Prof. Dr. Wolf-Dieter Scholz Fakultät I Prof. Dr. Heinz-Dieter Loeber Fakultät IV Sommersemester 2005 "Individuum und Gesellschaft. Einführung in die Bildungssoziologie" Dienstag 10-12 Uhr Hörsaal 2 1. Zielsetzung der Veranstaltung In der hier angebotenen Veranstaltung geht es im Kern um die Frage nach den anthropologischen und gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen. Dabei soll untersucht werden, in welchem Verhältnis Individuum und die es umgebende Gesellschaft stehen, ob Erziehung und Sozialisation des einzelnen Menschen unabhängig von „seiner“ Gesellschaft erfolgen können oder ob sie konstitutiv auf die Gesellschaft angewiesen und bezogen sind. Zunächst sollen in der Veranstaltung drei unterschiedliche Ansätze über die anthropologischen Grundlagen der Erziehung/Sozialisation dargestellt und diskutiert werden. Es sind dies die Position des französischen Soziologen und Pädagogen E. Dürkheim, der Ansatz bei K. Marx mit einem insgesamt eher optimistischen und der bei A. Gehlen mit einem eher pessimistischen Bild vom Menschen. Ergänzt werden soll dieser Teil der Veranstaltung mit Ergebnissen der kulturanthropologischen Forschungen von M. Mead, mit denen diese die Kulturgebundenheit von Erziehung und Sozialisation untersucht hat. Im daran anschließenden Teil soll das Verhältnis von Erziehung und Institutionen thematisiert werden. Hier geht es um die Entstehung und Funktionen von gesellschaftlichen Institutionen aus unterschiedlicher Perspektive. In dritten Abschnitt der Veranstaltung sollen Sozialisation und Erziehung unter funktionalistischer, interaktionistischer und psychoanalytischer Perspektive theoretisch reflektiert werden. Im abschließenden Teil schließlich soll das Verhältnis von Sozialisation/Erziehung, sozialer Schichtung und Bildungschancen behandelt werden. 2. Übergreifende und die Veranstaltung strukturierende Fragestellungen 1. Was ist die Natur des Menschen was konstituiert ihn als sozialen Wesen, in welchem Verhältnis stehen angeborene und erworbene Faktoren? 2. In welchem Verhältnis stehen Individuum und Gesellschaft, gibt es einen Dualismus zwischen beiden, handelt es sich um ein gleichsam vertraglich geregeltes Zweckbündnis oder ist Gesellschaft das unabdingbare Medium der Entfaltung des Individuums? 3. Ist Erziehung eine grundsätzliche Folge der Natur des Menschen oder ist sie nur ein kulturspezifisch verlaufendes und eher ärgerliches Erfordernis? 4. Was sind gesellschaftliche Institutionen, wodurch entstehen und wie rechtfertigen sie sich, wie verändern sie sich im historischen Verlauf, wodurch können sie sich verselbständigen und welche Rolle spielen sie in Prozessen der Entfremdung des Individuums? 5. Welche Bedeutung hat der Sozialisationsprozess für das Individuum und für die Gesellschaft: Wer lernt was von wem nach welchen Mechanismen in welcher Absicht mit welchen Konsequenzen? 3. Veranstaltungsplan 1. Einführung in das Thema und Erläuterung der Semesterplanung 2. Das Verhältnis von Erziehung und Soziologie bei Emile Durkheim (E. Durkheim: Pädagogik und Soziologie. In: Ders.: Erziehung und Soziologie. Düsseldorf 1972. (S.72-94.) 3. Anthropologische Grundlagen der Erziehung 3.1 Der anthropologische Optimismus im Menschenbild bei Karl Marx (aus: Marx/Engels: Über Pädagogik und Bildungspolitik. Berlin-Ost 1976 S.144-156 sowie S.194-208.) 3.2 Der anthropologische Pessimismus im Menschbild des Konservatismus bei Arnold Gehlen (A. Gehlen: Anthropologische Forschung. Reinbek bei Hamburg 1961.S.44-69.) 3.3 Die Kulturgebundenheit von Erziehung in den kulturanthropologischen Studien von Margret Mead am Beispiel der Männer- und Frauenrolle (M. Mead: Mann und Weib. Reinbek bei Hamburg 1958.) 4. Institutionen und Erziehung 4.1 Die Entstehung und Funktion von Institutionen aus interaktionistischer Sicht (Berger/Berger: Wir und die Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg 1976.S.5561;Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a.M.1970.) 4.2 Die Entstehung und Funktion von Institutionen aus konservativer Sicht (Gehlen.A.a.0. S.69-78 sowie H. Schelsky (Hrg.): Zur Theorie der Institutionen. Düsseldorf 1970.S.926.) 4.3 Die Entstehung und Funktion von Institutionen aus kritischer Sicht :Individuum und Institution im Spannungsfeld von Freiheit und Entfremdung (Adorno: Individuum und Organisation. In: Ders.: Gesammelte Schriften.Bd.8.Frankfurt a.M. 1972.S.44o-456 sowie Taubes: Das Unbehagen an den Institutionen - Zur Kritik der wissenschaftlichen Institutionenlehre. In: H. Schelsky a.a.0.S.67-77.) 5. Sozialisation als Vergesellschaftung des Individuums im Lichte verschiedener theoretischer Ansätze 5.1 Die konventionelle Rollentheorie (R. Dahrendorf: Homo Soziologicus. Köln/Opladen 1972.) 5.2 Die interaktionistische Rollentheorie (Blumer: Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit 1,Reinbek b. Hamburg 1973.S.80-146-besonders S.80-100;Wilson:Theorien der Interaktion und Modelle soziologischer Erklärung. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen A.a.0.8.54-79; Habermas: Stichworte zu einer Theorie der Sozialisation. In: Kultur und Kritik. Frankfurt 1973.S.118-194.) 5.3 Rollenhandeln aus psychoanalytischer Sicht (S. Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Daraus: Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit sowie Angst und Triebleben. In: Siegmund – Freud -Studienausgabe. Bd. l. Frankfurt a.M. 1969.S.496-444 sowie Wellendorf :Über die Bedeutung der Psychoanalyse für eine Theorie der Schule. In: Walter (Hrg.):Sozialisationsforschung.Bd.1 Stuttgart/ Bad Cannstatt 1973. 6. Soziale Schichtung, Sozialisation und Bildungschancen 6.1 Soziale Schichtung und Eltern-Kind-Beziehungen: eine Interpretation (M. L. Kohn: Persönlichkeit, Beruf und soziale Schichtung. Stuttgart 1981. S. 17-31) 6.2 Arbeitswelt, Familienstruktur und Sozialisation (F. F. Abrahams/I. N. Sommerkorn: In: K. Hurrelmann (Hg.): Sozialisation und Lebenslauf. Reinbek b. Hamburg 1976. S. 70-89) 6.3 Soziale Schichtung und Bildungschancen [R. Geißler. In: Ders. (Hg.): Soziale Schichtung und Lebenschancen in Deutschland. Stuttgart 1994 (2. Auflage). S. 111-159. H.-D-. Loeber/W.-D. Scholz: Von der Bildungskatastrophe zum PISA-Schock – Zur Kontinuität sozialer Benachteiligung durch das deutsche Bildungssystem. In: B. Moschner/H. Kiper/U. Kattmann (Hrg.): Perspektiven für Lehren und Lernen. PISA 2000 als Herausforderung. Baltmannsweiler 2003. S. 241-286; R. Boudon: Von der Deskription zur Explikation. In: R. Boudon (Hrg.). Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Soziologische Texte. Neue Folge 116. Neuwied, Darmstadt. S. 169-185] 4. Literatur Der Veranstaltung liegt ein Reader mit einschlägigen Texten zugrunde, der nach der ersten Sitzung erworben werden kann. 5. Leistungsnachweise Leistungsnachweise können nach entsprechender Absprache mit den Veranstaltern für die Diplomstudiengänge Pädagogik, Sozialwissenschaften, für den Magisterstudiengang mit den Fächern Pädagogik bzw. Soziologie und für die Lehramtsstudiengänge (für Pädagogik oder Soziologie) in Form von Referaten oder schriftlichen Hausarbeiten erbracht werden.