
lang dauert und in der anschließenden Realisierungsphase eine stärkere Orientierung auf zu
erreichende Zwischenschritte (“miles stones”) nötig ist. Die Stipendien der dritten Förderungsphase
sollen daher zukünftig noch expliziter als bisher intern für jeweils ein Jahr vergeben werden, wobei in
den ersten beiden Jahren eine Fortsetzung der Förderung garantiert wird, wenn zu spezifizierende
Zwischenziele erreicht werden. Die Fortsetzung der Förderung nach dem ersten Jahr soll davon
abhängig gemacht werden, daß die Stipendiatin oder der Stipendiat (a) das bei der Bewerbung
eingereichte Exposé im Hinblick auf die Forschungsfrage, die methodische Umsetzung und den Arbeitsplan konkretisiert und (b) einen Arbeitsbericht anfertigt, in dem zusätzlich der Stand der
Forschung detailliert wiedergegeben wird. Die Weiterförderung nach dem zweiten Jahr soll von der
Fortführung des Arbeitsberichts abhängig gemacht werden, wobei dieser bereits erste Ergebnisse etwa
in Form von Rohentwürfen erster Kapitel der Dissertation enthalten soll. Die Konkretisierung des
Exposés und die Arbeitsberichte sind von einem Betreuer des Dissertationsvorhabens positiv zu
begutachten, wobei die Gutachten innerhalb von vier Wochen nach Eingang der Berichte zu erstellen
sind.
Die Abschlußprüfung am Graduiertenkolleg ist identisch mit der Promotion im Sinne der entsprechenden
Promotionsordnung der zuständigen Fakultät.
Die Kollegiat(inn)en können ihre Promotion in englischer Sprache abfassen.
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