Jeff Halper - SALAM SHALOM Arbeitskreis Palästina

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Jeff Halper
Gefangen im Stammesdenken
Die Zionistische Bewegung schuf noch in Europa ein nationales Narrativ, das wenig mit dem
seinerzeitigen Palästina zu tun hatte und in dem die Araber nicht eingeschlossen waren. Es
war eine zutiefst jüdische Erzählung, bezwingend und in sich geschlossen, von nationaler
Geburt im biblischen Land Israel, von Exil und triumphaler Rückkehr zweitausend Jahre
später. In ihr hatte die jüdische Nation das natürliche und eindeutige Recht, sich die Heimat
wieder anzueignen, die ohnehin als ‚leer‘, als wüst und ihrer Rückkehr harrend dargestellt
wurde. Aber es enthielt auch den Keim zukünftiger Abwehrhaltungen, von Besorgnis und
sogar von Angst unter ihren Anhängern, da die Wirklichkeit, die sie in Palästina vorfanden,
sich nicht versöhnen ließ mit der eigenen Ideologie. Der Zionismus bedurfte der
Unterdrückung, der Gewalt und Enteignung, eine Situation, die sich niemals entspannen oder
normalisieren ließ.
Ich brauchte viele Jahre, um ermessen zu können, wie zentral Exklusivität für die Art und
Weise ist, in der Juden und Jüdinnen die Dinge sehen und auf sie reagieren. Weder gab es
eine einleuchtende Erklärung für die Zerstörung von Salims Haus [1], noch konnte ich es
fassen, daß der Abriß palästinensischer Häuser, wie alles andere, was mit ‚Arabern‘ zu tun
hat, einfach kein Thema in der israelischen Gesellschaft ist.. Erst nach Monaten des
Nachdenkens in der Folge des traumatischen Erlebnisses bei Salim stieß ich schließlich auf
jenes unausgesprochene, aber entscheidende Element im zionistischen Paradigma: die
Exklusivität und ihren Begleiter, das Privileg. Mit Hilfe dieser Entdeckung gelang es mir
schließlich, die Bedeutung des Zionismus, einschließlich seiner Dynamik gegenüber den
Arabern, zu begreifen.
Das zionistische Narrativ nationaler Geburt und Wiedergeburt im Lande Israel ist
wohlbekannt und unkompliziert. Es wurde höchst offiziell umrissen in der Israelischen
Unabhängigkeitserklärung von 1948:
In Eretz-Israel stand die Wiege des jüdischen Volkes; hier wurde sein geistiges, religiöses und
politisches Antlitz geformt; hier erlangte es staatliche Selbständigkeit; hier schuf es seine
nationalen und universellen Kulturgüter und schenkte der Welt das Ewige Buch der Bücher.
Mit Gewalt aus seinem Lande vertrieben, bewahrte es ihm in allen Ländern der Diaspora die
Treue und hörte niemals auf, um Rückkehr in sein Land und Erneuerung seiner politischen
Freiheit in ihm zu beten und auf sie zu hoffen.
Auf Grund dieser historischen und traditionellen Verbundenheit strebten Juden in allen
Geschlechtern danach, ihre alte Heimat wiederzugewinnen; in den letzten Generationen
kehrten viele von ihnen in ihr Land zurück; Pioniere, Einwanderer und Kämpfer brachten die
Wüste zu neuer Blüte, erweckten die hebräische Sprache zu neuem Leben, errichteten Städte
und Dörfer und schufen so eine ständig zunehmende Bevölkerung mit eigener Wirtschaft und
Kultur, friedliebend, aber imstande, sich selbst zu schützen, eine Bevölkerung, die allen
Bewohnern des Landes Segen und Fortschritt brachte und nach staatlicher Selbständigkeit
strebte.
Im Jahre 5657 (1897) trat auf den Ruf Theodor Herzls, des Schöpfers des jüdischen
Staatsgedankens, der Erste Zionistenkongreß zusammen und proklamierte das Recht des
jüdischen Volkes auf nationale Wiedergeburt in seinem Heimatlande. Dieses Recht wurde in
der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 anerkannt und im Völkerbund-Mandat
bestätigt, das insbesondere der historischen Verbundenheit des jüdischen Volkes mit Eretz
Israel und dem Recht des Volkes, sein Nationalheim wiederzuerrichten, internationale
Geltung verlieh.
Die über das jüdische Volk in der letzten Zeit hereingebrochene Katastrophe, in der in
Europa Millionen Juden zur Schlachtbank geschleppt wurden, bewies erneut und eindeutig
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die Notwendigkeit, die Frage des heimat- und staatenlosen jüdischen Volkes durch Wiedererrichtung des jüdischen Staates in Eretz Israel zu lösen. Dieser Staat wird seine Tore für
jeden Juden weithin öffnen und dem jüdischen Volke die Stellung einer gleichberechtigten
Nation unter den Völkern verleihen. Die jüdischen Flüchtlinge, die sich aus dem furchtbaren
Blutbad des Nationalsozialismus in Europa retten konnten, und Juden anderer Länder
strömten ohne Unterlaß nach Eretz Israel, trotz aller Schwierigkeiten, Hindernisse und
Gefahren; sie forderten unablässig insbesondere ihr Recht auf ein Leben der Ehre, Freiheit
und redlichen Arbeit in der Heimat ihres Volkes.
Im Zweiten Weltkrieg hat die jüdische Bevölkerung dieses Landes an dem Ringen der
freiheits- und friedliebenden Völker mit den Kräften der nationalsozialistischen Verbrecher
ihren vollen Anteil genommen und sich mit dem Blut ihrer Kämpfer und durch ihren Kriegseinsatz das Recht erworben, den Völkern, die den Bund der Vereinten Nationen gegründet
haben, zugerechnet zu werden.
Am 29. November 1947 hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen einen Beschluß
gefaßt, der die Errichtung eines jüdischen Staates in Eretz Israel fordert; die Vollversammlung verlangte von der Bevölkerung Eretz Israels, selbst alle notwendigen Schritte zu
ergreifen, und diesen Beschluß durchzuführen. Diese Anerkennung des Rechtes des jüdischen
Volkes auf die Errichtung seines Staates durch die Vereinten Nationen kann nicht rückgängig
gemacht werden. Es ist das natürliche Recht des jüdischen Volkes, ein Leben wie jedes andere
Volk in einem eigenen souveränen Staat zu führen.
Die Unabhängigkeitserklärung thematisiert auch den offensichtlichen Widerspruch zwischen
Israel als einem jüdischen Staat und als einem demokratischen Staat aller seiner Bürger, dies
allerdings nur in deklamatorischer Form. Nach der Bekräftigung, daß „(es) das natürliche
Recht des jüdischen Volkes (ist), ein Leben wie jedes andere Volk in einem eigenen
souveränen Staat zu führen“, fährt der Text fort:
Der Name des Staates lautet Israel. Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und
der Sammlung der Juden im Exil offenstehen. Er wird sich der Entwicklung des Landes zum
Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im
Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne
Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung
verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und
Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen
der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben …Wir wenden uns – selbst inmitten mörderischer Angriffe, denen wir seit Monaten ausgesetzt sind – an die in Israel lebenden Araber mit
dem Aufrufe, den Frieden zu wahren und sich aufgrund voller bürgerlicher Gleichberechtigung und entsprechender Vertretung in allen provisorischen und permanenten Organen des
Staates an seinem Aufbau zu beteiligen.
Es ist wahr, daß die palästinensischen Bürger und Bürgerinnen Israels formal die gleichen
Rechte erhielten. Sie sind Staatsbürger, sie erfreuen sich der ‚Glaubens- und
Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, ... und Kultur‘, und sie können an Wahlen
teilnehmen. Ihre Situation ist jedoch weit entfernt von ‚völliger Gleichberechtigung‘. Als die
Unabhängigkeit erklärt wurde, waren bereits 200 Dörfer in dem für den jüdischen Staat
vorgesehenen Gebiet von den paramilitärischen jüdischen Streitkräften zerstört worden. Bis
zum Januar 1949 waren 85 Prozent der ‚Araber‘, die israelische Bürger hätten sein sollen,
verschwunden, ihre Dörfer zerstört und ihr Land enteignet (Badil, zit. in Pappe 2007, S. 179).
Aber die Frage der Exklusivität, die im zionistischen Rahmen positiv dargestellt wird, mußte
mit arabischen Rechten und Ansprüchen kollidieren, weil die Juden versuchten - und sie tun
dies immer noch -, einen ethnisch reinen Raum in einem Land zu schaffen, dessen
überwältigende Mehrheit nicht-jüdisch war. Daher werden Belange der Exklusivität und
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jüdische Ansprüche oft unter demographischem Aspekt behandelt. Im Dezember 1947, sechs
Monate, bevor Israel seine Unabhängigkeit erklären sollte, verdeutlichte Ben Gurion dies in
einer Rede vor Mitgliedern seiner Partei:
„In den Gebieten, die dem jüdischen Staat zugewiesen worden sind, gibt es 40 Prozent
Nichtjuden“, sagte er ihnen. „Diese Zusammensetzung ist keine solide Basis für einen
jüdischen Staat.. Und dieser neuen Realität müssen wir uns in ihrer ganzen Härte und
Klarheit stellen. Ein derartiges demographisches Verhältnis stellt unsere Fähigkeit in
Frage, jüdische Souveränität zu bewahren. ... Nur ein Staat mit mindestens 80 Prozent
Juden ist ein lebensfähiger und stabiler Staat“ (zit. bei Pappe 2007, S. 79)
Das Verbrechen der ethnischen Säuberung, das Israel von Dezember 1947 bis April 1949
beging und das noch in lebhafter Erinnerung und gut dokumentiert ist, weist eine wesentliche
Gemeinsamkeit mit der gegenwärtigen Politik in den besetzten Gebieten auf: es wird sowohl
geleugnet als auch gerechtfertigt von gebildeten Leuten mit vollem Zugang zu den Fakten –
einschließlich vieler liberaler Juden in der Diaspora. Wie kann das sein? Wie konnten solche
himmelschreienden Taten, fundamentale Verletzungen der Menschenrechte (ganz zu
schweigen von den Tötungen) obwohl am helllichten Tage begangen und dennoch von braven
und aufgeklärten Menschen ignoriert, bagatellisiert und rationalisiert werden? Und um zu
einer früheren Frage zurückzukehren: wie kann all dies weiter geschehen - eine länger als 60
Jahre fortgesetzte Kampagne ethnischer Säuberung, -, ohne mehr Widerspruch und
Gewissenserforschung in der israelischen Öffentlichkeit auszulösen?
Zum Teil liegt die Erklärung in dem bezwingenden zionistischen Narrativ und dem ihm
eigenen organischen und völkischen Nationalismus, den es zur Folge hatte. Exklusive
jüdische Ansprüche entstammen in der Tat zwei Quellen: der Bibel und dem Nationalismus
des 19. Jahrhunderts. Die Bibel ist die Grundlage der zionistischen Ansprüche auf das Land
Israel. Für religiöse Juden ist dieser Anspruch absolut und unabweisbar, beginnend mit dem
Genesis 12,7, wo Gott zu Abraham sagt: „Und deinem Samen will ich dieses Land geben“.
Aber auch für säkulare Juden – und der Zionismus war in erster Linie eine weltliche, sogar
anti-religiöse Bewegung - ist der zwischen Gott und Abraham geschlossene Bund Teil des
nationalen Narrativs. In Israels Unabhängigkeitserklärung findet sich die typische
nationalistische ‚Groß-Israel‘-Fixierung: „In Eretz Israel stand die Wiege des jüdischen
Volkes; hier wurde sein geistiges, religiöses und politisches Antlitz geformt; hier erlangte es
staatliche Selbständigkeit.“ Obwohl die alten Israeliten und Judäer die Souveränität über das
Land nur während 1.300 seiner 10.000 dokumentierten Jahre ausübten, ein Drittel davon unter
babylonischer, griechischer oder römischer Oberhoheit, übertrumpfen im zionistischen
Denken unsere Ansprüche alle anderen, einschließlich der 1.300 Jahre muslimischer
Herrschaft.
Während der Jahrhunderte vor dem römischen Exil waren die Juden allerdings – ganz
unabhängig davon, ob sie nun souverän waren oder nicht – eine Nation im politischen Sinne.
In der Diaspora – oder, in zionistischer Sprache, dem „Exil“ – bewahrten sie sich innerhalb
des Rahmens der Religion einen ethnischen Nationalismus. Dies galt insbesondere für ihre
tausend Jahre in Europa, wo die Juden als ein ‚Volk für sich‘ neben ihren christlichen
Nachbarn lebten. Mit dem Aufstieg des politischen Nationalismus im Europa des 19.
Jahrhunderts, rückte der nationale Kern in den Vordergrund, besonders in Ost- und
Mitteleuropa. Dort lebte die überwältigende Masse der Juden in Armut und völliger
Absonderung, vor allem im ihnen zugewiesenen russischen Siedlungsgebiet, einer ländlichen
Gegend, die sie nur mit behördlicher Genehmigung verlassen durften. Anders in Westeuropa
und Amerika, wo in der Folge der französischen und amerikanischen Revolutionen eine zivile
Form des Nationalismus entstand und die Juden begeistert Bürger des jeweiligen Landes
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wurden. Sie bewahrten sich nur eine lockere Ethnizität, wenn sie nicht sogar die völlige
Assimilation wählten. Der Nationalismus, der sich in Ost- und Mitteleuropa entwickelte, war
‚organisch‘, völkisch, im Gegensatz zum zivil-bürgerlichen Nationalismus des Westens. In
Rußland, Polen, Bulgarien, Ungarn, Serbien und anderswo in Osteuropa, wo der
Panslawismus herrschte, sowie in den pan-germanischen Teilen Zentraleuropas, gehörte ein
Land nicht seinen Bürgern, sondern eher einer bestimmten nationalen Gruppe.
In diesem Kontext des völkischen Nationalismus, in den Ländern, wo die überwältigende
Menge der Juden lebte, entwickelte sich der Zionismus. Der zionistische Nationalismus
spiegelte die Empfindungen der anderen ‚organischen‘ Nationalismen, die ihn umgaben,
wider: daß jede Nation ihr eigenes, ganz bestimmtes Heimatland hat (Sternhell 1998). Und da
das Heimatland der Juden unbestreitbar das Land Israel ist, war die Übertragung dieser Form
des völkischen Nationalismus auf Palästina naheliegend und unproblematisch. ‚Palästina‘ war
nicht nur deshalb „ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“, weil man meinte, daß seiner
spärlichen arabischen Bevölkerung jegliche Eigenschaft einer nationalen Entität fehlt, sondern
auch, weil es nur einem Volk gehören konnte, seinen rechtmäßigen historischen Besitzern,
den Juden, die ins Exil getrieben worden waren. ‚Araber‘ dürfen weiterhin dort leben, wie die
Unabhängigkeitserklärung versichert (noch einmal: während man gleichzeitig eine
umfassende ethnische Säuberung durchführte), aber nicht mehr als das. Ihnen fehlt jeder
legitime historische oder nationale Anspruch auf das Land, wie ihn die Juden haben, und
selbst als Bürger müssen sie die Tatsache hinnehmen, daß der Staat Israel exklusiv den Juden
‚gehört‘.
Die israelische Politik in den besetzten Gebieten ist nicht zu verstehen – obwohl Israel in der
Konsequenz dessen, was wir bereits dargelegt haben, die Besatzung überhaupt leugnet, da
man sein eigenes Land ja nicht besetzen könne –, ohne Bezug auf ihre exklusiven Ansprüche
zu nehmen. Während allerdings die Ansprüche klar, stolz, ja sogar ausdrücklich bekundet
werden, wird das Element der Exklusivität eher verschwiegen, vor allem weil es im
Widerspruch zu Israels Image einer westlichen Demokratie stehen würde. Exklusivität ist
daher ein unausgesprochener, aber ganz wesentlicher Teil des zionistischen Narratives. Es
bekräftigt, dass das Land Israel [vom Mittelmeer bis zum Jordan] ausschließlich dem
jüdischen Volk gehört. Es gibt kein anderes Volk mit stichhaltigen nationalen Rechten oder
Ansprüchen auf das Land. Obwohl „Araber“ im Lande Israel leben, stellen sie kein Kollektiv
dar, das den jüdischen Exklusivanspruch in irgendeiner Weise in Frage stellt. Da das Land
den Juden gehört, verfügen allein sie über das Vorrecht, sein Schicksal zu bestimmen. Jede
politische Lösung des gegenwärtigen Konflikts, selbst eine, die einen palästinensischen Staat
hervorbringen würde, wird ausschließlich von den israelischen Juden bestimmt. Die Araber
mögen konsultiert werden, aber echte Verhandlungen, die auf der Vorstellung beruhen, daß
die Palästinenser im Lande Israel ein Recht auf Selbstbestimmung haben, kommen nicht
Frage.
Der Anspruch auf Exklusivität macht den Zionismus zu einer Entweder-oder-Gleichung:
entweder wird dieses Land zu ‚unserem‘, oder wir verlieren es an ‚sie‘. Dies erklärt, warum
die Israelis in einer Blase leben, und warum ein Überschreiten der Grenzlinie solche Ängste
auslöst. Es erklärt die ideologisch motivierte Kurzsichtigkeit, die es israelischen Juden
unmöglich macht, irgend jemand anderen als sich selbst wahrzunehmen oder irgendeinen
Fehler zuzugeben, insbesondere einen, der mit den Palästinensern zu tun hat. Und es erklärt,
warum es der kritischen Friedensbewegung nicht gelingt, eine sinnvolle politische Diskussion
in der israelischen Öffentlichkeit, deren Teil wir sind, anzustoßen. Aber ohne diese Linie zu
überschreiten, die Salims und Arabiyas Heim von unserem trennt, wird es keinen Ausweg aus
dem völkischen Paradigma geben, keine kritische Hinterfragung ‚der Situation‘.
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