Landesinstitut für Schulentwicklung Individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung als Leitthema für die Leseförderung in sonderpädagogischen Bezügen Oder: Simon auf dem Weg zum Spielbericht Dr. Ralf Brandstetter & Manfred Burghardt 1. Prolog Jeder Mensch erzählt eine Geschichte. Dieser Satz ist profan – ohne Zweifel. Vielleicht ist er aber gerade bei Schülerinnen und Schülern mit einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot von besonderer Bedeutung. In diesem Beispiel geht es um die Geschichte von Simon, um seinen Weg in die und in der Förderschule. Es geht um seinen erweiterten Bildungsanspruch und um sein persönliches Recht auf Aktivität und Teilhabe an der Gesellschaft. Und hier und jetzt geht es ganz einfach um die Frage: Wie in Herrgott´s Namen lernt der Junge lesen? Deren Beantwortung ist eine fortwährende Herausforderung für den Klassenlehrer, das Kollegium, die Eltern und natürlich vor allem auch für Simon selbst. Die Bildungsaufgabe, neben seinen personenbezogenen Lernvoraussetzungen auch die hemmenden und förderlichen Faktoren seines Lebensumfeldes in ein individuelles Bildungsangebot zu überführen, bleibt ein Suchprozess – irgendwo zwischen diagnostischen Erkenntnissen, konkreten Lese-Übungen und dem Bolzplatz. Irgendwann Ende Juni letzten Sommer: Schulschluss ist wie immer um 13.00 Uhr. Simon freut sich auf zu Hause, auf die Schaukel im Garten und natürlich auf den nachmittäglichen Kick um die Ecke. Dort warten für gewöhnlich drei, vier Kumpel, die ihn als Spielgefährten mögen und respektieren, denn Simon ist ein Knipser. Doch zunächst einmal heißt es Mittagessen. Mutter und Vater freuen sich auf das gemeinsame Ritual mit ihrem 8-jährigen Steppke, der es förmlich genießt, seine Erfahrungen und Begegnungen aus der Grundschule ausgesprochen wortreich, witzig und unterhaltsam aufzutischen. Simon schätzt wiederum die Aufmerksamkeit und die Zuwendung seiner Eltern, käme da nach dem Mittagstisch nur nicht die unsägliche Sache mit den Hausaufgaben. Für Simon ist Lesen und Schreiben schon im Verlauf der ersten Klasse zum absoluten Gräuel geworden. Sechs bis zehn „Kisten“ in einem Spiel der E-Jugend zu schießen, kosten ihn nur einen Bruchteil der Anstrengung, die er aufbringen muss, um zwei, drei Sätze in seiner Fibel zu erlesen. Mutter und Vater wechseln sich bei der Hausaufgabenbetreuung ab - so gut es geht. Simon muss ständig angehalten werden sich auf seine schulischen Aufgaben zu konzentrieren. Seine Lernfortschritte gehen trotz täglichen Übens gegen Null und das mühevolle Lernen streut zunehmend mehr Konflikte in die Beziehung zwischen Eltern und Kind. Die Hausaufgaben dominieren mehr und mehr in wenig erfreulicher Weise das soziale Miteinander am frühen Nachmittag. Unter Freunden beginnt Simon zu flunkern und sich aufzuspielen, um über seine schulischen Schwächen hinweg zu täuschen. Die Erwachsenen im privaten Umfeld beginnen die Stirn zu runzeln, die Freunde fangen an ihn zu hänseln. Kurzum: Zeit, dass sich was dreht! 1 Titel der Handreichung (Doppelklick!) Der Grundschullehrerin bereitet die Entwicklung von Jonas gleichfalls Sorgen. Seit gut einem Jahr unterbreitet sie ihm insbesondere im Fach Deutsch zunehmend individuelle Lernangebote – so gut dies im Rahmen der gegebenen Klassengröße eben möglich ist. Sie ist durch die scheinbare Stagnation in Simons Lese- und Schreibentwicklung auch in einem engen Beratungsprozess mit den Eltern, die nach vielen Gesprächen schließlich Rat in einer psychologischen Praxis suchen. Die dortige Fachkraft rät wiederum zu einer fundierten sonderpädagogischen Bestandsaufnahme durch den Sonderpädagogischen Dienst. 2. Exkurs: Individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung als Leitthema sonderpädagogischen Handelns 2 Landesinstitut für Schulentwicklung Dokumentation Kooperative Förderplanung Diagnostik Individuelles Bildungsangebot Leistungsfeststellung Um die Struktur, die Entwicklungen und die Ergebnisse in Simons Beispiel besser verstehen zu können, bedarf es eines kleinen Exkurses: Die Individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung (kurz: ILEB) ist die Antwort aller Sonderschultypen auf die Frage, wie bei Schülerinnen und Schüler, die Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot haben, dieses sowohl fachlich-inhaltlich wie auch organisatorisch-strukturell gesichert werden kann. ILEB konkretisiert das spiralförmige Zusammenspiel der fünf miteinander in Verbindung zu sehenden Handlungsbausteine „Diagnostik“, „Kooperative Förderplanung“, „Individuelles Bildungsangebot“, „Leistungsfeststellung“ und „Dokumentation“. Wer hat Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot? Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 stärkt und konkretisiert die Rechte von Menschen mit Behinderung. Sie garantiert ihnen die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Das Recht auf eine volle und gleichberechtigte Teilhabe betrifft auch die schulische Bildung. Bildung ist gemäß der UN der Schlüssel zur Selbstbestimmung und aktiven Teilhabe. Funktionsbeeinträchtigungen und Behinderungen haben Einfluss auf die Aktivitäten einer Person. Sie können zur Barriere werden beim Lernen, bei der Anwendung von Wissen, bei der Beziehungsgestaltung, der Selbstversorgung – bei Aktivitäten in allen lebensbedeutsamen Bereichen. Der Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot, vorübergehend oder auch auf Dauer, ist immer dann gegeben, wenn es zusätzlicher oder gesonderter Bildungsangebote bedarf, damit Kinder und Jugendliche – im Bereich ihrer Möglichkeiten - lernen können, ihr Leben in eigener Zuständigkeit und Verantwortung zu gestalten. Die Dialektik von individuellen Bedürfnislagen und gesellschaftlichen Anforderungen zur Sicherung von Aktivität und Teilhabe macht eine individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung notwendig, durch die eine Passung von Bildungsangeboten und Unterstützungsmaßnahmen angestrebt wird. 3 Titel der Handreichung (Doppelklick!) Nun zur genaueren Erläuterung der 5 ILEB-Bausteine 1. Prozessorientierte Diagnostik: Sonderpädagogen sind gehalten, mit Eltern und Partnern regelmäßig zu beobachten und zu reflektieren, was ein Schüler kann, was er noch nicht kann und was er als nächstes lernen soll. Zu den dazu notwendigen „diagnostischen Instrumenten“ zählen schon immer standardisierte und informelle Screening-Verfahren, aber auch Unterrichtsbeobachtungen, eine Kind-Umfeldanalyse und die Feststellung von Kompetenzen einzelner Schülerinnen und Schüler in Bezug auf die im Bildungsplan abgebildeten Bildungsbereiche und Fächer- bzw. Fächerverbünde. 2. Kooperative Förderplanung: Gemeinsam mit den Eltern, mit dem Schüler und gegebenenfalls anderen bedeutsamen Personen aus dem Umfeld des Kindes ist zu planen, mittels welcher konkreten sonderpädagogischen Maßnahmen einem Kind geholfen werden kann. Dabei gelten einige Grundsätze: Es kann nur ausgehandelt werden, was umsetzbar ist. Es ist zu klären, wer für was verantwortlich zeichnet. Ziele und Maßnahmen müssen für einen überschaubaren Zeitraum formuliert werden, überprüfbar sein und zu einem festgelegten Zeitpunkt reflektiert werden. 3. Individuelle Bildungsangebote sind Ziel und Ergebnis der individuellen Lern- und Entwicklungsbegleitung. Es handelt sich dabei um von der Schule im Curriculum ausgewiesene Lernfelder, in denen Schülerinnen und Schüler ihre Potenziale entwickeln und an ihren Schwächen arbeiten können. Selbstredend gehören dazu ein differenzierender Unterricht in Sprache oder Mathematik, ein Intensivkurs im Lesen, die Teilnahme an AGs und Praktika, das Mittagsangebot der Diakonie oder der Caritas, die Tagesgruppe, die Mitarbeit bei der Jugendfeuerwehr, Schulungen des DRK oder auch schulische Organisationsformen wie Diagnose- und Eingangsklassen oder Kooperationsklassen mit Grund-, Haupt- und Berufsschulen. 4. Kompetenzorientierte Leistungsfeststellung meint in aller Kürze die von Zeit zu Zeit individuell zu bearbeitende Frage, ob durch die Bildungsangebote tatsächlich auch eine Zunahme von Aktivität und Teilhabe für den Einzelnen oder die Einzelne gewährleistet werden konnte. Dies erweist sich vermutlich am ehesten in lebensbedeutsamen Realsituationen, in denen Schülerinnen und Schülern die Herausforderungen des Alltags selbständig bewältigen. Die aus diesen Settings gewonnenen diagnostischen Erkenntnisse fließen dann wiederum in die Förderplanung und die Planung weiterer schulischer Angebote ein. 5. Zum Baustein der Dokumentation liegen die Notwendigkeiten und die Vorteile für die Arbeit hausintern aber auch in der Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern auf der Hand. Um nur einige zu nennen: Die Orientierung an gemeinsamen Begrifflichkeiten und die damit verbundenen Erleichterungen in der Kommunikation allgemein oder bei Übergabesituationen im Besonderen, die Chance zur visualisierten Reflexion die Lernentwicklung einzelner Schülerinnen und Schüler betreffend oder schlicht Dokumentation als Ausdruck professionellen Handelns in Verhandlungen mit kooperierenden Leistungsträgern. In diesem Baustein gilt es in den Kollegien lediglich die Fragen nach der Struktur und dem Adressatenbezug gründlich zu klären. 3. 4 ILEB konkret: Simon lernt lesen Landesinstitut für Schulentwicklung 3.1. Was kann Simon schon – und was noch nicht? Eine differentialdiagnostische Bestandsaufnahme. Erster Schritt für eine individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung ist eine umfassende Bestandsaufnahme dessen, was Simon kann, über welche Stärken er verfügt, welche Ressourcen in seinem Umfeld vorhanden sind, aber ebenso eine differenzierte Wahrnehmung seiner persönlichen Voraussetzungen, die sein Lernen behindern. Dies ist eine originäre Aufgabe sonderpädagogischer Diagnostik. Die Ergebnisse: Im Rahmen einer für ihn „sicheren Basis“ - bedeutsame Bezugspersonen vermitteln ihm ein hinreichendes Sicherheitsgefühl – erzielt Simon in den Bereichen fluider Intelligenz durchschnittliche Standardwerte. Eine Überprüfung seiner Wahrnehmungsverarbeitung in den visuell-figürlichen Sinnesmodalitäten zeigt gleichfalls keine Auffälligkeiten. Sein Sprachverständnis und seine lautsprachlichen Fähigkeiten die Artikulation oder die Syntax betreffend sind ebenso altersgemäß entwickelt wie seine Merkfähigkeiten im Langzeitgedächtnis. Fluide Intelligenz erfasst in der kategorialen Diagnostik die biologische Komponente kognitiver Leistungsfähigkeiten wie Verarbeitungsgeschwindigkeit, Gedächtnisabruf und Problemlösen. Testverfahren zur kristallinen Intelligenz prüfen die kulturelle Dimension der intellektuellen Entwicklung wie Wissen und erworbene Fähigkeiten. Entwicklungsverzögerungen zeigen sich in den für das Lesen bedeutsamen Vorläuferfähigkeiten, genauer gesagt in der phonologischen Bewusstheit. Stark beeinträchtigt sind seine sequentiellen Fähigkeiten in den sprachlich-auditiven wie auch in den taktil-kinästhetischen Sinnesmodalitäten. So hat er beispielsweise große Mühe bei der Aufgabe, Silben nachzuklatschen, die Wörter in ihren rhythmisch-melodischen Strukturen zu erfassen. Ebenso eingeschränkt sind seine Fähigkeiten im phonologischen Arbeitsgedächtnis. Die Überprüfung seiner Merkfähigkeit in diesem Bereich ergibt Werte, die zwei Standardabweichungen unter dem Mittelwert liegen. Untertests des HAWIK IV, die Hinweise zum Entwicklungsstand intermodaler Verarbeitungskapazitäten wie der Verarbeitungsgeschwindigkeit geben, zeigen, dass Simon Informationen, z.B. Morpheme, Silben oder Wortbilder nur sehr langsam verarbeiten kann. Erkennbar beeinträchtigt sind seine Aufmerksamkeitsfähigkeiten. Er hat große Mühe seine Aufmerksamkeit über eine längere Zeitspanne bei einer Aufgabe zu halten. Er lässt sich leicht ablenken. Auch fällt auf, dass seine Konzentrationsfähigkeit gegenüber dem gesprochenen Wort begrenzt ist. Er ermüdet rasch und sucht dann nach Entlastung, indem er sich im Unterricht anderen Dingen zuwendet. Eine Überprüfung seiner Schulleistung im Bereich Lesen ergibt, dass Simon mehrsilbige lautgetreue Worte erlesen kann. Schwierigkeiten bereitet ihm die Synthese der Silben. Durch das ausgesprochen verzögerte Erlesen der Worte ist ihm die Sinnentnahme erschwert. Es kostet ihn viel Konzentration und Aufmerksamkeit Worte und kurze Sätze zu erlesen. Durch das sehr langsame Lesetempo verliert er die Orientierung im Text. Er „verrutscht“ zwischen den Zeilen und ermüdet insgesamt rasch. Seine Leseleistung entspricht, genormt nach der SBL1, (Schultestbatterie zur Erfassung des Lernstandes in Mathematik, Lesen und Schreiben) einer unterdurchschnittlichen Leistung eines Schülers am Ende von Klasse 1. Als diagnostisch weiterhin bedeutsame Kontextfaktoren sind folgende zu nennen: Simon 5 Titel der Handreichung (Doppelklick!) wächst in einem behüteten Umfeld auf. Seine Eltern unterstützen ihn nach Kräften. Sie zeigen sich beratungsoffen und arbeiten kooperativ mit der Schule zusammen. Simon ist ein sehr guter Sportler und findet im Verein unter seinen Mitschülern hohe Akzeptanz. Er ist lebensfroh, hat viel Humor und schauspielerisches Talent. Seine Misserfolgserfahrungen insbesondere im Fach Sprache/Deutsch haben insgesamt zu einer eher vermeidenden Lernhaltung geführt. Die Ergebnisse der sonderpädagogischen Diagnostik lassen zusammengefasst erkennen, dass Jonas in zwei für das Erlernen der Kulturtechniken und hier insbesondere der Schriftsprache bedeutsamen kognitiven Funktionen aktuell stark beeinträchtigt ist. Sowohl seine selektive Aufmerksamkeit wie auch seine Daueraufmerksamkeit und damit zusammenhängend seine Konzentrationsfähigkeit sind so eingeschränkt, dass ihm die Aufnahme der dargebotenen schulischen Inhalte nur in einem begrenzten Rahmen möglich ist. Die deutlich reduzierten Kapazitäten der Merkfähigkeit im Arbeitsgedächtnis der sprachlich-auditiven Sinnesmodalitäten sowie seine schwach entwickelten sequentiellen Fähigkeiten in diesem Bereich erschweren ihm den Leselernprozess zusätzlich. Ungeachtet äußerst günstiger Umweltfaktoren wie einer ausgesprochen anregenden schulischen Lernumgebung und einem fürsorglichen, unterstützenden Elternhaus, entwickeln sich Simons Funktionsbeeinträchtigungen hin zu einer generalisierenden Lernstörung. Aus Sicht sonderpädagogischer Konzeptbildung scheint es deshalb geboten, in den schulischen Bildungsangeboten Akzentverschiebungen vorzunehmen. So sollten - die Lernzeiten von Jonas kürzer getaktet werden, um seinen Aufmerksamkeitsfähigkeiten zu entsprechen - er sollte einen Lese- und Rechtschreiblehrgang angeboten bekommen, der seiner eingeschränkten Merkfähigkeit und seinen sequentiellen Fähigkeiten Rechnung trägt - bei Aufgaben zu Lesen, Schreiben und Rechnen sollten für ihn so oft als möglich Kontextbezüge hergestellt werden, in denen ihm die Sinnhaftigkeit seines Lernens selbst einsichtig wird - angebahnte Inhalte sollten durch viele Wiederholungen im Sinne eines operativen Übens wiederholt werden, so dass sich Routinen ausbilden, die das Arbeitsgedächtnis entlasten und beispielsweise beim Lesen dann auch zu einer höheren Lesegeschwindigkeit führen - sowohl durch eine gezielte Passung der Aufgaben und eine regelmäßige gemeinsame Reflexion seiner Lernfortschritte wie auch durch Lernangebote, die ihn in seinen Stärken ansprechen (Sport und Spiel) sollte ihm gezielt die Möglichkeit eingeräumt werden, vermehrt Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen - mit den Eltern sollte eine allseits zufriedenstellende Regelung im Hinblick auf Inhalt und Umfang der Hausaufgaben gefunden werden. 3.2 Was soll Simon als nächstes Lernen und welche Hilfen können wir ihm bieten? Kooperative Förderplanung, individuelle Bildungsangebote und Dokumentation In einem einstündigen Beratungsgespräch, an dem die Eltern und die in der Klasse unterrichtenden Lehrer teilnehmen, werden die Ergebnisse der diagnostischen 6 Landesinstitut für Schulentwicklung Bestandsaufnahme nochmals gemeinsam reflektiert und abgestimmt. Der Konsens: Simon wechselt nach einem längeren, dialogisch angelegten Beratungsprozess im Laufe des zweiten Schuljahres, erst probeweise, nach zwei Monaten ggf. verbindlich von der Grundschule an die Förderschule. Partielle Entwicklungsverzögerungen erschweren ihm insbesondere das Erlernen der Schriftsprache. Unter allen Beteiligten besteht Einvernehmen, dass sich aktuell funktionale Beeinträchtigungen in den Aufmerksamkeitsfähigkeiten und in den sprachlich-auditiven Sinnesmodalitäten zunehmend zu einer generalisierten Lernstörung entwickeln. Es wird vereinbart gemeinsam größtmögliche Anstrengungen zu unternehmen, damit Simon im Lesen und Schreiben seine Fertigkeiten so entwickeln kann, dass er binnen zwei bis drei Jahren wieder an eine allgemeine Schule wechseln kann. Am Ende des Gespräches vereinbaren die Anwesenden zwei mittelfristige Förderschwerpunkte, zu denen unmittelbare und gemeinsam verantwortete Maßnahmen abgesprochen werden. Die Ergebnisse werden dokumentiert: Ergebnisse der kooperativen Förderplanung für den Zeitraum Oktober 2008 bis Februar 2009 Anm. 1: aus Gründen der Übersichtlichkeit wird hier lediglich der Teil der Förderplanung abgebildet, der für den Leselernprozess unmittelbar bedeutsam erscheint. Anmerkung 2: Legende Kompetenzen / Entwicklungsbereiche -- - 0 Förderziele + Maßnahmen ++ Lesefähigkeit Lesegeschwindigkeit X Simon soll einfache Texte mit wenigen Sätzen, ein- bis dreisilbigen, möglichst lautgetreuen Wörtern flüssig erlesen Leseverständnis X Simon sollte Lesen in für ihn bedeutsamen Handlungsbezügen erfahren. Simon soll den erlesenen Inhalt mit eigenen Worten wiedergeben können. Freude am Lesen wecken Herr Metzger (Lesepate) liest 2x die Woche mit Simon Texte aus dem Lesebuch. Die Texte werden willkürlich gewählt, um zu vermeiden, dass Simon die Texte auswendig lernt Die Lehrer der Schule wählen ein Leseprogramm für den Computer aus, mit dem Simon 2-3x/Woche zu Hause seine Lesegeschwindigkeit und sein Leseverständnis verbessern kann. Es soll seine Motivation verbessern. Simon wird als Spieler für die Theater-AG gewonnen. Die Eltern wählen gemeinsam mit Simon eine Buch aus, das für ihn spannend ist und aus dem ihm vorgelesen werden kann. Die Texte müssen auch für ihn gut lesbar sein. An einem Abend liest Simon eine kurze Sequenz, am andern Abend liest ausschließlich ein Elternteil. 7 Titel der Handreichung (Doppelklick!) Schriftsprache Rechtschreibung Selbstkonzept X Simon soll die Bedeutung und Funktion von Schriftsprache erkennen. Er soll lernen sich selbst Notizen zu machen und die anderer zu lesen und zu verstehen. X Simon soll selbst eine Fragehaltung entwickeln hinsichtlich der richtigen Schreibweise von Wörtern Simon soll sein Vermeidungsverhalten zunehmend abbauen. Ideen: im Unterricht ihn anhalten sich selbst Dinge zu notieren, auch Hausaufgaben zu Hause ihm Notizen schreiben ihn selbst Einkaufslisten schreiben lassen ihn notieren lassen, was er bei der Bedienung z.B. des Computers beachten muss ihn einen Kalender führen lassen mit seinen Terminen wo es sich anbietet, nutzt auch die Heilpädagogin die Möglichkeit, Simon Botschaften an die Eltern oder Notizen für ihn selbst verschriften zu lassen Seine Verschriftungen zu Hause werden nur dann korrigiert, wenn er selbst nachfragt. Er erhält im Unterricht und zu Hause regelmäßig sachliche Rückmeldung, wenn ihm etwas ihm gelungen ist Anm.2: Ende Jan. 09 soll eine SBL II durchgeführt werden, um die Leistungen im Fach Sprache bezogen auf seinen Jahrgang einschätzen zu können. Die Ziele der Förderplanung werden mit Übergabe der Halbjahresinformation überprüft und fortgeschrieben. Bei der Analyse der Vereinbarungen ist leicht zu erkennen, dass die für Simon in der Förderschule denkbaren Hilfen selbstredend in Abhängigkeit von der dort gestalteten Lernumgebung stehen. Die kooperative Förderplanung setzt also neben der Bereitschaft der Eltern zur Verantwortungsübernahme auch eine schulische Lernumgebung voraus, die sowohl inhaltlich-fachlich wie auch organisatorisch-strukturell auf den individuellen Bildungsbedarf des einzelnen Kindes unterstützend wirkt. Dies macht also ein Schulkonzept notwendig, das sowohl curricular wie auch unter fachdidaktischen Aspekten angemessene Bildungsangebote als Programmbausteine ausweist. Das wohl aber zentrale Spezifikum des sonderpädagogischen Bildungsangebots ist sicherlich im Perspektivwechsel von der Sozialnorm hin zur Individualnorm zu sehen. Zusammengenommen werden also die Lern- und Entwicklungsangebote für Simon innerhalb der gestalteten Lernumgebung von ihm selbst aus gedacht – und zwar unter Einbezug seiner psycho-emotionalen Verfasstheit zunächst einmal jenseits altersgemäßer Bildungsstandards. Diesem Ansinnen kann aber nur mit einer sich stetig auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler hin entwickelten Lernumgebung Rechnung getragen werden. Die Förderschule, die Simon besucht, hat im Rahmen einer Fokusevaluation das Leseverhalten und die Leseleistungen ihrer Schülerschaft untersucht und im Anschluss das Schulcurriculum fortgeschrieben. Ziel dieser Entwicklungsaufgabe war eine Optimierung der Leselernumgebung. Danach ist für die Grundstufe verbindlich festgelegt, jedem Schüler gemäß seiner individuellen Lesefertigkeiten und seinem Leseverständnis nach dem Kieler Leseaufbau ein passgenaues Lernangebot zu unterbreiten. Lesen wird in allen Fächern, Fächerverbünden und Handlungsfeldern in einen Handlungskontext gestellt. 8 Landesinstitut für Schulentwicklung Jeder Schüler führt einen Lesepass aus dem ersichtlich wird, welche Texte er gelesen hat. Bestandteil einer nachhaltigen Lesekultur ist mindestens ein Vorlese- oder Vorspielprojekt pro Schuljahr, in dem die Schüler ihre Lesefähigkeiten und –fertigkeiten in einem öffentlichen Rahmen präsentieren. Beginnend mit dem Erstleselehrgang sind den Schülern kontinuierlich Lesestrategien zu vermitteln: Abbildungen betrachten und Vermutungen anstellen wovon der beigefügte Text handelt Die Überschrift lesen und Vermutungen anstellen, worüber der Text erzählt Unbekannte Wörter und Sprachgepflogenheiten markieren und darüber nachdenken, was sie bedeuten könnten Unbekannte Wörter nachschlagen oder einen Mitschüler befragen Unterstreichen, was wichtig erscheint Stichwörter notieren zu bedeutsamen Textstellen und mithilfe der Stichwörter den Text wiedergeben Fragen an den Text stellen: Wer oder was? Wo? Wann? Was passiert? Zu jedem Textabschnitt eine Überschrift bilden Die regelmäßige Nutzung der Schulbücherei ist eine verbindliche Vorgabe für alle Schüler. Pro Schuljahr wird mit jeder Klasse eine Ganzschrift erarbeitet. Lehrerinnen und Lehrer der Schule sind gehalten ihre Handlungsanweisungen so zu formulieren, dass jede Handlungsanweisung in einem Satz formuliert wird. Bis zum Ende des dritten Schuljahres muss der Erstleselehrgang abgeschlossen sein. Schülerinnen und Schüler, die Gefahr laufen, daran zu scheitern, erhalten zusätzliche Unterstützung durch Übungen nach dem Kieler Leseaufbau. Das Schulkonzept sieht weiterhin vor, dass für die unterschiedlichen Entwicklungsstufen eine geeignete Lernsoftware zur Verfügung steht im Rahmen von Patenschaften mit den umliegenden Kindertagesstätten, dem Altenheim und dem örtlichen Buchladen Vorlesenachmittage stattfinden in der im Schulprogramm fest verankerten Theater-AG Leseübungen regelmäßig kontextbezogen eingebettet werden in den Arbeitsgemeinschaften zum praktischen Lernen wie Garten-AG, Technik-AG oder den Schülerfirmen Rezepte, Bauanleitungen und Handlungsanleitungen in schriftlicher Form dargeboten, erlesen und in Anwendung gebracht werden. die Schulzeitung ein jährlich wiederkehrender Lernanlass ist, an dem alle Klassen mitwirken der Einsatz der ehrenamtlichen Helfer (Lesepaten) in einer Gesamtlehrerkonferenz abgestimmt und koordiniert wird. 9 Titel der Handreichung (Doppelklick!) Die individuellen Bildungsangebote sind also grundsätzlich als ein Zusammenspiel der von der Schule organisatorisch-strukturell gestalteten Lernumgebung, dem Unterricht im engeren Sinn und dem außerschulischen Kontext zu verstehen. Bei Simon ist dieser Dreiklang folgendermaßen geformt: Lernumgebung Schule Ein ehrenamtlicher Mitarbeiter (Lesepate) übernimmt zweimal wöchentlich eine Einzelförderung mit einem konkreten inhaltlichen Auftrag Simon erhält das Angebot an der Theater-AG mitzuwirken. Unterricht im engeren Sinn Es werden täglich Leseanlässe geschaffen, in denen der Schüler das Erlesene in Handlung überführen muss. Übungen mit dem Kieler Leseaufbau fördern die Lautsynthese. Die Anbahnung einer Schreibkultur durch das Notieren lebensweltlich bedeutsamer Hinweise stärkt die subjektive wie auch funktionale Bedeutsamkeit von Lesen. Außerschulischer Kontext Elternhaus Gemeinsames Lesen von Eltern und Kind begünstigen das Leseverständnis und tragen zu einer nachhaltigen Lesekultur bei. Über die Auswahl einer geeigneten Lernsoftware wird dem häuslichen Lernen eine inhaltliche wie auch organisatorische Struktur gegeben. Kurze Übungsphasen von ca. 10 min täglich bei zwei bis drei Wiederholungen pro Woche erweitern die für das Üben notwendige Lernzeit und tragen außerdem zu einer Erhöhung der Lesegeschwindigkeit bei. 3.3. Was hat Simon gelernt? Zur Überprüfung des Lernstandes im März 2009 Eine Überprüfung von Simon mit der SBL II zeigt, dass der Junge erkennbare Fortschritte gemacht hat. So gelingt ihm bei kurzen einfachen Sätzen durchgängig die Sinnerfassung. Syllabisch strukturierte Wörter erliest er ohne zu lautieren. Bei mehrsilbigen Wörtern lautiert er weiterhin und bei längeren Sätzen wendet er Ratestrategien an. Wortendungen lässt er häufig außer Acht. Eine Bewertung seiner Leistungen ergibt, dass Simon jetzt über Lesefähigkeiten verfügt, nach der ein bis drei Prozent eines Schülerjahrgangs am Ende der zweiten Klassen gleich gut oder schwächer Lesen als Simon. Für die Lehrer ein ermutigendes Ergebnis, weil sich Lernfortschritte zeigen, für die Eltern eher ernüchternd, haben sie sich doch durch die Schule und die gezielte Förderung einen größeren Lernzuwachs erhofft. Auch Simon selbst findet Lesen nach wie vor nicht sonderlich motivierend, sondern eher anstrengend. 3.4 Dokumentation der Ergebnisse zur kooperativen Förderplanung für Simon, Klappe, die Zweite 10 Landesinstitut für Schulentwicklung Ergebnisse der Kooperativen Förderplanung für den Zeitraum von März 2009 bis Juli 2009 Anm. 1: aus Gründen der Übersichtlichkeit wird hier lediglich der Teil der Förderplanung abgebildet, der für den Leselernprozess unmittelbar bedeutsam erscheint. Kompetenzen / Entwicklungsbereiche -- - 0 Förderziele + Maßnahmen ++ Lesefähigkeit Lesegeschwindigkeit X Ziel ist es weiterhin die Lesegeschwindigkeit zu erhöhen. Er soll lernen auf Wortendungen zu achten. Er soll lernen Wörter nach Silben zu segmentieren. Leseverständnis X Strategien zur Stärkungen des Leseverständnisses gezielt vermitteln. Strategien der Selbstkontrolle einüben Basisübungen nach dem Kieler Leseaufbau Stufe 12 – 14 Basisübungen mit Silbenbögen und weiteren sequentiellen Hilfen (klatschen, stampfen etc.) im Rahmen des Unterrichts Die Übungen mit der Lernsoftware Lesen am Computer zu Hause werden 2x wöchentlich fortgeführt. Die Klassenlehrerin stellt den Eltern eine neue Software zur Verfügung. Herr Metzger (Lesepate) liest 2x die Woche mit Simon kurze, von der Deutschlehrerin nach lesetechnischen Aspekten (mehrsilbige, lautgetreue Wörter, kurze Sätze, wenig Nebensätze) ausgewählte Texte. Herr Metzger übt die einfachen Lesestrategien (vgl. Schulcurriculum) ein. Er streicht Lesefehler an und lässt sie Simon selbst verbessern. Die Eltern pflegen weiterhin das abendliche Vorlesen und übertragen Simon kleine Leseaufträge. 3.5 Leistungsfeststellung: Simons Lernstand im Januar 2010 Erstens kommt es manchmal anders und zweitens, als man es sich wünscht: Lehrerwechsel und Krankheitsstellvertretungen haben in den ersten Monaten des neuen Schuljahres bei Simon wie auch bei Eltern und Lehrern für Verunsicherung gesorgt und u.a. dazu geführt, dass eine stringente Förderung etwas aus dem Blick geriet. Eine prozesshafte Beobachtung und Einschätzung seiner tatsächlichen Lesefähigkeiten fiel den jetzt zuständigen Fachkräften schwer. Deshalb wurde im Dezember 2009 eine Leistungsüberprüfung mittels dem Lesetest ELFE 1-6 durchgeführt. Dieses diagnostische Instrumentarium erlaubt sowohl eine quantitative wie auch eine qualitative Analyse vorhandener Lesefähigkeiten und -fertigkeiten. In Anbetracht des mittelfristigen Zieles einer Rückschulung an die allgemeine Schule wurden die Testergebnisse jetzt altersgemäß ausgewertet. Simon zeigte quantitativ betrachtet nun eine Leistung, die nur bei 1,5 bis 5 Prozent der Schülerinnen und Schüler seines Jahrgangs gleich oder schwächer einzustufen ist. Eine scheinbar ernüchternde Bilanz. Qualitativ gesehen ergibt sich jedoch ein völlig anderes Bild: Verglichen mit der Lernausgangslage im März 2009 konnten wesentliche Ziele aus den Vereinbarungen erreicht werden. Simon erliest alle Wörter vollständig und fehlerfrei. Er kann nun auch mehrsilbige Wörter zusammenhängend erlesen und ihm gelingt durchgängig die Sinnentnahme. Bei den Texten verhält es sich ebenso. Die ihm nahegebrachten Lesestrategien und auch die Möglichkeiten 11 Titel der Handreichung (Doppelklick!) der Selbstkontrolle werden von ihm konsequent angewandt. Limitiert sind seine Leseleistungen insbesondere durch die nach wie vor eingeschränkte Lesegeschwindigkeit. Zeit für ein kleines Zwischenfazit: Es dreht sich also tatsächlich etwas, wenn auch nur sehr langsam. Simons funktionale Schwächen sind natürlich auch an der Förderschule nicht von heute auf morgen zu kompensieren, keine Frage. Gleichwohl gewinnt der Junge durch die sukzessive Strategieanwendung und durch die Automatisierung zunehmend Vertrauen in sich. Insgesamt beginnt die Koordination der individuellen Bildungsangebote innerhalb des Netzwerkes also erste Früchte zu tragen. Inwiefern eine Rückschulung nun tatsächlich in Umsetzung kommen kann, bleibt vorerst abzuwarten. Aktuell könnte Simon dem Bildungsgang der Grundschule jedenfalls ohne das sonderpädagogische Bildungsangebot noch nicht folgen. Noch nicht. Die Devise lautet deshalb also ganz einfach: Dranbleiben! 3.6 Ergebnisse der Kooperativen Förderplanung, Klappe, die Dritte Ergebnisse der Kooperativen Förderplanung für den Zeitraum von Februar 2010 bis Juli 2010 Anm. 1: aus Gründen der Übersichtlichkeit wird hier lediglich der Teil der Förderplanung abgebildet, der für den Leselernprozess unmittelbar bedeutsam erscheint. Kompetenzen / Entwicklungsbereiche -- - 0 Förderziele + Maßnahmen ++ Lesefähigkeit Lesegeschwindigkeit x Herr Müller (Lesepate) übt 2x wöchentlich ca. 10 Minuten mit Simon die Ganzworterfassung anhand des Materials von Kollegin Pohl. Im Unterricht erhält Simon Lesetexte, die nach dem Wemberprogramm aufbereitet sind. Simon wird angeleitet die Ergebnisse selbst auszuwerten und aufzuzeichnen. Herr Albert stellt 2 -3 mal wöchentlich geeignete Texte bereit. X Leseverständnis / Nachdem Simon Simon verfasst mit Kevin Lesemotivation zunehmend aus eigenen einen Artikel für die Antrieb Texte verfasst, gilt Schülerzeitung im Unterricht. es jetzt diese Die Eltern besorgen Eigenaktivitäten zu Lesematerial zum Thema bekräftigen und auf das Fußball. Simon wird bei der Lesen hin zu fördern Auswahl beteiligt. Sie reflektieren mit ihm 2x pro Woche aktuelle Presseartikel über Fußball. Herr Müller (Lesepate) bittet Simon Artikel, die er für interessant hält, in die Leseförderung mitzubringen. Anm.2: Nach den Pfingstferien wird mit den Eltern und der Vertreterin der heilpädagogischen Praxis ein Termin vereinbart, um gemeinsam mit Simon dessen Lernstand zu analysieren und die Lernortfrage neu zu bestimmen. Ziel ist es weiterhin, dass Simon im Lesen Routinen ausbildet, um die Lesegeschwindigkeit zu erhöhen und das Arbeitsgedächtnis zu entlasten. 4. Zum guten Schluss Alles auf Anfang: Jeder Mensch erzählt eine Geschichte. Dieser Satz mag vielleicht immer noch profan sein – Simons Geschichte zeigt uns aber deutlich, dass er für die pädagogische Alltagspraxis gleichsam von enormer Bedeutung ist. Pointiert: Simons erweiterter Bildungsanspruch und sein persönliches Recht auf Aktivität und Teilhabe an der Gesellschaft 12 Landesinstitut für Schulentwicklung sind geradezu untrennbar mit seiner Geschichte verbunden. Und diese schreibt sich fort. Jeden Tag neu. Die damit verbundene Notwendigkeit der Prozessorientierung im Hinblick auf die gesamte individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung auf Grund der sich stetig verändernden Rahmenbedingungen bleibt auch an der Förderschule eine (sonder-) pädagogische Herausforderung – irgendwo zwischen Diagnostik, konkreten Lese-Übungen und dem Bolzplatz. Aber: Der Auftrag der Vereinten Nationen ist an dieser Stelle eindeutig. Es stellt sich weniger die Frage, ob nun ILEB-Schleifen in sonderpädagogischen Bezügen zu ziehen sind oder ob nicht. Zu Fragen ist eher nach den Qualitäten, mit denen sie ausgestaltet werden. Das Beispiel Simon gibt hierzu einige Hinweise. Die vier wesentlichen sind im Einzelnen: 1. Leseförderung muss grundsätzlich theoriegeleitet sein. Das heißt: Wer SuS im Lesen fördern möchte, braucht eine Ahnung davon, wie lesen überhaupt funktioniert. Nur auf der Grundlage einer Theorie kann man dann auch den Fragen nachgehen, warum zum Beispiel Simon vielleicht noch nicht so gut lesen kann, was er bereits schon kann und welche nächsten Lernschritte theoretisch sinnvoll wären. 2. Um diese Fragen genauer beantworten zu können, bedarf es einer eingehenden Diagnostik in Bezug auf die zu Grunde gelegte Theorie. Konkreter: Nur wer über Instrumente verfügt, um über die verschiedenen Wahrnehmungsmodalitäten, die erforderlichen Speicherprozesse oder über die Teilkomponenten erfolgreichen Lesens wie das Leseverständnis oder die Lesegeschwindigkeit verlässliche Aussagen zu treffen, kann den Schülerinnen und Schülern individuell zugeschnittene Angebote unterbreiten. 3. Das an den Schulen verankerte Konzept der Leseförderung muss wissenschaftlich fundiert sein. Das heißt: Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten kommt es gerade darauf an, welche wissenschaftlich fundiert erfolgreichen Methoden den Schülerinnen und Schülern tatsächlich eine Hilfe bieten. Neben der direkten Instruktion, der Strategieinstruktion oder computergestützten Verfahren sind dies in der Ausformung syllabisch orientierte Kurse, die einem gestuften nachvollziehbaren Aufbau folgen.1 4. Leseförderung muss grundsätzlich als Thema der Schulgemeinschaft verstanden werden. Das heißt: Leseförderung ist organisatorisch, strukturell und konzeptionell ein Thema, das nicht von einer Lehrkraft alleine verantwortet werden kann. Spezifische Förderstunden, das Einbeziehen von Lesepaten, die grundsätzliche Konzeption über die Klassenstufen hinweg, das Coaching von Eltern oder die Vernetzung der Schule mit außerschulischen Partnern liegen in der Verantwortung der gesamten Schule. Was bleibt? Die professionelle Sicht und die lehrbuchartigen Zusammenstellungen brechen sich sprachlich und emotional an Simons Geschichte. Genau mit ihr verbindet sich aber der pädagogische Auftrag, nämlich dafür Sorge zu tragen, dass der Junge auch in der D-Jugend noch als vergnügter Junge seine 6-10 Kisten macht, um dann vielleicht am Montag den dazu erscheinenden kleinen Artikel in der Heimatzeitung lesen zu können. Dies wäre dann die eigentliche Einlösung des Bildungsauftrages – die Erreichung echter Teilhabe. Simon auf dem Weg zum Spielbericht – na, wenn das mal keine Motivation und Perspektive ist… Literatur Anderson, John R.: Kognitive Psychologie. Berlin, 2007 1 Grünke (2006), 238ff. 13 Titel der Handreichung (Doppelklick!) Barth, Karl-Heinz: Lernschwächen früh erkennen im Vorschul- und Grundschulalter. 5. Auflage; München, 2006. Burghardt, Manfred; Brandstetter, Ralf: Individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung. Aufgabe und Instrument der Arbeit an Sonderschulen. In: vds, Landesverband BadenWürttemberg (Hrsg.): Pädagogische Impulse, 3/2008, S. 2-9. Burghardt, Manfred; Brandstetter, Ralf: Individuelle Lern- und Entwicklungsbegleitung. Sonderpädagogisches Wesensmerkmal und Steuerungsinstrument. In: Lernen Fördern, Landesverband BW (Hrsg.), Festschrift zum 30-jährigen Bestehen. Stuttgart, 2007, 117-127. Crämer / Füssenich / Schumann (Hrsg): Lesekompetenz erwerben und fördern. Braunschweig, 1998. Dummer-Smoch, L., Hackethal, R. : Handbuch zum Kieler Leseaufbau. Veris-Verlag, 7.Auflage, Kiel, 2007. Grünke, Matthias: Zur Effektivität von Fördermethoden bei Kindern und Jugendlichen mit Lernstörungen: Eine Synopse vorliegender Metaanalysen. In: Kindheit und Entwicklung, 2006, 15 (4), 238-253. Kautter, H., Storz, L. & Munz, W. : Schultestbatterie zur Erfassung des Lernstandes in Mathematik, Lesen und Schreiben I (SBL I). Göttingen, 2000. Lauth, Gerhard W.; Grünke, Matthias; Brunstein, Joachim C. (Hrsg.): Interventionen bei Lernstörungen. Göttingen, 2004. Lenhard, W. / Schneider, W. (2006): ELFE 1-6. Ein Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler. Göttingen: Hogrefe Verlag Rosenkötter, Henning: Auditive Wahrnehmungsstörungen. Stuttgart, 2003. Wember, Franz, B.: Besser lesen mit System. Ein Rahmenkonzept zur individuellen Lernförderung bei Lernschwierigkeiten. Berlin, 1999. Woll, Rita: Partner für das Kind: Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern, Kindergarten und Schule. Göttingen, 2008. 14