Komplexität bei Luhmann Funktion und Begriff Proseminararbeit Universität Wien Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft LV: Medien und Erkenntnis: Modelle und Modellexperimente: Zur Vorgeschichte der Computersimulation (2PS / 4 ECTS ) LVNummer: 180224 ( WS07/08 ) LV-Leiter: Mag. Dr. Thomas Brandstetter Studiengang: Medizininformatik (Bakk.) 4. Semester (seit WS06/07) Studienkennzahl: A 033 521 vorgelegt von: Matrikelnummer: . Andreas Kirchner 0600112 1. Inhaltsverzeichnis 1. INHALTSVERZEICHNIS ............................................................................................. II 2. EINLEITUNG .................................................................................................................. 1 3. FUNKTIONSWEISE SINNVERARBEITENDER SYSTEME................................... 2 3.01 (a) (b) (c) (d) 3.02 (a) (b) (c) GESELLSCHAFT ALS SYSTEM ....................................................................................... 2 Autopoiesis ................................................................................................................. 2 operative Schließung .................................................................................................. 3 Sinnverarbeitung ........................................................................................................ 3 Operationstyp Kommunikation .................................................................................. 5 DER BEGRIFF DER STRUKTURELLEN KOMPLEXITÄT ..................................................... 6 Exkurs: Luhmann und das Diagonalargument .......................................................... 7 Eigenkomplexität in sozialen Systemen ...................................................................... 8 Reduktion von Komplexität ........................................................................................ 9 4. DIE EVOLUTION ALS KOMPLEXITÄTSTREIBENDER MECHANISMUS IN SYSTEMEN ............................................................................................................................ 11 4.01 4.02 SELEKTIONSMECHANISMEN DER GESELLSCHAFT ....................................................... 14 (ZWISCHEN)ERGEBNISSE DER EVOLUTION ................................................................ 16 5. SCHLUSSBETRACHTUNG ........................................................................................ 19 6. LITERATURVERZEICHNIS ..................................................................................... III KIRCHNER, Andreas / a0600112 II Komplexität bei Luhmann 2. Kirchner Seite 1 Einleitung Niklas Luhmanns Systemtheorie versucht, Gesellschaft zu beschreiben. Dabei ist sich die Theorie aber bewusst, dass sie selbst innerhalb der Gesellschaft formuliert wird. Sie muss daher die Urteile, die sie trifft, auf sich selbst anwenden. Luhmann nennt dieses Vorgehen „autologisch“1. Diese Art der Systemtheorie erhebt den Anspruch, „universalistisch“ zu sein. Das bedeutet, dass ihr Instrumentarium prinzipiell auf alle Gegenstandsbereiche anwendbar ist. Damit ist aber nicht der Anspruch erhoben, sie sei absolut und ließe keine anderen Theorien neben sich zu.2 Zum Instrumentarium der Systemtheorie gehört zunächst die Unterscheidung zwischen System und Umwelt. Sie wird auf das Phänomen Gesellschaft angewendet. Durch diese Anwendung auf den Gegenstandsbereich lernt die Systemtheorie auch etwas über sich selbst. Das bedeutet unter Anderem, dass sich das Instrumentarium mit der Zeit verfeinert. Eine dieser Verfeinerungen stellt der Begriff der Komplexität dar, um dessen Bedeutung es in dieser Arbeit gehen soll. Grob gesagt wird es mit diesem Begriff möglich zu zeigen, dass und wie Systeme im Laufe der Zeit evolvieren. Bei der vorliegenden Arbeit beziehen wir uns auf das 2-bändige Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft (im Folgenden abgekürzt: GG), wobei wir uns innerhalb dieses Werks auf die Kapitel 1 und 3 konzentrieren. Kapitel 1 stellt das grundlegende Instrumentarium zur Analyse von Gesellschaft als soziales System vor, während Kapitel 3 die Frage behandelt, wie sich Systeme im Laufe der Zeit entwickeln. 3 Im Zuge der Überlegungen werden folgende drei Fragen zu beantworten versucht: 1. Um beantworten zu können, wie sich Komplexität im Laufe der Systementwicklung aufbaut und reduziert, müssen wir klären, unter welchen Bedingungen dies geschieht. Luhmann will Gesellschaft als soziales System klären, daher müssen wir fragen: Welche zentralen Eigenschaften liegen sozialen Systemen nach Luhmann zugrunde? 1 Der Begriff der Autologie stammt von Lars Löfgren, der unter Anderem Mitarbeiter am BCL (Biological Computer Laboratory) war und auf den sich Luhmann des Öfteren bezieht, wobei sich Autologie bei Luhmann zumeist mit den differenztheoretischen Begriffen von George Spencer Brown (z.B.: Differenz, Zwei-SeitenForm, re-entry, …) vermischt. Vgl. Luhmann: GG, 1998, S.60-64. 2 Die Frage, was es bedeutet, den Anspruch an Universalität zu erheben und gleichzeitig zu behaupten, die Theorie wäre kontingent, wurde in der letzten Luhmann-Arbeit näher beleuchtet, vgl.: Kirchner: (Wie) ist nichtontologische Theorie möglich?, 2008. Die Arbeit stellt außerdem die hier folgenden Ausführungen in einen größeren Rahmen, wenn man sie zusammendenkt. 3 Vgl. Luhmann: „Gesellschaft als soziales System“. In: GG, 1998, S.16-189, insbesondere S.134-144 sowie Luhmann: „Evolution“. In: GG, 1998, S.413-594, insbesondere S.505-516. Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 2 2. Wie wird Komplexität als Begriff in GG eingeführt? Es wird sich zeigen, dass er sich bereits aus den Eigenschaften sinnverarbeitender (also auch sozialer) Systeme ergibt. Die Art und Weise aber, wie dies von Luhmann dargestellt wird (nämlich autologisch), ist zusätzlich zu bedenken. 3. Wie kommt es zum Aufbau von Eigenkomplexität? Hier wird die Einordnung der Evolutionstheorie im Rahmen der Systemtheorie thematisiert, die dann erklären soll, auf welche Art und Weise Veränderungen seligiert und stabilisiert werden können. Vorausschickend kann gesagt werden, dass je weiter die Überlegungen vorstoßen, desto komplexer im Luhmannschen Sinne wird die Thematik, da man immer wieder auswählen muss, welche Konzepte man thematisiert und welche man der Übersicht, Lesbarkeit und Länge halber verzichtet zu erläutern. Trotz all dem sollte die vorliegende Arbeit ein konsistentes Gesamtbild ergeben, das durch die Referenzen auf Luhmann Anschlussüberlegungen offen lässt. Auf Sekundärliteratur wurde verzichtet, um sich dem Werk soweit möglich unbeeinflusst nähern zu können.4 3. Funktionsweise sinnverarbeitender Systeme Gesellschaft wird bei Luhmann als sinnverarbeitendes, operativ geschlossenes, soziales System beschrieben. Es ist zunächst zu untersuchen, was dies bedeutet, um mit diesem Rüstzeug den Komplexitätsbegriff erklimmen zu können. 3.01 Gesellschaft als System Um sinnvoll über Komplexität reden zu können, ist es erforderlich, zumindest in den Grundzügen zu verstehen, in welchem Kontext der Begriff verwendet wird. In Luhmanns Fall ist es das Gesellschaftssystem, das in einer groben Skizze folgendermaßen charakterisiert werden kann: Es ist, wie alle sozialen Systeme a.) autopoietisch, b.) operativ geschlossen c.) sinnverarbeitend und verwendet d.) als Operationstyp Kommunikation. Es wird kurz auf die einzelnen Eigenschaften einzugehen sein. (a) Autopoiesis Dieser vom Biologen Humberto Maturana übernommene und adaptierte Begriff soll ein System dadurch charakterisieren, dass es seine eigenen Elemente unter Verwendung des 4 Dadurch, dass GG in einer neuzeitlichen, aktuellen Sprache formuliert ist, fällt ein weiteres Hindernis, seine Gedanken ohne Stützen durch Sekundärliteratur zu entwickeln, weg. Natürlich muss man sich nach Entsprechender Einarbeitung in das Werk auch mit anderen Interpretationen auseinandersetzen, denen andere Unterscheidungen zugrunde liegen. Diese Arbeit hat sich aber zum Ziel gesetzt, zunächst Luhmanns Unterscheidungen zu verstehen. Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 3 Zusammenspiels der eigenen Elemente erzeugt. Dadurch erzeugt das beobachtete System selbst die Grenze zwischen System und systemrelativer Umwelt. Oder mit Maturanas Worten: „Die eigentümlichste Charakteristik eines autopoietischen Systems ist, daß es sich sozusagen an seinen eigenen Schnürsenkeln emporzieht und sich mittels seiner eigenen Dynamik als unterschiedlich vom umliegenden Milieu konstituiert.“5 Dadurch, dass Elemente bei Luhmann „zeitlich gesehen“6 Operationen sind, ergibt sich dadurch auch die Eigenschaft der (b) operative Schließung Systeme sind kognitiv offen, das heißt, sie können Irritationen aus der je eigenen Umwelt aufnehmen (oder nicht). Diese Irritationen – und das kennzeichnet die operative Geschlossenheit - enthalten aber keine systemrelevanten Unterscheidungen – oder anders gesagt: Sie enthalten keine Strukturvorgaben, die dem System aufoktroyiert werden, sondern die Strukturen werden erhalten, erzeugt und verändert von den Operationen (also Elementen) des Systems selbst. Das aber bedeutet, dass Operationen nur an weitere Operationen anschließen können. Dies garantiert das Fortbestehen der Systeme. (c) Sinnverarbeitung Von den allgemein autopoietischen Systemen (biologische Systeme) unterscheiden sich sinnverarbeitende Systeme (psychische und soziale Systeme) dadurch, dass die Grenze, die vom System erzeugt wird keine materielle, räumliche Grenze ist, sondern durch Beobachtung gezogen wird. Das bedeutet, dass die Operationen des Systems von der Art sind, dass sie eine Unterscheidung zwischen System und Umwelt im System ermöglichen. „Sie unterscheiden, anders gesagt, Selbstreferenz und Fremdreferenz. Für sie sind Grenzen daher keine materiellen Artefakte, sondern Formen mit zwei Seiten.“7 Die Differenz System/Umwelt wird also erstens vom System erzeugt, zusätzlich jedoch wird der Tatbestand, dass eine solche Differenz erzeugt wird, im System auch beobachtet, macht also im System selbst einen Unterschied.8 Diese als „re-entry“9 deklarierte Eigentümlichkeit macht jene Systeme, nach Luhmann und Spencer-Brown, von sich heraus unberechenbar, wobei diese Maturana, Varela: Der Baum der Erkenntnis, 1987, S.54 – wobei Gebrauch und Bedeutung des AutopoiesisKonzepts bei Maturana und Luhmann durchaus divergiert, doch das bedarf einer eigenen Untersuchung. 6 Luhmann: GG, 1998, S.65. 7 Luhmann: GG, 1998, S.45. 8 Ob das bei biologischen Systemen nicht auch vorkommen kann, ist für Luhmann nicht relevant, wird von ihm aber offen gelassen. Vgl. Luhmann: GG, 1998, S.46, Fußnote 48. 9 Die Theoriefigur „re-entry“ stammt von George Spencer-Brown, wird von Luhmann aufgenommen und für die Zwecke der Systemtheorie angepasst. Vgl.: Spencer-Brown: Laws of Form., S.56ff, 69ff. 5 Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 4 Unberechenbarkeit „nicht auf die Unvorhersehbarkeit von Außeneinwirkungen (unabhängige Variable) zurückzuführen ist, sondern auf das System selbst.“10 Man könnte sich fragen, woher diese Unvorhersehbarkeit, diese Unbestimmtheit genau kommt, denn das wird in diesem Zusammenhang nicht ganz klar. Als Hinweis kann Folgendes dienen: Dadurch, dass das System sozusagen seine eigenen Grenzen kennt, entsteht eine Art Leer-Raum, ein Vakuum, eine Unentscheidbarkeit.11 Es kann aufgrund seiner Beschaffenheit nur mit seinen eigenen Operationen operieren, doch es kann auch vermittels Fremdreferenz an Irritationen aus der Umwelt anschließen. Und hier treffen wir schon annäherungsweise an den Komplexitätsbegriff, denn es kann nun leicht der Fall eintreten, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, an Irritationen aus der Umwelt anzuschließen, als aktualisiert (verwirklicht) werden können. Daher muss das System eine Auswahl treffen und es bietet sich an, ein Gedächtnis mitzuführen, um Selektionen aus der Vergangenheit zu speichern. Unter Sinn werden nun all jene für das System sichtbaren Konsequenzen verstanden, die aus der immanenten Unbestimmtheit des Systems folgen, nämlich 1. Auswahl von Irritationen, die dann im System als Informationen behandelt werden und 2. Aufbewahrung vergangener Selektionen für späteres Prozessieren. Das hat interessante erkenntnistheoretische Konsequenzen: Man kann nicht mehr vom Vorhandensein der Welt ausgehen, nicht mehr davon, dass es stabile Identitäten außerhalb eines Systems gibt, sondern Identitäten „haben nur die Funktion, Rekursionen zu ordnen, so daß man bei allem Prozessieren von Sinn auf etwas wiederholt Verwendbares zurück- und vorgreifen kann.“12 Um die Erläuterungen zum sehr zentralen Sinnbegriff abzubrechen: Kein psychisches oder soziales System kann sich der Reproduktion des Mediums Sinn entziehen, selbst Unsinn findet gewissermaßen im Medium Sinn statt: „Möglich ist Unsinnproduktion nur, wenn man einen engeren Begriff des Sinnvollen (zum Beispiel: des alltäglich Üblichen, des Erwartbaren) bildet und dann Unsinn davon unterscheidet. […] In das allgemeine unnegierbare Medium Sinn können also sekundäre positiv/negativ-Zäsuren eingebracht werden; aber das bringt es unausweichlich mit sich, daß eine solche Unterscheidung als Unterscheidung dann wieder Sinn hat und Sinn reproduziert. Man kann deshalb zwar Sinn als Form bezeichnen, indem man Sinn von Unsinn unterscheidet und ein Kreuzen der Grenze 10 Luhmann: GG, 1998, S.45. Der einfachste Fall einer Unbestimmtheit im Kontext der theoretischen Informatik wären nichtdeterministische endliche Automaten oder nicht-deterministische Turingmaschinen, die in einem Zustand q einen Input a bekommen, jedoch aufgrund der Mehrdeutigkeit der Regeln nicht entscheiden können, in welchem Folgezustand überzugehen ist. 12 Luhmann: GG, 1998, S.46f. 11 Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 5 ermöglicht; aber das kann nur in der Weise geschehen, daß die Unterscheidung Sinn/Unsinn im Moment ihrer Verwendung Sinn annimmt und damit Sinn als Medium aller Formbildungen reproduziert.“13 Das gilt für alle Unterscheidungen, die psychische oder soziale Systeme verwenden oder treffen. Luhmann spricht sogar davon, dass die Sinn-Form „das absolute Medium ihrer selbst“14 ist, denn nur durch Selbstanwendung kann sie sich unterscheiden.15 (d) Operationstyp Kommunikation Der Operationstyp Kommunikation, der in der Luhmannschen Systemtheorie nicht Menschen, bzw. psychischen Systemen16, sondern sozialen Systemen zugerechnet wird, ist philosophisch betrachtet der Punkt, an dem sich Subjektphilosophie von Luhmanns Systemtheorie unterscheidet. Wenn man ausschließlich psychische Systeme betrachtet, könnte man argumentieren, dass unter System dasselbe zu verstehen ist wie unter Subjekt: Selbstreferenz, Fremdreferenz, re-entry – das, was diese Begriffe bezeichnen, wurde ebenfalls in der Subjektphilosophie thematisiert, nur unter anderen Termini. Doch sobald man soziale Systeme und ihren Operationstyp Kommunikation betrachtet, verschiebt sich die Ebene von einzelnen psychischen Systemen, die mit Gedanken operieren, auf ein Kommunikationsnetzwerk, bei dem zwar mehrere psychische (und gewissermaßen auch biologische) Systeme vorausgesetzt sind, bei der jedoch eine einzelne Kommunikation nicht mehr einem der psychischen Systeme zugerechnet werden kann. Da soziale Systeme sinnverarbeitende autopoietische Systeme sind, ist es auch hier notwendig, dass Kommunikation an Kommunikation anschließt, damit das soziale System fortbestehen kann.17 Man könnte diese Eigenschaften noch viel genauer unter die Lupe nehmen und würde dann – in der Erläuterung des Sinnbegriffs kurz angedeutet – weiteren Aspekten des Komplexitätsbegriffs auf die Spur kommen. Da dieser Weg zwar erkenntnisreicher für ein allgemeines Verständnis der Systemtheorie wäre, ist er jedoch weniger fruchtbar für eine Erläuterung des Komplexitätsbegriffs; hierfür bietet sich die Evolutionstheorie an. Als Voraussetzung für ein Verständnis des Komplexitätsbegriffs ist die obige Skizze der sinnverarbeitenden Systeme aber ausreichend. 13 Luhmann: GG, 1998, S.52. Luhmann: GG, 1998, S.55. 15 Das erinnert z.B. an Schellings Spätphilosophie und der Rede vom absoluten Band seiner selbst als Einheit und seiner selbst als sein Gegenteil oder als Vielheit. Der Sinnbegriff stellt sich uns als einer der wichtigsten Träger der Luhmannschen Systemtheorie dar und es bedarf daher einer eigenen Analyse, um sich diesem Thema eingehender zu widmen, als dies in einer Vorbereitung auf das Verständnis des Komplexitätsbegriffs möglich ist. 16 Der Term Mensch kommt in der Systemtheorie nicht vor. 17 Luhmann: GG, 1998, S.81f. 14 Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 6 Wir haben gezeigt, dass soziale Systeme autopoietisch und operational geschlossen sind, indem sie ihre eigenen Operationen an ihre eigenen Operationen anschließen und dadurch die Unterscheidung System/Umwelt produzieren und erhalten. Die Operationen Kommunikation und Gedanke tun dies unter Verwendung und Reproduktion der 2-Seiten-Form Sinn, die für sinnverarbeitende Systeme nicht negierbar ist und die es im hohen Maße erlaubt - und das werden wir im Anschluss weiter ausführen – Eigenkomplexität aufzubauen, da innerhalb der Operationen die Möglichkeit gegeben ist, die Unterscheidungen, die das System produziert (grundlegend die Unterscheidung System/Umwelt), selbst zu beobachten und daran anzuschließen. 3.02 Der Begriff der strukturellen Komplexität Aufgrund der oben skizzierten Merkmale eines sozialen Systems (Sinnverarbeitung, Autopoiesis, Operative Geschlossenheit, Kommunikation) wird es möglich, dass sich Eigenkomplexität oder strukturelle Komplexität aufbauen kann. Das bedeutet, dass im Laufe der Systementwicklung neue Eigenschaften „emergieren“, die nicht allein durch das Zusammenspiel der Systemkomponenten erklärt werden können. Luhmann geht also davon aus, dass operative Schließung und Autopoiesis wesentlich mit dem Aufbau/Abbau von Eigenkomplexität zusammenhängen.18 Der Begriff Komplexität wird in GG als Form mit einer Unterscheidung eingeführt und klar von Operationen abgegrenzt. Komplexität als Form ist „ein Begriff der Beobachtung und Beschreibung (inclusive Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung)“19, und daher nichts, was ein System tun oder erleiden kann. Bei der ersten Definition von Komplexität handelt es sich um eine paradoxe Unterscheidung: „Komplexität ist die Einheit einer Vielheit“20. Das ist eine von vielen Grundparadoxien, die Luhmann in seinen Werken vorlegt und die klarer wird, wenn man versteht, dass der Begriff Komplexität eine Einheit oder eine Vereinbarung von zwei anderen Prädikaten (das ist die Vielheit) sein soll, nämlich die von Redundanz und Varietät. Man stellt sich etwas als komplex vor, wenn es nicht völlig geordnet (redundant) aber auch nicht völlig ungeordnet(variabel, chaotisch) ist. Luhmann möchte aufgrund seines Theorieschemas diesen Kompromiss als Paradoxie formulieren: Etwas ist komplex, wenn es geordnet als auch ungeordnet ist. 18 Luhmann: GG, 1998, S.134f. Luhmann: GG, 1998, S.136. 20 Luhmann: GG, 1998, S.136. 19 Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 7 Nun geht es - wie das unzählige Male bei Luhmann vorgeführt wird - darum, die Paradoxie zur Entfaltung zu bringen, unsichtbar zu machen (Invisibilisierung), zu entparadoxieren. In diesem Fall geschieht das durch eine weitere Unterscheidung, nämlich Element/Relation. Daraus ergibt sich eine neue Definition des Begriffs: „Eine Einheit ist in dem Maße komplex, als sie mehr Elemente besitzt und diese durch mehr Relationen verbindet.“21 Dies wird ergänzt durch die Tatsache, dass die reale Verknüpfungsfähigkeit von Elementen in Systemen Grenzen hat und bei steigenden Elementen relativ bald aus den möglichen Verbindungen seligieren muss. Es ist einsichtig, dass dadurch die Selektion kontingent, auch anders möglich, ist. Es ergibt sich bei Luhmann der Weg von der Grundparadoxie des Komplexitätsbegriffs zu einer zusätzlichen Unterscheidung Element/Relation hin zu der Unterscheidung vollständig miteinander verknüpfte Elemente/selektive Verknüpfung von Elementen. (a) Exkurs: Luhmann und das Diagonalargument Warum uns diese Entwicklung so wichtig erscheint ist, weil Luhmann, während er den Begriff der Komplexität erklärt, in seiner Durchführung des Erklärungsprozesses so vorgeht, dass man als Beobachter am Ende feststellen kann, dass dieser selbst allmählich Eigenkomplexität aufgebaut hat. Luhmanns Theorie lässt sich selbst als System beobachten. Es scheint als hätte sich Luhmann das Diagonalargument zu Herzen genommen, das in der Berechenbarkeitstheorie verwendet wird um zu beweisen, dass z.B. eine Turingmaschine TM1 prinzipiell nicht in der Lage ist, für eine beliebige Turingmaschine zu zeigen, dass sie zu einem Ergebnis kommt oder nicht (bekannt unter dem Halteproblem). In diesem Diagonalargument wird nämlich folgendermaßen vorgegangen: Unter der Annahme, es gäbe eine solche Turingmaschine TM1, wird gezeigt, dass wenn man sie auf sich selbst (bzw. genauer auf eine Turingmaschine TM2, die TM1 enthält) anwendet, eine Unvereinbarkeit mit dem, was sie tut (ihre Operationsweise) und dem, was sie sagt (ihr Output, ihr Ergebnis) entsteht, was dazu führt, dass sich TM1 selbst widerlegt, was im Prinzip als Reductio Ad Absurdum-Argument zu verstehen ist. Beispiel: Man fragt TM1, ob TM2 ein Ergebnis liefert. TM1 gibt eine Antwort, jedoch ist TM2 derart konstruiert, dass sie die Antwort von TM1, die ja ein Teil von TM2 ist, in jedem Fall falsifiziert. Falls TM1 den Output „TM2 liefert ein Ergebnis“ liefert, arbeitet TM2 genau so, dass sie niemals ein Ergebnis liefert, und vice versa 21 Luhmann: GG, 1998, S.137. Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 8 mutatis mutandis. Daraus folgt dann, dass TM1 offensichtlich die falsche Antwort gibt und daher nicht allgemein berechnen kann, ob eine Turingmaschine ein Ergebnis liefert. Luhmann scheint sich gewissermaßen einer solchen Kritik zu entziehen, indem er immer darauf bedacht ist, die Operationsweise (die Art und Weise, wie seine Theorie aufgebaut ist) in Einklang zu halten mit dem Output (mit dem was die Theorie über ihren Gegenstand, die Gesellschaft, sagt) – also eine autologische Entwicklung der Theorie. Genau das scheint uns die Raffinesse, die Eleganz und die Schönheit dieser Theoriefigur auszumachen, die sich immer wieder und mehrfach in seinen Werken auffinden lässt. (b) Eigenkomplexität in sozialen Systemen Es stellt sich die Frage, wie bei so einem fragilen und „schmalspurigen“22 Operationstyp wie Kommunikation überhaupt ein Aufbau von Komplexität zustande kommen kann, da eine einzige Kommunikation nur sehr kurz besteht und außerdem eine Aneinanderreihung von vielen Kommunikationen erfordert, damit das System nicht zerfällt. Bei biologischen Systemen ist es etwas einfacher, da die Elemente (Zellen) eine gewisse Beständigkeit haben. Luhmann zeigt zwei eng zusammen gehörende Teillösungen für das Problem des Fortbestehens von sozialen Systemen und der Möglichkeit, Eigenkomplexität aufzubauen: a.) Selbstreferenz der Operationen und b.) Repräsentation von Komplexität in der Form von Sinn. Es macht sich nun bezahlt, dass wir die Grundlagen zu sozialen Systemen bereits im einleitenden Abschnitt 3.01 vorweggenommen haben. Nun können beide Aspekte wiederholend und in einem etwas anderen Licht dargestellt werden: a.) Selbstreferenz der Operationen bedeutet, dass Kommunikation prinzipiell so gebaut ist, dass weitere Kommunikation anschließen kann. Egal, was man sagt, immer besteht die Möglichkeit, etwas Bezug nehmendes zu sagen. Man kann mit ablehnender, bestätigender, fragender usw. Kommunikation anknüpfen. Das gilt im Bereich der psychischen Systeme auch für Gedanken. Daraus folgt, dass Komplexität nie endgültig festgemacht werden kann, sondern immer offen bleibt, da aufgrund der Rekursivität der Operationen immer andere Selektionen getroffen werden. b.) Komplexität, die in der Form von Sinn repräsentiert ist heißt, dass die Zwei-Seiten-Form Sinn, die durch die Unterscheidung Aktualität / Potentialität beschrieben werden kann, als Medium fungiert und es ermöglicht, die Form der Komplexität sozusagen in sinnverarbeitende Systeme einzuschreiben. Es wird die eine Seite der Unterscheidung, 22 Luhmann: GG, 1998, S.141. Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 9 nämlich selektive Relationierung der Elemente, in sinnverarbeitende Systeme repräsentiert. „Wer etwas Bestimmtes erlebt, wird durch diese Bestimmtheit auf anderes hingewiesen, das er ebenfalls aktualisieren oder wiederum nur potentialisieren kann. Dadurch wird die Selektivität […] aller Operationen zur unvermeidbaren Notwendigkeit: zur Notwendigkeit dieser Form von Autopoiesis.“23 In diesem Abschnitt wurde das, was im Komplexitätsbegriff erarbeitet wurde, dass es nämlich für reale Systeme unvermeidbar ist, dass sie auswählen, welche Elemente sie miteinander verknüpfen, den Sinnsystemen zugeführt und so verbindet sich das Medium Sinn mit dem Aspekt, dass das System aus den Möglichkeiten, die sich auf der anderen Seite der Form befinden (bzgl. System/Umwelt auf der Seite des Systems – bzgl. Aktualität/Potentialität auf der Seite der Potentialität), seligieren muss. Denkt man dann noch dazu, dass diese Selektionen in einem Gedächtnis für späteren Gebrauch in anderen Situationen bereitgehalten werden, kann man sich auf diese Art den Aufbau von Eigenkomplexität in sozialen Systemen als erste Annäherung erklären. (c) Reduktion von Komplexität Luhmann spricht unter Bezugnahme auf den Schriftsteller Kenneth Burke und den Psychologen Jerome Bruner von „Reduktion der Komplexität“24, will aber vermeiden zu sagen, dass, wenn Komplexität reduziert wird, der Gegenstand zu einem einfachen wird. Wenn ein System ein Modell oder eine Beschreibung von seiner Umwelt oder sich selbst anfertigt, dann operiert es trotzdem noch im Kontext von Komplexität. Die Beschreibungen sind noch immer komplex insofern, als dass man den Selektionszwang niemals aus Beobachtungen herausbekommt, nur wird diese Komplexität dem Gegenstand nicht mehr voll gerecht. Das gilt für die Systemtheorie als auch für die Systeme, die sie beobachtet. Ein Grund, warum Luhmann das so betont ist Folgender: Die Systemtheorie kann sich nicht mehr auf Modelle oder Idealisierungen der Forschungsgegenstände berufen25 um die Komplexität in den Griff zu bekommen, denn sie erhebt den Anspruch autologisch vorzugehen. Da sie sich gewissermaßen selbst als (Teil-)System betrachtet, muss sie auch eingestehen – wie oben beschrieben - dass Beschreibungen der Gegenstände als Modell oder Ideal selbst komplex sind. Die für Luhmann geeignete Methode der Komplexität gerecht zu werden ist Beobachtung zweiter Ordnung. Man fragt zunächst nach einem Beobachter (ohne den es auch 23 Luhmann: GG, 1998, S.142. Vgl. Luhmann: GG, 1998, S.143f. 25 „[…] [S]olch ein Vorgehen würde Komplexität mit Komplikation missverstehen“. Luhmann: GG, 1998, S.144. 24 Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 10 keine Komplexität, da keine Selektionsmöglichkeit, geben würde). Diesen beobachtet man und das bedeutet, man trachtet danach herauszufinden, welche Unterscheidungen er trifft. Die Autologie, auf die Luhmann Wert legt, kommt dadurch zustande, dass man sich selbst als Beobachter versteht. Dadurch lernt man durch das Beobachten von Beobachtern auch etwas über sich selbst, und kann darauf verzichten, externe Identitäten für die Erklärung von Komplexität zu beanspruchen. Reduktion von Komplexität heißt also nicht, dass man sich mit Modellen oder Idealisierungen des beobachteten Systems begnügt, sondern man versucht zu verstehen, mit welchen Unterscheidungen das beobachtete System operiert. Wir haben in diesem Kapitel mit den grundlegenden Eigenschaften von sozialen Systemen (und damit der Gesellschaft) begonnen. Danach wurde der Komplexitätsbegriff als Paradox eingeführt, der sich durch zwei weitere Unterscheidungen zum für die Systemtheorie relevanten Komplexitätsbegriff entfaltet hat: Komplexität beginnt immer bei einem sinnverarbeitenden System, das durch das Beobachten der von ihm selbst produzierten Unterscheidung System/Umwelt dazu gezwungen ist auszuwählen, wie weiter operiert wird, was also von den Möglichkeiten aktualisiert wird. Das gleiche gilt auch für den Beobachter zweiter Ordnung, der das System und das Operieren auf seinen Unterscheidungen beobachtet. Luhmann beobachtet, wie das Gesellschaftssystem unterscheidet, verzichtet aber darauf, Modelle oder Idealisierungen anzufertigen, sondern lässt Komplexität unaufgelöst stehen weil er weiß, dass er selbst am Gesellschaftssystem beteiligt ist und durch seine Beschreibungen ebenfalls wieder Komplexität aufbaut. Die Reduktion der Komplexität kommt dadurch zustande, dass er fragt, wie die Komplexität beobachtet wird, also welchen Unterscheidungen (oder auch Entscheidungen) sie zugrunde liegt. Im Folgenden werden wir den Versuch Luhmanns, Systemtheorie und Evolutionstheorie zu verbinden, nachvollziehen und den Akzent dabei auf jene Aspekte legen, die uns helfen zu verstehen, wie und nach welchen Kriterien (falls es welche gibt) Selektion zustande kommt. Dabei sollte dann klar werden, wie der Aufbau von Eigenkomplexität im Laufe der Differenzierung des Systems Gesellschaft zustande kommt. Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 11 4. Die Evolution als komplexitätstreibender Mechanismus in Systemen „Gesellschaft ist das Resultat von Evolution.“26 Mit diesem ersten Satz aus dem Kapitel über Evolution leitet Luhmann seine Beobachtungen über die verschiedenen Spielarten der Evolutionstheorie ein, die auf den darauf folgenden Seiten dazu führen, Evolutionstheorie und Systemtheorie zusammen zu denken und die erstere als wichtigen Bestandteil von letzterer herauszustellen. Da der Weg dorthin für den Einsatz des Begriffs Komplexität wichtig ist, werden wir ihn in den relevanten Teilen nachvollziehen. Der wichtigste Aspekt, der für Luhmann als „Leitfaden für die weitere Analyse“ dient, ist die „Paradoxie der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen“.27 Wie so oft bei Luhmann, wird von einer Paradoxie ausgegangen. Nach diesem Paradox steht wieder in Frage, wie es sich auflösen, entfalten lässt. Zunächst muss man aber verstehen, was mit Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen gemeint ist. Etwas kann unwahrscheinlich im Hinblick auf seine Entstehung sein, doch sobald einmal entstanden, zur Normalität werden. Die Entstehung des Lebens hat unter Bedingungen stattgefunden, die hochgradig unwahrscheinlich waren. Heute wird die gesamte Erde mit Leben bevölkert und es ist sehr wahrscheinlich, dass dies noch länger so bleibt. Die gesamte Evolutionstheorie beschäftigt sich nun mit der Frage, wie beides zusammenpasst. Der Begriff der Komplexität wurde auch von einem Paradox aus durch weitere Unterscheidungen entfaltet. Bei der Evolutionstheorie wird das Problem in die Zeit verlegt. Es wird gefragt, wie eine „geringe Entstehungswahrscheinlichkeit in hohe Erhaltungswahrscheinlichkeit transformiert“28 werden kann. Luhmann fasst das Problem mit den Worten von Herbert Spencer als „Morphogenese von Komplexität“29. Die Auflösung dieses Problems wird durch 3 Begriffe vorgeführt: a.) Variation, b.) Selektion, c.) Restabilisierung. Um die Theoriefigur Luhmanns, die auch bei der Entfaltung des Komplexitäts-Paradoxes zum Zug kam, klarer herauszustreichen, lassen wir Luhmann dazu etwas länger zu Wort kommen: „Daß zwischen Variation, Selektion und Restabilisierung unterschieden wird, hat einen Sinn, den die Unterscheidung selbst zugleich verdeckt. Die Unterscheidung erklärt, daß und wie es möglich ist, vorübergehende und wieder entfallende Konstellationen zu nutzen. Sie dient der Entfaltung des Paradoxes der 26 Luhmann: GG, 1998, S.413. Luhmann: GG, 1998, S.413. 28 Luhmann: GG, 1998, S.414. 29 Vgl. Luhmann: GG, 1998, S.415. 27 Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 12 Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen mit Hilfe einer anderen Unterscheidung. Die Begriffe Variation und Selektion verlagern das Problem auf eine andere Ebene und verdrängen dadurch die Frage nach der Einheit der Unterscheidung von wahrscheinlich und unwahrscheinlich. Sie bringen das Ausgangsparadox in eine besser handhabbare Form; und dies natürlich sprunghaft, logisch nicht nachvollziehbar, kreativ. Das Paradox verliert die Wiedererkennbarkeit, es wird invisibilisiert, und an seine Stelle tritt eine andere Unterscheidung, die Aussichten auf empirische Fragestellungen eröffnet. Denn man kann jetzt fragen, unter welchen Bedingungen sich Mechanismen der Variation und Mechanismen der Selektion trennen und sich daraufhin durch einen Beobachter unterscheiden lassen.“30 Es werden nun die drei Begriffe in zwei zwei-Seiten-Formen gebracht: x.) Variation/Selektion y.) Selektion/Restabilisierung Bei einer zwei-Seiten-Form kann immer nur eine Seite Bezeichnet werden, daher ist der Übergang zwischen Variation und Selektion und der zwischen Selektion und Restabilisierung, der als Grenze bezeichnet wird, ein blinder Fleck. Bis jetzt ist noch kein expliziter Zusammenhang mit der Systemtheorie aufgetaucht. Genau das hat Luhmann aber im Blick und durch die Formulierung der Evolutionstheorie als Paradox und ihrer Entfaltung durch die beiden Unterscheidungen x und y hat er bereits erste Vorbereitungen für einen Anschluss durchgeführt. Zunächst aber werden Versuche zurückgewiesen, die Systemtheorie mit der Evolutionstheorie so zu verknüpfen, dass als Referenz das Individuum herangezogen wird, da seine Theorie sozialer Systeme „schärfere Abstraktionen, aber auch größere Genauigkeit in den Begriffen“31 fordert. Versucht man nun, die Evolutionstheorie für die Theorie der Gesellschaft als soziales System nutzbar zu machen, muss man a,b und c auch in diesem Lichte beschreiben und erläutern:32 a.) Variation: verändert/belässt die Reproduktion der Elemente (Operationen) des Systems. Im Falle von sozialen Systemen bedeutet das einfach, dass es zu überraschender Kommunikation kommt. Die Variation ist eine Form: kommt vor / kommt nicht vor. b.) Selektion: ändert/belässt die Struktur des Systems, im Falle von sozialen Systemen bedeutet das, dass Erwartungen, die die Kommunikation steuern, verändert werden. Selektion ist wiederum eine Form, deren eine Seite positive Selektion (Annahme der Strukturveränderung), deren andere Seite negative Selektion (Abweisung der Strukturveränderung) ist. Welche Seite der Selektion bezeichnet wird, ist maßgeblich vom 30 Luhmann: GG, 1998, S.426. Luhmann: GG, 1998, S.432. 32 Vgl. Luhmann: GG, 1998, S.454. 31 Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 13 Gedächtnis des Systems und damit verbunden den Selektionskriterien abhängig, denen wir uns weiter unten zuwenden. c.) Restabilisierung: ändert/belässt den Zustand des Systems nach einer Selektion (ganz gleich, ob sie positiv oder negativ ausfällt), damit eine stabile Operationsweise, wie sie auch vor der Variation vorliegen musste, sich wieder einstellt. Als aktuelles Beispiel könnte man die Volksbefragung in Irland zum EU-Vertrag angeben. Wird das Befragungsergebnis positiv seligiert, also in ihren EU-weiten Konsequenzen akzeptiert, muss man sich überlegen, was das nun für die einzelnen Nationen und für die EU als Ganze bedeutet. Wird aber negativ seligiert und geleugnet, dass dieses kleine Land für alle übrigen Länder die Ratifizierung des EUVertrags unterbinden könnte, muss man sich ebenfalls überlegen, wie man die EU hinsichtlich der rechtlichen und demokratischen Gegebenheiten stabil halten kann. Luhmann dazu: „[E]s kann durchaus sein, daß die Innovationswirkung einer abgelehnten Innovation langfristig gesehen viel größer ist als die Innovationswirkung einer durchgeführten Innovation – zum Vorteil oder zum Nachteil des Systems.“33 Egal wie seligiert wird, die Komplexität steigt an und dies muss im System entsprechend verdaut werden. Dies ist unter Restabilisierung zu verstehen. Folgende Eigenheiten bzw. Neuheiten in Bezug auf klassische (z.B. darwinsche) Evolutionstheorie sind herauszuheben: Keine „natürliche Auslese“: Das bedeutet, dass die Selektion nicht auf Seiten der Umwelt des Systems, sondern vom System selbst vorgenommen wird. Von der Umwelt dringen Irritationen an das System, die – das ist ein wichtiger Aspekt in der Systemtheorie – die Struktur des Systems nicht determinieren, sondern von denen das System aufgrund seiner vergangen Operationen und seiner Erwartungen (wie genau, ist noch zu klären) entscheidet, ob sie Unterschiede im System hervorbringen sollen.34 Zirkuläres Verhältnis zwischen stabilem System und Evolutionsmechanismus: Wie bei c.) kurz angedeutet, muss es vor der Variation einen stabilen Zustand gegeben haben, was bedeutet, dass das System zum Zeitpunkt vor der Variation „normal“ operiert hat. Dadurch wird das Verhältnis dieser 3 Begriffe ein Zirkuläres, wovon 33 Luhmann: GG, 1998, S.488. Hierbei erscheint Gregory Bateson Definition von Information auch etwas klarer: information is a difference that makes a difference. Information ist jener Unterschied, der aufgrund der Verarbeitungsweisen des Systems einen Unterschied im System macht. 34 Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 14 nur die Selektion als Mittelbegriff immer nach einer Variation zum Zug kommt. Sobald es zu unerwarteter Kommunikation kommt (Variation) wird positiv oder negativ seligiert worauf eine Restabilisierung erfolgt, bei der dann bei zunehmender Komplexität mit vermehrten Variationen angeschlossen werden kann. „Evolution ist daher immer nur Modifikation bestehender Zustände[…]“35 Endlosprozess durch doppelten„Zufall“: Bei beiden Unterscheidungen x und y wird die Grenze als „Zufall“ angesehen, da er für einen Beobachter ein blinder Fleck ist. Der Beoachter kann immer nur eine der beiden Seiten bezeichnen und kann sich den Übergang nur als „Zufall“ erklären. „Zufall“ aber wird bei Luhmann als „[…] Fähigkeit eines Systems, Ereignisse zu benutzen, die nicht durch das System selbst (also nicht im Netzwerk der eigenen Autopoiesis) produziert und koordiniert werden können […]“36 bezeichnet. Zufälle sind also im Prinzip Chancen, Risiken, Gelegenheiten, die Struktur des Systems auszuweiten (z.B. neue Erwartungen aufzubauen). Dadurch, dass die Theorie mit zwei Unterscheidungen arbeitet, in denen jeweils eine Seite sich „zufällig“ mit der anderen kombiniert, ist ein Endlosprozess möglich, der bei nur einer Unterscheidung nicht möglich wäre. Erst durch die Selektion der Variation kann die Selektion durch Restabilisierung zu einem neuen stabilen Zustand geführt werden, der zu neuer Variation anregt usw. ad infinitum. Wir haben gesehen, dass beim Evolutionsmechanismus ähnlich wie beim Komplexitätsbegriff mit einer Paradoxie begonnen wird, die dann durch weitere Unterscheidungen (x und y) aufgelöst wird und durch die eine systemimmanente Entwicklung (Aufbau von Komplexität) möglich wird, für die die Umwelt lediglich Irritationen liefert. Ohne diese Irritationen würde die Entwicklung jedoch irgendwann stagnieren. Eine wichtige Frage ist nun, wie innerhalb der Gesellschaft seligiert wird. Dieser wollen wir uns im Folgenden widmen. 4.01 Selektionsmechanismen der Gesellschaft „Wenn man die Theorie operativ geschlossener, strukturdeterminierter Systeme akzeptiert, muß man davon ausgehen, daß Systeme ihre Strukturen nur mit den eigenen Operationen ändern können, wie immer diese in der Form von Störungen, Irritation, Enttäuschung, Mangel 35 36 Luhmann: GG, 1998, S.455. Luhmann: GG, 1998, S.450. Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 15 etc. auf Umweltgeschehnisse reagieren. Wir müssen also die Gesellschaft selbst auf ihre Selektionsmechanismen hin untersuchen.“37 Wir hatten gesagt, dass Selektion genau dann zum Zuge kommt, wenn Variation auftritt. Es passiert eine ungewöhnliche Kommunikation und im System wird entschieden, ob sie einfach vorüber geht, ohne dass Strukturen geändert (z.B. Erwartungen aufgebaut) werden oder nicht. „Die Selektion ist also eine Zwei-Seiten-Form: wenn nicht positiv dann negativ. Daß sie Form ist, unterscheidet sie zugleich von der Variation, die ihrerseits Form ist, weil sie vorkommen – oder nicht vorkommen kann. Die Form der Evolution (Variation/Selektion) ist mithin eine Form zweiter Stufe, eine aus Formen gebildete Form.“38 Wie entschieden wird, auf welcher Seite der Selektion weiteroperiert wird, hängt im Normalfall nicht von einer einzigen Kommunikation ab. Dies lässt sich durch die Unterscheidung von Interaktionssystem und Gesellschaftssystem näher erläutern. Ein Interaktionssystem beschreibt Kommunikation unter Anwesenden, wobei die Kommunikation jedoch auch zum Gesellschaftssystem gehört und dieses reproduziert.39 Es geht nun darum, wie sich etwas, dass sich in einem einzelnen Interaktionssystem durchsetzt, auch gesamtgesellschaftlich durchsetzt. Im Interaktionssystem kann keine Evolution im Luhmannschen Sinne stattfinden, da so gut wie jede Variation auch seligiert wird (Variation und Selektion also nicht unabhängig von einander etabliert werden können). Strukturveränderungen sind also sehr wahrscheinlich. Dieses hohe Risiko (es könnte zu Konflikten und dadurch vielleicht zum Ende des Operierens des Systems kommen) ist aber nur möglich, weil das Interaktionssystem sich sicher sein kann, dass das Gesellschaftssystem, in das es eingebettet ist, fortbesteht. Es gibt also einen gewissen Diffusionsfilter, der eine Barriere zwischen Interaktionssystem und Gesellschaftssystem darstellt, damit nicht jede Kommunikation gleich eine Strukturveränderung innerhalb der Gesellschaft bewirkt40 (Sonst könnte eine einzelne Stammtischrunde jederzeit die Politik eines Landes beeinflussen). Man könnte nun in der Gesellschaftstheorie ins Detail gehen und sich genauer ansehen, wie die Selektion in den einzelnen Gesellschaftsdifferenzierungen von segmentären Gesellschaften hin zur funktional differenzierten Gesellschaft aussieht.41 Wir wollen uns hier auf den Hinweis beschränken, 37 Luhmann: GG, 1998, S.478. Luhmann: GG, 1998, S.474. Restabilisierung wird hier interessanterweise ausgespart. 39 Dazu vgl. Luhmann: GG, 1998, S.814-826. 40 Vgl. Luhmann: GG, 1998, S.479. 41 Vgl. Luhmann: GG, 1998, S.479-484. 38 Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 16 dass dies mittels Religion und/oder mittels symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (wie Macht oder Geld) geschehen kann. Worauf es ankommt ist, was diese gemeinsam haben und das ist nach Luhmann die Beobachtung zweiter Ordnung: „In beiden Bereichen etabliert die Selektion sich auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Die Religion beobachtet Gott als Beobachter der Menschen, die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien dirigieren das Beobachten anderer Beobachter, etwa in den Märkten des Wirtschaftssystems oder im Bereich der Wissensbehauptungen. Die jetzt nötigen Selektionseinrichtungen distanzieren sich von der Unmittelbarkeit des Variationsgeschehens wie ein Beobachter, der beobachtet, was andere Beobachter beobachten.“42 Dies ist aber, wie wir in Abschnitt 3.02 c.) festgestellt haben, gerade das, was auch dem soziologischem Beobachter bei der (Selbst)Beschreibung der Gesellschaft empfohlen wird. Dadurch ist erneut eine autologische Verbindung gezeichnet in der der soziologische Beobachter konsequent als ein Teilsystem der Gesellschaft integriert wird und dadurch ebenfalls den Selektionsmechanismus Beobachtung zweiter Ordnung verwendet. Oder umgekehrt: Das beobachtete System macht genau dasselbe wie der Beobachter: (so banal es klingt) kontingent beobachten. Damit haben wir den zentralen Selektionsmechanismus gefunden. Durch die Beobachtung zweiter Ordnung distanziert sich das System von den einzelnen Variationen und hat dadurch eine stabilere Entscheidungsgrundlage. Im Folgenden akzeptieren wir, dass die Evolution durch Variation, Selektion und Restabilisierung zu (Zwischen)Ergebnissen kommt, die die Komplexität des Systems erhöhen, stellen aber die Frage, was unter „höherer Komplexität“ überhaupt zu verstehen ist. 4.02 (Zwischen)Ergebnisse der Evolution Was die oben diskutierten Evolutionsmechanismen im System bewirken ist höhere Komplexität. Zum Abschluss wollen wir genauer untersuchen, was höhere Komplexität heißt und inwiefern sie möglich wird.43 Ein Ergebnis von Evolution bezeichnet Luhmann als „evolutionäre Errungenschaft“, wenn das Ergebnis a.) sich zur Lösung eines Problems eignet (wobei das Problem vorher nicht bekannt sein muss, sondern sich erst beim Entstehen dieser Lösung als problematisch herausstellt) und 42 Luhmann: GG, 1998, S.484. Wir beziehen uns dabei auf den Abschnitt Evolutionäre Errungenschaften aus dem Kapitel 3. Vgl. Luhmann: „VIII. Evolutionäre Errungenschaften“. In: GG, 1998, S.505-516. 43 Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 17 b.) evolutionär vorteilhaft ist. Letzteres heißt, dass die Errungenschaft Komplexität reduziert, indem es sich auf etwas Bestimmtes beschränkt (Reduktion) und dadurch auf dieser Basis dem System zu höherer Komplexität verhelfen kann. „So reduziert ein Straßennetz die Bewegungsmöglichkeiten, um leichtere und schnellere Bewegung zu ermöglichen und damit die Bewegungschancen zu vergrößern, aus denen man konkret auswählen kann. Steigerung durch Reduktion von Komplexität: evolutionäre Errungenschaften wählen Reduktionen so, daß sie mit höherer Komplexität kompatibel sind, ja sie oft erst (und oft sehr allmählich) ermöglichen.“44 An diesem Punkt wird die Bedeutung und Tragweite von Komplexitätsreduktion erst wirklich klar. Dadurch, dass sie etwas auf ein sagen wir sinnvolles Minimum reduziert, ermöglicht es den Aufbau von weiterer Komplexität, da an Einfachem & Minimalem leichter und vor allem vielfältiger angeschlossen werden kann. Luhmann nennt z.B. Landwirtschaft, Schrift und Telekommunikation als zentrale evolutionäre Errungenschaften der Gesellschaft, die in vielerlei Hinsicht benutzt und mittlererweile für die Gesellschaft unentbehrlich sind. Das Internet (das wiederum die Telekommunikation nutzt) etabliert sich auch zu einer solchen Errungenschaft, da sie auf neue und einfache Art vielfältige Kommunikation ermöglicht. Niemand, der jemals in einem Online-Bibliothekskatalog erfolgreich gesucht hat wird sich mit einem auf Papier vorhandenen Katalog zufrieden geben, in dem man mühsam nach seinem Stichwort suchen musste, obwohl man eigentlich die Bücher ausleihen und lesen wollte, anstatt sie zu suchen. Man sieht sowohl beim Straßennetz als auf dem Elektronischen Datenhighway: Einmal eingeführt, sind evolutionäre Errungenschaften nur mehr mit katastrophalen Folgen abbaubar. Man kann nicht plötzlich die Schrift abschaffen. Sehr wohl gibt es aber Gesellschaften, die ohne Schrift überlebt haben, da – und das bezieht sich zurück auf das, was wir in a.) erwähnten – die Probleme zumeist erst mit den Lösungen, also mit den Errungenschaften entstehen. Evolutionäre Errungenschaften sind jedenfalls, soviel können wir festhalten, nicht Ergebnis der Suche nach Problemlösungen.45 Das Internet wurde nicht zum Zwecke der allgemeinen Kommunikation entwickelt, sondern aufgrund militärischer Überlegungen, Forschungs- und Militärcomputer zu vernetzen. Erst allmählich hat es sich in Alltagsbereichen bewährt. Heute wird es in fast jedem gesellschaftlichen Subsystem (Wirtschaft, Recht, Familie, Kunst,…) verwendet und es ist nicht absehbar, inwieweit das 44 Luhmann: GG, 1998, S.507. Das kann zwar auch passieren, doch sehr oft wird die Struktur, die sich entwickelt hat, in einem ganz anderen Sinne verwendet, wo sie dann erst wirklich erfolgreich wird. Vgl Luhmann: GG, 1998, S.509. 45 Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 18 Internet die Gesellschaft als Ganzes verändert.46 Man weiß (aufgrund der nicht vorhersehbaren evolutionären Mechanismen) nicht, inwieweit evolutionäre Errungenschaften neue Komplexitäten erschließen. Allein durch den Begriff der evolutionären Errungenschaften ist also noch nicht gesagt, wie gewichtig die Neuerungen sein werden. Das zeigt Luhmanns amüsante Aneinanderreihung von Beispielen evolutionärer Errungenschaften: “Die Landwirtschaft gehört dazu [zu den evolutionären Errungenschaften, AK], aber auch der Füllfederhalter, der von der Anwesenheit des Tintenfasses befreit; die Erfindung der Töpferscheibe und die Verlängerung des Familienbewusstseins durch die Erfindung von Großvätern, der Computer und das Fegefeuer zur Überbrückung der Zeitdistanz bis zum Jüngsten Gericht, die Druckpresse, aber auch die (schon vorher eingeführte) Pagination, die Sachregister und leichtere Verweisungen in Büchern ermöglicht. Allein anhand des Begriffs ist kein Überblick zu gewinnen.“47 Luhmann klärt aber auf, dass so genannte „epochemachende“ Errungenschaften zumeist dadurch gekennzeichnet sind, dass sie die Verbreitungsmedien der Kommunikation (Schrift, Telekommunikation, Internet) oder Systemdifferenzierungsformen (Segmentierung, funktionale Differenzierung) verändern. Dadurch kann der Beobachter bestimmte Gesellschaften leichter voneinander unterscheiden.48 Doch man kann damit Epochen nicht eindeutig zuordnen, da man sie entweder nach Errungenschaften im Bereich der Verbreitungsmedien oder im Bereich der Formen der Systemdifferenzierung unterteilen kann, die sich meistens zu unterschiedlichen Zeitpunkten veränderten. „Wenn man [also, AK] wissen will wie die moderne Gesellschaft sich selber historisch abgrenzt, muß man sie deshalb von einer Ebene zweiter Ordnung aus beobachten. Man muß beschreiben, wie sie sich selbst beschreibt.“49 Und wieder einmal zeigt diese Äußerung Luhmanns seine autologische Vorgehensweise. Gerade eben war er noch dabei zu erklären, wie zentrale evolutionäre Errungenschaften bestimmt werden können. Doch im obigen Zitat schließt er aus der zweifelhaften Möglichkeit des Beobachters, Epochen nach zentralen evolutionären Errungenschaften einzuteilen, auf die Art und Weise, wie man Gesellschaftstheorie betreiben muss. Solche Hinweise und Selbstbestätigungen innerhalb der Beschäftigung mit dem Gegenstand finden sich immer wieder und sind Teil der Luhmannschen Methode, die dadurch ihre Stützung von innen heraus erhält. 46 Obwohl man natürlich zu erraten versucht, wie es das tun könnte. Vgl. Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft, 2007. 47 Luhmann: GG, 1998, S.514. 48 Vgl. Luhmann: GG, 1998, S.515f. 49 Luhmann: GG, 1998, S.516. Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 19 Damit brechen wir die Untersuchungen ab und geben im Folgenden eine Abschlussbetrachtung. 5. Schlussbetrachtung Wir sind auf der Suche nach der Beschreibung und der Funktion von Komplexität in Luhmanns Werk „Gesellschaft der Gesellschaft“ allmählich immer weiter in die systemtheoretischen Begrifflichkeiten gekommen und man müsste die Reise hier noch nicht abbrechen, da sich gerade in Teilen, wo die verschiedenen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft beschrieben werden, Anwendungen des Instruments Komplexität sowie Komplexitätsreduktion zeigen lassen könnten. Trotzdem können wir zusammenfassend sagen, dass wir durch unseren Gedankenweg Antworten auf die eingangs gestellten Fragen gefunden haben: 1. Die Frage, unter welchen Bedingungen sich Komplexität aufbauen kann, hat uns zur Untersuchung der Charakteristika von Gesellschaft, insofern man sie als soziales System beschreibt geführt. Wichtig ist hierbei die Eigenschaft der operationalen Geschlossenheit. Erst dadurch, dass Operation an Operation, Kommunikation an Kommunikation anschließen muss, kann das System ab einer bestimmten Komplexität Beobachtung und Selbstbeobachtung innerhalb der Operationen einführen (Re-Entry), was dann zur Sinnverarbeitung führt, die für soziale und psychische Systeme verbindlich, da nicht negierbar, ist. 2. Wir sind dann im Zuge der Begriffsklärung von Komplexität darauf gekommen, dass Sinnsysteme einem Selektionszwang unterliegen, das heißt sie müssen notwendigerweise aus den Möglichkeiten, die sie haben, auswählen, da es nicht möglich ist, alle Verbindungen zu realisieren. Erst dadurch sind die Bedingungen der Möglichkeit Eigenkomplexität aufzubauen, gegeben. 3. In Anschluss an 2 ergibt sich die Frage, wie Eigenkomplexität nun im Laufe der Zeit zustande kommt. Dabei haben wir die Verbindung von Systemtheorie und Evolutionstheorie untersucht, die Luhmann im 3. Kapitel von GG vornimmt und sind dabei auf die Begriffe Variation, Selektion und Restabilisierung gekommen. Wenn Variationen vorkommen, muss entschieden werden, ob sie akzeptiert (Strukturänderung) oder nicht akzeptiert (keine Strukturänderung) werden. In beiden Fällen muss das System seinen Zustand stabilisieren. Bei der Untersuchung der Selektionsmechanismen sind wir auf die Beobachtung zweiter Ordnung gekommen, die innerhalb des Gesellschaftssystems stattfindet und sich von den Variationen soweit distanziert, dass sie stabilere, robustere Entscheidungen treffen kann. Als Zwischenergebnisse von Evolution können evolutionäre Errungenschaften angegeben werden, die irreversibel sind und aufgrund anfänglicher Komplexitätsreduktionen der Gesellschaft allmählich zu höherer Komplexität verhelfen, die aber nicht dazu bestimmt sind, Epochen eindeutig abzustecken. Zusätzlich ist uns die einheitliche Vorgehensweise bei den Begriffsbestimmungen Komplexität und Evolution aufgefallen, die immer von einer Paradoxie ausging und diese dann allmählich und durch zusätzliche Unterscheidungen zu verdecken begann. Immer wieder haben wir auch die autologische Vorgehensweise bei den Teilresultaten der Gesellschaftsanalyse beobachtet und thematisiert, die für uns das eigentlich beeindruckende in dieser Theorie darstellt und die vermutlich Thema weiterer Untersuchungen sein wird. Komplexität bei Luhmann Kirchner Seite 20 Komplexität bei Luhmann 6. Kirchner Seite III Literaturverzeichnis Baecker, Dirk [Studien zur nächsten Gesellschaft, 2007]: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007. Kirchner, Andreas [(Wie) ist nicht-ontologische Theorie möglich, 2008]: (Wie) ist nicht-ontologische Theorie möglich? Konsistenzprüfung der Luhmannschen Systemtheorie. Online im Internet: URL: http://sammelpunkt.philo.at:8080/1766/ [2008-0706]. Luhmann, Niklas [GG, 1998]: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998. Maturana, Humberto; Varela, Francisco [Der Baum der Erkenntnis, 1987]: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. 11. Aufl. Bern und München: Scherz, 1987. Spencer-Brown, George [Laws of Form, 1979]: Laws of Form. Neudruck. New York: 1979. Zit. bei: Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, S.179.