Vorlesung 24.06.03 Sozialisation

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Vorlesung 24.06.03
Sozialisation
Frage: Wie werden Menschen zu handlungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft?
Vier Themen werden behandelt:
1. Anlage/Umwelt
2. Stufen der Entwicklung des Kindes
3. Zusammenhang von Sozialisation und sozialer Schicht
4. Instanzen der Sozialisation – Grenzen der Erziehung
ad 1) Zum Verhältnis von genetischer Anlage und Umwelteinflüssen
Beispiel: Intelligenz gemessen als Intelligenzquotient
hierzu Folie
Quelle: Joas 2001, S. 126
Für jedes einzelne Individuum gilt, daß sein Intelligenzquotient aus einem Zusammenspiel von Begabung und Umwelt sich ergibt. Die Soziologie aber interessiert sich
für statistische Regelmäßigkeiten, z.B. die Tatsache, daß Kinder aus Akademikerfamilien regelmäßig bessere schulische Leistungen aufweisen als Kinder aus der Unterschicht. Läßt sich auch das genetisch erklären, etwa aufgrund der These, daß im
Laufe der Geschichte die Begabten die Positionen der Oberschicht eingenommen
haben und die Unbegabten in die Unterschicht heruntergefiltert sind?
Aber:
1. Die historische Fluktuation der Eliten ist langfristig gesehen hoch. Beispiel Wechsel zwischen Aristokratie und Bürgertum
2. Um 1900 studierten 3 % eines Jahrgangs, heute sind es 37 %. Ursache dafür ist
die Expansion des Bildungswesens, wohl kaum die Expansion von Begabungen.
3. Die Auswanderung nach den USA wurde im wesentlichen getragen von pauperisierten Unterschichten. Trotzdem sind die USA eine sehr erfolgreiche Nation geworden.
Hierarchische Strukturen, Strukturen der Ungleichheit gibt es in der Tierwelt wie in
der menschlichen Gesellschaft. Aber für gesellschaftliche Hierarchien sind soziale
Faktoren entscheidend:

gesellschaftliche Strukturen: Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus. In jeder
dieser Gesellschaftstypen dominierten andere Eliten.

gesellschaftliche Kulturen: Im 19. Jahrhundert wurde die Rolle der Frau noch
überwiegend als biologisch bestimmt erklärt. Der enorme Wandel der Rolle der
Frau im 20. Jahrhundert hat die engen Grenzen dieser Vorstellung deutlich werden lassen.

gesellschaftliche Produktionsformen: In Jäger- und Sammlergesellschaften, in
agrarischen, seßhaften Gesellschaften und in der modernen Wissensgesellschaft
sind jeweils andere Qualifikationen erforderlich.
Wie groß die Bedeutung der Umweltbedingungen, unter denen ein Kind aufwächst,
ist, zeigen extreme Beispiele wie etwa "der wilde Junge von Aveyron"
vgl. Giddens 1999, S. 28.
Der Mensch wird zum Menschen nur in sozialen Zusammenhängen.
Reneé Spitz (1951) hat in einer Untersuchung von Säuglingen, die in Waisenhäusern
aufgewachsen sind, die Bedeutung der Sozialisationsbedingungen nachgewiesen.
Diese Säuglinge wuchsen unter guten physischen Bedingungen auf: sie wurden angemessen ernährt, die Hygiene war ausgezeichnet etc., aber sie wuchsen fast ohne
emotionale Zuwendung und fast ohne Kommunikation mit Erwachsenen auf. Nach
einem Jahr zeigten diese Kinder keine Ansätze zu reden, sie konnten weder lachen
noch weinen.
ad 2) Stufen der kindlichen Entwicklung
nach Georg Herbert Mead 1863-1931
Die Stufen der kindlichen Entwicklung sind teilweise genetisch vorgegeben, d.h. es
gibt bestimmte "Fenster", innerhalb deren bestimmte Leistungen vollbracht werden
können und teilweise auch vollbracht sein müssen.
Erste Phase (1 bis 3 Jahre): Phase der Imitation. Das Kind lernt durch Nachahmung.
Es ist "egozentrisch": es kann noch nicht begreifen, daß andere die Welt anders sehen als es selber.
Zweite Phase (mit 4-5 Jahren abgeschlossen): Die Übernahme der Rolle des Anderen. Das Kind entwickelt ein Selbstbewußtsein als ein von anderen unterschiedenes
Ich, in dem es lernt, sich durch die Augen anderer zu sehen. In dieser Phase wird
das Kind zu einem selbständig handelnden Ich.
Dritte Phase (8 bis 10 Jahre abgeschlossen): In dieser Phase entwickelt sich aus
dem unsystematischen ein organisiertes Spiel, d.h. es werden allgemeine Regeln
verinnerlicht. Das Kind entwickelt die Fähigkeit, nach allgemeinen gesellschaftlichen
Werten und Normen, die situationsspezifisch interpretiert werden müssen, zu handeln. Es übernimmt den, wie Mead es ausgedrückt hat: verallgemeinerten Anderen,
d.h. die Moral der Gesellschaft, die allgemeinen gesellschaftlichen Erwartungen (vgl.
Rollentheorie).
ad 3) Schichtspezifische Sozialisation
Frage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Sozialisation?
Spielt die Sozialisation bei der Erklärung der erstaunlichen Stabilität sozialer Strukturen eine Rolle?
Eine Karriere vom Bettelkind zum Chef, etwa der Deutschen Bank, ist außerordentlich selten. Wieso "vererbt" sich eine gesellschaftliche Position?

Vererbung von Vermögen

"Beziehungen"

Direkte schichtspezifische Sozialisation: der Vater empfiehlt seinem Sohn, wie er
selber eine Facharbeiterlehre zu machen. Die Eltern legen hohen oder geringen
Wert auf Schulerfolg, die Eltern sind in der Lage, Nachhilfe zu geben oder nicht....

Indirekte Sozialisationseffekte: Sprachfähigkeit (Hochdeutsch), Umgangsformen,
allgemeine Orientierungen und Werte
Hierzu Folie
Quelle: Joas 2001, S. 132
In der Unterschicht wird vor allem Anpassung an äußere Autoritäten, konventionelles
Verhalten gelernt. Die Ziele der Unterschichtserziehung sind Gehorsam und gutes
Benehmen.
In der Oberschicht wird vor allem Selbständigkeit und das Handeln nach eigenständigen, verinnerlichten Normen gelehrt: Rücksichtnahme auf andere, die Frage nach
dem Wie und Warum von etwas.
ad 4) Instanzen der Sozialisation
Die Schule ist nicht die einzige Instanz der Sozialisation, wichtige oder noch wichtigere Instanzen sind die Familie, die Peergroup, Massenmedien......
Die allgemeine Schulpflicht wurde im 19. Jahrhundert eingeführt weil:

Wohnen und Arbeiten zunehmend getrennt wurden. Die Familie war nicht mehr in
der Lage, die notwendigen beruflichen Qualifikationen für die außerfamiliale berufliche Tätigkeit zu vermitteln

Die Entwicklung des Nationalstaats: die Schule diente u.a. dazu, die Nation durch
eine einheitliche Nationalsprache durchzusetzen

Wehrpflicht: Eine Wehrpflichtarmee ist angewiesen auf Grundqualifikationen innerhalb der zumindest männlichen Bevölkerung wie Lesen und Schreiben
Die Schule ist Ort absichtsvoller "Erziehung". Erziehung kann definiert werden als der
Versuch, Menschen bewußt und zielgerichtet zu verändern. Die Schule ist die erste
Instanz, in der Kinder mit einer anderen Welt als der der Familie konfrontiert werden.
Zu unterscheiden ist zwischen dem offiziellen und dem heimlichen Lehrplan. Der
heimliche Lehrplan wird vermittelt durch typische Verhaltensanforderungen, die in
der Schule selbstverständlich sind, keineswegs aber außerhalb der Schule, z.B.: eine
feste Sitzordnung, die Tag für Tag wieder hergestellt wird; der Zwang, längere Zeiten
ruhig und still zu sitzen; man muß, bevor man redet, die Hand haben; gefordert sind
Faktenwissen und nicht Phantasien und Träume. Kurz: der heimliche Lehrplan dient
dem Erlernen von Selbstdisziplin, formalen Ordnungen, dem sich Einfügen in bürokratische Organisationen etc.
Grenzen der Erziehung als absichtsvoller Veränderung des Menschen:
1. Quantitativ: die Schulzeit und der offizielle Lehrplan nehmen nur einen geringen
Teil der Gesamtzeit ein
2. Es gibt konkurrierende Sozialisationsinstanzen: die Familie, die Peergroup, die
Massenmedien, deren Erziehungsziele nicht unbedingt mit denen der Schule
übereinstimmen
3. Erziehung als bewußte, absichtsvolle Veränderung eines Menschen kann beim
Menschen auch bewußt zurückgewiesen werden.
Pädagogik, die sich um die optimalen Bedingungen des Heranwachsens bemüht,
muß sich also um mehr kümmern als nur um den schulischen Unterricht. Gegenstand ist gleichsam der gesamte Kontext von Sozialisationsprozessen.
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