Jahresbericht 2011 Sächsischer Landtag 5. Legislaturperiode Der Sächsische Ausländerbeauftragte < barrierefreie Textversion > 1 Vorbemerkungen zum Sprachgebrauch Im Jahresbericht 2011 werden die Begriffe Menschen mit Migrationshintergrund, Migrant, Zuwanderer und Ausländer verwendet. Der Begriff Migrationshintergrund wurde mit dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2005 eingeführt und bezieht sich auf den gesamten Integrationsprozess, der generationenübergreifend stattfindet. Mit diesem Begriff sind nicht mehr nur Aussagen über Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit möglich. Der Begriff „Migrationshintergrund“ schließt vielmehr alle Menschen ein, die entweder selbst über eine Migrationserfahrung verfügen bzw. deren Eltern zugewandert sind. Nach der Definition des Statistischen Bundesamtes zählen zu den Menschen mit Migrationshintergrund Personen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit, (Spät-)Aussiedler sowie in Deutschland Eingebürgerte. Daneben bezieht der Begriff auch in Deutschland Geborene mit deutscher Staatsangehörigkeit ein, die zumindest einen zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil haben. (Vgl. Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2007. Wiesbaden 2009, 6-7.) Migranten sind Personen mit Migrationshintergrund, die selbst zugewandert sind. Der Begriff Zuwanderer wird synonym zum Begriff Migrant verwendet, betont aber stärker den Prozess einer künftigen oder gerade erfolgten Zuwanderung. Der Begriff Ausländer wird vor allem in rechtlicher und statistischer Hinsicht verwendet und bezieht sich auf alle Menschen, die nicht über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügen. Der Jahresbericht 2011 kann überwiegend nur Aussagen zu Ausländern vornehmen, da das Statistische Landesamt außer für den Bereich der Schulbildung noch nicht über Zahlen zu allen Personen mit Migrationshintergrund verfügt. Soweit in diesem Bericht die männliche Form gebraucht wird, werden Männer und Frauen in gleicher Weise angesprochen. 2 Liebe Leserinnen und Leser, haben Sie sich einmal gefragt, was der demografische Wandel für Sie persönlich bedeutet? Merken Sie schon heute, dass – gerade auf dem Land - vieles von dem, was vor kurzem noch selbstverständlich war, wegfällt? Der Arzt im Ort, der Bus in die nächste Stadt? Oder dass vieles teurer wird? Die Abwasserkosten, die Benzinkosten? Dass Schulwege länger und die aufsuchende soziale Betreuung seltener werden? Dass die Wirtschaft stagniert und die jungen Leute weggehen? Dass ihre Gemeinde immer älter wird? Dass das einzige kleine Unternehmen vor Ort schließen muss, weil der Besitzer keinen Nachfolger, und schon lange keine Lehrlinge mehr findet? Und haben Sie sich schon einmal gefragt, wie das in Zukunft weitergehen soll? Der Freistaat Sachsen hat bereits zweimal einen Blick in diese Zukunft geworfen. Zwei Studien haben gezeigt, dass übermorgen nichts mehr so sein wird, wie es heute ist - wenn so weiter machen wie bisher. Eine der Studien, „Sachsen 2025 – Optionen für eine starke Zukunft“ ist in meiner Zeit als Wirtschaftsminister des Freistaates Sachsen entstanden. Das ist fast zehn Jahre her. Auch die jetzige Staatsregierung hat erkannt, dass wir endlich die Augen öffnen und die Dinge sehen müssen, wie sie sind: Die Zukunftsreise Sachsens ist eine Reise in einen demografischen Klimawandel. Unsere Gesellschaft schrumpft. Immer mehr von uns werden immer älter. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter. Mit dieser Zahl sinken die Geburten. Das sind Fakten. Die wirtschaftlichen Folgen: Die Innovationskraft und die Wirtschaftskraft werden sinken. Wir werden künftig langsamer und weniger kreativ agieren können. Wir werden eine „Ruhestandsgesellschaft“. Gleichzeitig „erhitzt“ sich die Lage durch die Weiterentwicklungen der Weltwirtschaft und durch Konkurrenz. Abkühlung durch neue Ideen, durch Innovationen aus eigener Kraft, durch Wirtschaftswachstum aus Sachsen heraus? Fehlanzeige. Der demografische Klimawandel: Ein Teufelskreis? 3 Nein, denn die Handlungsoptionen liegen auf dem Tisch. Sie sind bekannt – wir müssen nur noch den Mut aufbringen, sie auch tatsächlich anzuwenden. Warum wir dafür Mut brauchen? Weil wir uns jetzt dafür verändern müssen, weil wir jetzt Gewohnheiten in Frage stellen und weil wir jetzt über unseren Schatten springen müssen. Die Sächsische Staatsregierung setzt in ihrem Strategiepapier »Sachsen 2020 – Wegweiser für unseren Freistaat« auch auf Zuwanderung. Aus meiner Sicht hat diese Handlungsoption drei Facetten. Erstens geht es um eine gesteuerte Zuwanderung, die Fachkräfte aus aller Welt mit Erfolg zu uns einlädt und versucht, sie bei uns möglichst lange zu halten. Zweitens geht es um unseren Umgang mit den Migrantinnen und Migranten, die bereits in Sachsen leben, um die Anerkennung ihrer Abschlüsse, um Respekt gegenüber ihren Lebens- und Integrationsleistungen. Und drittens geht es um eine neue Haltung gegenüber der humanitären Zuwanderung. Diese drei Facetten können wir nicht beliebig voneinander trennen; denn sie haben eine gemeinsame Schnittstelle: Unsere eigene Haltung gegenüber Menschen aus anderen Ländern. Unterschwellig neigen viele von uns noch dazu, Ausländer in nützliche und unnnütze Gruppen zu unterteilen. Diese Trennung ist aus der Perspektive der Menschenwürde mindestens fragwürdig. Außerdem ist sie kontraproduktiv; denn jeder Mensch hat Talente und Fähigkeiten, die er in eine Gesellschaft einbringen kann – und will. Das gilt für Migranten ebenso wie für Deutsche. Kontraproduktiv ist diese Perspektive auch, weil wir von außen daran gemessen werden, wie wir mit Menschen aus anderen Ländern umgehen – unabhängig von Leistung oder Status. „Man sieht es beim Brötchenkaufen niemandem an, ob er Forscher oder Flüchtling ist.“, so hat es der Leiter eines Dresdner Max-Planck-Institutes auf den Punkt gebracht. 4 Auf unsere Haltung kommt es an. Humanitäre Zuwanderung hat ihre Regeln – und da steht nirgendwo, dass Asylsuchende als Menschen zweiter Klasse behandelt werden sollen. Sie sind heute oft noch Mitmenschen im Schatten, aber sie sind Mitmenschen. Internationale Studierende, Forscher und Fachkräfte können uns dabei helfen, den demografischen Teufelskreis zu durchbrechen. Das wird aber nur gelingen, wenn sie merken, dass wir allen Menschen aus anderen Ländern mit Respekt begegnen. Und wenn wir sie mit ihren Talenten und in ihrem Anderssein anerkennen. Derzeit studieren viele junge Menschen aus den anderen Bundesländern und aus dem Ausland an sächsischen Hochschulen. Wir bilden sie aus. Sie profitieren von unserer Bildungslandschaft, von unserer Innovationskraft, von unserer Geschichte und unserer Kultur. Wir sollten deshalb alles dafür tun, dass sie Sachsen zu ihrer zweiten Heimat machen. Auch hier kommt es vor allem auf unsere Haltung an – respektvoll und werbend für unseren Freistaat. Fremdenskepsis aber, der alltägliche kleine Rassismus, Gewalt in Worten und Taten und Gleichgültigkeit werden dazu führen, dass sie wieder gehen. Wir stehen also vor der Wahl: Wollen wir eine Ruhestandsgesellschaft und ein Transitland werden oder wollen wir ein vielfältiges, innovatives und offenes Land bleiben? Wer die zweite Antwort wählt, setzt auf die Willkommensgesellschaft. Eine Willkommensgesellschaft, die Talente nicht nur einlädt, sondern auch eine lebenswerte Heimat für sie sein will. Eine Willkommensgesellschaft, die sie ermutigt, sich konstruktiv bei uns einzubringen. Eine Willkommensgesellschaft, die Chancen für alle eröffnet. Denn gegen den demografischen Klimawandel hilft nur ein „Sowohlals-auch“ an Chancen für junge Menschen und für ältere Arbeitnehmer und für Frauen, die erwerbstätig sein wollen und für Arbeitssuchende und für Talente aus alle Welt. Diese Aufgabe wird uns längere Zeit beschäftigen, denn das Ziel ist für viele noch immer nicht selbstverständlich - mehr noch: Dieses Ziel löst bei vielen noch immer Ängste und Sorgen aus. 5 Umfragen in Dresden haben ergeben, dass sich 56% der Befragten für eine Willkommensgesellschaft aussprechen. Das ist etwas mehr als die Hälfte. Fragen wir uns, wie hoch der Prozentsatz in den ländlichen Regionen Sachsen wäre. Ich vermute, dass die Akzeptanz wesentlich niedriger sein würde - und dass, obwohl oder gerade weil der Ausländeranteil in den ländlichen Regionen bei nur etwa einem Prozent liegt. Die Willkommensgesellschaft beginnt bei uns selber. Haben wir also den Mut und hinterfragen wir unsere eigenen Muster, in denen wir über „Ausländer“ und „Migranten“ nachdenken. Nehmen wir z.B. den Begriff der „Integration“. Dabei gehen wir davon aus, dass sich Menschen aus anderen Ländern bei uns integrieren, sich anpassen müssen – beispielsweise, indem sie unsere Sprache erlernen oder sich unseren Regeln anpassen. Das ist richtig und gleichzeitig nur die halbe Wahrheit. Denn die Bereitschaft zur Integration brauchen beide Seiten: Migranten und die aufnehmende Gesellschaft. Integration ist auch deshalb nur die halbe Wahrheit, weil dieses Konzept aus rechtlicher Perspektive nur auf die sogenannten „daueraufenthaltsberechtigten“ Ausländer zielt – und damit viele Gruppen aus unserem Denken ausblendet. Was ist zum Beispiel mit den ausländischen Fachkräften, die für eine Reihe von Jahren nach Sachsen kommen und nicht wissen, ob sie langfristig bei uns bleiben? Was ist mit den ausländischen Studenten? Wenn wir wollen, dass sie sich Sachsen zur Heimat machen, dann sollten wir sie nicht ignorieren. Was ist mit den Flüchtlingen, die bei uns um Asyl bitten, und oftmals Jahre warten müssen, bis ihr Fall entschieden ist? All diese Ausländer kommen nicht in den Genuss von staatlich geförderten Integrationsangeboten. Die einen, weil unterstellt wird, dass sie es nicht brauchen und die anderen, weil man nicht will, dass sie sich integrieren. Trotzdem leben sie mit uns. Und sie haben Rechte und Pflichten, und zwar die der sozialen Inklusion (siehe Dokumentation S. ). Dass diese Rechte und Pflichten nicht ignoriert, sondern respektiert und verwirklicht werden, das gehört zu den Elementen der Willkommensgesellschaft. 6 Was bedeutet soziale Inklusion? Soziale Inklusion zielt auf ein konstruktives Zusammenleben aller bei uns lebenden Menschen, ob das nun dauerhaft oder vorübergehend sein mag. Auch "Mitmenschen auf Zeit" haben ein Anrecht auf Menschenrechte, auf Schul- und Bildungszugang im Schul- und Bildungsalter und auf Zugang zu unserer Kultur, um nur einige davon zu nennen. In diesem Sinne haben auch Asylsuchende ein Recht auf soziale Inklusion, sei es hinsichtlich der menschenwürdigen Behandlung oder bei der Begleitung ihrer schulpflichtigen Kinder. Auf der anderen Seite haben sie auch Inklusionsverpflichtungen: Wir erwarten von allen bei uns lebenden Menschen, dass sie unser Gesellschaftssystem und die Prinzipien der europäische Leitkultur respektieren, zu denen das Bekenntnis zu Demokratie, Laizismus, zu den allgemeinen Menschenrechten und den Prinzipien der Aufklärung und der Zivilgesellschaft gehören. Wir haben die Verpflichtung, ihnen den Zugang zu diesen Dingen zu vermitteln. Soziale Inklusion setzt innerhalb der europäischen Leitkultur auf gegenseitigen Respekt – unabhängig von den kulturellen und religiösen Wurzeln, unabhängig von der Herkunft. Dieser Respekt ist das Fundament der Willkommensgesellschaft, für die wir uns engagieren. Eine solche Gesellschaft ist kein Hirngespinst – das zeigen unter anderem die Träume der Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation, die in Sachsen leben. Wir haben einige von ihnen für diesen Jahresbericht interviewt. Unter dem Motto: „Ich habe einen Traum…“ wollten wir von ihnen wissen, ob sie sich in Sachsen zu Hause fühlen, was Heimat für sie bedeutet und wie es ist, wenn man kulturelle Wurzeln in mindestens zwei Ländern hat. Außerdem wollten wir wissen, was wir tun können, damit man sich in Sachsen zu Hause fühlen kann - gleichgültig woher einer kommt. Die Antworten die sie in diesem Bericht finden zeigen: Eine Willkommensgesellschaft ist nicht nur Sache der großen Politik. Jeder kann dazu beitragen – in der Nachbarschaft, in der Schule, unter den Kollegen, im Sportverein, in der Kleingartensparte – letztlich sogar am Stammtisch. Eine Willkommensgesellschaft ist kein Luxus für den Freistaat Sachsen. Er ist eine notwendige Überlebensstrategie. Denn der demographische Klimawandel ist real. Wir stecken mitten drin. Mit jeder Generation verlieren wir 35% unserer Bevölkerung. 7 Hinzukommt die Abwanderung junger talentierter Menschen aus Sachsen in andere Regionen Deutschlands und die ganze Welt. Vielleicht kann eine respektvolle und tolerante Willkommensgesellschaft auch helfen, sie in Sachsen zu halten? „Sachsen ist 2020 ein Entwicklungsmotor in Deutschland. Lebendigkeit, Weltoffenheit, Innovationsfreude und Bildungskompetenz sind Stärken der Menschen in Sachsen“ – so steht es im strategischen Grundsatzpapier der Sächsischen Staatsregierung „Sachsen 2020 - Wegweiser für unseren Freistaat“. Als Ausländerbeauftragter für den Freistaat gehört es zu meinen Aufgaben, mich für die Belange der bei uns lebenden Ausländer einzusetzen. Doch wer über diese Aufgabe nachdenkt, entdeckt schnell, dass sie nicht ohne den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang gesehen werden darf. Es gilt das Prinzip: Was gut für die bei uns lebenden Migrantinnen und Migranten ist, ist noch besser für unsere Gesellschaft. In diesem Sinne werbe ich für die sächsische Willkommensgesellschaft. Ihr Martin Gillo 8 1 Willkommensgesellschaft Sachsen ................................................................... 11 1.1 Der Runde Tisch „Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse“ ............. 20 1.2 Deutsch für alle – 99 Wege zur deutschen Sprache.................................... 32 1.3 Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen ................................................... 37 1.3.1 Deutsche aus aller Welt feiern Einbürgerungsfest ................................ 38 1.3.2 Interkulturelle Woche „ Zusammenhalten - Zukunft gewinnen“ Zentrale Veranstaltungen in der Universitätsstadt Freiberg ............................................. 40 2 1.3.3 Tag der offenen Tür .............................................................................. 45 1.3.4 Sächsischer Integrationspreis ............................................................... 48 Humanität und Menschenwürde ........................................................................ 57 2.1 Mitmenschen im Schatten - „Heim-TÜV“ 2011 über das Leben in sächsischen Gemeinschaftsunterkünften.............................................................. 59 3 2.1.1 Das System der Unterbringung in Sachsen .......................................... 63 2.1.2 Erhebungsinstrument „Heim-TÜV“ ........................................................ 67 2.1.3 Unsere Vorgehensweise ....................................................................... 68 2.1.4 Die zehn Faktoren der Datenerhebung ................................................. 69 2.1.5 Systemische Probleme: Gute Absichten – Ungewollte Konsequenzen 70 2.1.6 Ergebnisse unserer Besuche ................................................................ 79 2.1.7 Systemische Lösungen für eine menschenwürdigere Unterbringung ... 83 2.2 Härtefallkommission .................................................................................... 90 2.3 Menschlichkeit möglich machen .................................................................. 93 2.4 Die menschliche Tragödie des Kamal K. in Leipzig ..................................... 94 Gemeinsam sind wir stark – Netzwerke für eine Willkommensgesellschaft ...... 98 3.1 Die Zusammenarbeit mit den kommunalen Ausländer- und Integrationsbeauftragten im Freistaat Sachsen ..................................................... 99 9 3.2 Das Netzwerk Integration und Migration Sachsen ..................................... 120 3.3 Das bundesweite Netzwerk der Länder- und Kommunalen Integrations- und Ausländerbeauftragten ........................................................................................ 123 3.4 Vom Nationalen Integrationsplan zum Nationalen Aktionsplan Integration: Mitwirkung am Dialogforum „Arbeitsmarkt und Erwerbsleben“ ........................... 126 3.5 Wir bleiben im Gespräch ........................................................................... 127 Ausblick 2012 ......................................................................................................... 130 3.5.1 Ich habe einen Traum ......................................................................... 133 10 1 Willkommensgesellschaft Sachsen „Ich bin ein Niemand.“ So beschrieb sich Sepehr, 25, ein homosexueller iranischer Flüchtling in einem Interview mit der Sächsischen Zeitung Anfang des Jahres 2012. Sepehr sucht in Sachsen Asyl und hat in verschiedenen sächsischen Gemeinschaftsunterkünften gelebt. In der iranischen Republik gibt es offiziell keine Homosexualität, Präsident Ahmadinedschad verlautete am Rande der UNO im Jahr 2011 sogar, dass es so etwas nur in New York, aber nicht im Iran gäbe. Sephers Familie hatte ihn zu einer Psychotherapeutin geschickt, damit die ihn von seiner Homosexualität „heilen“ möge. Am Ende schlug die Therapeutin der Mutter vor, sie solle vielleicht selbst zur Behandlung kommen. Für seine Familie existierte er nicht. Nur für seine Großmutter. Iranisches Recht ist bei diesem Thema mittelalterlich. Wenn sich vier Zeugen für ein homosexuelles Verhalten finden, droht die Todesstrafe. Alles ist besser als der Tod, und so kam Sepehr nach Deutschland. Sepehr hat Abitur und hat „Deutsch als Didaktik“ zum Masterabschluss studiert. Er spricht drei Sprachen. Normale Zuwanderung ohne Arbeitsgarantie ist in Deutschland praktisch unmöglich. So blieb ihm nur der Weg als Flüchtling. Er lebt in Sachsen zugewiesen und hofft, hier als Flüchtling akzeptiert zu werden. Als politischer Flüchtling wird er nicht gelten. Doch die Lebensbedrohung im Iran ist für ihn real. Sepehr lebt in sächsischen Gemeinschaftsunterkünften und darf nicht arbeiten. Wenn er nicht abgeschoben wird oder in absehbarer Zeit keinen Aufenthaltstitel erhält, kann es gut sein, dass er in unseren Heimen seine Kompetenzen durch erzwungenes Nichtstun langsam verliert. Mit der Zeit wird er Angebote für Schwarzarbeit oder andere illegale Aktivitäten erhalten. Auch Alkohol und Drogen locken einen Menschen, der zum Nichtstun verdammt ist. Aber vielleicht gibt er ja „nur“ seine Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben auf. 11 „Wenn es um Menschenrechte geht, wird in Deutschland immer mit dem Finger auf andere Länder gezeigt. Aber die Rechte von Asylsuchenden werden hier oft mit Füßen getreten“, sagt Sepehr. Schade. Dabei ist er eigentlich einer von denen, die wir in Deutschland, in Sachsen dringend bräuchten: gut gebildet, der deutschen Sprache und unserer Kultur zugetan, fließend auch im Englischen, kompetent für viele verschiedene wirtschaftliche oder kulturelle Aufgaben. Die Zuwanderungsinitiative der sächsischen Staatsregierung hat qualifizierte Menschen wie ihn im Blick. Warum beginnen wir das Thema Willkommensgesellschaft Sachsen eigentlich mit der Geschichte von Sepehr? Christen kennen das Gebot: Was ihr für die Geringsten unter euch tut, das tut ihr für mich. Auch säkulare Humanisten bekennen sich zu diesem Prinzip. Sepehr ist in diesem Sinne einer der Geringsten unter uns. Seine Situation fordert unser bisheriges Denken heraus und ermutigt uns, neue Perspektiven zu suchen. Die Willkommensgesellschaft ist eine solche neue Perspektive, mehr noch: sie ist für Sachsen ein neues Paradigma. Neues Paradigma Willkommensgesellschaft Die Grundidee der Willkommensgesellschaft ist denkbar einfach: Eine Willkommensgesellschaft bekennt sich zu gegenseitigem Respekt und Gemeinsamkeit in Vielfalt in vielen Lebensbereichen und fördert ein konstruktives und friedliches Zusammenleben, Zusammenarbeiten und gemeinsames Gestalten der Zukunft. Eine Willkommensgesellschaft ist eine Gesellschaft mit einem erweiterten Selbstverständnis, weg vom Ideal der Homogenität der Lebensweisen, Überzeugungen und Kulturen hin zur Wertschätzung von „gesellschaftlicher BioDiversität“. Doch warum sollten wir unser gewohntes Ideal von einer homogenen Gesellschaft ablegen? Warum sollten wir das neue Paradigma einer offenen Willkommensgesellschaft begrüßen, in der sich das bisher Gewohnte und Geliebte mit Neuem, Ungewohnten und Anderem zu einer neuen Qualität, zu neuen kreativen Lösungen verbindet? 12 Was das Alte und das Neue verbindet, ist die Bedeutung der Gemeinsamkeit. Neu am Neuen ist die Offenheit für die große Vielfalt unter dem Dach der Gemeinsamkeit. Die Welt ist im Umbruch. China, bis vor kurzem noch in der Dritten Welt, hat uns als Exportweltmeister abgelöst und besitzt die größten Geldreserven der Welt. China ist der größte Kamera- und Computerproduzent, dominiert den Weltmarkt in vielen Bereichen, auch den für Solarzellen. Auf jeden Ingenieur, der in Deutschland die Hochschule verlässt, graduieren 100 Ingenieure in China. Indien will die Welt der Software dominieren und ist auf gutem Weg dorthin. Auch Sachsen will sich behaupten. Und das kann es auch, wenn es bewährte Erfolgsstrategien einsetzt, die die Konkurrenzfähigkeit seiner Produkte und Dienstleistungen durch Innovationskraft aufrechterhalten. Die sächsische Industriepolitik hat nach 1990 ganz bewusst auf das Erfolgsrezept des amerikanischen Silicon Valley, auf die sogenannte „Cluster-Politik“ gesetzt. Sachsen hat auf Wirtschaftsregionen gesetzt, im Automobilbau, im Maschinenbau und in der Mikroelektronik. Drei große Automobilhersteller und Hunderte von Zulieferern sind die Bestätigung dieser Politik. Das sächsische Silicon Saxony ist heute mit 40 000 Arbeitsplätzen die größte Mikroelektronikregion Europas. Wir haben es auch geschafft, ein attraktiver Standort für internationale Unternehmen zu werden. 20 Prozent der Arbeitsplätze im Freistaat befinden sich bei Unternehmen mit ausländischen Eigentümern. Doch die Konkurrenz schläft nicht. Mit weniger Fördermitteln als in den letzten 20 Jahren müssen wir neue Wege finden, um konkurrenzfähig zu bleiben und noch konkurrenzfähiger zu werden. Die richtige Antwort heißt „Willkommensgesellschaft“: Eine Gesellschaft, die Vielfalt oder Diversität bewusst fördert, weil sie in ihr eine wesentliche Ressource für Kreativität und Innovation sieht. Die stolz ist auf das, was sie bisher geleistet hat. Und die angesichts der demografischen Entwicklung nicht von Ängsten, sondern von Offenheit leiten lässt. Wege zur Willkommensgesellschaft 13 Der Wandel von einer eher homogenen zu einer Willkommensgesellschaft kommt einem langen Marsch der Generationen gleich, der viele Wegstationen kennt: Offen für Vielfalt Offenheit ist für junge Menschen eine Selbstverständlichkeit. Doch je älter wir werden, desto mehr vergeht uns die Neugier für Neues und damit auch die Chancen im „anders denken“. Neugierig auf die Unterschiede Die Welt ist zu komplex, als dass wir sie in ihrer Vielfalt in allen Einzelheiten erkennen können. Deshalb konstruieren wir uns Modelle von der Welt, die für unseren Bedarf ausreichen müssen. Wenn wir uns dabei nicht mit anderen Kulturen auseinander setzen müssen, landen wir schnell bei allzu einfachen Urteilen über andere, häufig auch bei Vorurteilen. Wenn wir jedoch mit anderen Kulturen zusammenleben wollen, dann müssen wir mehr über diese Kulturen erfahren wollen und lernen. So konstruieren wir uns Modelle anderer Kulturen und Lebensweisen, die ihrer Realität näher kommen und die unser Verhalten realitätsnäher machen. Andere Kulturen und Lebensweisen anerkennen Wenn ich will, dass meine eigene Lebensweise und meine Kultur von Anderen anerkannt werden, dann muss ich selbst bereit sein, andere Kulturen und Lebensweisen anzuerkennen - wenn sie mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar sind. Respekt auf Augenhöhe Jede Kultur hat ihre eigenen Stärken und Schwächen. Das gilt auch für unsere. Wenn wir unserer Kultur sicher sind, dann respektieren wir sie und sind gleichzeitig in der Lage, über unsere Schwächen zu schmunzeln. Das Gleiche gilt für andere Kulturen. 14 Meine Töchter wurden in Kalifornien geboren und verbrachten die ersten Schuljahre dort. Sie waren überzeugt, dass Kalifornien das Zentrum des kulturellen Universums war. Das änderte sich, als wir in die Schweiz zogen und sie dort mit Klassenkameradinnen aus vierzig Ländern zur Schule gingen. Dabei lernten sie zwei Dinge. Zuerst wurde ihnen klar, dass Kalifornien nicht das Zentrum des kulturellen Universums ist. Dann stellten sie fest, dass das kulturelle Universum – wie auch unser Kosmos - kein Zentrum hat. Alle Kulturen haben das gleiche Recht auf Anerkennung und Respekt. Natürlich werden wir immer unsere eigene Kultur bevorzugen, genauso wie wir unsere Eltern am meisten lieben. Doch Respekt und Anerkennung verdienen alle Kulturen. Die Willkommensgesellschaft entdeckt und feiert Gemeinsamkeiten Wer sich von kultureller Vielfalt bedroht fühlt, konzentriert sich häufig nur auf die Unterschiede. Dabei übersieht er Dinge, die alle Kulturen gemeinsam haben und die uns als Menschen verbinden. Ein Beispiel ist die Nächstenliebe - ein Gebot, das alle Religionen und Kulturen wertschätzen. Auch die Wertschätzung der eigenen Familie gehört dazu, ebenso wie die tiefe Liebe zwischen Eltern und Kindern. Auch das gute nachbarschaftliche Miteinander ist ein natürliches Streben aller Menschen. Gemeinsam zelebrierte Feiertage verbinden. Iren z.B. feiern jedes Jahr ihren Nationalheiligen, St. Patrick. An diesem Tag gibt es in vielen amerikanischen Gaststätten grünes „irisches“ Bier, das jeder trinkt, ob irischer Herkunft oder nicht. Mit der „Steubenparade“ in den USA feiert man den ehemals deutschen General Steuben, der im Revolutionskrieg erfolgreich war. Diese Gelegenheit wird selbstverständlich von allen mitgefeiert, auch von denen, die keine deutschen Vorfahren haben. Wann immer die „Ode an die Freude“ erklingt - Friedrich Schiller und Ludwig van Beethoven erinnern uns immer wieder: Alle Menschen werden Brüder. Wir müssen nur richtig hinhören. 15 Die Willkommensgesellschaft ist innovativ: Sie kombiniert unterschiedliche Stärken unter dem Dach des Miteinanders Jede Kultur, jede Lebensweise hat Stärken. Warum nicht diese scheinbar unterschiedlichen Stärken miteinander kombinieren und so neuartige kreative Lösungen schaffen? Auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten können wir die Möglichkeiten der Vielfalt nutzen, um neue, bessere Lösungen für unsere Gesellschaft zu finden und unserer Gesellschaft dienstbar zu machen. Altbewährtes ist genau das, was es sagt: Alt und in der Vergangenheit bewährt. Uns geht es um die Zukunft. Wir wollen auch in der Zukunft erfolgreich sein. Das können wir am besten, indem wir das Gute aus der Vergangenheit mit dem Potenzial der Zukunft verbinden. Dieser Ansatz der Willkommensgesellschaft ist in der Politik auch unter dem Namen „Großstadtkompetenz“ bekannt. Die Vorzüge einer innovativen Willkommensgesellschaft wurden in den Vereinigten Staaten erforscht. Im sehr erfolgreichen kalifornischen Silicon Valley arbeiten mehr Migranten in Schlüsselfunktionen als Herkunftsamerikaner. Die Universität Berkeley ist für die Internationalität ihrer Studentenschaft berühmt. Über 80 Prozent der Wertschöpfung der amerikanischen Wirtschaft findet in unter 20 Prozent des Landes statt. In den kreativen Regionen basiert der kulturelle und wirtschaftliche Erfolg auf einer gelebten Willkommenskultur gegenüber anderen Kulturen, Nationalitäten und Lebensweisen. Machen wir in Sachsen uns das Prinzip der Willkommensgesellschaft zu eigen! Offenheit und Respekt sind wirksame Rezepte gegen Fremdenskepsis und Diskriminierung, Vielfalt eine wichtige Komponente der Innovationskraft eines Landes. Wir suchen derzeit Talente aus aller Welt. Wir bringen Bundesratsinitiativen ein, um die Hürden für Zuwanderung von Qualifizierten und Engagierten auf ein realistisches Maß zu reduzieren. Wir werben um Menschen aus aller Welt, die sich für unsere Gesellschaft einsetzen wollen. Dazu gehört allerdings auch ein Blick für die Talente, die schon bei uns leben. Dazu gehört der Blick auf die vielen, die auf die Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse und noch viel mehr auf eine Arbeit entsprechend ihrer Abschlüsse warten. 16 Dazu gehört auch, dass wir Menschen wie Sepehr eine Chance geben, sich bei uns einzubringen. Und Menschen wie Sepehr gibt es viele in Sachsen. So ungewohnt das auch klingen mag: So wie wir mit Asylsuchenden umgehen, hat das auch Auswirkungen auf unser Ansehen unter denen, die wir für uns gewinnen wollen. Das gilt auch für Talente aus aller Welt, die sich überlegen, ob sie Angebote aus Sachsen annehmen wollen, oder woanders hinziehen sollten. Viele von ihnen kommen mit Familienangehörigen. Wie werden sie in unserer Gesellschaft behandelt? Wie steht unsere Bevölkerung zur Zuwanderung? Wie steht sie zur kulturellen Vielfalt? Wie selbstbewusst und gleichzeitig offen können wir Menschen aus anderen Ländern bei uns aufnehmen? Woran erkennen wir, dass wir persönlich in der Willkommensgesellschaft angekommen sind? Daran, dass wir einen ehemals Fremden als einen von uns erkennen. Hier ist ein kleiner Test: Wenn jemand deutscher Staatsbürger ist, studiert hat, in einer Volkspartei aktiv ist und als Landesminister arbeitet, aber sich zu einer anderen als der christlichen Religion bekennt, ist er dann einer von uns? Ganz konkret: Ist die niedersächsische Sozial- und Integrationsministerin Aygül Özkan eine von uns? Selbstverständlich. Im Januar 2012 wies die deutsche Wirtschaft erneut darauf hin, dass jedem dritten Unternehmen schwere Probleme durch fehlende Fachkräfte drohen. Höchste Zeit für eine innovative Willkommensgesellschaft in Sachsen. „Was macht Sachsen zu einer Willkommensgesellschaft?“: „Willkommen bei Ihrem MDR“ so grüßt der Mitteldeutsche Rundfunk seine Zuschauer, Hörerinnen und Nutzer im Fernsehen, Radio und Internet. Der MDR will allen Menschen in seinem Sendegebiet ein vertrauenswürdiger medialer Begleiter sein. Die Lebenswelt von Zuwanderern und ihr Verhältnis zu den Sachsen werden sich dabei weiter als berichtenswerte und bereichernde Facetten in unseren Angeboten wiederfinden. 17 Prof. Dr. Karola Wille Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks“ Diversity Management ist in der BA Chefsache! Ausdrücklich bekennen wir uns zu dem Prinzip „Chancen durch Vielfalt“. Wir beschäftigen in unserer Organisation Mitarbeiter mit Migrationshintergrund aus 70 Nationen. Jeder einzelne von Ihnen leistet einen wichtigen Beitrag, um Menschen und Arbeit zusammenzubringen. Meine Empfehlung für Arbeitgeber in Sachsen lautet daher: „Fachkräfte werden gebraucht. Heißen wir Ausländer gemeinsam willkommen. Sie helfen mit, die Zukunft des Landes zu sicheren“. Jutta Cordt Vorsitzende der Geschäftsführung der Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur für Arbeit Eine offene Gesellschaft entsteht nur durch den Kontakt mit anderen Menschen und Kulturen. Der Sport ist hier Vorreiter, denn das Zusammenspiel in einer Mannschaft ist aufrichtig und selbstverständlich. Alle strengen sich für eine Sache an und das Team kann nur gemeinsam gewinnen, egal aus welchen Nationen die Spieler kommen. Dr. Jörg Dittrich Vorsitzender DSC Volleyball und Geschäftsführer Dachdeckermeister Claus Dittrich GmbH & Co. KG 18 An der TU Dresden studieren und arbeiten Menschen aus rund 120 Ländern. Zahlreiche Forschungsprojekte an unserer Universität wären ohne die Mitarbeit internationaler Forscher undenkbar. Darüber hinaus sind auch bei unseren außeruniversitären Forschungspartnern zahlreiche ausländische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen beschäftigt. Diese Menschen sind mit Vertrauen zu uns gekommen und stellen eine enorme Bereicherung für unser Leben dar. Sie sollen sich hier in Sachsen wohl fühlen und ein Zuhause finden. Wir sollten ihnen täglich zeigen, dass wir uns darüber freuen, dass sie hier sind! Prof. Dr. Dr.-Ing. habil Hans Müller-Steinhagen Rektor der Technischen Universität Dresden Willkommen in der Stadt der Wissenschaften, wo junge Talente aus verschiedenen Ländern und Kulturen neue Türen für die Zukunft öffnen. Sie haben Glück gehabt in eine Stadt zu ziehen, in der Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft so eng miteinander vernetzt sind. Sie werden gern in Dresden leben, denn ausländerfreundliche Arbeitsund Lebensbedingungen einschließlich Kindergärten und Schulen machen die Stadt einmalig! Prof. Dr. Kai Simons am MPI-CBG Eine Willkommensgesellschaft gelingt uns in Sachsen, wenn wir uns auf einige fundamentale Werte besinnen, die unserem Zusammenleben Maßstäbe und Orientierung geben. Dies sind Werte wie Respekt, Offenheit und gegenseitiges Aufeinander zugehen. Beherzigen wir dies im großen wie im kleinen Miteinander, 19 werden wir bald erkennen, dass Vielfalt eine Bereicherung ist und eine große Chance für eine gute Zukunft unseres Landes birgt. Jens Drews Director Communications and Government Relations GLOBALFOUNDRIES 1.1 Der Runde Tisch „Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse“ Zu einer Willkommensgesellschaft gehört, dass sie die Talente und Potentiale aller ihrer Mitglieder wertschätzt und respektiert. Die Anerkennung ausländischer Qualifikationen ist deshalb ein wichtiges Zeichen dieses Respektes. Gleichzeitig liegt in dieser Anerkennung ein wichtiges Potential für unseren Freistaat, weil bei uns in Sachsen viele Talente mit ausländischen Qualifikationen leben. „In den Neuen Bundesländern, wo der Anteil der zugewanderten Bevölkerung vergleichsweise klein ist, wies sogar ein höherer Teil der Menschen mit Migrationshintergrund einen tertiären Abschluss auf als diejenigen ohne Migrationshintergrund. Für alle anderen Bundesländer gilt das Gegenteil.“ 1 34 Prozent aller Personen mit Migrationshintergrund in den Neuen Bundesländern haben demnach einen Berufsabschluss als Meister oder Techniker, einen Fachhochschul- oder einen Hochschulabschluss. Bei den Personen ohne Migrationshintergrund sind es nur 29,1 Prozent. 1 Konferenz der für Integration zuständigen Ministerinnen und Minister / Senatorinnen und Senatoren der Länder (IntMK): Erster Bericht zum Integrationsmonitoring der Länder 2005 – 2009, Teil 1: Ergebnisse, S. 53 20 Die ANSA-Studie2 geht für Sachsen von etwa 10 000 Migrantinnen und Migranten aus, deren Abschlüsse bisher nicht anerkannt sind. Auch fast alle Antragssteller am Runden Tisch Anerkennung (siehe Kasten) hatten studiert, manche sogar zweimal, wieder andere konnten eine Berufsausbildung und ein Studium vorweisen. Hintergrund Anfang Im August 2010 verständigten sich die für das Thema Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse zuständigen Ministerien darauf, eine Initiative zur Verbesserung der Anerkennungssituation in Sachsen zu starten. Es wurde beschlossen, einen Runden Tisch „Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse“ (RTA) zu gründen. Der Runde Tisch sollte Handlungsspielräume für eine Beschleunigung der Anerkennungsverfahren auf sächsischer Ebene identifizieren, die Vernetzung der zuständigen Akteure vorantreiben und konkrete Vorschläge für die sächsische Gesetzgebung machen. Der Sächsische Ausländerbeauftragte erhielt den Auftrag, den RTA zu organisieren und zu moderieren. Am Runden Tisch engagierten sich das Staatsministerium des Innern, die Staatsministerien für Soziales und Verbraucherschutz, für Kultus und Sport, Wirtschaft, Arbeit und Verkehr sowie für Wissenschaft und Kunst, die Sächsische Bildungsagentur, weiterhin die sächsischen Industrie- und Handels- und Handwerkskammern, die Vereinigung der Sächsischen Wirtschaft, der Deutsche Gewerkschaftsbund sowie die Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur für Arbeit. Arbeitsgrundlage waren individuelle Beispielfälle von laufenden oder bereits abgeschlossenen Anerkennungsverfahren: In einem induktiven Verfahren wurden allgemeine Hemmnisse und Probleme identifiziert, deren Relevanz mit dem Sachverstand externer Partner geprüft wurde. Migrantinnen und Migranten hatten so die Möglichkeit, über ihren individuellen Fall an der Verbesserung der Anerkennungssituation mitzuwirken. 2 ANSA-Studie - Situations- und Bedarfsanalyse zur Anerkennung ausländischer Qualifikationen in Sachsen – eine Situations- und Bedarfsanalyse erstellt von EXIS Europa e.V. im Auftrag des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Verbraucherschutz und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge 21 Aus der Arbeit des Runden Tisches sind insgesamt 24 Empfehlungen hervorgegangen, die sich sowohl auf die anstehende Landesgesetzgebung als auch auf untergesetzliche Maßnahmen beziehen. Der vollständige Bericht ist unter www.offenes-sachsen.de einzusehen. Hintergrund Ende Unsere eigenen Gesetze haben es bisher teilweise verhindert, dass Menschen mit ausländischen Qualifikationen auch entsprechend ihrer Qualifikation arbeiten konnten. Bis vor kurzem war es zum Beispiel die Regel, dass Menschen mit nicht anerkannten ausländischen Abschlüssen in den Jobcentern als ungelernt geführt wurden. Nur wenige Migranten hatte überhaupt ein Recht auf ein Anerkennungsverfahren und noch weniger von ihnen haben vor allem in den reglementierten Berufen eine Chance auf Anerkennung. Ohne Anerkennung darf aber niemand als Arzt, Lehrer oder Erzieher arbeiten. Ein Teufelskreis, der aus Ärztinnen Putzfrauen und aus Ingenieuren Lagerarbeiter macht und der andere daran hindert, überhaupt auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Wenn Qualifikationen nicht anerkannt werden, dann schafft das viel menschliches Leid und es behindert ein gutes Zusammenleben. Wie soll sich jemand in unsere Gesellschaft integrieren, wenn wir von ihm verlangen, sein Geld als Lagerarbeiter zu verdienen, er aber eigentlich Ingenieur ist? Wie glaubwürdig ist ein Land, das nach Fachkräften ruft, aber denen, die schon hier leben, keine Chance gibt? Respekt ist die Grundlage Die Grundlage für eine gelingende Anerkennung von Qualifikation ist der Respekt vor den Lebensleistungen der Menschen und eine grundsätzliche Offenheit gegenüber der Vielfalt menschlicher Bildungswege. Kaum ein Berufsweg verläuft heute noch gerade. Viele Menschen haben Erfahrungen in verschiedenen Berufsfeldern sammeln können, und Arbeitgeber wissen das auch zu schätzen. Diese Einstellung sollten wir auf Menschen mit ausländischen Qualifikationen übertragen. Die großen sächsischen Unternehmen und renommierten Forschungsinstitute machen es bereits vor. 22 John F. Kennedy sagte: „Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung: keine Bildung.“ Ich möchte ergänzen: Es grenzt an Verschwendung, wenn wir die bereits vorhandene Bildung nicht nutzen. Das gilt übrigens für alle: Seien es ältere Arbeitnehmer oder Frauen oder Arbeitssuchende oder eben Migranten mit ausländischen Abschlüssen. Anerkennungsgesetz in Sachsen als Chance Das können und das wollen wir uns nicht leisten. Die Bundesregierung hat mit dem Anerkennungsgesetz einen wichtigen Schritt getan. Das entsprechende "Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen" tritt am 01.04.2012 in Kraft und soll die Anerkennung ausländischer Abschlüsse für jene Berufe erleichtern, die auf Bundesebene geregelt werden, also z.B. für die Heilberufe und die Handwerksberufe. Nun muss die Ländergesetzgebung für die Berufe folgen, die in Länderzuständigkeit liegen, wie beispielsweise die Ingenieure, die Lehrer und die Erzieher. Das Sächsische Staatsministerium für Kultus und Sport hat die Federführung für die Erarbeitung der Landesgesetzgebung übernommen. Der Runde Tisch hat für diese Landesgesetzgebung wichtige Empfehlungen erarbeitet. Wir setzen darauf, dass der Freistaat Sachsen diese Chance nutzen wird, denn die Anerkennung von ausländischen Qualifikationen ist eine wichtige Brücke zwischen Zuwanderung und Integration. Eine schnelle und serviceorientierte Anerkennung von Qualifikationen ist nicht nur die Voraussetzung für echte Integration, sie ist auch ein Aushängeschild, mit dem man sich gegenüber anderen Mitbewerbern um Fachkräfte absetzen kann. Wenn wir qualifizierte Zuwanderung wollen, dann brauchen wir auch eine attraktive und serviceorientierte Anerkennungslandschaft. Warum sollte es nicht beispielsweise Anerkennungs-Service-Stelle für Ingenieure geben, die Anerkennungssuchende serviceorientiert begleitet und die gleichzeitig Ansprechpartner für potentielle Arbeitgeber ist? Das wäre ein tatsächliches Willkommen für Fachkräfte und ein Aushängeschild, mit dem wir uns gegenüber anderen Mitbewerbern um Fachkräfte behaupten können. 23 Anerkennungen in der Wirtschaft anerkennen Die richtigen Gesetze sind jedoch nur ein Baustein: Anerkennungen müssen auch im täglichen Berufsleben anerkannt werden. Sachsens Wirtschaft lebt von Klein- und Mittelständischen Unternehmen. Anerkennung braucht Arbeitgeber, die Menschen mit ausländischen Qualifikationen eine Chance geben, ihre Talente unter Beweis zu stellen. Für die Klein- und Mittelständischen Unternehmen in Sachsen ist das nicht immer einfach. Viele haben keine eigene Personalabteilung, um sich entsprechend weiterzubilden. Vorstellbar sind aber Verbundlösungen, in denen sich Unternehmen gemeinsam, wie bei der Lehrlingsausbildung, der Akquise und der Nachqualifizierung von Fachkräften mit ausländischen Qualifikationen stellen. Das wird die Unternehmen auch intern vor Herausforderungen stellen, denn der Umgang mit Vielfalt braucht Kompetenz. Auch dafür gibt es in Sachsen bereits gute Beispiele, einige davon stellen wir im Kapitel 1.3.3 vor. Gleichzeitig brauchen wir in diesem Prozess couragierte Migrantinnen und Migranten, die die Schritte hin zu Unternehmen oder auch in die Selbstständigkeit wagen, darüber berichten und damit gute Beispiele schaffen. Und wir brauchen interkulturell sensible und weltoffene Behörden, die um die Probleme und um die Chancen von Mehrsprachigkeit wissen. Letztlich sollten Behörden auch ihrer Vorbildfunktion nachkommen, und sich selber aktiv um Mitarbeitende mit Migrationshintergrund bemühen – das ist ein Beitrag zur interkulturellen Öffnung des öffentlichen Dienstes und gleichzeitig ein wichtiges Signal an die bei uns lebenden Migrantinnen und Migranten. Fachkräfte willkommen Fachkräfte willkommen – so sollte die Überschrift all unserer Bemühungen bei der Anerkennung ausländischer Qualifikationen lauten. Ob als Ingenieur oder Bäcker oder Informatiker oder Erzieher oder Altenpfleger oder Maurer oder Arzt, ob als neuer Zuwanderer oder als jemand, der bereits seit Jahren hier lebt – die Anerkennung ihrer Ausbildungen und ein gelingendes Zusammenleben werden nur 24 mit einem grundsätzlichen Respekt vor den Lebensleistungen dieser Menschen gelingen. Viele Menschen der älteren Generation in Sachsen haben in ihrem Leben eine ähnliche Erfahrung gemacht – als nämlich die DDR-Abschlüsse bewertet und umgewandelt wurden. Auch das war kein leichter Prozess. Viele mussten noch einmal die Schulbank drücken, Abschlüsse nachholen. Andere haben ihre Anerkennung ohne weitere Anstrengung erhalten, und manche mussten auch herbe Verluste einstecken. Als Gesellschaft haben wir daraus eines gelernt: Wenn wir etwas wollen, dann geht es auch. Wir haben jetzt die Gelegenheit, eine Erfolgsgeschichte zu wiederholen und aus Fehlern zu lernen. Öffnen wir also unsere Herzen und engagieren uns auf dem Feld der Anerkennung ausländischer Abschlüsse und Qualifikation. Wir können als Gesellschaft nur gewinnen: eine dienstleistungsorientierte und interkulturell kompetente öffentlichen Verwaltung, durch weniger Amtsdeutsch in den Behördenschreiben, durch flexible Bildungssysteme, die Quereinstiege möglich machen, und durch ein neues Denken, das einmal Gelerntes anerkennt und auf Vielfalt setzt Das Anerkennungsgesetz des Bundes ist ein Meilenstein in der Öffnung unserer Gesellschaft. Dass sich der Freistaat Sachsen als Zuwanderungsland versteht, zeugt von politischen und gesellschaftlichen Realitätssinn. Zeigen wir den gleichen Realitätssinn mit einer modernen und aufgeschlossenen sächsischen Gesetzgebung. Empfehlungen zur Verbesserung der Anerkennungssituation in Sachsen3 Gleiche Prinzipien für die Bundes- und Landesgesetzgebung 3 Eine vollständige Übersicht aller Anregungen befindet sich in der Dokumentation des Berichtes 25 Der Gesetzentwurf des Bundes definiert grundsätzliche Prinzipien für die Anerkennung von Berufen, die in der Zuständigkeit des Bundes liegen. Zu diesen Prinzipien zählen u.a.: - der individuelle Anspruch auf ein Anerkennungsverfahren unabhängig vom Aufenthaltsstatus des Antragstellers, - die Gleichbehandlung von EU-Ausländern und Drittstaatlern - die Berücksichtigung der Berufserfahrung bei der Anerkennung - dass die Antragsteller konstruktive Bescheide erhalten, die die konkreten Defizite und den daraus folgenden Qualifizierungsbedarf aufzeigen, und - dass der Antrag innerhalb von drei Monaten nach Eingang aller relevanten Unterlagen beantwortet wird. Diese grundsätzlichen Prinzipien sollen auch für die Landesgesetzgebung gelten. Hier sind Sie richtig: Zentrale Anlauf- und Beratungsstelle für Migranten für Verweisberatung und Begleitung auf dem Weg zur Anerkennung Im September 2011 wurde Dank der Förderung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Informations- und Beratungsstelle Anerkennung Sachsen ihre Arbeit in Dresden aufgenommen. Bis zum Jahresende 2011 konnte bereits über 50 Ratsuchenden geholfen werden. Die Klienten sind überwiegend Drittstaatsangehörige mit akademischen Abschlüssen (z.B. Ärzte, Lehrer). Sie informieren sich häufig auch zu den generellen beruflichen Chancen in Sachsen, weil daran oft die Entscheidung hängt, nach Sachsen zu kommen oder hier zu bleiben. Zusätzlich zur Einzelberatung bietet die IBAS Schulungen für Multiplikatoren und tangierende Beratungsstellen zum Thema „Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse“ an. IBAS Beratung Informations- und Beratungsstelle Anerkennung Sachsen, Standort Dresden, Weißeritzstr. 3 (Yenidze), 01067 Dresden, Tel: 0351/43 70 70 0, Fax: 0351/43 70 70 70, E-Mail: [email protected], www.anerkennung-sachsen.de 26 Anerkennung gemeinsam gestalten: Sächsische Anerkennungsakteure weiter vernetzen Die anstehende Gesetzgebung auf Landesebene und die Umsetzung der Bundesgesetzgebung wird die sächsische Anerkennungslandschaft weiter verändern und beanspruchen, da durch den individuellen Rechtsanspruch steigende Antragszahlen zu erwarten sind. Als Zuwanderungsland braucht der Freistaat Sachsen eine Klienten- und serviceorientierte Anerkennungspraxis. Vor diesem Hintergrund sollte die Vernetzung und der Erfahrungsaustausch der sächsischen Anerkennungsakteure und der relevanten externen Partner (z.B. Sozialpartner) weiter intensiviert werden. Wir kennen den Weg: Verweis- und Berufsberatungskompetenz bei allen Anerkennungsakteuren steigern Vielfach ist die Art des Anerkennungsweges abhängig davon, in welchem Berufsfeld die Betreffenden mit ihrem Abschluss tätig sein wollen. Anerkennungsstellen sind deshalb häufig damit konfrontiert, dass Migrantinnen und Migranten nicht genau wissen, ob sie an der richtigen Stelle sind oder ob die angestrebte Anerkennung für ihren Berufswunsch relevant ist. Deshalb brauchen alle Anerkennungsstellen eine übergreifende Beratungskompetenz, um die Klienten zu möglichen Berufswegen im Berufsfeld beraten zu können und an die richtigen Stellen weiterzuvermitteln. Wir sind alle anders: Interkulturelle Kompetenz stärken Interkulturelle Kompetenz ist ein entscheidendes Kriterium für eine Gesellschaft, die auf Zuwanderung und Integration setzt und spielt natürlich auch in Verbindung mit der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse eine entscheidende Rolle. Dabei geht es um mehr als das Verständnis der Bräuche und Sitten von Menschen aus anderen Ländern oder Kulturen. Die Beraterinnen und Berater brauchen emotionale Kompetenz, interkulturelle Sensibilität und die Fähigkeit, mit kultureller Vielfalt (und mit vielfältigen Qualifikationen und Abschlüssen) so umzugehen, dass der von 27 beiden Seiten gewünschte Effekt eintreten kann: die Integration in den Arbeitsmarkt. Respekt ist dabei eine wesentliche Grundlage. Klugen Köpfen Türen öffnen: Ausländerbehörden als „Welcome-Center“ Sachsen setzt auf Zuwanderung: Das wird sich künftig auch in den sächsischen Ausländerbehörden spiegeln. Zuwanderung aber braucht die Anerkennung der ausländischen Abschlüsse, denn sie ist eine entscheidende Grundlage für den Eintritt in den Arbeitsmarkt. Ausländerbehörden sind häufig die ersten Ansprechpartner von Migranten. Deshalb ist es sinnvoll, wenn auch hier erste Informationen zum Anerkennungsthema verfügbar sind. Für erste steuernde Hinweise brauchen Ausländerbehörden ausreichend Kompetenzen und Informationsmaterial, um in Anerkennungsfragen direkt zur Informations- und Beratungsstelle Anerkennung Sachsen IBAS weitervermitteln oder auf relevante Anerkennungsakteure verweisen zu können. Das erhöht die Servicequalität in den Ausländerbehörden und ist ein sichtbares Zeichen einer modernen Zuwanderungspolitik. Kompetenzen bündeln: Eine Anerkennungsstelle im Lehrer- und Erzieherbereich Wir empfehlen für den Kultusbereich eine zentrale Anerkennungsstelle, die sowohl für die schulischen als auch für die Lehrer-, die Erzieher- und die Fachschulabschlüsse zuständig ist. Das führt nach außen zu einer Reduzierung der Anerkennungsstellen und zu einer erhöhten Transparenz und ermöglicht eine kompetente Anerkennungsberatung als Berufswegeberatung. Ingenieure willkommen: Anerkennungsstelle als Servicestelle Ingenieure brauchen keine formale Anerkennung ihres Abschlusses, um bei einem Unternehmen angestellt zu werden. Wer aber den Titel "Ingenieur " führen will - und die meisten wollen als "Ingenieur" eingestellt werden - oder sich selbstständig machen will, braucht eine Anerkennung, die die Ausbildung auf Hochschulniveau, bestimmte Ausbildungsinhalte und eine bestimmte Ausbildungsdauer bestätigt. In 28 Sachsen gibt es für Ingenieure derzeit noch mindestens fünf zuständige Stellen – regional aufgegliedert und nach Herkunftsländern unterschieden. Wir empfehlen deshalb auch hier eine Zentralisierung der Stellen und eine entsprechende Qualifizierung der Bearbeiter zur Anerkennungsthematik, zur Berufswegeberatung und zur interkulturellen Kompetenz. Wir empfehlen außerdem, die notwendige gesetzliche Regelung im Einklang mit der sächsischen Zuwanderungsinitiative und der sächsischen Fachkräftestrategie aufgeschlossen und serviceorientiert zu gestalten. Vorstellbar wäre eine Servicestelle, die nicht nur die Anerkennungsverfahren abwickelt, sondern auch als Schnittstelle zwischen ausländischen Fachkräften und potentiellen Arbeitgeber fungiert. Wir sprechen Deutsch und verstehen Sie trotzdem: Vorurteile gegenüber Mehrsprachigkeit abbauen Die beruflichen Kompetenzen von Migranten werden häufig anhand ihrer Sprachkenntnisse beurteilt. „Wer nicht perfekt deutsch spricht, kann nicht wirklich gut sein“, so kann die dahinter liegende Haltung auf den Punkt gebracht werden. Wir brauchen deshalb eine Sensibilisierung hinsichtlich realistischer Erwartungen an die Deutschkenntnisse mehrsprachiger Menschen. Auch bei den entsprechenden Prüfungen muss das berücksichtigt werden. Grundsätzlich regen wir einen Perspektivwechsel an: Weg von der rein defizitorientierten Beurteilung der Deutschkenntnisse von Zuwanderern hin zur ressourcenorientierten Beurteilung von Mehrsprachigkeit. Wir können alles außer Amtsdeutsch: Verständlichkeit der Informationsblätter, Anerkennungsbescheide bzw. Hinweisschreiben erhöhen Anerkennungsbescheide, Hinweisschreiben und Informationsblätter sind selbst für deutsche Muttersprachler häufig schwer zu verstehen. Deshalb sollten Standards für Anerkennungsbescheide bzw. Hinweisschreiben entwickelt werden, die zielgruppenorientiert sind (Antragsteller, Arbeitgeber, Bildungsinstitutionen), die sich an den Potentialen der Antragsteller orientieren, die Verweise auf evtl. weitere 29 notwendige Schritte enthalten, die gut verständlich und einem bürgerfreundlichen Deutsch gehalten sind. Es geht weiter: Nachqualifizierungen neu denken Für die Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen fehlen den Antragstellern oftmals verschiedene Kompetenzfelder, die in Deutschland verlangt werden, im Herkunftsland aber nicht gelehrt wurden. Das macht häufig Anpassungsqualifizierungen oder Nachqualifizierungen nötig, die jedoch nur selten von den Migranten und Migrantinnen finanziert werden können. Die Sächsische Staatsregierung sollte sich dieses Themas grundsätzlich annehmen und bestehende Förderinstrumente dahingehend prüfen, ob sie in diesem Feld angewandt werden können und wie sie entsprechend bekannt gemacht werden können (z.B. Weiterbildungsscheck für Erwerbstätige). Nachqualifizierungen neu denken, heißt auch über Quereinsteigerqualifizierungen nachzudenken, die es erlauben, Kompetenzen aus bisherigen Abschlüssen sowie Berufserfahrungen einzubringen und mit neuen Kenntnissen und Fertigkeiten zu kombinieren. Deutschlernen lebenslang: Spracherwerb unterstützen Der Erwerb der deutschen Sprache ist essentiell für die Anerkennung ausländischer Abschlüsse und vor allem für den Einstieg in das Arbeitsleben. Zusammen mit der Erleichterung der Anerkennung ausländischer Abschlüsse brauchen wir deshalb auch eine systematische Unterstützung der Betroffenen beim berufsbezogenen Spracherwerb. Unsere gegenwärtigen Integrationskurse genügen diesen Anforderungen nicht. Auch hier muss – wie bei den Nachqualifizierungen – parallel die Frage der Finanzierung beantwortet werden. Alle Beteiligten und vor allem auch die Wirtschaft sollten dahingehend sensibilisiert werden, dass ein solides Berufsdeutsch erst nach einer gewissen Zeit der täglichen Arbeit erwartet werden kann, dann nämlich, wenn man sich in den praktischen Zusammenhängen mit dem notwendigen Vokabular vertraut gemacht hat und ausreichend Sprachpraxis hatte. 30 Sprache ist Sprache und Wissen ist Wissen: Prüfungen mit Sach- und mit Sprachverstand Nicht selten müssen Anerkennungssuchende Prüfungen absolvieren, um insbesondere im Bereich der reglementierten Berufe - eine Anerkennung erhalten zu können. Diese Prüfungen werden in deutscher Sprache durchgeführt. Das ist sowohl für die Prüflinge als auch für die Prüfenden eine Herausforderung: Die Antragsteller müssen die Prüfung in einer Fremdsprache (deutsch) ablegen, was die Prüfung zusätzlich erschwert und den Druck in der Prüfungssituation erhöht. Die Prüfenden müssen ihrerseits sicherstellen, dass sie ihre fachliche Beurteilung nicht mit der Beurteilung der Deutschkenntnisse der Prüflinge vermischen. Auch die richtige Einschätzung des kulturellen Hintergrundes des Prüflings ist für die faire und richtige Einschätzung von Wissen und Fähigkeiten entscheidend. Faire Kosten: Gebühren für Anerkennungsverfahren niedrig halten Die Kosten für Anerkennungsbescheide oder Hinweisschreiben werden derzeit sehr unterschiedlich gehandhabt. Auffällig sind die Unterschiede besonders dort, wo es um negative Bescheide geht – viele Stellen verzichten hier auf eine Gebühr, andere nicht. Wir plädieren für die Einheitlichkeit bei der Handhabung der Kosten unter Berücksichtigung der aufgrund von Arbeitslosigkeit und unterqualifizierter Beschäftigung häufig schlechten finanziellen Lage: Ein schwaches Einkommen darf kein Grund für eine fehlende Anerkennung sein. Unternehmen im Verbund: Gemeinsam ausländische Qualifikationen erschließen Wir möchten die sächsischen Klein- und Mittelständischen Unternehmen (KMU) ermutigen, ihre Kompetenzen beim Umgang mit Bewerbern mit ausländischen Qualifikationen systematisch auszubauen. Es gibt in Sachsen bereits einige KMU, die sich der Vielfalt in ihren Unternehmen stellen, Menschen mit ausländischen Qualifikationen beschäftigen und ihre Erfahrungen als Mentoren weitergeben können. 31 Darüber hinaus bieten sich Verbundlösungen an. So wie viele KMU ihre Auszubildenden über Verbünde erfolgreich gemeinsam ausbilden, könnten klein- und mittelständische Unternehmen in Zukunft auch Verbundlösungen entwickeln, mit deren Hilfe die Einbindung von Fachkräften mit ausländischen Abschlüssen für das einzelne Unternehmen erleichtert wird. <<<Kästen Ende <<< 1.2 Deutsch für alle – 99 Wege zur deutschen Sprache Sprache ist ein wichtiger Schlüssel für die Integration und soziale Teilhabe in einer Gesellschaft. Wir sollten daran interessiert sein, dass alle bei uns lebenden Menschen eine Chance bekommen, unsere schöne Sprache zu erlernen und zu praktizieren, egal, wie lange sie bei uns leben mögen. Deutsche Sprache – schwere Sprache. Diesen Satz kennen wir alle. Wer als Erwachsener zu uns kommt, wird sein Leben lang auf dem Weg zum perfekten Deutsch unterwegs sein. Wir können die Menschen auf dieser Reise ermutigen, auch wenn sie noch kein perfektes Deutsch sprechen. Diese Ermutigung zeigt sich auch im Respekt; denn fehlerhaftes Deutsch bedeutet nicht fehlerhafte Kompetenz. „Ich habe fertig“ - Giovanni Trapattoni’s Rede in „verdrehtem“ Deutsch auf einer Pressekonferenz hat es zu einiger Berühmtheit gebracht. Doch bei allen Lachkrämpfen hat niemand vergessen, dass Trapattoni als einer der erfolgreichsten Trainer weltweit gilt. Alle verstanden ihn, seine Kritik war inhaltlich berechtigt und deshalb hat man ihn – trotz der Fehler im Deutschen – respektiert. Lachen wir also nicht über diejenigen, die unsere Sprache lernen. Schmunzeln wir mit ihnen und helfen wir ihnen, ihr Deutsch zu verbessern - bei voller Anerkennung all ihrer Kompetenzen. Zuwanderer wollen Deutsch lernen – und was können wir beitragen? Das Erlernen einer Sprache ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Im Mittelpunkt steht der Lernende, der sich zur lebenslangen Reise zum guten Deutsch entschließt. Egal, 32 wie viel Unterstützung der Lernende erhält, am Ende steht und fällt die Reise mit dem Lernenden selbst. Aber zu dieser Reise gehören auch die Rahmenbedingungen, die das Lernern erleichtern oder erschweren können. Stellen wir uns einige Fragen: Wie steht es bei uns um die Möglichkeiten, die deutsche Sprache zu erlernen? Reichen die Integrationskurse aus? Wie steht es um die Weiterbildung im Bereich des berufsqualifizierenden Deutschlernens? Wie agieren wir als Muttersprachler gegenüber Lernenden, die noch nicht perfekt Deutsch sprechen oder schreiben können? Mit welcher Haltung gehen wir auf sie zu: anerkennend und motivierend oder überkritisch und mit überhöhten Erwartungen? Wenn wir Deutsche an Deutsch denken, dann denken wir an perfektes Deutsch. Manche gehen deshalb irrtümlich davon aus, dass nur der, der perfekt Deutsch spricht, auch richtig integriert sei. Manche setzen gar die Qualität der Deutschkenntnisse mit der Qualität der beruflichen Kenntnisse gleich. Eine solche überhöhte Erwartung führt uns leicht in die Irre, weil wir gar nicht erst fragen, was einer kann. Außerdem verstellt dieser hohe Anspruch den Blick darauf, welche Begabung die Mehrsprachigkeit von Migrantinnen und Migranten ist. Deshalb gehört zu einer Willkommensgesellschaft auch, dass wir anerkennen, wenn jemand unsere Sprache erlernt und dass wir ihn unterstützen und ihn ermutigen, zu sprechen. Denken wir nur an unsere eigenen Lernerfahrungen. Die wenigsten von uns beherrschen mehrere Sprachen auf muttersprachlichem Niveau. Warum erwarten wir dann von den anderen, dass sie perfekt im Deutschen sind? Es ist ein Zeichen von Respekt, wenn wir hier realistischer werden. Deutsch für alle 33 Auch die Praxis unserer Sprachförderung müssen wir im Interesse eines konstruktiven Zusammenlebens überdenken: Die derzeitige Gesetzeslage sieht eine formelle Unterstützung der Sprachkurse für Ausländer erst dann vor, wenn die Menschen einen gesicherten/unbefristeten Aufenthaltsstatus haben. In der Praxis bedeutet das allerdings, dass z.B. Asylsuchende über Jahre hinaus keine Unterstützung beim Erlernen der deutschen Sprache bekommen, weil sich die Verfahren über Jahre hinziehen können. Das schafft eine schizophrene Situation: Auf der einen Seite verwehren wir die Unterstützung beim Erlernen unserer Sprache. Auf der anderen Seite erwarten wir, dass sich alle Migranten im alltäglichen Leben gesellschaftskonform und konstruktiv verhalten. Sie sollen bei Behörden mitwirken, in Gesprächen mit den Lehrern ihre Kinder in der Schule unterstützen oder als Nachbarn freundlich und umgänglich mit uns kommunizieren. Wie geht das ohne gemeinsame Sprache? Unsere Broschüre Vor diesem Hintergrund haben wir in der Geschäftsstelle die Broschüre „Deutsch für alle - 99 Wege zur deutschen Sprache“ entwickelt. Diese Broschüre ist ein Teil unseres Willkommens für alle Migrantinnen und Migranten, die unsere Sprache lernen wollen. Wir wissen, dass das nicht leicht ist und wollen sie mit dieser Broschüre ermutigen. Gleichzeitig wollen wir bei allen Menschen in Sachsen Verständnis dafür wecken, dass das Erlernen einer Sprache nicht von heute auf morgen möglich ist, sondern Zeit und unsere Unterstützung braucht. Für diese Broschüre haben wir zunächst Erfahrungen, Methoden und Lernstrategien beim Fremdsprachenerwerb recherchiert und zusammengetragen. Auch die Erfahrungen zahlreicher Migranten aus Sachsen sind dabei mit eingeflossen. Die Methoden und Strategien wurden durch zwei Fachleute geordnet und strukturiert. Außerdem haben wir recherchiert, wo man in Sachsen kostengünstig Deutsch lernen kann und welche Möglichkeiten das Internet bietet. Mit der Broschüre wollen zeigen, dass Sprachkurse nur ein Weg sind, die deutsche Sprache zu lernen. Und wir wollen Mut machen, noch heute mit dem Lernen 34 anzufangen. Denn wenn wir unser Erlernen einer Fremdsprache selbst in die Hand nehmen, stoßen wir eine Tür auf. Wir übernehmen Verantwortung für unser Leben und können anderen auf gleicher Augenhöhe gegenübertreten. Wir können sagen, was wir denken und fühlen. Wir können zeigen, wer wir sind. Wir haben teil an der Gesellschaft. Wir können uns selbstständig über unsere Rechte informieren. Wir können selbstbewusst auftreten und Vorurteile beseitigen helfen. Die Lebenswelt um uns herum wird mit jedem neu gelernten Wort ein Stückchen größer. Wir verstehen, was die anderen Menschen sagen und können uns verständigen. Wir verschaffen uns Gehör und werden wahrgenommen. Unsere Broschüre will den Blick öffnen für Wege, die trotz vieler Hindernisse offen stehen und gibt praktische Tipps, wie man zu seinem Ziel kommen kann. Vor allem will sie den aktiven und selbstverantwortlichen Spracherwerb unterstützen. Diese Broschüre ist kein Lehrbuch. Sie ist vielmehr eine Sammlung von Ideen und Anregungen, die wir dem Alltag entnommen haben. Die Sammlung ist nicht vollständig, aber ein Anfang. Damit sind alle eingeladen, neugierig zu sein und die verschiedenen Wege zu gehen. Vielleicht findet jemand seinen Lieblingsweg und hilft damit die Sammlung weiter zu vervollständigen. Im Mittelpunkt der Broschüre stehen die Fertigkeiten Lesen, Sprechen, Hören und Schreiben. Die Broschüre stellt Wege vor, wie diese Fertigkeiten erlernt und vertieft werden können. Auch soziale Strategien werden gezeigt, mit denen sprachliche Herausforderungen im Alltag gemeistert werden können. Sie ergänzen den schulischen Sprachunterricht und sind geeignet, einen bereits erlernten Wortschatz zu festigen. Wichtig sind auch die Lerntipps, die dazu zu ermutigen, den Weg des Deutschlernens mit anderen Menschen gemeinsam zu gehen. Damit regen die Übungen auch Lehrer, Co-Lehrer, Betreuer und Weggefährten an, den Lernanfänger 35 fachgerecht und effektiv zu unterstützen. Sie tragen zur Bildung von Patenschaften und sozialen Netzwerken bei. „Work in progress“ – Wir werden besser Der Untertitel unserer Broschüre heißt: 99 Wege zur deutschen Sprache. Unsere Broschüre zeigt viele, aber nicht alle Wege. Wir ermutigen damit alle Leserinnen und Leser, weitere Wege zu finden und mit uns zu teilen, damit wir sie in zukünftigen Auflagen auflisten können. Wenn Sie neuartige Wege kennen und sie erfolgreich ausprobiert haben, schreiben Sie uns! So können wir voneinander lernen. Parallel zur kostenlosen Verteilung der herausgegebenen Broschüre arbeiten wir an der Sammlung der Lerntipps weiter. Bücher in die sächsischen Gemeinschaftsunterkünfte Um auch Asylsuchende und Geduldete beim Spracherwerb zu unterstützen, werden wir 2012 gemeinsam mit unseren kommunalen Partnern eine Bücheraktion starten. Dabei wollen wir die Broschüre „Deutsch für alle – 99 Wege zur deutschen Sprache“ in den Gemeinschaftsunterkünften verteilen. Außerdem wollen wir jede sächsische Gemeinschaftsunterkunft mit Wörterbüchern in sieben Sprachen ausstatten und so die Bewohnerinnen und Bewohner motivieren, Deutsch zu lernen. 36 1.3 Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen Mit unseren Veranstaltungen wollen wir die Integrationsleistungen und die Arbeit der sächsischen Integrationsakteure der Öffentlichkeit vorstellen und würdigen: Erfolgreiche Vielfalt braucht Sichtbarkeit. Deshalb legen wir bei unserer Öffentlichkeitsarbeit großen Wert darauf, die Medien mit einzubeziehen. Seien es erfolgreiche Integrationsgeschichten, die mit dem jährlichen Einbürgerungsfest bekannt werden, seien es Projekte, die sich alltäglich für ein konstruktives Miteinander einsetzen oder Initiativen, die gegen Missstände vorgehen: Wir wollen die Geschichten dahinter bekannt machen. Unsere Gesellschaft öffnet sich diesen Themen mehr und mehr. Beispielhaft sei hier der Mitteldeutsche Rundfunk genannt, der sich 2011 sehr intensiv mit dem Thema der Integration befasst hat. Am 14.10.2011 trafen sich beispielsweise die Programmverantwortlichen des Senders mit Vertretern sächsischer Migrantenverbände in der Leipziger Mediacity des Mitteldeutschen Rundfunks. Dabei wurde die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Integrationsprozess erörtert. „Wir möchten den direkten Dialog aufnehmen mit Menschen unseres Sendegebiets, die nicht hier geboren sind oder deren familiäre Wurzeln außerhalb von Deutschland liegen“, erklärte die heutige MDR-Intendantin, Frau Prof. Dr. Karola Wille, in ihrer Begrüßungsrede. Der Film „Vielfalt im MDR – alle unter einem Dach“ von Efthymia Mourgela zeigte, dass es in allen Bereichen des MDR, von Fernsehen über Hörfunk, bis hin zu den MDR-Landesfunkhäusern, den Klangkörpern und dem ARD/ZDF-Kinderkanal Kolleginnen und Kollegen mit ausländischen Wurzeln gibt, die erfolgreich im Sender arbeiten. Prof. Wille ging in ihrer Rede auch auf Ergebnisse der ARD/ZDF-Studie „Migranten und Medien 2011“ ein. Zuwanderer seien keine homogene Gruppe. Gerade bei der Mediennutzung erscheinen die Faktoren Alter, Bildung und sozialer Kontext der in Deutschland lebenden Migranten ebenso wichtig, wenn nicht gar wichtiger, als der Faktor ethnischer Herkunft. Es gebe also keine mediale Parallelgesellschaft. Folglich erscheine es auch nicht sinnvoll, programmliche „Insellösungen“ oder spezielle 37 Redaktionen zu schaffen. „Integration und kulturelle Vielfalt betrachten wir als Querschnittsaufgabe bei unserer täglichen Programmarbeit“, sagte die Vertreterin des Intendanten. Martin Gillo wertete das Treffen als gelungenen Auftakt für weitere derartige Veranstaltungen. Er ermutigte die Medien, das Verbindende in unserer Gesellschaft konsequent hervorzuheben. „Die Vielfalt der Kulturen und Lebensweisen in Deutschland ist uns wichtig. Der MDR hat aber vor allem auch die Grundaufgabe, ein regionales Programm zu sein. Hier müssen wir prüfen, wie sich kulturelle Vielfalt am besten unterbringen lässt“, erklärte der neue MDR-Fernsehdirektor Wolf-Dieter Jacobi. „Die Untertitel-Quote soll 2012 weiter erhöht werden“, kündigte Georg Maas, Hauptabteilungsleiter Neue Medien, an. Dies gelte insbesondere für Sendungen in der MDR-Mediathek. Hörfunkdirektor Johann Michael Möller interessiert vor allem die Lebensgeschichte der Menschen mit Migrationshintergrund: „Lassen Sie uns diese Geschichten erzählen“, regte er an. Eine Neuauflage dieses erfolgreichen Dialogs ist geplant, zunächst wird es aber solche Treffen auch in Sachsen-Anhalt und Thüringen geben. Auch innerhalb des MDR sollen die Themen Migration und Integration noch stärker kommuniziert werden. Im Rahmen der Fort- und Weiterbildungsangebote wird derzeit eine offene Informationsveranstaltung vorbereitet. Diese soll sich mit „Migration und Migranten in Mitteldeutschland“ befassen. Integration braucht Öffentlichkeit – mit dieser Strategie zeigen wir nicht nur, was gelingt oder nicht gelingt. Wir zeigen Respekt vor dem, was in Sachsen an Vielfalt in Gemeinsamkeit alltäglich gelebt wird. 1.3.1 Deutsche aus aller Welt feiern Einbürgerungsfest Auch 2011 luden der Sächsische Staatsminister des Innern Markus Ulbig und Martin Gillo wieder gemeinsam zum Einbürgerungsfest ein. 250 neue Staatsbürgerinnen und Staatsbürger kamen am 21.05.2011 in den Plenarsaal des Sächsischen Landtags zu diesem Festakt, zu dem jährlich alle Personen und Familien eingeladen werden, die im Vorjahr die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatten. 38 Die Vizepräsidentin des Sächsischen Landtags Andrea Dombois begrüßte die Gäste und ermutigte die Zuwanderer dazu, Verantwortung zu übernehmen. „Wer sich selbst verwirklichen will, der verwirklicht sich auch in der Welt, die ihn umgibt.“ Der Blick in die Welt und die Offenheit gegenüber der Welt habe Sachsen von der Reformation bis zur Friedlichen Revolution immer wieder nach vorne gebracht. Joachim Reinelt, Bischof von Dresden-Meißen hielt eine festliche Ansprache. Er ließ die Menschen aus allen Kontinenten mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Glaubenstraditionen auf herzliche Weise spüren, dass sie in Sachsen willkommen sind. Reinelt verband seine eigene Geschichte mit den Lebenswegen der Gäste und der Sachsen. Er ermutigte die neuen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in seiner Festrede, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen, um in Sachsen richtig heimisch zu werden. „Sie haben etwas zu geben: Seien Sie deshalb stolz auf Ihre Wurzeln und stolz auf Ihre neue Heimat!“ Markus Ulbig „Sachsen braucht Menschen wie Sie!“ Der Sächsische Innenminister Markus Ulbig betonte in seiner Begrüßung, dass er sich über die Einbürgerung als ein Bekenntnis zu unserem Staat freue. Er verwies auf die erfolgreiche Zuwanderungsgeschichte Sachsens und betonte den Beitrag jedes und jeder Einzelnen, die sich um eine Einbürgerung bemühen: „Es sind Menschen wie Sie, die diese Erfolgsgeschichte fortschreiben!“ Er warb in diesem Zusammenhang auch dafür, die Sächsische Zuwanderungsinitiative zu unterstützen: „Geben Sie Ihre Erfahrungen weiter und seien Sie ein Beispiel.“ Martin Gillo „Hier in Dresden feiern Deutsche aus aller Welt ihre Vielfalt und ihre Gemeinsamkeit!“ Für Martin Gillo ist das Einbürgerungsfest ein wichtiger Baustein der sächsischen Willkommensgesellschaft. Die neuen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger brächten eine große individuelle und kulturelle Vielfalt in unser Gemeinwesen ein. Diese Vielfalt sei ein Gewinn für Sachsen, so Gillo in seinem Grußwort. Die Unterschiede zwischen denen, die hier geboren und denen, die dazugekommen seien, trennten 39 nicht; sondern seien Ergänzung und Stärkung. Dabei seien die Gemeinsamkeiten die Brücken zum Miteinander: „Reden wir über das, was uns eint. Reden wir darüber, wie wir unsere verschiedenen Talente miteinander verbinden und erfolgreich zu unseren gemeinsamen Zielen kommen. Reden wir darüber, was wir voneinander lernen können!“ Noch ist nicht alles im grünen Bereich Kritisch mahnte Gillo den Nachholbedarf bei der Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen und Berufserfahrungen an. Dieser Bedarf wurde auch bei den persönlichen Begegnungen in der Lobby deutlich. Einige der Neubürger illustrierten am eigenen Beispiel, wie schwierig es für sie ist, trotz guter Ausbildung und Berufserfahrung Fuß auf dem sächsischen Arbeitsmarkt zu fassen und welche Hürden bei der Anerkennung ihrer ausländischer Qualifikationen bestehen. Ein Fest mit Frohsinn und Hoffnungszeichen Von allen Grußworten, den persönlichen Begegnungen und dem kulturellen Rahmen ging eine gemeinsame Botschaft aus: „Sie sind uns herzlich willkommen. Wir freuen uns und wir brauchen sie.“ Dazu passte ein gut gelauntes Gastgeberquartett aus Andrea Dombois, Markus Ulbig, Joachim Reinelt und Martin Gillo. Den kulturellen Höhepunkt setzte der Puppenspieler Franz W. Lasch: Er verkörperte Herrn Arnold Böswetter, eine überlebensgroße kabarettistische Puppe, Allesredner, Charmeur der alten Schule, Vermittler von „homöopathischen Gesunderhaltungstipps“ und von verbindender Mitmenschlichkeit. Andrea Dombois machte den Spaß mit und tanzte zur Freude aller mit dem großartig aufgelegten Böswetter, einem Entertainer par excellence. 1.3.2 Interkulturelle Woche „ Zusammenhalten - Zukunft gewinnen“ Zentrale Veranstaltungen in der Universitätsstadt Freiberg In der Universitätsstadt Freiberg fand am 26.09.2011 die zentrale Veranstaltung der Interkulturellen Woche (IKW) in Sachsen statt. 40 Freiberg hatte 2011 mit einer der Initiative „Wir sind Freiberg“ auf sich aufmerksam gemacht. Außerdem sollte der Focus auf die engagierte Arbeit der Initiativen, Vereine und der Ausländerbeauftragten in Mittelsachsen unter den besonderen Bedingungen eines Landkreises gelegt werden. Pressekonferenz im Ratssaal Den Auftakt bildete eine Pressekonferenz, auf der Superintendent Christoph Noth über die wesentliche Rolle der Kirchen bei der Entstehung der Interkulturellen Tage bzw. Wochen informierte. Freibergs Oberbürgermeister Bernd-Erwin Schramm stellte erste Ergebnisse der Initiative „Wir sind Freiberg“ vor und Ilse Rose, die Ausländerbeauftragte des Landkreises Mittelsachsen gab einen Ausblick auf die Arbeitsschwerpunkte in ihrer Region. Martin Gillo verwies auf die zahlreichen Aktivitäten und Aktionen der IKW in ganz Sachsen und warb für weitere Anstrengungen auf dem Weg zur Willkommensgesellschaft. Gottesdienst im Dom zu Freiberg Der folgende ökumenische Gottesdienst im Freiberger Dom stand ebenso wie die bundesweiten Aktionen unter dem Motto „Zusammenhalten – Zukunft gewinnen“. Neben der Besinnung auf grundlegende und gemeinsame Bekenntnisse luden die Vertreter der christlichen Kirchen zu einem Blick aus der Universitätsstadt in die ganze Welt ein. In seiner Predigt lud Christoph Noth gemeinsam mit den anderen Pfarrern zu einem Miteinander zwischen Mitbrüdern und Mitschwestern in der ganzen Welt ein. Die Fürbitten wurden in mehreren Sprachen gesprochen. Etwa 150 Menschen aller Bekenntnisse beteiligten sich an der Andacht. Zusammentrommeln zum Fest Der anschließende Fußweg vom Dom zum städtischen Festsaal am Obermarkt gestaltete sich bei lateinamerikanischen und afrikanischen Rhythmen sehr lebendig und rhythmisch. Auch die Festveranstaltung war geprägt von Tanz, Musik und Poesie. Besonders eindrücklich war der interkulturelle Chor mit seinem Lied „Die 41 Sonne kommt immer wieder“. Ebenfalls beindruckend war der Gedichtvortrag eines syrischen Mädchens, das von der Besonderheit berichtete, in zwei Kulturen verwurzelt zu sein. Ich bin ein Baum mit zwei Stämmen Ich bin ein Baum, bin ein Baum mit zwei Stämmen. Ja, ja: mit zwei Stämmen! Das verstehst Du nicht? Ich bin ein Baum und habe nur eine Wurzel, eine Wurzel dort, wo ich geboren bin. Du willst, dass ich immer grün bleibe, willst mich biegsam wie eine Weide oder blühend wie eine Linde? - Aber ich bin ein anderer Baum und habe zwei Stämme. Sie sind nicht gleich können nicht gleich sein. Es ist schön und doch schwer, zwei Seelen zu haben. - Du willst, dass ich eine wähle, Nur eine Seele? Aber schau dir diesen Baum an, 42 wie lebendig er ist, wie harmonisch! Und nun stell dir vor, ein Stamm würde abgeschnitten. Wie verletzbar müsste er sein, mein Baum. Nein, ich möchte keinen Stamm verlieren, ich will ich bleiben... und weiterwachsen. Denke nicht, ich stelle mich über die anderen. Nein, ich bin ein Baum unter vielen; nur ein wenig anders: Eine Wurzel, ein Herz... aber zwei Seelen. Maria Bender Lu Sponheimer Freibergs Oberbürgermeister Bernd-Erwin Schramm stellte die städtische Initiative „Wir sind Freiberg“ vor. Ein Imagevideo informierte über den engagierten Diskussionsprozess für ein besseres Miteinander bei den „World Cafés“ im Sommer. Diese World-Cafés sind eine konstruktive und nachhaltige Reaktion auf die Anschlagsserie auf Freiberger Döner-Imbisse im Vorjahr. Für den Landkreis Mittelsachsen berichtete der zweite Beigeordnete Dieter Steinert über die Vielzahl ausländischer Investoren und Unternehmen und die Bildungsstandorte. Die Bedeutung der Migration zeige sich auch an der Teilnahme 43 des Landkreises an einem Modellprojekt zur Beschleunigung der Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels bei Fachkräften. Auch das sei ein Zeichen von Willkommenskultur im Amt, so Steinert. Ilse Rose, warb für ihre Initiative „Wir alle sind Mittelsachsen“. Sie stellte ihre Arbeit vor unter dem Goethe-Motto: „ Wir lernen Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen; wir müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht.“ Ein besonderer Erfolg dieser Bemühungen ist das Tandemprojekt für Theaterbesucher, das auch in diesem Jahresbericht vorgestellt wird. Den wirtschaftlichen Vorteil von multinationalen Teams stellte David Greenlaw, Direktor bei der sächsischen Niederlassung des Unternehmens Globalfoundries in den Vordergrund seines Grußwortes. Er berichtet von seinen positiven Erfahrungen mit multinationalen Teams. In einer globalen Wirtschaftswelt führe kein Weg an einem Zusammenwirken von internationalen Wissenschaftlern vorbei. Jedoch seien für eine erfolgreiche Zusammenarbeit nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern auch die Lebensbedingungen für Familien und die Bildungschancen für die Kinder ausschlaggebend. Martin Gillo gab einen Ausblick auf die künftigen Anforderungen an unsere Willkommensgesellschaft. Wichtig sei die Neugier auf Anderes. Die Vielfalt der Kulturen und die Mehrsprachigkeit der hier lebenden Menschen stellt eine Bereicherung dar. Der Abend endete mit zahlreichen Gesprächen bei einem interkulinarischen Buffet. Geschichte der Interkulturellen Woche Die Interkulturelle Woche wird seit 1975 begangen und geht auf eine Initiative der Deutschen Bischofkonferenz, der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Griechisch-Orthodoxen Metropolie zurück. Ziel der Interkulturellen Woche ist bis heute das Eintreten für bessere politische und rechtliche Rahmenbedingungen des Zusammenlebens von Deutschen und Zugewanderten. Darüber hinaus soll die Chance geboten werden, durch persönliche Begegnungen und Kontakte ein besseres gegenseitiges Verständnis zu entwickeln und Vorurteile abzubauen. Deshalb gibt es neben reinen 44 Informationsveranstaltungen vor allem auch Feste, Theater- und Filmvorführungen und Lesungen von Künstlerinnen und Künstlern. Die Veranstaltungen zur Interkulturellen Woche oder zu den Interkulturellen Tagen sind für viele Kommunen ein lebendiges Zeichen für ein gelingendes Miteinander vor Ort und ein wichtiger Beitrag der Kommune für eine gelebte Willkommensgesellschaft. 1.3.3 Tag der offenen Tür Am 03.10.2011, dem Tag der Deutschen Einheit, öffnete der Sächsische Landtag zum 17. Mal seine Pforten. Mehrere tausend Bürgerinnen und Bürger nutzten den „Tag der offenen Tür“, um die Arbeit der Landtagsfraktionen und der Landtagsverwaltung kennenzulernen. Die Geschäftsstelle des Ausländerbeauftragten war mit einer mehrteiligen Präsentation am Start. Die Besucher konnten sich über die aktuellen Projekte des Ausländerbeauftragten informieren, wie z.B. über die Arbeit des Runden Tisches „Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse“, über die Arbeit des Netzwerks Integration und Migration Sachsen oder den Wettbewerb zum Sächsischen Integrationspreis. Die Veranstaltung bot viele Gelegenheiten für Gespräche, in denen auch Vorbehalte und Sorgen vor einer „Überfremdung“ thematisiert worden. Deutlich wurde wieder, dass der „gefühlte Ausländeranteil“ häufig viel höher ist als der tatsächliche. Hier half dann nicht nur der Blick in die Statistik, sondern auch ein Quiz unter dem Motto "Dashätschnigedacht“, mit dem die Besucher ihr Wissen testen konnten und das reichlich Gelegenheit gab, über gängige Vorurteile ins Gespräch zu kommen und das Potential der bei uns lebenden Migranten zu verdeutlichen. Dieses Potential steht auch im Fokus der Initiative „Charta der Vielfalt“, die bei der Veranstaltung vorgestellt wurde. Bundesweit wurde diese Selbstverpflichtung von über tausend Firmen und Organisationen unterzeichnet. Die Besucher konnten sich auch über die konkreten Motive und Ziele jener 14 sächsischen Firmen und Verbände informieren, die der Charta bisher beigetreten sind. 45 Charta der Vielfalt Die Vielfalt der modernen Gesellschaft, beeinflusst durch die Globalisierung und den demografischen Wandel, prägt das Wirtschaftsleben in Deutschland. Wir können wirtschaftlich nur erfolgreich sein, wenn wir die vorhandene Vielfalt erkennen und nutzen. Das betrifft die Vielfalt in unserer Belegschaft und die vielfältigen Bedürfnisse unserer Kundinnen und Kunden sowie unserer Geschäftspartner. Die Vielfalt der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Talenten eröffnet Chancen für innovative und kreative Lösungen. Die Umsetzung der „Charta der Vielfalt“ in unserer Organisation hat zum Ziel, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das frei von Vorurteilen ist. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen Wertschätzung erfahren – unabhängig von Geschlecht, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Identität. Die Anerkennung und Förderung dieser vielfältigen Potenziale schafft wirtschaftliche Vorteile für unsere Organisation. Wir schaffen ein Klima der Akzeptanz und des gegenseitigen Vertrauens. Dieses hat positive Auswirkungen auf unser Ansehen bei Geschäftspartnern, Verbraucherinnen und Verbrauchern sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern der Welt. Im Rahmen dieser Charta werden wir 1. eine Organisationskultur pflegen, die von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung jeder und jedes Einzelnen geprägt ist. Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass Vorgesetzte wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diese Werte erkennen, teilen und leben. Dabei kommt den Führungskräften bzw. Vorgesetzten eine besondere Verpflichtung zu. 46 2. unsere Personalprozesse überprüfen und sicherstellen, dass diese den vielfältigen Fähigkeiten und Talenten aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie unserem Leistungsanspruch gerecht werden. 3. die Vielfalt der Gesellschaft innerhalb und außerhalb der Organisation anerkennen, die darin liegenden Potenziale wertschätzen und für das Unternehmen oder die Institution gewinnbringend einsetzen. 4. die Umsetzung der Charta zum Thema des internen und externen Dialogs machen. 5. über unsere Aktivitäten und den Fortschritt bei der Förderung der Vielfalt und Wertschätzung jährlich öffentlich Auskunft geben. 6. unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Diversity informieren und sie bei der Umsetzung der Charta einbeziehen. Wir sind überzeugt: Gelebte Vielfalt und Wertschätzung dieser Vielfalt hat eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft in Deutschland. Das Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik schreibt in seiner Begründung, warum es die Charta unterzeichnet hat: „Wir haben seit jeher - seit 2001 arbeiten wir an unserem Standort in Dresden unsere Mitarbeiter nicht nur als Arbeitskräfte, sondern als Menschen mit verschiedenen Geschichten, Ideen, Identitäten, Problemen und Belangen gesehen. Familienfreundlichkeit wurde und wird immer groß geschrieben, Hierarchien sollen so flach wie möglich gehalten werden. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Menschen ihr Potential besser ausschöpfen, wenn sie sich rundum akzeptiert fühlen. Die Charta der Vielfalt sehen wir als eine gute Chance, diese Bestrebungen zu professionalisieren und zu vertiefen.“ Die Handwerkskammer zu Leipzig ist am 26.08.2010 der Charta der Vielfalt beigetreten. „Grund für die Unterzeichnung der Charta der Vielfalt war zum einen das Bekenntnis der Handwerkskammer zu Leipzig zu Fairness und Wertschätzung von Menschen unabhängig von religiösen, kulturellen und ethnischen Unterschieden. 47 Zum anderen wollten wir auch ein Signal an unsere Mitgliedsbetriebe senden, denn eine Mitarbeiterstruktur, die interkulturell geprägt ist, kann befruchtend in den Unternehmen wirken. Einen weiteren Grund sehen wir in dem Potenzial von Zuwanderern, die uns helfen können, den Fachkräftebedarf in unserer Region zu sichern.“ Auch der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ (HMT) in Leipzig ist es ein Anliegen und Bedürfnis, die Inhalte der „Charta der Vielfalt“ umzusetzen. „Internationalisierung sowie Wertschätzung gegenüber allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unabhängig von Geschlecht, Rasse, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Identität waren und sind die Grundlagen des Umgangs miteinander und der Gestaltung des künstlerischen wie des Arbeitslebens an der HMT Leipzig.“ Das Leibniz-Institut für Festkörper- und Werkstoffforschung Dresden (IFW) ist der Charta der Vielfalt 2008 beigetreten und begründet diese Entscheidung so: „Das IFW sieht darin ein großes Potential für die Kreativität und Leistungsfähigkeit, das bewusst gefördert und genutzt wird. Zu den umgesetzten Maßnahmen gehören die Beteiligung des IFW am Welcome-Center der Stadt Dresden, die Finanzierung und Organisation von Deutschkursen für nicht-deutschsprachige Mitarbeiter sowie Englischkurse für die Angestellten in der Verwaltung.“ Deutlich wurde bei den Gesprächen im Landtag vor allem eines: Wer sich für Vielfalt interessiert, sucht weniger nach den Unterschieden, als nach den Gemeinsamkeiten. Das gelingt am besten, wenn man sich gemeinsame Ziele setzt. Vielfalt wertzuschätzen, ist eine gute Brücke hin zu einer Willkommensgesellschaft. Die Basis dieser Wertschätzung ist der Respekt vor anderen Menschen – unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrem Aussehen, ihrer Religion und ihrer Herkunft. 1.3.4 Sächsischer Integrationspreis 2011 wurde der Sächsische Integrationspreis zum zweiten Mal gemeinsam von Christine Clauß, Sächsische Staatsministerin für Soziales und Verbraucherschutz, und Martin Gillo ausgeschrieben. 48 Unter dem Motto „Gemeinsamkeit in Vielfalt“ konnten sich Vereine, Verbände, Initiativen und Privatpersonen bewerben, die auf dem Feld der Integration tätig sind. Durch den Wettbewerb wollten die Organisatoren sichtbar machen, wie es Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in Sachsen gelingt, ein vielfältiges gemeinsames Leben zu gestalten. Sei es im Sport- oder Kulturverein, in der Elternund Bildungsarbeit, bei der Freiwilligen Feuerwehr, im Nachbarschaftsprojekt, im Unternehmen oder auch beim Feiern. Insgesamt bewarben sich 43 Vereine, Verbände, Initiativen und Privatpersonen um den Preis. Die Projekte wurden von einer Jury bewertet, deren Mitglieder in unterschiedlichsten Bereichen der Integration tätig sind und die verschiedene Perspektiven in die Beurteilung einbringen. Den Vorsitz führten die Sächsische Staatsministerin für Soziales und Verbraucherschutz und der Sächsische Ausländerbeauftragte gemeinsam. Am 25.11.2011 wurde der Preis bei einer Festveranstaltung im Sächsischen Landtag an vier Projekte verliehen Bon Courage gewinnt Den mit 2.500 Euro dotierten ersten Preis nahmen die Vereinsmitglieder des Bon Courage e.V. aus Borna in Empfang. Seit 2007 engagieren sich die etwa 60 Mitglieder im Alter zwischen 16 und 24 Jahren für Asylsuchende. Ehrenamtlich organisieren sie integrative Volleyballspiele, zu denen sie die Migranten in den Asylbewerberunterkünften abholen. Außerdem helfen sie bei Behördengängen, Arztbesuchen, Übersetzungen oder Formularen und unterstützen die Migranten in der neuen Umgebung. Den zweiten Preis, der mit 1.500 Euro dotiert war, erhielt der Ausländerrat Dresden e.V. für sein Projekt „Die Bildungspatenschaften“. 84 Paten und Patinnen stehen Schülern aus Migrantenfamilien zur Seite. Die Projektleiter legen Wert darauf, dass Paten und Patenkind gut zusammen passen, damit vertrauensvoll auch nichtschulische Probleme, sei es in der Familie oder bei der Berufswahl, besprochen werden können. 49 Das Projekt “Science goes to School!” des Dresden International PhD Program (DIPP) wurde mit dem dritten Preis und 500 Euro geehrt. Die internationalen Promotionsstudenten engagieren sich als Lehrende in Dresdner Schulen. Sie vermitteln Fachwissen und schlagen so Brücken zur deutschen Gesellschaft. Das Projekt entstand als konstruktive Reaktion nach dem Mord an der Wissenschaftlerin Marwa El-Sherbini. So befand es auch die Jury, in der neben den Initiatoren und Vertretern von Migranten auch der Kommunikationsexperte Wolfgang Donsbach saß. Empowerment in Döbeln Den Sonderpreis des Sozialministeriums für Junge Projekte nahm der Verein zur Förderung von Fraueninitiativen - Frauenzentrum „Regenbogen“ e.V. aus Döbeln entgegen. Das Projekt „Future Kids“ bestärkt Kinder zwischen 7 und 17 Jahren und befähigt sie, sich in der Gesellschaft zu entwickeln. Dabei helfen Theater, Sport und Kreativspiele, die eigenen Stärken wahrzunehmen und gleichberechtigt miteinander umzugehen. Durch den Kontakt mit den vor Ort ansässigen Hilfs- und Freizeitangeboten wird Isolation verhindert. Preisverleihung und Wertschätzung Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler legte in seiner Begrüßung zur Preisverleihung Wert auf verlässliche Rahmenbedingungen für die Integration. So verwies er auf den gesetzgeberischen Prozess im Parlament zur Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen. Er hatte auch die Schirmherrschaft über die Veranstaltung übernommen. Christine Clauß hob die Brückenfunktion der Integration hervor: „Wir brauchen in unserem Land Menschen, die Brücken für die Integration bauen. Wir brauchen Integration, damit unser Land ein guter Ort zum Leben ist und unsere Wirtschaft wettbewerbsfähig bleibt“. Dieser Prozess verlange Respekt, Toleranz und Achtung gegenüber dem Anderen. Dieser Meinung war auch Martin Gillo: „Jedes einzelne Projekt, jedes Engagement und jeder Mensch, der offen anderen begegnet, bringt unsere Gesellschaft voran, damit sie eine Willkommensgesellschaft wird. Damit Sachsen immer mehr zu einem Land wird, in 50 dem wir respektvoll und auf Augenhöhe miteinander umgehen. Ein Land, in dem sich jeder wohlfühlt.“ Die Laudationes wurden durch Schüler des St. Benno-Gymnasiums gehalten. Die 17 Gymnasiasten hatten sich vorher eingehend mit den Projekten befasst. So entstanden eine fiktive Radioshow, ein auf Englisch gehaltener Disput des Debating Club, ein liebenswertes Sketch unter Gastschülern und ein Volleyspiel im Rund des Plenarsaals. Für den nötigen kulturellen Schwung sorgten die Blasmusiker der Dresdner Band „Banda Comunale“ und die Europameisterinnen im Showtanz vom TSV-Joker e.V. aus Leipzig. Neben den Preisträgern waren alle Bewerber um den Sächsischen Integrationspreis 2011 zur Festveranstaltung eingeladen. Eine Plakatausstellung in der Lobby des Landtags informierte über alle Projekte und lud zum Austausch ein. Eine Broschüre über alle Projekte wurde im Nachhinein an alle sächsischen Gemeinden versandt, um den Austausch vor Ort zu fördern und zum Nachahmen anzuregen. Preisträger kommen zu Wort Bon Courage e. V. Borna Projekt “Engagement für Asylbewerber“ Warum engagieren Sie sich für dieses Projekt? Den Anstoß für mein Engagement bekam ich durch den Kontakt zu einer asylsuchenden Familie aus einer Gemeinschaftsunterkunft, durch die ich zum ersten Mal mit der unmenschlichen und diskriminierenden Lebenssituation von Asylsuchenden direkt konfrontiert worden bin. Ich kann bis heute nicht verstehen, warum Menschen im 21. Jahrhundert durch Einschränkungen in ihren Rechten wie bspw. die Residenzpflicht oder die Versorgung über Magazine sowie katastrophalen Unterbringungsbedingungen noch eine so unwürdige Behandlung erfahren müssen. Für Bon Courage war das ein Grund aktiv zu werden. Auch wenn das Engagement zugegeben manchmal sehr viel Zeit und Kraft kosten kann, überwiegen die schönen 51 und spaßigen Momente. Zudem ist die Dankbarkeit der Menschen die beste Entlohnung, die durch kein Geld der Welt ersetzbar ist. Was bedeutet Ihnen der Preis? Seit Beginn unseres Engagements für Asylsuchende im Landkreis Leipzig sind wir mit unseren Projekten bei einigen LokalpolitikerInnen, Mitarbeiterinnen der Gemeinschaftsunterkünfte und Behörden sowie bei BürgerInnen im Landkreis auf mehr Ablehnung, Kritik und Skepsis als auf Zuspruch, Unterstützung und Anerkennung gestoßen. Die Auszeichnung mit dem Sächsischen Integrationspreis ist daher eine große Anerkennung und eine Bestätigung der Bedeutung unserer Arbeit. Die Auszeichnung hat uns gezeigt, dass auch Andere die Notwendigkeit eines solchen Engagements sehen und statt der Absicht es zerschmettern zu wollen, es mit offenen Armen begrüßen. Durch den Preis haben wir zudem für die Zukunft neue Kraft schöpfen können. Was wünschen Sie sich von ihrem Umfeld? Von meinem gesellschaftlichen Umfeld wünsche ich mir, sich mehr mit den einzelnen Lebensgeschichten und Schicksalen von Flüchtlingen auseinanderzusetzen und sich dann zu überlegen, wie man selber in solch einer Lebenslage von einem Aufnahmeland behandelt werden möchten. Ich wünsche mir von meinem Umfeld außerdem einen respekt- und verständnisvolleren Umgang mit Menschen und ebenso, dass eigene Stereotypen und Vorurteile, die zu oberflächlichen Verurteilungen von Menschen führen können, reflektiert und hinterfragt werden. Und zu guter Letzt wünsche ich mir, dass sich unsere Gesellschaft in Zukunft für mehr kulturelle Vielfalt öffnen kann. Ausländerrat Dresden e.V. „Die Bildungspatenschaften“ Warum engagieren Sie sich für dieses Projekt? 52 Wir engagieren uns für dieses Projekt, da wir an das große Potenzial von jungen MigrantInnen für das kulturelle und gesellschaftliche Leben in Dresden glauben. Die persönlichen, sprachlichen, interkulturellen und fachlichen Ressourcen werden unserer Meinung nach jedoch noch immer zu wenig gefördert und beachtet. Wir setzen uns gegen eine Defizitorientierung ein und versuchen mithilfe des Projektes uns an den individuellen Fähig- und Fertigkeiten jedes Patenkindes und jeder PatIn zu orientieren und diese zu fördern, um eine Chancengleichheit herzustellen und einen beidseitigen, bereichernden Austausch zu ermöglichen. Was bedeutet Ihnen der Preis? Der Preis ist in erster Linie eine Anerkennung und Auszeichnung der vielen PatInnen, die sich ehrenamtlich für das Projekt engagieren. Die PatInnen bilden die Grundlage unserer Arbeit und Ihnen gelten alle Wertschätzung und ein großer Dank. Zum anderen bedeutet uns die Auszeichnung so viel, da sie unsere Arbeit bestätigt und anerkennt. Die Bildungsaptenschaften leben von vielen freiwilligen HelferInnen, die sich immer für das Gelingen des Projektes einsetzen. Gerade aktuell gibt sie uns Mut, obwohl wir fachlich und zeitlich mit dem freiwilligen Engagement an unsere Grenzen gelangen und für die Erhaltung des Projektes dringend auf eine KoordinatorInnenstelle angewiesen sind. Was wünschen Sie sich von ihrem Umfeld? Wir wünschen uns weiterhin von allen Beteiligten und Interessierten viel Neugier und Freude sich mit dem Projekt und den Menschen auseinanderzusetzen und sich dafür in welcher Form auch immer zu engagieren. Wir freuen uns auf viele Kooperationen und Austausche mit anderen Projekten und Initiativen. Was die Zukunft des Projektes betrifft, hoffen wir weiterhin auf Vertrauen und Engagement, sodass wir das Projekt nachhaltig am Leben erhalten und die Patenschaften fachlich weiterhin auf hohem Niveau durchführen und ausbauen können. Dresden International PhD Program Projekt „Science goes to School!“ 53 Warum engagieren Sie sich für dieses Projekt? Für die ortsansässigen ausländischen Doktoranden des Dresden International PhD Program ist dieses Projekt eine große Chance, in Kontakt mit Dresdner Schülern zu kommen. Die Wissenschaft ist das vermittelnde Element, um die Schülern für die Gesetzmäßigkeiten der Natur zu begeistern, an denen die jungen Wissenschaftler in internationalen Arbeitsgruppen selbst forschen. Die gemeinsame Sprache in der Wissenschaft sowie bei den Schuleinsätzen ist Englisch. Es bereitet den jungen Wissenschaftlern viel Spaß, Schüler zu motivieren, sich im Laufe des eineinhalbstündigen gemeinsamen Experimentierens immer mehr auf die verbindende Fremdsprache einlassen, die Scheu davor verlieren. Dabei sind die wissenschaftlichen Experimente in Gruppenarbeit ein extrem effizientes didaktisches Mittel für den naturwissenschaftlichen Unterricht und ein Weg, wichtige soziale Kompetenzen zu schulen und zu stärken: die Fähigkeit, im Team zu arbeiten, mit Mitschülern und anderen Menschen zu kommunizieren, an einer gemeinsamen Strategie und einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten. Was bedeutet Ihnen der Preis? Der Preis ist für die Doktoranden eine große Anerkennung ihrer Idee, über die Wissenschaft die nicht sofort erkennbare Integration schrittweise anzugehen. Gleichzeitig motiviert die Auszeichnung jeden einzelnen ausländischen Studenten, sich weiterhin stark in dem Projekt zu engagieren. Alle Rückmeldungen aus den Schulen und nun der Preis selbst zeigen, dass „Science goes to School!“ interessant und wichtig für die Entwicklung der Schüler ist, deren Gedanken über ausländische Studenten und ein internationales Umfeld zu verändern. Was wünschen Sie sich von ihrem Umfeld? 54 Die ausländischen Studenten, die zeitweise in Dresden leben, wünschen sich eine freundliche, respektvolle und offene Atmosphäre zum Arbeiten und Leben - Dresden als einen Lebensort, an dem sie von anderem Menschen lernen und ihr Wissen weitergeben können Frauenzentrum „Regenbogen“ e.V. Döbeln Projekt „Future Kids“. Warum engagieren Sie sich für dieses Projekt? Die stetig steigende Armut unter Kindern und Jugendlichen (32,8% der Kinder unter 15 Jahren; Stand 2007 Armutskonferenz) geht einher mit materiellen Einschränkungen, sozialem Abstieg, Anerkennungsverlust und dem nicht mehr teilhaben können an kulturellem Reichtum. Die Arbeitslosigkeit der Familie und die damit verbundenen Ohnmachtsgefühle werden an die Heranwachsenden geradezu "vererbt". Wir engagieren uns, da grundlegende Handlungsstrategien dringend erforderlich sind, um zu erreichen, dass diese Kinder und Jugendlichen eine reale Chance haben, diese Negativspirale zu durchbrechen: Wir wollen erreichen, dass diese sich selbstbewusst in ihrer Gesellschaft bewegen und einbringen können, die gerade in Familien mit Migrationshintergrund häufig durch ambivalente Anforderungen geprägt ist. Durch soziokulturelle Aktivitäten, wie selbst kreierte Theaterstücke und deren Aufführung, Argumentationsrollenspiele und genderübergreifende Aktivitäten (Boxen für Mädchen, Bauchtanz für Jungen) erlebt unsere Zielgruppe, dass sie zu mehr fähig sind, als ihnen von außen suggeriert wird und geben Lösungsstrategien an die Hand, wie Kinder mit ihrer prekären Lage gesund umgehen können (z.B. Argumentationstraining gegen rassistische Parolen und erschlagende Konsumerfordernisse). Was bedeutet Ihnen der Preis? 55 Die Auszeichnung mit dem Sonderpreis des Sächsischen Ausländerbeauftragten setzt für uns ein Zeichen, dass die soziokulturelle Arbeit mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen ein wichtiger Bestandteil in der Infrastruktur eines gut funktionierenden Hilfenetzwerkes für die Zielgruppe ist. Unsere Gesellschaft spricht von drohendem Fachkräftemangel und sieht zugleich nicht selten zu, wie Kinder und Jugendliche hilflos ihrer prekären sozialen Situation ausgeliefert sind. Wenn die Heranwachsenden zwangsläufig für sie mögliche "Überlebensstrategien" entwickeln müssen, werden diese wiederum in der öffentlichen Meinung stigmatisiert. Unsere Zielgruppe erlebt diese beschriebene Situation mitunter sehr reflektiert. Dass sie durch die Verleihung des Sonderpreises in einen wertschätzenden Fokus gerückt sind und deren erreichte Erfolge in den Medien präsent sind, ist für nahezu alle Kinder und Jugendlichen ein Novum, was das Bild von sozialem Engagement und Interesse greifbar und erlebbarer macht. Was wünschen Sie sich von ihrem Umfeld? Auch Aktivitäten, Projekte und Vereine, die sich für benachteiligte Menschen engagieren laufen Gefahr, selbst stigmatisiert zu werden, z.B. durch die Aussage, "einen künstlichen Bedarf zu schaffen". Es ist schwer, sich mit thematisierten Problemlagen auseinanderzusetzen, da die erwünschte Idylle einer Stadt, eines Landkreises dadurch erschüttert wird. Wir wünschen uns, dass bewährte Handlungskonzepte, die unseren Kindern und Jugendlichen zugutekommen, aus ihnen verantwortungsvolle, engagierte Erwachsene machen können, endlich fester Bestandteil einer sozialen Infrastruktur und der Jugendhilfe würden. Für die Zukunft ist es wünschenswert, wieder als Frauenzentrum die Akzeptanz zu finden, die wir bereits in unserem 17-jährigen Bestehen erfahren hatten. 56 2 Humanität und Menschenwürde Zu meinen gesetzlichen Aufgaben als Sächsischer Ausländerbeauftragter gehört die Wahrung der Belange der im Freistaat lebenden Ausländer. Bei dieser Aufgabe lasse ich mich von der Haltung der Humanität und einem wichtigen Grundwert unserer eigenen Gesellschaft leiten: der Menschenwürde. Jede und jeder hat eine menschenwürdige Behandlung verdient, unabhängig von der Herkunft, unabhängig vom Aufenthaltsstatus und unabhängig davon, ob einer bei uns dauerhaft leben kann oder wieder gehen muss. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – diesem Grundsatz müssen zuallererst wir als Bürgerinnen und Bürger dieses Staates gerecht werden, denn es ist unser Grundgesetz. Dieser Grundsatz ist eine Handlungsmaxime für unser eigenes Handeln und nicht abhängig davon, mit wem wir es zu tun haben. Diese Arbeit hat für mich zwei Seiten: Einerseits nimmt sie organisatorische und systemische Verhältnisse in unserem Freistaat in den Blickpunkt. Auf der anderen Seite vergisst sie nicht, sich auch um Einzelfälle zu kümmern. Sei es, indem wir vorhandene Freiräume in den Verwaltungsregelungen nutzen, um Menschen in Not zu helfen, oder sei es, indem wir Menschen zur Seite stehen und ihnen zeigen, dass wir sie in Zeiten der extremen Not nicht allein lassen. Zu den organisatorisch-systemischen Aufgaben gehört auch die Überprüfung und Beurteilung der sächsischen Gemeinschaftsunterkünfte, in denen Asylsuchende dem Gesetz entsprechend überwiegend untergebracht werden. Hier übernehmen wir eine Verantwortung, der wir auch hinsichtlich der Menschenwürde gerecht werden müssen. Denn wenn der Staat einen Menschen zwingt in einem Heim zu leben, dann muss er gleichzeitig dafür sorgen, dass Leib und Leben, Unversehrtheit und Menschenwürde gewahrt werden. Das trifft auch auf die Unterbringung von Asylsuchenden zu. Unser Team hat in den vergangenen zwei Jahren alle Gemeinschaftsunterkünfte in Sachsen zweimal besucht. Dabei mussten wir feststellen, dass wir Gefahr liefen, abzustumpfen. Nach dem anfänglichen Schock begannen wir, die Verhältnisse für normal zu halten und vor allem für unveränderbar: Weil Verhältnisse eben sind, wie sie sind. 57 Diese Haltung passt nicht zu meinem Aufgabenverständnis. Um der eigenen Abstumpfung bei den Besuchen entgegenzuwirken und um die Wahrung des Rechts auf eine menschenwürdige Behandlung sicherzustellen, haben wir einen „Heim-TÜV“ für die sächsischen Gemeinschaftsunterkünfte entwickelt. Es gibt für solche Prozesse in unserer Gesellschaft gute Vorbilder: Ein Beispiel sind die Überprüfung der Zustände in den deutschen Pflegeheimen. Bis vor nicht allzu langer Zeit galt ein Heim als ordentlich, wenn seine Bewohner „trocken, sauber und satt“ waren. Mittlerweile gibt es einen „Pflege-TÜV“4, der Pflegeheime detailliert einstuft und damit zu verbesserter Pflegequalität geführt hat. Transparenz ist hier die Grundlage für die Verbesserung. Das gilt auch für die Verbesserung der Unterbringungssituation von Asylbewerbern und Geduldeten. Unser „Heim-TÜV“ hat es uns ermöglicht das, was wir vor Ort gesehen haben, systematisch zu erfassen, verbesserungswürdige Zustände zu kennzeichnen und gute Beispiele zu identifizieren. Der „Heim-TÜV“-Bericht ist allen Interessierten über unsere Internetseite www.offenes-sachsen.de zugänglich. Auf den folgenden Seiten wollen wir die wichtigsten Einsichten und Ergebnisse präsentieren. Außerdem berichten wir in diesem Kapitel über die Arbeit der Sächsischen Härtefallkommission und über zwei humanitäre Einzelfälle. Gerade der erste Fall zeigt, dass es mit Ausdauer möglich ist, auch scheinbar unlösbare humanitäre Probleme zu lösen. Der zweite Fall zeigt, wie wichtig es ist, ausländische Mitmenschen in Extremsituationen nicht allein zu lassen. Er zeigt leider auch, wie schnell bei Gewaltverbrechen an einem Ausländer in der Öffentlichkeit der Verdacht aufkommt, er sei selber schuld an dem, was passiert ist. 4 Transparenzberichte der gesetzlichen Krankenkassen über Leistungen und Qualität von Pflegeheimen 58 2.1 Mitmenschen im Schatten - „Heim-TÜV“ 2011 über das Leben in sächsischen Gemeinschaftsunterkünften Flüchtlinge sind aus unserer Welt nicht mehr wegzudenken. Menschen versuchen ihrer tiefen Not zu entkommen, indem sie ihre Heimat unter großen Risiken verlassen. Viele wollen einer menschenbedrohenden Politik oder einer lebensgefährlich-repressiven Gesellschaft entkommen. Viele fliehen vor Kriegen und wollen ihr Leben retten. Andere werden durch Hungersnöte aus ihrer Heimat vertrieben. Und immer mehr Menschen müssen als Klimaflüchtlinge ihre Regionen verlassen, weil aus fruchtbaren Böden staubige Wüsten oder überschwemmte Landstriche geworden sind. Mehr als 45 Millionen Menschen sehen sich deshalb weltweit gezwungen, woanders als Flüchtlinge eine neue Chance auf Leben zu finden. Drei Viertel von ihnen finden in einem Nachbarland Zuflucht, 80 Prozent der grenzüberschreitenden Flüchtlinge werden von Entwicklungsländern aufgenommen.5 Auch Europa, die Bundesrepublik Deutschland und der Freistaat Sachsen sind von diesen Flüchtlingsströmen betroffen. Und natürlich ist die Zahl der Flüchtlinge zu groß, um sie alle bei uns aufzunehmen. Deshalb hat sich die Europäische Union entschlossen, auf der einen Seite die Zahl der nach Europa kommenden Flüchtlinge durch aktive Maßnahmen an seinen Außengrenzen einzudämmen und auf der anderen Seite zu helfen, die Not in den verschiedenen Regionen zu lindern. Die Festungspolitik zeigt Wirkung. Der Flüchtlingsstrom nach Europa ist im Vergleich zu den 90er Jahren wesentlich zurückgegangen. Davon hat auch die Bundesrepublik Deutschland „profitiert“. Die Flüchtlingsströme nach Deutschland fanden 1992 ihren Höhepunkt. Über 400 000 Menschen kamen zu uns und baten um Asyl bzw. um Anerkennung als Flüchtling. Im Jahre 2010 waren es nur noch zehn Prozent von dieser Zahl, also 40 000. Etwa fünf Prozent davon kamen nach Sachsen, oder besser gesagt, sie wurden uns über das 5 UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR „Global Trends 2010“, veröffentlicht im Juli 2011. 59 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nach dem „Königsteiner Schlüssel“6 zugeteilt, weil praktisch kaum Flüchtlinge direkt nach Sachsen kommen. Die meisten versuchen in westdeutschen Städten unterzukommen. Die Flüchtlinge durchlaufen nach ihrer Ankunft die Verwaltungsprozesse, die über ihre Anerkennung als Flüchtling entscheiden. Eigentlich sollte das innerhalb von 1-2 Jahren abgeschlossen sein. Doch die Praxis sieht anders aus. Nicht wenige von ihnen warten bis zu sieben Jahre oder länger, bis endgültig über ihren Antrag oder Folgeantrag entschieden wird. Die Statistiken besagen, dass von zehn Asylbewerbern etwa drei wieder gehen und dass drei einen Aufenthaltsstatus bekommen. Vier sind eigentlich ausreisepflichtig, gehen aber nicht zurück. Das sind die Geduldeten. Zwei der vier Ausreisepflichtigen dürfen bleiben, weil sie aus verschiedensten Gründen nicht abgeschoben werden dürfen. Die anderen beiden bleiben, weil sie ihre wahre Identität verschweigen und nach den europäischen Menschenrechtsregeln nicht abgeschoben werden können. Die Verhältnisse variieren von Jahr zu Jahr. 2010 waren es beispielsweise nicht drei, sondern fünf von zehn, die wieder gegangen sind, wenn man die freiwilligen Rückkehrer und die nach dem Dubliner Übereinkommen7 in die EU-Länder zurückgesendeten Flüchtlinge miteinbezieht. Die Unterbringung von Asylbewerbern und Geduldeten wird in der Bundesrepublik Deutschland durch das Asylverfahrensgesetz geregelt. Gemäß § 53 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) sollen Ausländer, die einen Asylantrag gestellt haben und nicht oder nicht mehr verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, in der Regel in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. Hierbei 6 Der Königsteiner Schlüssel legt die Zuweisungsquote der Asylbewerber auf die einzelnen Bundesländer fest. Der Schlüssel geht auf das Königsteiner Abkommen von 1949 zurück, das zur Finanzierung von Forschungseinrichtungen entstanden ist. Die Länderanteile werden jedes Jahr von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) neu berechnet. 7 Das „Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags vom 15. Juni 1990“ (Dubliner Übereinkommen) ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Es regelt die Verteilung der Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren innerhalb der Europäischen Union und ist für alle Mitgliedstaaten am 1. Januar 1998 in Kraft getreten (Bundesministerium des Innern, Stand Oktober 2011). 60 sind, so heißt es in § 53 Abs. 1 Satz 2, „… sowohl das öffentliche Interesse als auch Belange des Ausländers zu berücksichtigen.“ Genau an dieser Stelle setzt unser „Heim-TÜV“ an. Wir sind überzeugt, dass es möglich ist, den ordnungspolitischen und öffentlichen Interessen gerecht zu werden und den humanitären Ansprüchen zu genügen. Wir wollen sicherstellen, dass die Bedingungen in den Unterkünften den allgemeinen Menschenrechten und unseren eigenen Ansprüchen an eine menschenwürdige Behandlung gerecht werden. Erst die Menschenwürde, dann die Ordnungspolitik Auf der einen Seite bringen wir die Mehrheit der Asylsuchenden in Gemeinschaftsunterkünften unter. Auf der anderen Seite steht unser klares Bekenntnis zum humanen Umgang mit allen bei uns lebenden Menschen. Auch die Wohlfahrtsverbände Deutschlands beschäftigen sich mit diesem Thema. Zu ihnen gehören z.B. Caritas, Diakonie, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, Deutsches Rotes Kreuz und die Arbeiterwohlfahrt. Sie orientieren ihr Handeln an religiösen und humanitären Überzeugungen. Wenn die Wohlfahrtsverbände das Thema Unterbringung der Asylbewerber in Deutschland aufgreifen, dann tun sie das also mit der Perspektive jener Werte, die uns am wichtigsten sind. Die Liga der Wohlfahrtsverbände des Landes Baden-Württemberg e.V. erstellte im Jahr 2009 einen Bericht, in dem sie Standards für eine menschenwürdige und solidarische Unterbringung der Asylbewerber und Geduldeten beschrieben und vorgeschlagen haben: „Kerngehalt der Menschenwürde ist es, jeden Menschen als Subjekt zu begreifen. Die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz verbietet es, den Menschen zum bloßen Objekt hoheitlichen Handelns zu degradieren.“8 8 Liga der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg e.V.: Unterbringung von Asylsuchenden und Flüchtlingen, Stand 2009, Seite 1. 61 Hinter diesem Satz steht die Überzeugung, dass unsere grundgesetzliche Verpflichtung zur Menschenwürde auch bei der Unterbringung von Asylbewerbern und Geduldeten in Gemeinschaftsunterkünften Geltung hat: Zuerst kommt die Menschenwürde, dann kommt die Ordnungspolitik. Deshalb ist unser oberstes Kriterium bei der Beurteilung der Gemeinschaftsunterkünfte das Kriterium der Menschenwürde. Die Unterbringung von Asylbewerbern und Geduldeten soll mehr vom Gedanken der Humanität und der sozialen Fürsorge geleitet sein, als vom Gedanken der Abschreckung und der Vergrämung. Asylbewerber und Geduldete haben ein Recht auf soziale Inklusion in unserer Gesellschaft, so lange sie bei uns leben. Sie sollten die Gelegenheit bekommen sich als Menschen in unsere Gesellschaft einzubringen, ob als Eltern in der Schule, als Mitglieder in Migrantenbeiräten, in gemeinnützigen Vereinen oder anderen Aktivitäten. Das ist nichts Neues – das ist zum großen Teil schon gelebte Praxis. Auch in Sachsen gibt es gute Beispiele für diese soziale Inklusion. So bekennen wir uns in vorbildlicher Weise zur schulischen Integration für alle Kinder, egal welchen Status ihre Eltern haben mögen. Das gilt auch für die Kinder illegal hier lebender Eltern und ist Konsens der Innenministerkonferenz der Bundesrepublik seit 2010. Vorbildwirkung entfaltet Sachsen dadurch, dass es den besonderen Bedürfnissen von zweisprachigen Kindern beim Deutschunterricht Rechnung trägt, indem das Fach „Deutsch als Zweitsprache“ schulbegleitend angeboten wird und sich nicht nur auf einen Anfangskurs beschränkt. Auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge erhalten Unterstützung, damit auch sie eine Chance auf menschenwürdige Behandlung und Entfaltung ihrer Talente bekommen. Hier handeln wir in klarer Übereinstimmung mit unserem Bekenntnis zu Humanität und Menschenwürde. Die gleiche Haltung sollten wir bei der Frage der Unterbringung der bei uns lebenden Asylbewerber und Geduldeten einnehmen. 62 2.1.1 Das System der Unterbringung in Sachsen In Sachsen wird die Aufnahme, Unterbringung und Verteilung von Asylbewerbern nach dem Asylverfahrensgesetz durch das Gesetz zur Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen im Freistaat Sachsen geregelt. Zuständig für die Unterbringung sind das Staatsministerium des Innern als oberste Unterbringungsbehörde, die Landesdirektion als höhere und die Landkreise und Kreisfreien Städte als untere Unterbringungsbehörden. Die Landesdirektion Chemnitz verteilt in Abstimmung mit der Landesdirektion Dresden oder Leipzig die aufzunehmenden Ausländer auf die unteren Unterbringungsbehörden.9 Die Verteilung erfolgt nach einem Schlüssel, der sich aus dem Anteil des jeweiligen Landkreises oder der Kreisfreien Stadt an der Wohnbevölkerung des Freistaates Sachsen errechnet. Der Freistaat Sachsen erstattet den Landkreisen und Kreisfreien Städten die entstehenden Kosten in Form einer Pauschale.10 Die Zuordnung der einzelnen Asylbewerber zu bestimmten Heimen erfolgt nach dem Zufallsprinzip. Aus systemischer Sicht lässt sich die Praxis der Unterbringung als gesellschaftliches System mit Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen und je verschiedenen Aufgaben beschreiben. Alle Akteure tragen mit ihrem Handeln oder Nichthandeln dazu bei, ob die Unterbringung menschenwürdig ist oder nicht. Mindestens vier Gruppen sind hier zu beachten. Die Geldgeber: Gemeinschaftsunterkünfte müssen finanziert werden. Die finanziellen Aufwendungen sollen eine einfache, funktionelle und sichere Unterbringung ermöglichen, die aber nicht menschenunwürdig sein darf. Was bedeutet das heute in der Praxis? 9 Verordnung über Zuständigkeiten nach dem Aufenthaltsgesetz und Asylverfahrensgesetz (SächsAAZuVO) vom 22. Dezember 2008, § 3 Abs. 2. 10 Gesetz zur Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen im Freistaat Sachsen (SächsFlüAG) vom 25. Juni 2007, § 10. 63 In vielen Fällen reicht die festgesetzte Pauschale für eine menschenwürdige Unterbringung nicht mehr aus. Der Freistaat Sachsen hat diese Pauschale seit etwa zehn Jahren nicht mehr erhöht. Gleichzeitig steigen die Kosten - Heimbetreiber haben uns eindringlich darauf hingewiesen, dass sich z.B. ihre Erdgaskosten in diesem Zeitraum um 240 Prozent und die Elektrizitätskosten um 170 Prozent erhöht haben. Die Landkreise und Kreisfreien Städte beteiligen sich mit eigenen Beiträgen an der Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber und Geduldeten, beispielsweise durch die Finanzierung der schulischen Integration der Kinder, durch Beiträge zu Krankheitskosten oder auch durch Zuschüsse für Unterbringung und soziale Betreuung von Asylbewerbern. Die Heimbetreiber: Die meisten Heime in Sachsen werden von Drittanbietern betrieben, die nach öffentlichen Ausschreibungen den Zuschlag bekommen haben. Bei den konstanten Mitteln für die Unterbringung wird es trotz steigender Unterbringungskosten nicht überraschen, dass sich bei den Ausschreibungen immer weniger Firmen bewerben, bzw. dass es teilweise überhaupt keine Bieter gibt, bis die Anforderungen herunteroder die Vergütung heraufgeschraubt werden. Ebenso wird nachvollziehbar, dass über die Jahre immer mehr Leistungen abgebaut wurden, um kostendeckend zu bleiben. Ergebnis? In vielen Heimen in Dritthand werden die Heimbewohner weitgehend sich selbst überlassen. Mittlerweile müssen sich die Dienstleistungen vieler Betreiber aus Kostengründen im Wesentlichen auf Hausmeisterdienste beschränken. Da kann der professionelle Wachdienst schnell zur freundlichen Anwesenheit Geringbeschäftigter abgeschwächt werden, die zwar da sind, aber bei Konflikten schnell ihre Tür verschließen können, bis Ruhe eintritt. Es kann sogar dazu kommen, dass nachts niemand mehr da ist. Einige Heimleiter erwecken den Eindruck, dass sie sich den Provokationen und Bedrohungen durch Bewohner mehr oder weniger wehrlos ausgesetzt fühlen und antworten darauf scheinbar mit Resignation zu n. Die Ursachen für das Verhalten 64 der Bewohner werden dann nicht mehr hinterfragt, sondern den Bewohnern auf stereotype Art zugeschrieben. Die Heimbewohner: Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften werden in sehr unterschiedlichem Maß betreut. Werden sie sich selbst überlassen, kommt es häufig zu negativen Entwicklungen: Nur wenige Heimbewohner haben die Möglichkeit, sich sinnvoll zu beschäftigen oder gar zu arbeiten. Die erzwungene Untätigkeit führt deshalb häufig zu einer schleichenden Lähmung der Initiative, zu Depressionen und anderen physischen und psychischen Krankheiten bis hin zu einer gesteigerten Selbstmordneigung unter den Bewohnern der Gemeinschaftsunterkünfte. • Bei anderen führt die fehlende Möglichkeit, sich konstruktiv einzubringen, dazu, dass sie sich auf organisierte Kriminalität oder Schwarzarbeit einlassen und damit unserer Gesellschaft schaden. Hohe Frustration und soziale Isolation führen immer wieder zu Zerstörungen von Einrichtungen und Mitteln, die von den Heimbetreibern ersetzt werden müssen. Das kann dann aus Kostengründen zur weiteren Reduzierung der Versorgung führen und das wiederum zu mehr Zerstörung usw. • Angesichts einer weitgehenden gesellschaftlichen Isolation gehören auch Alkoholismus und Drogenkonsum für eine Reihe alleinstehender Männer zum täglichen Leben in den sächsischen Heimen. Gewalt unter den Bewohnern scheint in manchen Heimen keine Seltenheit zu sein, ebenso kommt Gewalt zwischen Heimbewohnern und Heimleitung vor. Heimbewohner können aber auch konstruktiv auf das Zusammenleben und die Form der Unterbringung einwirken, nämlich dort, wo ihnen die Möglichkeit gegeben wird, das Leben in der Gemeinschaftsunterkunft mitzugestalten und zu bereichern.>>> Die Gesellschaft: 65 Auch die Gesellschaft spielt eine erhebliche Rolle in diesem System, denn in der Demokratie hören Politik und öffentliche Verwaltung auf die Wählerinnen und Wähler. Wer Asylbewerber und Geduldete für „Schmarotzer“ hält, der will sie möglichst schnell vertrieben wissen; fast egal mit welchen Mitteln – solange diese Mittel nur im Verborgenen bleiben und in der Öffentlichkeit nicht gerechtfertigt werden müssen. Schnell können so unsere menschlichen Grundwerte in Frage gestellt werden. Über die Lebenswirklichkeit der Asylbewerber und Geduldeten ist in der Öffentlichkeit wenig bekannt. Schlagzeilen machen zumeist Negativberichte und Informationen über Kriminalität. Deshalb wehren sich Anwohner häufig gegen die Errichtung großer Gemeinschaftsunterkünfte mit über 100 Bewohnern in der eigenen Nachbarschaft. Daraus entsteht der Druck, Heime möglichst weit abgelegen von Ortschaften zu unterhalten. Dieser öffentliche Druck ist bei kleinen Heimen deutlich geringer. Allerdings tragen auch weit abgelegene Heime zu einer ablehnenden Haltung durch die heimische Bevölkerung bei, denn sie vermitteln die Botschaft, dass es guten Grund dafür gibt, Asylbewerber an den Rand unserer Gesellschaft zu schieben. Die Ressentiments auf der einen Seite schüren die Ressentiments auf der anderen Seite. Die wiederum können die Ressentiments auf der einen Seite erhöhen und so weiter und so fort. Eine Chance zur Verbesserung der Einstellung der Öffentlichkeit zum Umgang mit den Asylbewerbern liegt in einer besseren Kenntnis über ihre Situation und ein Einsetzen für menschliche Umstände ihres täglichen Lebens. Nicht umsonst ist die Einstellung der Menschen in den großen Städten entspannter, als in den ländlichen Regionen – und das, obwohl (oder vielleicht gerade weil) der Anteil der Ausländer in den Städten größer ist, als auf dem Land. Alle tragen Verantwortung Alle Beteiligten in einem System tragen Mitverantwortung für das System, im Schlechten wie im Guten, manche mehr, manche weniger. Die Betonung liegt allerdings auf dem Wort „alle“. Deshalb gibt es auch keine Einzelschuldigen für systemische Fehlentwicklungen. Wenn wir Probleme in einem System erkennen, dann lohnt sich nur eins: Die Ursachen zu erkennen, sie abzustellen oder zu 66 verändern und dadurch zu den Ergebnissen zu gelangen, die unseren eigenen Werten entsprechen. 2.1.2 Erhebungsinstrument „Heim-TÜV“ Erhebungsinstrument des „Heim-TÜV“ ist ein Fragenkatalog für Gemeinschaftsunterkünfte, der von uns für eine umfassende Einschätzung von Gemeinschaftsunterkünften für Asylbewerber und Geduldete entwickelt wurde (siehe Dokumentation ). Grundlage der Einschätzungen sind immer beobachtbare Einzelfaktoren, die die Realität der Asylbewerber und Geduldeten im Alltag wiedergeben. Diese Einschätzungen können von Jedem beobachtet bzw. nachvollzogen werden, der mit den Bewohnern, den Betreibern, und auch mit der Unterbringungsbehörde ins Gespräch kommt. Der Fragenkatalog des „Heim-TÜVs“ besteht aus 46 Fragen, die in zehn Faktoren gruppiert sind. Eine angemessene Unterbringung für Asylbewerber und Geduldete in Sachsen lässt sich optimal nur im Dialog mit allen Betroffenen verwirklichen. Deshalb wurde die Situation in den Gemeinschaftsunterkünften sowohl aus der Sicht und der Wahrnehmung der Betreiber als auch aus der der Asylbewerber erfasst. Wichtige Basisinformationen haben wir vorab von der zuständigen Unterbringungsbehörde eingeholt. Bei unseren Besuchen standen bewusst die betroffenen Menschen in ihrer alltäglichen Situation, ihre Sicherheit und ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten im Mittelpunkt. Jede Einschätzung ist eine Momentaufnahme. Sie spiegelt die aktuelle Lebenssituation wider, wie sie am Tag des Besuches vorgefunden wurde. Die Gespräche mit den Beteiligten erfassten aber auch längerfristige Trends. Grundsätzlich wurde die Datenerhebung von der Bewertung getrennt. Beim Besuch und in den Gesprächen stand ausschließlich die Datenerhebung im Vordergrund. Erst im Nachhinein erfolgte die Beurteilung im Beobachterteam. Neben der reinen Datenerhebung haben wir in den Heimen mit vielen Heimbewohnern gesprochen und dabei auch eine Vielzahl von Einzelanliegen aufgenommen. Die Einzelfälle haben wir 67 je nach Zuständigkeit an die Unterbringungsbehörde oder die Sächsische Bildungsagentur übergeben und wir werden deren Bearbeitung nachverfolgen. Alles was wir tun, kann auch verbessert werden. Das gilt auch für unseren Ansatz. In diesem Sinne werden wir vor unserem nächsten „Heim-TÜV“ Experten einladen, um mit uns gemeinsam über Verfeinerungen unserer Methode nachzudenken. Grundsätzlich ist der „Heim-TÜV“ auch auf Gemeinschaftsunterkünfte in anderen Bundesländern übertragbar und kann durch andere Akteure benutzt werden. 2.1.3 Unsere Vorgehensweise Wir kündigten unsere Besuche mit einer sehr kurzen Vorlaufzeit von drei Tagen an, um zu verhindern, dass der Zustand der Unterkunft auf den Besuch hin verändert wurde. Das ist nicht immer gelungen. Häufig haben wir Gemeinschaftsküchen und Sanitäranlagen vorgefunden, in denen es beispielsweise sehr stark nach Reinigungsmitteln roch, oder in denen neue Duschvorhänge befestigt wurden, die noch den üblichen Plastegeruch der Verpackung und die Verpackungsfalten aufwiesen. Die Besuche selbst bestanden aus einem Vorgespräch mit den Betreibern, der Kreisbzw. Stadtverwaltung vor Ort im Heim, einer anschließenden Besichtigung der Unterkunft und vielen Gesprächen mit anwesenden Bewohnern, die uns auf unsere Bitten hin auch ihre jeweiligen Zimmer bzw. Wohneinheiten zeigten. Außerdem hatten viele Heimbetreiber entsprechend unserer Bitte den Bewohnern unsere Besuche vorher angekündigt und ihnen so ermöglicht, mit uns direkt ins Gespräch zu kommen. Im Anschluss an unsere Besuche fanden Einschätzungsgespräche mit den Teilnehmenden statt, an denen neben den Mitgliedern des Teams des Sächsischen Ausländerbeauftragten (SAB) auch die Mitarbeitenden der Landkreis-, Stadt- und Schulverwaltung teilgenommen haben. Dabei wurden die Beobachtungen durchgesprochen und, wenn notwendig, ergänzt. Die Beobachtungen waren damit immer gemeinsame, intersubjektive Ergebnisse auf einer breiten Basis. 68 Die Ergebnisse der Besuche, die Einschätzungen und unsere Anregungen für Verbesserungen wurden im Anschluss in einem Gespräch mit den zuständigen Landräten und Bürgermeistern bzw. Oberbürgermeistern erörtert. Die detaillierten Unterlagen einschließlich aller Notizen und Fotografien stehen den interessierten Landräten und Oberbürgermeistern selbstverständlich zur Einsicht zur Verfügung. 2.1.4 Die zehn Faktoren der Datenerhebung Die Unterbringung der Asylbewerber und Geduldeten haben wir anhand der folgenden zehn Faktoren beurteilt, die mit Einzelfragen untersetzt sind und die auf beobachtbare Sachverhalte zielen: 1. Unterbringung von Familien und Frauen in der Gemeinschaftsunterkunft 2. Sicherheit 3. Betreuung 4. Frauen- und Familiengerechtheit 5. Integration von Kindern 6. Bildungsangebote 7. Mitwirkungsmöglichkeiten 8. Lage und Infrastruktur 9. Zustand und Umfeld 10. Gesellschaftliche Einbindung Höchste Priorität haben für uns die angemessene Unterbringung und Behandlung von Familien, Alleinerziehenden und Frauen, die innere Sicherheit im Heim sowie die Integration von Kindern. Deshalb werden diese Faktoren in der Bewertung stärker gewichtet. Wir haben auch danach gefragt, wie hoch der Grad der dezentralen Unterbringung von Familien im Landkreis bzw. der Kreisfreien Stadt ist, dieser Faktor ist aber nicht in die Beurteilung der einzelnen Heime eingeflossen. 69 Die Gesamtbewertung der Faktoren erfolgte auf Grundlage der Bewertung der einzelnen Fragen. Nähere Details zum Bewertungsverfahren finden sich im Bericht oder auf unserer Internetseite www.offenes-sachsen.de. 2.1.5 Systemische Probleme: Gute Absichten – Ungewollte Konsequenzen Wir haben während unserer Besuche und in den vielen Gesprächen fast ausschließlich Verantwortliche getroffen, die gute Absichten hatten. Das hat damit zu tun, dass alle Verantwortlichen nicht nur die Unterbringung der Asylbewerber, sondern ihren gesamten Verantwortungsbereich im Auge haben. Sie müssen Prioritäten setzen und dafür sorgen, dass Haushalte nicht überlastet werden. Sie müssen die rechtlichen Vorgaben einhalten und die Sorgen der Bürger ernst nehmen. Jeder einzelne Heimbetreiber muss sich dafür einsetzen, dass sein Heim als Ganzes funktioniert, es bezahlbar bleibt, keine Energie verschwendet wird usw. Alles gute Absichten und immer eine Gradwanderung zwischen „… dem öffentlichen Interesse und den Belangen der Ausländer …“, wie es im Asylverfahrensgesetz heißt. Trotzdem haben wir nicht nur Gutes zu berichten, weil in komplexen Systemen gute Absichten nicht automatisch zu guten Ergebnissen führen. Deshalb suchen wir nicht nach Schuldigen, sondern fassen das gesamte System und seine Architekten ins Auge. Wir zeigen in unserem Bericht auch, dass trotz guter Absichten bei der Unterbringung von Flüchtlingen in Sachsen unbeabsichtigte Konsequenzen eintreten können und geben hier einige Beispiele. Finanzierung Der Sächsische Landtag verabschiedet den Haushalt, der die Mittel für die Unterbringung zur Verfügung stellt. Wenn in Zeiten von schwierigen Haushaltsentscheidungen die Mittel für die Unterbringung nicht gekürzt werden, dann könnte man der Meinung sein, dass wir richtig gehandelt haben. Ähnlich verfährt 70 auch eine Reihe von Landkreisverwaltungen, wenn sie die Ausgaben für Unterbringung Jahr für Jahr konstant halten. Allerdings müssen die privat betriebenen Heime bei gleichbleibenden Mitteln sehen, wie sie ihre unvermeidlichen Kostensteigerungen durch Einsparungen auf anderen Gebieten ausgleichen können. Zusätzliche menschliche Spannungen zwischen Heimleitung und Bewohnern und andere negative Effekte sind vorprogrammiert. Wo liegt hier das systemische Problem? Unterbringungskosten sind keine Fixkosten, sondern flexible und häufig auch steigende Kosten. Wir können zwar sparsam mit Energie, Wasser und Wärme umgehen, aber wir entscheiden nicht, wie hoch die Preise für Strom, Wasser und Heizung sind. Das tut der Markt. Aber wir entscheiden, dass die Versorgung mit Heizung, Wasser und Energie zu einer menschenwürdigen Unterbringung dazu gehört. Preissteigerungen können nicht zu Lasten einer menschenwürdigen Behandlung gehen. Auch die Leistungen, die Asylbewerbern und Geduldeten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zustehen, wurden seit 1993 nicht mehr angehoben, obwohl beispielsweise die Lebensmittelpreise seit dieser Zeit deutlich gestiegen sind – manche Berechnungen belaufen sich auf über 20 Prozent. Das Bundesverfassungsgericht befasst sich derzeit mit der Frage, ob die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar sind, weil bezweifelt wird, dass diese Leistungen überhaupt ein menschenwürdiges Existenzminimum sicherstellen können. Selbstverständlich muss es auch darum gehen, die vorhandenen Mittel so effizient wie möglich einzusetzen. Deshalb geht man in einigen Heimen nachahmenswerte Wege, um Heimbewohner beispielsweise zu energiesparendem Verhalten zu motivieren. Andere drehen die Heizung einfach ab. Nicht alle Landkreise und Kreisfreien Städte in Sachsen geben den Druck, der durch die realen Kostensteigerungen entsteht, unvermittelt an die Heime und vor allem die Heimbewohner weiter. Viele von ihnen setzen auf Menschlichkeit und engagieren sich trotz gleichbleibender Pauschale des Freistaates auf freiwilliger Basis mit weiteren Zuschüssen aus den eigenen Mitteln. Sie sorgen damit für Heime, die unseren eigenen Prinzipien für eine menschenwürdige Unterbringung entsprechen. 71 Unterbringung in Kasernen Das Gesetz sieht in der Regel eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften vor. Es macht keine Vorschriften zur Art der Gebäude. Wir haben eine Reihe von Unterkünften besucht, die einen Wohnhauscharakter haben und akzeptabel sind. In Kasernen und Gebäuden mit Kasernencharakter herrschen dagegen andere Dynamiken. Sie wurden ursprünglich bewusst mit der Absicht gebaut, das Durchgreifen starker (militärischer) Autorität zu begünstigen. Was geschieht heute in den Kasernen, die als Unterkünfte genutzt werden? Sie fördern die Entwicklung von selbstorganisierten Hierarchien unter den Bewohnern. Wenn jeder Mann, jede Frau und jedes Kind für jeden Gang zur Gemeinschaftstoilette oder zum Waschraum durch lange, dunkle Flure gehen muss, dann bietet sich für dominante Personen tagtäglich die Möglichkeit, auf die Bewohner sowohl physisch wie psychisch einzuwirken. Besonders problematisch kann das in der Nacht werden, wenn das Heimpersonal zwar anwesend ist, aber bei Problemen nicht schützend eingreift oder eingreifen kann. Uns sind immer wieder die Kostenvorteile dieser Unterbringungsform als Argument genannt worden – diese Vorteile halten allerdings nur dem ersten Blick stand. Heime in Kasernenform haben soziale Folgekosten, die nicht zu unterschätzen sind. Sie brauchen mehr qualifizierte Sozialarbeit als andere Heimarten, um das Entstehen repressiver Hierarchien rechtzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Das Gleiche gilt für qualifizierte Wachdienste. Dabei gilt: Je größer die Kasernenanlage, desto mehr Aufwand zur Vermeidung von Hierarchien und zur Herstellung innerer Sicherheit ist angebracht. Hygiene und Gesundheit Alle Verantwortlichen, mit denen wir gesprochen haben, wollen eine gute Hygiene in den Heimen sichergestellt wissen. Das Gleiche gilt für einen angemessenen Zugang der Bewohner zu ärztlicher Versorgung für akute Erkrankungen und Schmerzfälle, wie es auch das Gesetz vorsieht. 72 Dennoch haben wir in einer Reihe von Heimen Schimmel und Kakerlaken in fast allen Räumen vorgefunden. Vereinzelt war der Befall so stark, dass die normalerweise nachtaktiven Kakerlaken auch während unseres Besuches am helllichten Tag in den Räumen herum liefen. Besonders nachts ist die Situation in einigen Heimen unerträglich, wenn die Kakerlaken über Gesichter der Bewohner laufen und versuchen, in deren Ohren- und Nasenlöcher einzudringen. Die Gespräche ergaben natürlich, dass niemand mit solchen Situationen einverstanden war. Aber wir mussten uns auch häufig anhören, dass Betreiber und Verwaltung die Schuld allein bei den Bewohnern sehen, weil diese ihre Lebensmittel in den Zimmern aufbewahren, wo die Kakerlaken ungehindert heran könnten. Doch wie sieht die Ausstattung der Zimmer aus, in denen die Flüchtlinge wohnen? Die Kühlschränke sind oft zu klein, um alle eigenen Nahrungsmittel vollständig aufzubewahren. Wenn Küchenregale o. Ä. fehlen, müssen Geschirr und Lebensmittel auf Abstelltischen oder auf dem Fußboden offen abgelegt werden. Hier drehen sich die Schuldzuweisungen über Schädlingsbefall im Kreise und führen zu nichts. Unsere Perspektive ist anders. Wir sind der Überzeugung, dass alle für das System der Hygiene im Heim verantwortlich sind, sowohl die Heimbewohner als auch die Heimbetreiber. Ein betroffenes Heim wird nicht dadurch von Kakerlaken befreit, dass Bewohner tagsüber die frei herumlaufenden Kakerlaken einsammeln und zertreten. Zur Befreiung von Kakerlaken ist eine umfassende, mehrstündige Reinigung der gesamten Heimanlage notwendig, während derer die Heimbewohner nicht im Heim sind. Und es ist eine angemessene Ausstattung für die Aufbewahrung von Lebensmitteln und Geschirr notwendig. Sind Kakerlaken ein notwendiges Übel, dort wo Menschen auf engstem Raum zusammenleben? Viele schädlingsfreie Heime in Sachsen beweisen das Gegenteil. Auch der Umgang mit Notfällen ist von Heim zu Heim unterschiedlich. Ob Heimbewohner bei Schmerzen oder in einem Notfall rechtzeitig zum Arzt kommen, scheint auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen Heimleitung und Bewohnern zu basieren. In Heimen, in denen das Vertrauen gestört ist, hörten wir von den Bewohnern regelmäßig, dass der Zugang zum Arzt auch in Notsituationen spät oder gar nicht ermöglicht wurde. Das Heimpersonal beklagte sich dann, dass viele 73 Bewohner einfach simulieren würden. In anderen Unterkünften werden Bewohner vom Heimpersonal zum Arzt gefahren, wenn es dringend ist. Auch hier lohnt es sich, über Wege nachzudenken, wie wir das Vertrauen zwischen beiden Gruppen festigen. Das Engagement jedes Einzelnen ist gefragt, um das zu verwirklichen. Akkulturation Akkulturation bedeutet mit einer anderen Kultur vertraut zu werden. Dieser Prozess findet in den Gemeinschaftsunterkünften auf mehreren Ebenen statt. Die Flüchtlinge leben in einer extrem belastenden Situation: Sie haben ihre Heimat verlassen müssen, sind teilweise traumatisiert, kämpfen mit dramatischen Verlusten und müssen häufig auch einen gravierenden Statusverlust hinnehmen. In Deutschland und damit auch in den Heimen müssen sie dazu mit einem „Kulturschock“ zurechtkommen: Sie erleben hier eine zumeist gänzlich andere Welt, hier gelten andere Werte, neue Normen und vor allem auch eine andere Sprache, in der sie sich nicht verständigen können. Das alles führt zu einer extrem verunsichernden Situation für den Einzelnen. Häufig verstehen sie weder sprachlich, geschweige denn inhaltlich, warum für uns in Deutschland bestimmte Werte und Prinzipien wichtig sind, die in ihrer eigenen Kultur keine große Relevanz haben mögen. Nehmen wir die gleichberechtigte Bildung für Mädchen und Frauen: ein für uns absolut selbstverständlicher und wichtiger Wert, den wir auch eingehalten wissen wollen. Nur muss man ihn auch sprachlich und inhaltlich verstehen und nachvollziehen können – das ist Akkulturation. Die im Übrigen auch zwischen den Nationalitäten eine Rolle spielt. Letztlich steht auch das Personal der Gemeinschaftsunterkunft in einem Akkulturationsprozess: Es ist auch konfrontiert mit anderen Kulturen und anderen Wertvorstellungen. Bestimmte Werte, die für das Selbstverständnis von Flüchtlingen aus aller Welt bisher entscheidend waren, sind bei uns weniger wichtig. Das können wir dann nur schwer verstehen und aus Unverständnis wird schnell Empörung, warum „die“ denn nicht verstehen wollen, was uns doch so einfach erscheint. 74 Verschiedene Wertvorstellungen können zu Konflikten führen, die dann vorprogrammiert sind, wenn man diese Prozesse dem Selbstlauf überlässt. Unsere Werte und Standards zu vermitteln, bedeutet in jedem Fall mehr als eine Einweisung in die Brandschutzregeln und die Müllsortierung. Verzichtet man auf eine angemessene Begleitung dieser Prozesse, entstehen schnell Selbstorganisationsprozesse unter den Bewohnern. Es liegt nahe, dass sich die Bewohner an denen orientieren, die im Heim das Sagen haben. Man sucht Landsleute und kopiert deren Verhalten. Und selbst wenn deren Stil unsozial und dem eigenen Verhalten fremd ist, ist die Tendenz groß, dass sich „die Neuen“ dem anpassen – solange sie keine anderen Informations- und Handlungsmöglichkeiten haben. Wenn ein Neuankömmling von seinen langjährigen Heimbewohnern mit den selbst organisierten Regeln des Heimes bekannt gemacht wird und ihm gleichzeitig angedeutet wird, er brauche die deutsche Sprache nicht zu erlernen, dann passt er sich in eine bestehende Ordnung ein und verfestigt sie gleichzeitig. Die so entstehende Kultur wird von Heimbetreibern als „nachtaktiv“ bezeichnet, weil das „wirkliche“ Leben im Heim meist erst in der Nacht beginnt. Das sind eher ungewollte Auswirkungen von ausgrenzenden Systemeigenschaften. Auch eine mögliche Skepsis der alteingesessenen Bewohner gegenüber Deutschland wird der Neuankömmling, wenn er allein gelassen wird, schnell übernehmen. Denn Menschen, die einige Jahre in solchen Situationen leben, verlieren jede Neugier auf unsere Sprache und Kultur. Und ihre Heimatkultur verliert angesichts der Heimkultur ihre Konturen. Die Gefahr besteht also, dass bei unbegleiteter Akkulturation zur deutschen Kultur beide Kulturen auf der Strecke bleiben. Wer nur in einem abgeschotteten Heimlebt, kann seine eigene kulturelle Identität verlieren, ohne eine neue, nämlich die deutsche kulturelle Identität zu gewinnen. Er kann sich im kulturellen Vakuum verlieren. Dem können konstruktive Angebote der Akkulturation entgegenwirken. Der bewusst ermöglichte Zugang zu unserer Kultur und zu unserer Sprache hilft Menschen, in unserer Kultur das Positive und Lebensbejahende zu entdecken. Er hilft vor allem, unsere Werte und Regeln zu verstehen und sich damit auseinanderzusetzen. Das ist essentiell für diejenigen, die nach einigen Jahren bei uns eine 75 Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Das ist ebenso wichtig für diejenigen, die in ihre Heimat zurückkehren; denn ob wir wollen oder nicht, sie werden dort Meinungsmultiplikatoren für unser Land sein. Bildung Wir bekennen uns zu den Menschenrechten, die vorsehen, dass alle Kinder und Jugendliche ein Recht auf Bildung haben. Deshalb haben wir dementsprechende Regeln für Kinder von Asylbewerbern und Geduldeten geschaffen, damit sie unabhängig vom Aufenthaltsstatus ihrer Eltern ihren Bildungsweg bei uns fortsetzen können. Kinder ab drei Jahre haben das Recht, eine Kindertagesstätte zu besuchen, sofern Plätze vorhanden sind und die Eltern das wollen. Schulpflichtige Kinder sollen ab dem ersten Tag nach der Zuweisung in die Landkreise oder Kreisfreien Städte in die Schule gehen.11 Sachsen ist auch deshalb ein Vorreiter, weil Schüler mit Migrationshintergrund systematisch und schullaufbahnbegleitend in allen Schularten Unterricht im Fach Deutsch als Zweitsprache erhalten. Zweisprachige Kinder entwickeln ihre Sprachfähigkeiten anders als einsprachige. Dem trägt Sachsen Rechnung und fördert aktiv die vorhandene Zwei- und Mehrsprachigkeit z.B. durch den herkunftssprachlichen Unterricht. Auch junge Menschen im Alter von 18 bis 27 Jahren haben das Anrecht auf Fortsetzung ihrer Bildungslaufbahn, beispielsweise um einen Schulabschluss zu erwerben oder eine berufliche Qualifizierung zu erreichen. Auch ein Studium kann bei entsprechend mitgebrachter Qualifikation ermöglicht werden. In der Regel funktioniert diese schulische Integration vorbildlich. Nur gelegentlich trafen wir auf Kinder, die nicht eingeschult waren. Dabei handelte es sich häufig um Familien, die kurz vor der Abschiebung standen. Nicht nachvollziehbar wird die fehlende schulische Integration allerdings, wenn sich der Zustand „kurz vor der 11 Für Illegale hat der Gesetzgeber im Juli 2011 beschlossen, die öffentlichen Bildungseinrichtungen von der Pflicht auszunehmen, den Ausländerbehörden Illegale zu melden. Aus Furcht vor ihrer damit verbundenen Entdeckung hätten diese ihre Kinder nicht beschulen lassen. 76 Abschiebung“ über sechs Monate hinzieht. So lange sollte kein Kind unbeschult bleiben. Die Praxis bei der Bildungsfortsetzung für die 18 bis 27-Jährigen entspricht jedoch noch nicht überall den Zielsetzungen des Freistaates. Angebote werden oft nicht systematisch unterbreitet, und auch nicht alle Bewerber bekommen die Chance, die sie verdient hätten. Wir trafen beispielsweise auf Fälle, in denen vor der Genehmigung der Bildungsweiterführung verlangt wurde, dass die Originalzeugnisse aus dem Fluchtland vorgelegt werden. Weil das nicht in allen Fällen möglich ist, sieht es der Freistaat auch nicht ausdrücklich vor. Der Bildungsstand lässt sich auch auf andere Weise erfassen. Die theoretischen Möglichkeiten scheitern häufig auch an den örtlichen Gegebenheiten. Gerade die Bewohner in den sehr abgelegenen Gemeinschaftsunterkünften haben weniger Möglichkeiten. Um Bildungsaufwendungen nicht unnötig zu erhöhen, bietet es sich deshalb an, Bildungsmaßnahmen so zusammenzufassen, dass genügend Schüler zusammenkommen. Hier bietet die Unterbringung in Schulnähe die Lösung für sinnvolle Kostenoptimierung. Besonders schwierig ist es, wenn junge Menschen als Analphabeten oder mit nur drei bis fünf Jahren Schulbildung zu uns kommen. Um hier das Recht auf Bildung durchsetzen zu können, brauchen wir andere Wege, zum Beispiel über von der Europäischen Gemeinschaft geförderte Programme des zweiten Bildungsweges oder der Alphabetisierung. Dazu bedarf es Organisationen, die dieses Thema aufgreifen und Fördermittel einwerben. Sprache Asylbewerber und Geduldete haben keinen Anspruch auf kostenfreie Teilnahme an einem Integrationskurs. Die Absicht des Gesetzgebers ist nachvollziehbar: Nur der, der auch eine Daueraufenthaltsperspektive in Deutschland hat, der soll eine Unterstützung bei der Integration bekommen. Auch diese Absicht hat ungewollte Konsequenzen. Die Asylverfahren, die die Flüchtlinge durchlaufen müssen, ziehen 77 sich teilweise über sieben Jahre und mehr hin. Geduldeten ist eine Daueraufenthaltsperspektive verwehrt – auch sie bekommen keine Unterstützung beim Spracherwerb. Und dennoch leben diese Menschen bei und mit uns. Ihre Kinder gehen mit unseren Kindern in die Schule und lernen die deutsche Sprache. Anders als ihre Eltern, denen das aus ordnungspolitischen Gründen verwehrt bleibt. Bildungspolitisch ist das jedoch kontraproduktiv: Ohne Deutschkenntnisse haben diese Eltern wenig Möglichkeiten, ihre Kinder in der Schule zu unterstützen. Sie können ihnen weder bei den Hausaufgaben helfen noch einen tragfähigen LehrerEltern-Kontakt herstellen. Damit entsteht die Gefahr, dass die Kinder ihr Lernpotenzial nicht nutzen oder ausschöpfen, und dass sie in der Schule merklich hinterherhinken, obwohl das gar nicht nötig wäre. Außerdem kommt es in solchen Familien zu weiteren Dysfunktionalitäten. Die Kinder sind in der neuen Sprache oft schnell kompetent und treten als Übersetzer ihrer Eltern auf. Auf der einen Seite kann das leicht überfordernd werden, auf der anderen Seite bekommen sie damit mehr Macht in der Familie als ihre Eltern. Damit können Eltern nicht mehr als konstruktives Rollenvorbild für ihre Kinder wirken, und besonders junge Männer geben in der Familie den Ton an. Diese verkehrte Welt entsteht, weil Eltern der Zugang zur deutschen Sprache verwehrt bleibt. Für die, die bereits etwas Deutsch können, ist es schwer, die Kenntnisse ohne deutsche Literatur, ohne deutsche Zeitschriften in den Heimen aufrecht zu erhalten bzw. zu verbessern. Ein ehemaliger Student, der den Kriegswirren in seinem Land entflohen war, berichtete uns, dass er während seines Studiums dort auch zwei Jahre Deutsch als Nebenfach studiert hatte. Nach zwei Jahren Aufenthalt in einer abgelegenen sächsischen Gemeinschaftsunterkunft sagte er uns: „Bei mir zuhause sprach ich ein besseres Deutsch als heute. Ich holte mir Bücher aus dem GoetheInstitut. Hier habe ich keinen Zugang zu Büchern oder zu Deutsch.“ Spracherwerb sollte gerade wegen fehlender staatlicher Finanzierung unterstützt werden. Verschiedene Vereine, vereinzelt auch Lehrerinnen oder Lehrer versuchen den Heimbewohnern Deutsch auf ehrenamtlicher Basis beizubringen. Viel kann bei anfänglichen Kenntnissen der deutschen Sprache auch durch die Eigeninitiative der Bewohner verbessert werden. Dazu haben wir die Broschüre „Deutsch für alle. 99 78 Wege zur deutschen Sprache“ herausgegeben und in den Heimen, aber auch den Vereinen zur Verfügung gestellt. Demokratie leben Viele Flüchtlinge kommen aus demokratie-fernen Ländern zu uns. Demokratie ist für sie ein attraktiver Begriff, den sie aber nur aus der Theorie kennen. In der Demokratie wird der Einzelne respektiert, seine Stimme hat beim Gesamtergebnis das gleiche Gewicht wie die Perspektive jedes Anderen. Daraus ergeben sich anspruchsvolle und tragfähige Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. In einer Welt ohne Demokratie formt sich das Zusammenleben nach anderen Regeln. Die Macht des Stärkeren kann das ebenso sein wie einfache Gewohnheitsrechte. In Hierarchien, die auf dieser Basis entstehen, gelten sachliche Argumente weniger als schlagende Argumente. Solche Verhaltensmuster passen nicht zu unserer Gesellschaft. Wir erwarten von allen Bewohnern der Gemeinschaftsunterkünfte, dass sie sich an demokratische Regeln halten und dass der Einzelne respektiert wird. Demokratie erlernt man aber nur, indem man sie praktiziert. Die Gelegenheit dazu ergibt sich in zwei Situationen. Gibt es in einem Heim einen Heimbeirat, so wie das in Sachsen z. T. schon praktiziert wird, dann entsteht Mitverantwortung für das Heimleben und für die Zustände im Heim. Vandalismus ist ein Fremdwort dort, wo es einen Heimbeirat gibt. Zum Zweiten gibt es in verschiedenen Kommunen Sachsens schon Migrantenbeiräte. Sie treten für ein konstruktives Miteinander von Migranten und heimischer Bevölkerung ein. Auch Asylbewerber profitieren von einer Beteiligung, weil sie ihnen signalisiert, dass sie als Menschen akzeptiert werden. 2.1.6 Ergebnisse unserer Besuche Die folgende Tabelle zeigt die Rangliste aller 30 Heime, die im Jahre 2011 besucht worden sind. Die Rangordnung ergibt sich nach der jeweiligen Gesamtnote der Heime. Außerdem werden die Heime gezeigt, die im Jahre 2012 geschlossen werden sollen. Tabelle Gesamtbewertung 79 Rang Landkreis / Stadt Unterkunft Note / Schließung ● 1 Chemnitz Schloßchemnitz 2 0,92 2 Chemnitz Furth 0,87 3 Dresden Friedrichstadt 0,80 4 Leipzig Grünau-Süd 0,73 5 Chemnitz Schloßchemnitz 1 0,67 6 Dresden Mickten 0,37 7 Dresden Altstadt 0,37 8 Dresden Johannstadt 0,35 9 Zwickau Zwickau 0,27 10 Zwickau Werdau 0,27 11 Leipzig Schönefeld-Ost 0,23 12 Erzgebirge Aue-Alberoda 0,23 13 Mittelsachsen Striegistal 0,10 14 Vogtland Plauen 0,08 15 Dresden Hosterwitz 0,03 16 Mittelsachsen Döbeln -0,14 17 Erzbgebirge Venusberg -0,17 18 Mittelsachsen Freiberg -0,19 ● 19 Erzgebirge Schneeberg -0,23 ● 20 Görlitz Niesky -0,25 21 Meißen Weinböhla -0,27 22 Landkreis Leipzig Bahren -0,37 23 Nordsachsen Delitzsch -0,47 24 Landkreis Leipzig Hopfgarten -0,48 80 25 Bautzen Kamenz -0,50 ● 26 Meißen Radebeul -0,50 27 Bautzen Seeligstadt -0,51 ● 28 Landkreis Leipzig Thräna -0,51 29 Landkreis Leipzig Elbisbach -0,54 30 Nordsachsen Torgau -0,60 ● Sächs. Schweiz-Osterzgebirge 10 Langburkersdorf Zusätzlich zeigen wir im Bericht die detaillierten Bewertungen aller Gemeinschaftsunterkünfte in Form einer in der Wirtschaft üblichen „Balanced Scorecard“, die auf den ersten Blick zeigt, wo Veränderungen angesagt sind. Außerdem wird für jedes einzelne Heim aufgezeigt, welche guten Ansätze bereits praktiziert werden und mit welchen Schritten die Situation verbessert werden könnte. Verbesserungen zwischen der ersten und zweiten Runde des „Heim-TÜVs“ Wir sind der Überzeugung, dass Transparenz und ein verantwortungsvoller Umgang mit der Information der Öffentlichkeit bein wichtigen Themen die Einhaltung von Werten, Prinzipien und Regeln erhöht. Die Ergebnisse unserer Besuche haben uns in dieser Überzeugung bestärkt. Im Vergleich zur ersten Runde des „Heim-TÜVs“ 2010 haben sich sieben Heime in der Gesamteinstufung von Rot auf Gelb verbessert. Vor allem bei der dezentralen Unterbringung lassen sich in einigen Landkreisen deutliche Verbesserungen erkennen. Familien werden verstärkt dezentral untergebracht, so dass wir davon ausgehen können, dass der Prozentsatz der dezentral Untergebrachten in ganz Sachsen gestiegen ist. Weitere Verbesserungen lassen sich bei der Einbindung der Bewohner in die Gesellschaft erkennen. Vereine kommen jetzt vereinzelt auch in relativ weit abgelegene Heime. Nur wenige Heime verweigern gemeinnützigen Vereinen noch den Zutritt. Auch gibt es Verbesserungen im Angebot von gelegentlichen Sprachkursen und sozialer Betreuung. Ebenso haben sich Heime im Allgemeinen 81 darin verbessert, dass zumindest einige wenige Bewohner die Möglichkeit zur Wahrnehmung von Arbeitsgelegenheiten erhalten. Das ist ein erfreulicher Anfang und wir erwarten für die Zukunft, dass solche Arbeitsgelegenheiten vermehrt angeboten werden. Mittlerweile haben sich außer einem alle Landkreise für die Bargeldzahlung entschieden. Ein Landkreis hat 2011 von der Magazinverpflegung auf ein Gutscheinsystem gewechselt. Das ist begrüßenswert. Positive Entwicklungen nach der zweiten Besuchsrunde Nach unseren Nachfolgegesprächen in den Landkreisen und Kreisfreien Städten wurde schon eine Reihe von ersten konkreten Maßnahmen eingeleitet. Die Schließung von fünf ehemals rot bewerteten Heimen in Sachsen steht an: Kamenz, Schneeberg, Seeligstadt, Torgau und Freiberg. Diese Schließungen haben in der Folge in einigen Landkreisen zu weiteren positiven Entwicklungen geführt. Beispielsweise wurden unsere Anregungen im Landkreis Nordsachsen zum Anlass genommen, mit ansässigen Trägern der Wohlfahrtsverbände ins Gespräch zu kommen, um mehr soziale Betreuung anzubieten. Der Landkreis unterbreitet jetzt außerdem gezielte Angebote für besondere Bildungsberatungen für 18- bis 27-Jährige und richtete eine entsprechende Klasse im Beruflichen Schulzentrum ein. Ebenfalls wurde durch die Ausländerbehörde ein aufsuchender Dienst für zentral und dezentral untergebrachte Asylbewerber und Geduldete eingerichtet. Schließlich werden im Heim Delitzsch Angebote für Deutschkurse gemacht. In vielen Landkreisen nahmen wir Gespräche mit der Sächsischen Bildungsagentur auf, um den jungen Erwachsenen Angebote für die Weiterführung ihrer Bildung zu machen. Ein Landkreis ist bereit, geeignete Asylbewerber und Geduldete in einer Gemeinschaftsunterkunft zu diesem Zweck zusammenzuführen. In einem Landkreis wurde inzwischen eine Stelle für eine hauptamtliche kommunale Ausländerbeauftragte entsprechend unserer Empfehlungen eingerichtet, in einem anderen Landkreis wurde eine solche Stelle angekündigt. 82 Auch unsere Empfehlungen zur Einrichtung von Heimbeiräten werden in einigen Gemeinschaftsunterkünften erörtert. In einigen von Kommunen betriebenen Heimen wird bereits an einem Konzept für soziale Betreuung gearbeitet. Darüber hinaus wurde in Zusammenarbeit mit einer Kreisvolkshochschule an einer Erstellung eines Konzepts für einen Deutschkurs in Form eines Alphabetisierungskurses gearbeitet. Einem im Hygienebereich festgestellten Schädlingsbefall wurde mit unangemeldeten Besuchen durch das Gesundheitsamt nachgegangen. Auch die von uns vorgetragenen Einzelfälle wurden größtenteils sofort von den Zuständigen bearbeitet. In einigen Landkreisen sucht man aufgrund von Schließungen oder aufgrund der leicht zunehmenden Zahlen an Flüchtlingen neue Gebäude und Unterbringungsmöglichkeiten. Wir hoffen, dass unsere Anregungen zur dezentralen Unterbringung weiter nachgegangen wird und Gebäude von 50 – 100 Bewohnern als Gemeinschaftsunterkünfte bevorzugt werden. Die vielen positiven Reaktionen sind ermutigend. Sie zeigen, dass die sächsische Verwaltung offen ist für angemessene Verbesserungen, die die Lebensumstände der Heimbewohner fördern. Offen miteinander zu sprechen erhöht die Wahrscheinlichkeit für Verbesserungen. Wir gehen davon aus, dass sich die Heime konsequent vom roten Bereich weg und hin zum grünen Bereich entwickeln werden. 2.1.7 Systemische Lösungen für eine menschenwürdigere Unterbringung Wir sind es gewohnt, bei Missständen schnell nach einem Schuldigen zu suchen, um ihm die alleinige Schuld zuzuweisen. Dann sind alle anderen „fein heraus“ – und das System wird nicht verbessert, sondern höchstens verschlimmbessert. Doch es gibt keine Schuldigen. Es gibt nur Mitverantwortliche. Bei systemischen Problemen tragen alle einen Teil der Verantwortung. Um erkennbar unakzeptable Situationen zu verbessern, müssen die Regeln des Systems erkennbar verbessert werden. Glücklicherweise sind wir nicht nur Teilnehmer im System. Wir sind auch seine Architekten. Wir können das System und seine Regeln so verändern, dass wir damit die Ergebnisse erreichen, die im langfristigen Interesse aller sind. 83 Aus dieser Perspektive heraus haben wir in unserem Bericht die Sächsische Staatsregierung gebeten, die folgenden 20 Anregungen zu erörtern und ggf. umzusetzen bzw. deren Umsetzung zu unterstützen. Die Mehrheit unserer Anregungen ergibt sich aus den „Best Practices“ der Heime. Die Unterbringung von Asylbewerbern und Geduldeten sollte in die Verantwortungsbereiche des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Verbraucherschutz und der zuständigen Sozialbehörden der Landkreise bzw. Kreisfreien Städten übertragen werden. Eine angemessene Finanzierung der Unterbringung ist die Grundlage für ein menschenwürdiges Heimleben. Konsequent den Weg der dezentralen Unterbringung von Familien, Alleinerziehenden und Anderen aus humanitären Gründen weitergehen. Asylbewerber und Geduldete sollten dort untergebracht werden, wo sie ihre mitgebrachte Bildung weiterführen können. In jedem Heim sollte qualifizierte Sozialarbeit sichergestellt werden, um damit pro-soziales Verhalten zu fördern und notwendige Unterstützung zu leisten. Dabei sollte eine Vollzeitstelle pro 100 Bewohner zur Verfügung gestellt werden. Adäquate Sicherheit in allen Heimen gewährleisten. Vorsorgeuntersuchungen auf ansteckende Krankheiten sowie Betreuung von Müttern mit Kleinkindern sicherstellen. Gesundheitsgefährdender Schimmel und Ungeziefer sind ernst zu nehmen und sollten, sobald sie entdeckt sind, effektiv beseitigt werden. Soziale Inklusionsrechte und –pflichten sichtbar machen und Asylbewerbern und Geduldeten darin Orientierung geben. Deutscherwerb für alle ermöglichen. In jedem Heim einen Leseraum mit deutschen Büchern und Zeitschriften einrichten und führen. 84 Alphabetisierungskurse und Wege zum zweiten Bildungsweg für gering Beschulte einrichten. Individuelle Mobilität mit gespendeten Fahrrädern erhöhen. Arbeitsgelegenheiten mit Vergütung nach § 5 AsylbLG für verschiedene Tätigkeiten im Heim schaffen und unterstützen. Demokratie erlernen durch Einbindung in Heim und Gesellschaft. Gemeinnützigen Vereinen Zugang zu allen Heimen gewähren, um die gesellschaftliche Inklusion der Heimbewohner zu fördern. Jährliche Tage der offenen Tür in allen Asylbewerberheimen einrichten. Ermutigung zur Einrichtung von Gemeinschaftsunterkünften in Wohnhäusern mit einer Belegung zwischen 50 und 100 Bewohnern. Das Heimleben ist zur Dauerunterbringung ungeeignet. Bringen wir Menschen aus humanitären Gründen dezentral unter, wenn erkennbar wird, dass sie an den Konsequenzen des Heimlebens menschlich zu zerbrechen drohen. Für eine mitmenschlichere Asylpolitik auf Bundesebene: Deutsche Verfahren verkürzen, beschleunigende internationale Rückführungsabkommen vereinbaren und ab 12 Monaten bis zur Abreise einen neuen Warte-Titel mit Arbeitsberechtigung und Deutschkursen gewähren. Das System den Menschen anpassen – und nicht umgekehrt Best Practices Es gibt in sächsischen Gemeinschaftsunterkünften eine Reihe von positiven Ansätzen, die Vorbild sein können. Wir stellen hier einige davon vor: Heimbeiräte: Eigenverantwortung und Mitwirkung möglich machen Viele Flüchtlinge kommen aus Regionen, die keine Demokratie kennen. Sie sollen aber unsere Demokratie kennen- und respektieren lernen. Ganz konkret geht das in 85 Heimbeiräten, die bei Entscheidungen über das tägliche Leben in den Gemeinschaftsunterkünften mitwirken. Demokratie lernt man, indem man sie praktiziert. Heimbeiräte erlauben das. In einer kleineren sächsischen Gemeinschaftsunterkunft wird dieses Modell sehr erfolgreich angewandt. Mehrere gewählte Heimbewohnerinnen und –bewohner arbeiten zusammen in einem Heimbeirat. Der sorgt hausintern für Sauberkeit und Sicherheit und gestaltet das Zusammenleben konstruktiv. Der für das Heim zuständige Sozialarbeiter ist ebenfalls Mitglied im Heimbeirat. Das Heimleben profitiert, indem sich die Bewohner mit verantwortlich fühlen. Und unsere Gesellschaft profitiert durch Mitbewohner, die unsere demokratische Ordnung kennen und nach ihr leben. Beschäftigungsmöglichkeiten nach Asylbewerberleistungsgesetz schaffen Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht vor, dass in den Gemeinschaftsunterkünften Arbeitsgelegenheiten zur Aufrechterhaltung und Betreibung der Einrichtung zur Verfügung gestellt werden sollen. Außerdem sollen soweit wie möglich Arbeitsgelegenheiten bei staatlichen, kommunalen und gemeinnützigen Trägern angeboten werden. Dafür erhalten die Asylsuchenden eine Aufwandsentschädigung von 1,05 Euro in der Stunde. Bewohner können sich über solche Arbeitsgelegenheiten für die Gemeinschaft engagieren. Eine Vielzahl von Unterkünften bietet diese Möglichkeiten bereits an und hat positive Erfahrungen damit gemacht. Sie fördern ein konstruktives Zusammenleben und bieten, da viele Asylsuchende nicht regulär arbeiten dürfen, eine sinnvolle Beschäftigung. Auf qualifizierte Heimleiter setzen Heimleiter haben nicht nur Verwaltungsaufgaben und sind für Ordnung und Sicherheit zuständig. Sie sind auch wichtige Kontaktpersonen für die Bewohner und haben damit eine wichtige soziale Rolle in der Gemeinschaftsunterkunft. Ihre 86 Sozialkompetenz und ihre Haltung gegenüber den Bewohnern sind entscheidend für das Klima in der Unterkunft. Einige Kommunen und Kreise setzen deshalb auf speziell ausgebildete oder besonders qualifizierte Heimleiter, die über interkulturelle und/oder sozialpädagogische oder ähnliche Fachkompetenz verfügen. Sozialarbeiter mit Migrationshintergrund einstellen Qualifizierte Sozialarbeiter mit Migrationshintergrund können mit ihren Sprach- und Kulturkenntnisse zu einem konstruktiven Leben in der Gemeinschaftsunterkunft beitragen. Sie helfen Brücken zu bauen – sowohl zwischen den Bewohnern und der Heimleitung, als auch zwischen verschiedenen Ethnien in der Unterkunft. Der uns bekannte Sozialarbeiter einer sächsischen Unterkunft ist selber als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Aus dieser Erfahrung schöpft er eine besonders hohe Konfliktkompetenz, kann Missverständnisse abbauen, Konflikte bereits im Entstehen entschärfen. Er genießt viel Vertrauen und eine hohe Achtung bei den Bewohnern. Spracherwerb für Asylsuchende unterstützen Asylsuchende haben keinen Zugang zu staatlich geförderten Integrations- und damit Deutschkursen. Trotzdem setzen einige Kommunen, Landkreise und Heimbetreiber darauf, Asylsuchende beim Erlernen der deutschen Sprache zu unterstützen. Hier gibt es mehrere mögliche Wege: Sie kooperieren mit Vereinen und Initiativen, die dann kostenlosen Deutschunterricht in der Unterkunft anbieten können. Teilweise gibt es auch Kooperationen mit Privatpersonen, die in die Heime kommen und Deutschkurse geben. In einer Stadt werden sehr preisgünstige Sprachkurse für Asylsuchende von der Volkshochschule angeboten. Bildung möglich machen 18- bis 27jährige Asylsuchende haben ein Recht darauf, ihre mitgebrachte Bildung fortzusetzen. Ihnen steht eine „Besondere Bildungsberatung“ zu und sie können zur 87 weiteren Ausbildung in Berufliche Schulzentren vermittelt werden. Für die Bildungsberatung ist der Koordinator für Migration in der jeweiligen Regionalstelle der Sächsischen Bildungsagentur zuständig. Damit Asylsuchende dieses Recht auch wahrnehmen können, brauchen sie entsprechende Informationen. Hier sind die Regionalstellen der Sächsischen Bildungsagentur gefragt. Ein Landkreis hat 2011 mit den jungen Bewohnern einer Gemeinschaftsunterkunft eine Klasse in einem Beruflichen Schulzentrum einrichten können. Um ihr Recht auf Bildung in Anspruch nehmen zu können, brauchen die Schüler Unterstützung für die Wege in das Schulzentrum. Deshalb unterstützen einige Landkreise und Kommunen die Ausbildung, indem sie die Beförderungskosten zum Schulzentrum übernehmen oder ermäßigte Zeitkarten o.ä. zur Verfügung stellen. Eigenständige Mobilität unterstützen Mobilität kostet Geld – das gilt gerade für die abgelegenen Gemeinschaftsunterkünfte. Bei einem Taschengeld von 40 Euro im Monat kann sich kaum einer Fahrten mit dem öffentlichen Nahverkehr leisten. Wege müssen trotzdem erledigt werden: Sei es zur Ausländerbehörde, in die Beruflichen Schulzentren, zum Arzt, zum Einkaufen oder in die Beratungsstellen oder Vereine. Ein eigenes Fahrrad bekommt unter diesen Bedingungen einen hohen Stellenwert. Hier gibt es in Sachsen immer wieder einzelne Spendenaktionen, bei denen Asylsuchenden gebrauchte Fahrräder zur Verfügung gestellt werden. Diese Möglichkeit sollte in allen Regionen genutzt werden. Asylsuchende gesellschaftlich einbinden Es gibt in Sachsen Gemeinschaftsunterkünfte, zu denen haben weder Vereine, noch Beratungsstellen der Freien Wohlfahrtspflege noch Menschen aus der Nachbarschaft, die vielleicht ehrenamtlich helfen wollen, Zutritt. Aber auch Asylsuchende haben soziale Inklusionsrechte. Völlige Isolation ist nicht nur 88 menschenunwürdig, sie verschärft auch die Spannungen im Heim und mit der Umgebung. Eine Reihe von Landkreisen und Kommunen setzt auf die Zusammenarbeit mit Vereinen und Nachbarschaftsinitiativen. Dabei entstehen Kontakte, die dazu beitragen können Unkenntnis, Misstrauen und Vorurteile abzubauen. Gemeinsame Sommerfeste mit der Nachbarschaft oder regelmäßige Tage der offenen Tür in einer sächsischen Gemeinschaftsunterkunft sind gute Beispiele, wie ein konstruktives Miteinander im Quartier gestaltet werden kann. Auch Sportvereine gehen zum Teil gezielt auf Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften zu und werben um ihre Mitgliedschaft im Verein. Um diese Angebote der Einbindung nicht nur gelegentlich aufzugreifen, sondern um sie auf eine langfristige Basis zu stellen, bedarf es allerdings meist einer Sozialarbeiterin, die als interkulturelle Mittlerin zwischen der Welt, aus der die Asylsuchenden stammen, und der Wirklichkeit vor Ort in unseren Vereinen vermitteln. Ein Heim in Chemnitz praktiziert das erfolgreich. Ein Verein im Leipziger Land, Bon Courage e.V. aus Borna, übernimmt diese Vermittlung selbständig und hat für sein Engagement auf diesem Feld 2011 den Sächsischen Integrationspreis gewonnen. Freiwilliges Engagement der Asylsuchenden ermöglichen Asylsuchende dürfen in den meisten Fällen nicht arbeiten. Viele von ihnen wollen sich trotzdem konstruktiv in unsere Gesellschaft einbringen. Auch hier gibt es in Sachsen gute Ansätze, wie Asylsuchenden ein freiwilliges Engagement für die Gesellschaft ermöglicht werden kann. Beispielsweise vermitteln in einer Stadt ehrenamtliche Kulturvermittler in den Gemeinschaftsunterkünften den Kontakt zu einer Freiwilligenagentur. Über diese Agentur werden auch Asylsuchende in ehrenamtliche Tätigkeiten vermittelt. In einem Landkreis wird gerade über den Lokalen Aktionsplan das Förderprojekt „Integration im ehrenamtlichen Rettungswesen“ initiiert und evaluiert. Nach Abschluss der Evaluation können auch Asylsuchende daran teilnehmen. 89 Systeme können negative Auswirkungen haben, obwohl ihre Architekten und Betreiber gute Absichten hatten und immer noch haben. So auch das System der Unterbringung der Asylbewerber, wo die Prinzipien der Würde, der Mitmenschlichkeit und der Menschenrechte auf die ordnungspolitischen Absichten der Vergrämung von Asylbewerbern stoßen. Da die Auswirkungen der Systementscheidungen den Entscheidungsträgern an der Spitze oft nicht klar sind, haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, diese Auswirkungen sichtbar zu machen. Aufgrund dieser Daten wird es möglich, das System entsprechend anzupassen, damit das System so funktioniert, wie es unseren Werten und unserem Grundgesetz entspricht. Wir werden auch in den kommenden Jahren an diesem Thema dranbleiben und haben uns vorgenommen, alle bisher roten, alle neuen Heime sowie darüber hinaus stichprobenartig weitere Heime zu besuchen. Wir stehen als Ansprechpartner für die Unterbringungsbehörden zur Verfügung. Wir werden Vereine unterstützen, die in die Unterkünfte gehen und wir werden Workshops zur Methodik des „Heim-TÜVs“ veranstalten. Außerdem werden wir den Austausch zu den in Sachsen praktizierten guten Ansätzen fördern. Wir unterstützen den Deutscherwerb für alle mit unserer Broschüre „Deutsch für alle – 99 Wege zur deutschen Sprache“. Alle Menschen, die bei uns leben, sind unsere Mitmenschen. Manche bleiben langfristig bei uns, andere sind sozusagen Mitmenschen auf Zeit. In jedem Fall sind sie unsere Mitmenschen. Unser menschenwürdiger und respektvoller Umgang mit den Flüchtlingen heute wird wesentlich dazu beitragen, dass wir zu einer Gesellschaft werden, die Menschen aus aller Welt gern zu ihrer permanenten Heimat machen. 2.2 Härtefallkommission Der Ausländerbeauftragte ist zugleich Vorsitzender der Sächsischen Härtefallkommission.12 Dieses Gremium wurde 2005 auf Grundlage des Zuwanderungsgesetzes gebildet und ist eine wichtige Ergänzung zum Ausländerrecht; denn es berücksichtigt individuelle Notlagen, die vom Gesetz nicht 12 Die Mitglieder der Härtefallkommission finden Sie in der Dokumentation zum Bericht 90 unmittelbar erfasst sind. Hier gilt das Prinzip: zuerst die Menschlichkeit, dann die Regeln. Die Sächsische Härtefallkommission behandelt Fälle, die ein Mitglied des Gremiums einbringt. Ausländer, die ihren Fall vor die Härtefallkommission bringen wollen, wenden sich zunächst an eines der Kommissionsmitglieder und versuchen, es für ihren Fall zu gewinnen und diesen in die Härtefallkommission einzubringen. Dabei können sie sich von Vertrauenspersonen begleiten lassen. Als unmittelbarer Vorteil gilt, dass mit der Antragstellung ein Abschiebestopp für die Dauer des Verfahrens verbunden ist. Die Kommissionsmitglieder beurteilen gemeinsam, ob humanitäre oder persönliche Gründe vorliegen, die eine Ausreise aus Deutschland zu einer besonderen Härte machen würden und eine Aufenthaltserlaubnis erwirkt werden kann. Die Integrationsprognose zählt Dabei achtet die Kommission vor allem darauf, wie gut sich die Familien oder Einzelpersonen in unsere Gesellschaft integriert haben und wie weit sie in der Lage sind, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Stellt die Härtefallkommission mit der Mehrheit von zwei Dritteln ihrer Mitglieder derartige Gründe fest, ersucht der Vorsitzende der Härtefallkommission den Sächsischen Staatsminister des Innern eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Es ist dann der Innenminister, der sich entscheidet, ob er sich der Empfehlung der Härtefallkommission anschließen möchte oder nicht. Die Menschen, die sich an die Härtefallkommission wenden, sind häufig im Durchschnitt seit zehn Jahren hier und lediglich geduldet. Seit 2005 haben 280 Personen auf diesem Wege einen Aufenthaltstitel erhalten. Jahresweise Übersicht (bearbeitete Fälle/ davon betroffene Personen): 2005/6 2007 2008 2009 2010 2011 Befassung 43/120 11/26 16/49 20/61 20/77 26/63 91 Härtefallersuchen 25/90 9/23 15/37 15/44 17/61 21/51 21/80 9/19 Aufenthaltserlaubnis bewilligt nach § 23a AufenthG 9/19 7/35 20/59 20/68 Neues Recht für integrierte Jugendliche und Heranwachsende Mittelpunkt zahlreicher Verfahren vor der Härtefallkommission war bisher das Schicksal der in Sachsen aufgewachsenen integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden, die perfekt in Schule, Verein und Nachbarschaft integriert waren, aber das Leben und die Schriftsprache im Herkunftsland der Eltern nicht kannten. Seit 01.07.2011 gilt nun eine eigene Rechtsgrundlage für den Aufenthalt der jungen Migranten, die mehr als sechs Jahre in Deutschland gelebt haben. Nach diesem § 25 a Aufenthaltsgesetz (siehe Dokumentation S.) erhalten diese jungen Menschen und unter weiteren Voraussetzungen - wie der Sicherung des Lebensunterhaltes - auch die gesamte Familie einen Aufenthaltstitel. Prinzipiell geht diese Regelung dem Verfahren vor der Härtefallkommission vor. Damit sind die Anliegen, die vor die Kommission gebracht werden, nicht mehr dominiert von den Jugendlichen und Heranwachsenden der Familie. Die Praxis der Härtefallkommission wird zeigen, inwieweit diese Konkurrenzsituation auch das Grundrecht der Familieneinheit von Eltern und minderjährigen Kindern berücksichtigt und schützt. Neue Mitglieder Mit Wirkung zum 03.11.2011 wurden die Mitglieder der Härtefallkommission wieder neu für die zweijährige Amtszeit ernannt. Den Sächsischen Flüchtlingsrat vertritt nun Ali Moradi, der Johanna Stoll nach ihrer vieljährigen Mitgliedschaft ersetzt. Bei ihrem Übergang wurde die langjährige engagierte Arbeit von Frau Stoll von allen Beteiligten ausdrücklich gewürdigt. 92 Martin Gillo und Klaus Schurig wurden 2011 in ihrer Rolle als Kommissionsvorsitzender bzw. stellvertretender Vorsitzender für eine weitere Amtszeit von zwei Jahren gewählt. 2.3 Menschlichkeit möglich machen Manche Lösungen brauchen etwas länger. Im letzten Jahresbericht schrieb ich über Daniel aus der Ukraine. Der Name wurde geändert, um die Privatsphäre zu respektieren. Wir erinnern uns: Daniel überlebte wie durch ein Wunder ein deutsches Ghetto in der Ukraine. Als jüdischer Junge sollte er nach dem Willen der Nazis ermordet werden. Glücklicherweise konnte er fliehen und überleben. Er heiratete, blieb aber ohne Kinder. In den 90er Jahren bot die Bundesregierung allen Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die von den Nazis verfolgt waren, die Einwanderung nach Deutschland an. Viele kamen und leben hier glücklich. Daniel schaffte es nicht in der vorgeschriebenen Frist, weil er schwer lungenkrank war und nicht reisen konnte. Wieder wie durch ein Wunder ging es ihm in den letzten Jahren gut genug, um von einer Übersiedlung nach Deutschland zu träumen. Und so stellten Daniel und seine Frau den Antrag zur Einreise. Zu spät, sagten unsere Behörden. Auch der Krankheitsgrund wollte die Verwaltung nicht akzeptieren. So wanten sich Daniels Freunde, die mittlerweile in Dresden wohnen, per Petition an den Sächsischen Landtag. Der bat mich um Stellungnahme. Der Weg bis zur Erlaubnis der Einreise nahm 18 Monate in Anspruch. Entlang dieser Strecke gab es viele Helfer: Die Oberbürgermeisterin der Stadt Dresden, Helma Orosz, die Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, Maria Böhmer, Gerhard Ehninger vom Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden und der Sächsische Innenminister Markus Ulbig: Sie alle unterstützten diesen Weg. Aber selbst danach warteten noch einige Hürden in Berlin. Verschiedene Zuständigkeiten verschiedener Ministerien boten verschiedene Anlässe, das Anliegen wieder und wieder zu prüfen. Den gordischen Knoten durchschlug letztendlich das Bundeskanzleramt selbst. 93 Im Herbst kamen Daniel und seine Frau nach 36-stündiger Fahrt mit dem Bus aus Kiew erschöpft, aber glücklich in Dresden-Neustadt an. Für mich war das ein Moment mit historischer Symbolik: Vom Bahnhof Neustadt aus begannen vor fast 70 Jahren die Deportationen der Dresdner Juden in die polnischen Konzentrationslager, wo der Tod auf sie wartete. Jetzt kamen Daniel und seine Frau mit ihren drei Koffern wohlbehalten an genau diesem Bahnhof in ihrer neuen Heimat an, wo ihre Freunde strahlend auf sie warteten. Und die Moral von der Geschichte? 2.4 Die menschliche Tragödie des Kamal K. in Leipzig Die Meldung der Polizei ist kurz: In einem Park vor dem Leipziger Hauptbahnhof wurde an einem Samstagabend gegen ein Uhr nachts der neunzehnjährige Kamal K. getötet. Schnell geht man von einer Affäre in der Drogenszene aus. Schurken unter sich. Fall abgehakt. Ich werde von Dresdner Freunden der Familie gebeten, mit ihnen zur Familie nach Leipzig zu fahren, um mit ihnen zu trauern und sie zu unterstützen. Ich sage zu, und wir fahren hin. Die Familie steht unter großem Schock, schildert mir aber die Geschichte aus ihrer Perspektive. Kamal K. kam mit seiner Mutter vor Jahren als Flüchtling nach Deutschland. Er war wie seine Mutter koptischer Christ und trat als 16-Jähriger der evangelischen Kirche bei. Seine beiden Brüder sind Muslime, weil der Vater auch Muslim war. Die Familie 94 lebt ein ganz selbstverständliches, friedliches Miteinander von Christentum und Islam. Ich lerne an diesem Abend auch Kamals Freundin kennen, eine junge Deutsche. Sie erzählt mir, dass sie von einer Diskothek auf dem Wege nach Hause zu einer der Plattenbauten am Leipziger Hauptbahnhof gewesen seien. Als sie und Kamal durch den Park gingen, beobachten sie, wie zwei Männer einen Jugendlichen bedrohen. Um zu helfen, geht Kamal auf die beiden Attackierer zu und fragt: „Gibt es hier ein Problem?“ Die antworten: „Ja, es gibt ein Problem“, ziehen ein Pfefferspray aus der Jacke und spritzen ihm damit in die Augen. Er kann nichts mehr sehen und kann sich nicht wehren. Die beiden schlagen ihn zusammen, bis er auf dem Boden liegt. Einer zieht ein Messer, sticht ihm gezielt in den Bauch und verletzt ihn damit so schwer, dass er am folgenden Tag stirbt. Ein Schock für die Familie. Die Mutter bricht zusammen, ihr Mann erleidet einen Kreislaufkollaps. Man ruft den Rettungswagen. Der kommt sofort, wartet aber zehn Minuten vor dem Haus, bis ein Streifenwagen eintrifft. Erst dann gehen sie zur Wohnung, um zu helfen. Die Familie kann es nicht verstehen. Sie sind doch die Opfer, nicht die Verdächtigen. Oder? Einer der beiden Täter hat während des Überfalls sein Handy verloren. 20 Minuten nach der Tat kommen sie zurück an den Ort des Geschehens, um danach zu suchen. Die Freundin, die gerade mit der Polizei spricht, kann die Täter identifizieren und sie werden festgenommen. Die Schilderung der Familie und der Augenzeugin liefern ein völlig anderes Bild als es die Polizeimeldung tut. Das zeigt uns: Unsere Wahrnehmung bestimmt unser Handeln. Wer denkt, dass es sich um einen unglücklich ausgegangenen Streit in der Drogenszene handelt, der sucht nicht weiter nach Motiven und gibt sich vielleicht mit schwerer Körperverletzung zufrieden. Wer die Tat nicht gleich in ein Schema ordnet, der macht sich die Mühe, nach den wahren Motiven zu suchen. Bei unvoreingenommener Sicht wird sehr schnell die Möglichkeit eines rassistischen Motivs deutlich: Der Haupttäter stammt aus der Naziszene. Sein Körper ist übersät mit verbotenen Naziparolen und sogar einem Bild von Adolf H. Von den vergangenen 15 Jahren hat er 14 Jahre wegen schwerer Körperverletzung und ähnlichen 95 Gewalttaten im Gefängnis gesessen. Er war gerade eine Woche vorher aus dem Gefängnis entlassen worden. Der Mittäter stammt auch aus der Naziszene – mit entsprechenden Tätowierungen. Beide schweigen sich der Polizei gegenüber aus. Wie erreichen wir Gerechtigkeit in diesem tragischen Fall? Ich habe der Familie geglaubt und mich auch öffentlich dafür eingesetzt, dass der Fall in alle Richtungen untersucht wurde. Dass man anfangs „nur“ von Körperverletzung mit Todesfolge ausgeht, schockiert die Familie ein weiteres Mal. Doch ihr wird auch angeboten, das Recht auf einen Nebenkläger wahrzunehmen. Dazu ermutige ich sie ausdrücklich. Bei der Eröffnung der Gerichtsverhandlung plädiert die Staatsanwaltschaft auf Totschlag. Der Nebenkläger geht weiter. Mit einer langen Argumentation zeigt er auf, dass hier eine Anklage wegen Mordes angebracht ist. Der Vorsitzende Richter meldet gleichzeitig die Möglichkeit der Sicherungsverwahrung an. Am Tag der Urteilsverkündigung wird es sehr spannend; denn das Urteil wird nicht wie angekündigt um 9.00 Uhr, sondern erst um 15.30 Uhr verkündet. Ein Journalist erzählt mir in der Wartezeit, dass die Staatsanwaltschaft in Pressehintergrundgesprächen versuchte zu begründen, warum hier nur auf Totschlag plädiert werden konnte. Das Gericht sieht es anders und verurteilt den Haupttäter wegen Mordes zu 15 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Der Mittäter wird wegen gefährlicher Körperverletzung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Das Gericht hatte sich die Mühe gemacht, den Tag der Tat minutiös nachzuvollziehen, auch aufgrund der Teilaussage des Mittäters. Der Haupttäter kam auf Besuch zum Mittäter nach Leipzig. Beide wollten an dem Abend „was lostreten“. Mit einem „Kampftrinken“ tranken sie sich die letzten Hemmungen weg. Sie wurden von Sicherheitskräften aus einem Lokal geworfen, weil sie Gäste anpöbelten. Später fuhren sie gezielt zum Park vor dem Bahnhof, wo sie hofften, entweder auf Linke oder auf Ausländer zu treffen, um die fertig zu machen. Es gab keinen anderen Grund für sie, dorthin zu fahren. Erst hatten sie sich den 16-Jährigen vorgenommen. Als Kamal dazwischen trat, um zu schlichten, wurde er das Opfer. Ich denke, den Richtern gebührt unsere Hochachtung. Sie haben ihre eigenen Nachforschungen angestellt, um Licht in die Umstände des Verbrechens zu bringen. Sie gingen im Urteil über die Empfehlungen der Staatsanwaltschaft hinaus. Chapeau! Das Urteil signalisiert uns: Vor dem Gesetz sind alle gleich – und zwar 96 unabhängig von ihrer Herkunft. Vorverdächtigungen und Ungleichbehandlungen sind unvereinbar mit unseren demokratischen Grundwerten. Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Landgerichts Leipzig bestätigt und die Revision des Angeklagten als unbegründet verworfen. Für die Familie und Freunde Kamals ist das klare Urteil hoffentlich eine Erleichterung. Die erste Polizeimeldung drohte, Kamals Ehre zu nehmen, indem sie ihm eine Mitschuld unterstellte. Das eindeutige Urteil macht Kamal nicht wieder lebendig, aber es hat ihm seine Ehre wiedergegeben. Wenn Menschen einem solch ungeheuerlichen Verbrechen zum Opfer fallen, dann sollten wir ihren Familien und Freunden menschlich zur Seite stehen. Hier möchte ich der Opferberatung RAA in Leipzig danken. Sie standen der Familie in den langen Monaten zur Seite und sie tun es noch. Der Schmerz über den Verlust allerdings, der bleibt. Kamal hat ein schönes Grab auf dem evangelischen Friedhof. Seine Mutter sitzt dort oft auf einer Bank, denkt an ihn, spricht mit ihm. So wie wir das auch täten. Kamals Familie ist, bei allen Unterschieden, eine von uns. Unsere Mitmenschen eben. Das sollten wir ihnen zeigen. 97 3 Gemeinsam sind wir stark – Netzwerke für eine Willkommensgesellschaft Der Titel dieses Kapitels ist die Antwort auf die Frage, warum Vernetzung zu den wichtigsten Aufgaben eines Ausländerbeauftragten gehört. Wir benutzen gern das Bild der Karawane, wenn wir gefragt werden, wie gesellschaftliche Veränderungen befördert werden können. An der Spitze gehen die Pioniere, die neue Wege und Möglichkeiten sehen und sich mit aller Kraft dafür einsetzen, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Das sind etwa fünf Prozent der Bevölkerung. Diese fünf Prozent gilt es, zu unterstützen und zu ermutigen. Ihnen folgen in einigem zeitlichen Abstand die frühen Trendaufgreifer. Sie sind offen für Neues und lassen sich gern von den Chancen der neuen Wege überzeugen. Sie machen etwa 15 Prozent der Bevölkerung aus. Danach, wieder mit einiger zeitlicher Verzögerung, kommt die einsichtige Mehrheitsbevölkerung, die sinnvolle Veränderungen verstehen, akzeptieren und dann übernehmen will und wird. Ganz am Ende der Karawane, meist mit sehr langer zeitlicher Verzögerung, kommen die Nachzügler und die ewigen Skeptiker, die von jeder Art der Veränderung so verunsichert werden, dass sie den Status quo einfrieren wollen. Wer auf diese Nachzügler einwirken will, um ihre Skepsis zu überwinden, reitet oft gegen Windmühlen. Es ähnelt der Aufgabe, einem Pessimisten Optimismus einzureden. Wer Zukunft positiv mit gestalten will, tut stattdessen gut daran, die Vorreiter zu begleiten, die frühen Trendaufgreifer zum Mitmachen zu ermutigen und – so sehe ich meine Aufgabe - mit der breiten Bevölkerung über Sinn und Zweck einer Willkommensgesellschaft zu kommunizieren. In Sachsen gibt es viele Vereine und Initiativen, die sich für ein konstruktives Miteinander zwischen unserer Gesellschaft und den zu uns kommenden Migranten aus aller Welt einsetzen. Sie tun das mit viel Engagement. Aber Sachsen zu einer Willkommensgesellschaft zu machen – das übersteigt die Möglichkeit einzelner Initiativen. Dazu braucht es Netzwerke von Gleichgesinnten, die diese Aufgabe 98 gemeinsam anpacken und in Angriff nehmen. Netzwerke benötigen wir auch, weil diese Aufgabe einen langen Atem braucht. Sie ist eine Daueraufgabe, die uns über Generationen beschäftigen wird. Wir können deshalb sagen: die Reise zur Willkommensgesellschaft ist unser Ziel. Und genau dieses Ziel haben die verschiedenen Netzwerke, die wir hier präsentieren wollen: Das Netzwerk der kommunalen Ausländer- und Integrationsbeauftragten im Freistaat Sachsen fördert das gemeinsame Lernen, die Orientierung der Arbeit an gemeinsamen Zielen und das gemeinsame Handeln in den verschiedenen Aufgabenbereichen der Beauftragten. Das Netzwerk Integration und Migration Sachsen (NIMS) ist der Zusammenschluss vieler Initiativen, die in den Bereichen Migration und Integration für eine sächsische Willkommensgesellschaft arbeiten. Die Vernetzung der Länderbeauftragten für Integration und Migration auf Bundesebene hilft den Teilnehmern, von den Innovationen in anderen Bundesländern zu lernen, Initiativen von der Bundesseite her aufzugreifen und zu bereichern, und gemeinsame Länderinitiativen dem Bund nahe zu bringen. 3.1 Die Zusammenarbeit mit den kommunalen Ausländer- und Integrationsbeauftragten im Freistaat Sachsen Im Freistaat Sachsen gibt es 18 kommunale Ausländer- oder Integrationsbeauftragte in den Landkreisen, den Kreisfreien Städten und in weiteren Städten. Zwölf Beauftragte arbeiten in hauptamtlicher Funktion, vier von ihnen nehmen neben diesem Amt noch weitere Ämter wie Gleichstellungs-, Frauen oder Behindertenbeauftragte wahr. Sechs der Beauftragten arbeiten noch immer ehrenamtlich. Eine zusätzliche Stelle im Landkreis Leipzig soll im Ehrenamt neu besetzt werden. Die Ämter sind hinsichtlich der Budgets, der verwaltungsinternen Verfahren und der Anbindung sehr unterschiedlich ausgestaltet. Einige Beauftragte sind dem Landrat oder dem Oberbürgermeister zugeordnet, wieder andere werden vom Kreistag gewählt, wieder andere haben gar keine administrative Zuordnung. Bestellt werden 99 die Beauftragten auf Grundlage der Sächsischen Landkreisordnung (§ 60) bzw. der Sächsischen Gemeindeordnung (§ 64). Demnach sollen die Landkreise zur Wahrung der Belange der im Landkreis lebenden Ausländer Ausländerbeauftragte bestellen. Die Gemeinden dagegen können für bestimmte Aufgabenbereiche besondere Beauftragte bestellen. Ob sie haupt- oder ehrenamtlich sind, das bleibt den Kreisen bzw. Kreisfreien Städten überlassen. „Alles hat sich gelohnt!“ Interview mit Silvia Liersch, Kommunale Ausländerbeauftragte der Stadt Plauen/Vogtland von 1991 bis 2011 Was hat Sie ursprünglich motiviert, diese wichtige Aufgabe anzupacken? Ich habe mich 1991 auf diese Stelle beworben, weil ich in meiner Familie selbst erfahren habe, wie schwer es ein Zugewanderter in Deutschland hat. Meine Mutter hat einen sogenannten Migrationshintergrund, sie ist als junges Mädchen nach Deutschland gekommen, durfte nie eine deutsche Schule besuchen, hat sich lesen und schreiben selbst beibringen müssen und hat es ihr Leben lang schwer gehabt, eine qualifizierte Arbeit zu finden. Außerdem bin ich von Haus aus Dolmetscherin für Englisch und Spanisch und hatte folglich immer mit Ausländern zu tun. Auch während der DDR-Zeit habe ich beruflich mit und für Menschen aus anderen Ländern gearbeitet und habe von dieser Arbeit sehr profitiert. Das hat mich bewogen, mich für diesen Job zu bewerben. Wenn Sie auf die Jahre des Engagements zurückblicken, was hat sich aus Ihrer Sicht am meisten gelohnt? Was sich am meisten gelohnt hat? Alles hat sich gelohnt! Die Bemühungen um jedem einzelnen, dem man einen Schritt weiter helfen konnte auf seinem Weg in ein neues Leben in Deutschland haben sich gelohnt! In all den Jahren kam sehr viel zurück von den Menschen, die sehr dankbar waren. Ich habe so viele nette Leute 100 kennengelernt. Natürlich, die anderen gibt es auch. Aber viel mehr nette und freundliche Menschen! Wenn wir das Quantum betrachten, dann würde ich sagen, hat sich am meisten der Einsatz für das Bleiberecht der Vietnamesen gelohnt, weil das sehr vielen Menschen geholfen hat. Was sollten wir in Sachsen tun, um noch schneller zur Willkommensgesellschaft in gegenseitigem Respekt zusammenzuwachsen? Besonders wichtig finde ich zum Beispiel die Arbeit des Runden Tischs „Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse“. Damit ist man einen entscheidenden und für mich den eigentlich wichtigsten Schritt gegangen, weil die beste Integration über Arbeit und Berufsausbildung gelingt. Wenn wir die Menschen, die hierher kommen, in Arbeit bringen, dann ist der größte Teil der Integrationsproblematik beseitigt. Ich habe während meiner Tätigkeit im Rahmen des Gesellschaftskundeunterrichts in Schulen und Jugendeinrichtungen unterrichtet und musste dort wiederholt feststellen, dass es ein großes Wissensdefizit bei den Jugendlichen gibt. Sie haben zum Teil Vorstellungen, die schlicht falsch sind, beispielsweise was die finanziellen Zuwendungen an Asylsuchende und Spätaussiedler betrifft. Das entbehrte jeglicher Realität, und sie haben es mir geglaubt, wenn ich ihnen aus der Praxis erzählen konnte, was die Menschen wirklich bekommen. In der Vergangenheit hat es mehrfach Projekte gegeben, in deren Verlauf Multiplikatoren in die Schulen gegangen sind, um über die Situation der Ausländerinnen und Ausländer zu berichten. Ich denke, so etwas sollte wieder geschehen. Fachleute, die Wissen verbreiten, um diese ganzen falschen Meinungen zu revidieren. Das letzte, und das ist mir persönlich wichtig, sind die kommunalen Beauftragten: Die muss es weiter geben! Leider ist es so, dass in Sachsen einer nach dem anderen eingespart wird. Und dabei gibt es den Bedarf, das merke ich, wenn ich privat in Plauen unterwegs bin und mich Migranten ansprechen und sagen: „Ach, Sie fehlen uns! Wo sollen wir denn jetzt hingehen, wenn wir ein Problem haben?“ 101 Die müssen gar nicht Beauftragte heißen, aber es muss jemanden geben, der für diese Bevölkerungsgruppe verantwortlich ist, der sich in allen Dingen kümmert. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass der Oberbürgermeister der Stadt Plauen meine Aufgabe zumindest in Teilen einer Kollegin übertragen hat. Ich denke, das hat jede Kommune nötig, in der Migranten leben! Die kommunalen Ausländer- oder Integrationsbeauftragten haben 2010 gemeinsam mit dem Netzwerk Integration und Migration Sachsen (siehe NIMS) eine Stellenbeschreibung erarbeitet, die das breite Aufgabenspektrum der Beauftragten beschreibt und Vorschläge bzgl. der Bestellung hauptamtlicher Beauftragter macht. Demnach agieren die Beauftragten auf mindestens sechs Feldern: Sie beraten, informieren und begleiten Menschen mit Migrationshintergrund, Vereine, Institutionen und Migrationsfach- und -regeldienste, um eine gleichberechtigte Teilhabe von Migranten in unserer Gesellschaft voranzubringen und realisieren zu helfen. Sie engagieren sich für den Auf- und Ausbau eines lokalen Integrationsnetzwerkes und für die Schaffung örtlicher Migrantenbeiräte, um die Integrationskräfte in der Kommune zu bündeln und zu stärken. Sie sind Interessenvertreter der Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber der Verwaltung, den Gremien und Dritten und vermitteln zwischen den Perspektiven, damit die berechtigten Interessen aller ausgeglichen berücksichtigt werden. Sie initiieren, erarbeiten regionale Integrationskonzepte und begleiten dessen Umsetzung und Fortschreibung. Durch regelmäßige Öffentlichkeitsarbeit informieren sie auf kommunaler Ebene über die Integrationsarbeit des Landkreises bzw. der Städte und erhöhen damit die gegenseitige Akzeptanz und den Respekt zwischen Zugewanderten und Mehrheitsgesellschaft. Außerdem engagieren sie sich im Umgang mit den verschiedenen Akteuren im Bereich Migration und Integration präventiv und deeskalierend für 102 krisenvermeidende Optionen und sind auch Ansprechpartner für die Mehrheitsbevölkerung. Ein solches Aufgabenspektrum ist im Ehrenamt praktisch nicht zu bewältigen. Häufig hören wir als Argument gegen hauptamtliche Beauftragte in den sächsischen Landkreisen oder kleineren Kommunen, es gäbe doch so wenige Migrantinnen und Migranten. Dieses Argument verkennt dreierlei: Zum Ersten gehen deutliche Fremdenskepsis und geringe Ausländerzahlen häufig Hand in Hand. Zweitens steht Integrationsarbeit gerade in den Landkreisen vor besonderen Herausforderungen: Sie erfordert aufgrund der geringen Konzentration von Migranten eine hohe Mobilität; denn es gibt wenige Migrantenorganisationen oder Migrantenbeiräte, die als wichtigsten Partner eine kooperative Integrationsarbeit mitgestalten könnten. Eine Finanzierung kommunaler Integrationsprojekte scheitert häufig an den Förderbedingungen des Bundes, die sich an den Bevölkerungsverhältnissen der alten Bundesländer orientieren. Das Projekte aus den neuen Bundesländern dabei häufig zu kurz kommen, liegt auf der Hand. Auch die effektive Vernetzung der Integrationsakteure ist wegen der sozialräumlichen Bedingungen eine echte Herausforderung. Drittens und letztens ist Integrationsarbeit eine Arbeit in beide Richtungen: Denn neben der Begleitung von Migranten geht es schwerpunktmäßig auch um die interkulturelle Öffnung der Verwaltung. Nicht nur das: Es geht vor allem um die Arbeit mit der Mehrheitsgesellschaft und darum, Menschen zu gewinnen, sich konkret für eine Willkommensgesellschaft in Sachsen einzusetzen. Erfreulicherweise ist in das Thema Hauptamtlichkeit im Jahr 2011 viel Bewegung gekommen: Anna Piętak-Malinowska, kommunale Ausländerbeauftragte des Landkreises Bautzen ist nach drei Jahren ehrenamtlichen Engagements mit Beginn des Jahres 2012 hauptamtlich angestellte Ausländerbeauftragte des Landkreises Bautzen. Ihre Teilanstellung ist vorerst auf zwei Jahre befristet, wir hoffen natürlich auf eine Verstetigung dieser Stelle. Die Motivation des Landkreises Bautzen ist klar: Wir werben für Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland. Die wollen begleitet, ermutigt und unterstützt werden. 103 Auch gilt es, in der Bevölkerung für Akzeptanz und Respekt gegenüber Zuwanderern zu werben, eine Generationenaufgabe. Frau Piętak-Malinowska weiß, wie sich Zuwanderer fühlen, die neu im Landkreis ankommen. Sie wird deshalb schnell Signale setzen können, die helfen, den Landkreis in die gewünschte Richtung voran zu bringen. Andere Landkreise, so z.B. der Landkreis Nordsachsen, haben angekündigt, die bislang ehrenamtliche Stelle in eine hauptamtliche umzuwandeln. Integrationsarbeit vor Ort: Warum wir im Freistaat Sachsen hauptamtliche kommunale Ausländer- und Integrationsbeauftragte brauchen>>> Es mag als Widerspruch erscheinen: Die Zahl der Migrantinnen und Migranten ist besonders in den sächsischen Landkreisen sehr gering und trotzdem werben wir dafür, dass jeder Landkreis und jede größere Kommune einen hauptamtlich bestellten Integrationsbeauftragten hat. Warum tun wir das? Das Verständnis des Aufgabenbereichs von kommunalen Beauftragten hat sich vor dem Hintergrund der aktuellen Integrations- und Zuwanderungsdebatte erheblich gewandelt. Gerade in den neuen deutschen Bundesländern ist das gut nachzuvollziehen. Ging es anfangs darum, überhaupt eine Integrationslandschaft aufzubauen und in vielen Einzelfällen konkret zu helfen, stehen die Beauftragten heute vor neuen Aufgaben. Neben der Unterstützung von Asylsuchenden und der Unterstützung der Integration von Zugewanderten, neben den vielen einzelnen Fällen, in denen Unterstützung, Begleitung und Hilfe gebraucht wird, geht es heute vor allem um die Themen Willkommensgesellschaft und Weltoffenheit. • Die aktuelle Arbeit kommunaler Beauftragter hat deshalb heute mehrere Schwerpunkte: die professionelle Begleitung der Zuwanderer, • die Förderung eines weltoffenen Klimas in der Kommune oder im Landkreis • und die Sensibilisierung der eigenen Institution im Sinne einer interkulturellen Öffnung. Dieses Aufgabenspektrum ist anspruchsvoll. Erfolge wird man dabei nur dann erzielen, wenn alle Integrationsakteure vor Ort gemeinsam an einem Strang ziehen 104 und – im Sinne der interkulturellen Öffnung - immer neue Unterstützer gewonnen werden. Viele Wege führen nach Rom – das gilt auch für die Umsetzung dieser enormen Aufgabenfülle. Die in Sachsen tätigen kommunalen Ausländer- und Integrationsbeauftragten sind bereits viele kreative Schritte gegangen. Aber selbst die größte Kreativität kann fehlende Ressourcen nicht ersetzen. Auch die Kommunalen Spitzenverbände haben sich bereits im „Nationalen Integrationsplan Neue Wege – Neue Chancen“ zu diesem Thema positioniert: Sie sehen Integration als kommunale Querschnittsaufgabe von hoher kommunalpolitischer Bedeutung und empfehlen: • Integration als ressortübergreifende Aufgabe in der Kommunalverwaltung zu verankern und ihrer Bedeutung entsprechend anzusiedeln sowie • Die Entwicklung und Fortschreibung von kommunalen Gesamtstrategien, die den jeweiligen örtlichen Bedürfnissen angepasst sind. Vor dem Hintergrund der wachsenden Anforderungen fand im Herbst 2011 im Sächsischen Landtag eine öffentliche Anhörung statt. Anlass war ein Gesetzentwurf der Fraktion DIE LINKE, in dem gefordert wird, in Kommunen ab einer Größe von 40 000 Einwohnern einen hauptamtlichen Beauftragten für Migrationsfragen zu bestellen. Der Integrationsbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung, Martin Neumeyer MdL, der als Sachverständiger zur Anhörung geladen war, wies daraufhin, dass in Bayern 82 kommunale Beauftragte tätig sind. Die Förderung der Integration sei unter anderem aufgrund der demographischen Entwicklung von besonderer Relevanz. Die Zahl der Beauftragten sei steigend, und er fordere die bayerischen Kommunen auf, Beauftragte zu bestellen, weil besonders das Zusammenwirken vor Ort wichtig sei. Die Staatsregierung in Bayern unterstütze die Arbeit der Beauftragten durch das „Netzwerk Integration Bayern“. Das Netzwerk hat den Auftrag, die Kommunen bei der Integrationsarbeit zu beraten. Stojan Gugutschkow, Integrationsbeauftragter der Stadt Leipzig und Leiter des Querschnittsreferates „Migration und Integration“ sowie Ilse Rose, kommunale Integrationsbeauftragte des Landkreises Mittelsachsen hatten als hauptamtliche 105 sächsische Beauftragte ebenfalls die Möglichkeit, als Sachverständige Stellung zu nehmen. Auszüge aus Ihren Standpunkten lesen Sie hier: Stojan Gugutschkow, Integrationsbeauftragter der Stadt Leipzig und Leiter des Querschnittsreferates Gemeindeordnung ergänzen Die derzeitig gültigen kommunalrechtlichen Vorgaben für Beauftragte in Sachsen sind paradox: Die Sächsische Gemeindeordnung sieht lediglich die Bestellung von Gleichstellungsbeauftragten verbindlich vor und überlässt es den Gemeinden, eventuell auch andere Beauftragte zu bestellen. Davon machen auch eine Reihe von Städten Gebrauch – mit unterschiedlicher Bezeichnung, Zuordnung und Ausstattung der Beauftragten. Die Sächsische Landkreisordnung wiederum enthält eine Soll-Bestimmung zur Bestellung von „Ausländerbeauftragten“, die allerdings offenbar nicht überall „verinnerlicht“ worden ist. Eine Ergänzung der Sächsischen Gemeindeordnung im vorgeschlagenen Sinne ist aus meiner Sicht durchaus sinnvoll – zum einen, um den Kommunen, die bereits hauptamtliche Beauftragte haben, zu bestätigen, dass sie mit ihrem Engagement richtig liegen und die Unterstützung des Freistaates haben, aber v.a. um allen anderen die Schaffung solcher Stellen vorzugeben. Die Tatsache, dass die bisherige Vorgabe der Sächsischen Landkreisordnung wiederum bislang nicht die gewünschte Wirkung entfaltet, bringt mich auf den Gedanken, dass eigentlich eine Soll-Vorschrift nicht ausreicht. Daher würde ich – in Anlehnung an die Bestimmungen für die Gleichstellungsbeauftragten – für beide Rechtsnormen die Formulierung „haben Integrationsbeauftragte zu bestellen“ bevorzugen. Ich kann als Vertreter einer Kommunalverwaltung, die in der Stellungnahme des Sächsischen Städte- und Gemeindetages (SSG) deutlich werdende Empfindlichkeit gegenüber möglichen Eingriffen in die kommunale Organisationshoheit durchaus nachvollziehen. Da allerdings die Querschnittsaufgabe „Integration“ auch vom SSG nicht angezweifelt wird, kann ich mir durchaus vorstellen, dass man dort auch die Einsicht in die Notwendigkeit gewinnt, diese auch aktiv wahrzunehmen, was man bei 106 den Gleichstellungsbeauftragten ohne das Gefühl eines unangemessenen Eingriffs auch tut. Und es ist meines Erachtens auch nicht damit getan, wie es leider vielerorts in Sachsen der Fall ist, dass man Ehrenamtliche damit betraut, oder aber Festangestellten „neben-bei“ auch die Aufgaben als Ausländer- oder Integrationsbeauftragte überträgt. Bei aller Hochachtung vor dem Engagement ehrenamtlicher oder teilzeitbeschäftigter Kollegen – solche Konstruktionen können nach meinen Erfahrungen auf Dauer nicht funktionieren. Eine gezielte Integration vor Ort erfordert Aktivitäten in verschiedenen Handlungsfeldern: Bildung, Erziehung und Spracherwerb, Ausbildung, Qualifizierung und Beschäftigung, Zugang zu den Angeboten im gesamten Sozial- und Gesundheitsbereich und ihre interkulturelle Öffnung – was auch für die öffentliche Verwaltung insgesamt gilt – interkultureller und interreligiöser Dialog, Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus u.a.m. Bei der Umsetzung aller Maßnahmen in diesen Handlungsfeldern erscheint es mir unabdingbar, wie inzwischen allgemein anerkannt, die Integration als notwendige Querschnittsaufgabe kommunalen Handelns anzuerkennen und aufzuwerten, und diese auch mit den dazu erforderlichen Ressourcen auszustatten. Denn nach meiner festen Überzeugung rächen sich Versäumnisse in der Integrationspolitik über kurz oder lang. Wir dürfen m.E. nicht zu voreilig und unter Sparzwängen die Warnung ignorieren, dass die Kosten der Nicht-Integration wesentlich höher liegen, als der gezielte und koordinierte Aufwand zur Integrationsförderung, bei der die Tätigkeit der vor Ort damit Befassten – egal ob wir sie Ausländer-, Integrations- oder Migrationsbeauftragte nennen – eine entscheidende koordinierende, steuernde und vernetzende Rolle spielen. Ungeachtet der Definitionen von freiwilligen und Pflichtaufgaben, die aus den 1970er und 80-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammen und die wir längst hätten überprüfen müssen, gelten „Migration und Integration“ inzwischen als Mainstream-Themen von zentraler wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Bedeutung, auch auf kommunaler Ebene. Dieser Erkenntnis entspricht meines Erachtens auch der vorliegende Gesetzentwurf, den ich nicht so sehr vor dem Hintergrund des Nationalen Integrationsplans sehe, der ja für die Kommunen nicht 107 unmittelbar bindend ist, auch wenn zu seiner Umsetzung zuletzt ein Dialogforum „Integration vor Ort“ eingerichtet wurde, sondern vielmehr im Kontext des zur Zeit erarbeiteten Sächsischen Zuwanderungs- und Integrationskonzepts, das sicherlich auch auf die Rolle der Beauftragten vor Ort Bezug nehmen wird. Ilse Rose, kommunale Integrationsbeauftragte des Landkreises Mittelsachsen Landkreis zukunftsfähig gestalten Im Gegensatz zu den Großstädten des Freistaates, die aufgrund der hohen Anzahl ausländischer Bürgerinnen und Bürgern mit Beginn der 90-er Jahre und der damit verbundenen großen Verantwortung für ein friedliches Miteinander mit allen Einwohnern der Stadt, die Notwendigkeit einer zentrale Steuerung erkannten und hauptamtliche Stellen für Ausländerbeauftragte schufen, sahen die Landkreise kaum Bedarf. Mit der Aufnahme von Flüchtlingen, die in großer Anzahl auf die Landkreise verteilt wurden und deren Unterbringung die Kommunen vor ungeahnte Herausforderungen stellte, sollten ehrenamtliche Ausländerbeauftragte sich dieser angespannten Situation in den einzelnen Kommunen annehmen und mit den Unterbringungsbehörden vermittelnd tätig werden. Mit den vielen Einzelanfragen und Problemlagen in dem begrenzten Zeitlimit waren sie völlig ausgelastet. Somit war das Thema „Asyl“ auch im Hinblick auf die politische Brisanz in den Mittelpunkt der Wahrnehmung gerückt. In den Folgejahren blieb die Unterbringung der Flüchtlinge und Geduldeten oftmals Schwerpunkt der Arbeit der Ausländerbeauftragten. Integration und Zuwanderung war auch aufgrund der mehrmaligen Kreisgebietsreformen nicht das zentrale Thema – die Selbstfindung der neuen Landkreise stand im Mittelpunkt. Mit der letzten Kreisgebietsreform 2008 entstanden sehr große Landkreise mit bis zu 60 und mehr Städten und Gemeinden, in denen fast in jedem Ort Menschen nicht deutscher Herkunft bzw. (Spät)Aussiedler leben. Trotz der zwischenzeitlich sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene entwickelten Initiativen zu Migration, Integration und Zuwanderung spiegeln sich diese auf kommunaler Ebene kaum wider. In den zurückliegenden 20 Jahren wuchsen in den Landkreisen nur 108 unzureichend Strukturen, die den heutigen Anforderungen an eine sachdienliche Integrationsarbeit nicht mehr gerecht werden. Dazu gehören fehlende Beratungsstellen mit migrationsspezifischen Angeboten in weiten Teilen eines Landkreises und Migrantenselbstorganisationen, die einen unverzichtbaren Beitrag zum Thema Integration und Zuwanderung leisten könnten. Aufgrund der Größe eines Landkreises und der relativ geringen Zahl von Angehörigen anderer Nationalitäten werden sich in naher Zukunft nur noch wenige Vereine gründen. Zwischen den Menschen vor Ort, dem evtl. vorhandenen Netzwerk eines Landkreises und der/dem Ausländerbeauftragten fehlen dringend erforderliche Kontakte, um Informationen auszutauschen und von den Sorgen und Nöten der ausländischen Bevölkerung zu erfahren. Die Initiierung eines Migrantenbeirates, als Interessenvertreter der ausländischen Bevölkerung gegenüber der Kommunalverwaltung blieb bisher weitestgehend den Großstädten vorbehalten. Insofern obliegt es dem Ausländerbeauftragten ganz nah an der Bevölkerung zu sein, um die Befindlichkeiten und Defizite im Zusammenleben mit Menschen anderer Länder zu erkennen, zu hinterfragen und nach Lösungen zu suchen. Dazu gehört auch die Sensibilisierung der eigenen Verwaltung und der Verwaltungen der Städte und Gemeinden, der Kommunalpolitiker, der Entscheidungsträger bis hin zu Bürgerinnen und Bürgern der einzelnen Kommune, für die Themen Integration und Zuwanderung. Eine Vielzahl von persönlichen Gesprächen im Kreisgebiet ist dafür erforderlich. Es geht nicht darum, etwas für Ausländer zu machen, sondern es geht darum, gemeinsam mit den Zuwanderern den Landkreis und kleinere Städte zukunftsfähig zu gestalten. Die demografische Entwicklung sei hier nur erwähnt. Um all diesen Aufgaben gerecht zu werden, bedarf es Raum und Zeit, geht es doch um die positive Entwicklung zwischenmenschlicher, interkultureller Beziehungen. Als wesentliches Ergebnis der Arbeit eines Ausländerbeauftragten ist das Entgegenwirken ausländerfeindlichen Gedankengutes zu nennen. Das geschieht allerdings auf leisen Sohlen. Wir sprechen von Fremdenfreundlichkeit, von einem entspannten Miteinander. Deshalb hat jedes Aufklärungsgespräch, jede wechselseitige Information, jede interkulturelle Initiative, die das friedliche Miteinander fördern, gesellschaftspolitische Bedeutung. Jedem 109 Ausländerbeauftragten gibt die Hauptamtlichkeit Kraft und Motivation, die Umsetzung dieses politischen und humanitären Auftrages im Sinne einer Willkommensgesellschaft zu steuern und wesentlich zu beeinflussen. In seiner Rolle als Agent, Netzwerker, Moderator und Advokat ist ein hauptamtlicher Ausländerbeauftragter unverzichtbar. Vernetzung und Zusammenarbeit Die Zusammenarbeit mit den sächsischen kommunalen Ausländer- und Integrationsbeauftragten (KAIB) und deren Unterstützung gehört zu den gesetzlich verankerten Aufgaben des Sächsischen Ausländerbeauftragten. Auch 2011 haben wir uns wieder Arbeitsschwerpunkte gesetzt. Wir wollten 1. die KAIBs über aktuelle Entwicklungen und Vorhaben unserer Arbeit informieren, 2. unseren gemeinsamen Erfahrungsaustausch intensivieren, um so von positiven Ansätzen profitieren und lernen zu können, 3. die KAIB weiter in Richtung Hauptamtlichkeit ihrer Stellen unterstützen 4. und die Professionalisierung unserer gemeinsamen Arbeit durch gemeinsame Weiterbildungen fördern. 2011 haben wir uns in drei Treffen mit den kommunalen Ausländer- und Integrationsbeauftragten ausgetauscht und gemeinsam gearbeitet. Die Treffen nutzten wir, um über aktuelle Themen unserer eigenen Arbeit, wie beispielsweise den „Heim-TÜV“ zu informieren. Die KAIB waren in die Besuche der Gemeinschaftsunterkünfte von Beginn an eingebunden und hatten während unserer Treffen Gelegenheit, sich über gute Ansätze bei der Begleitung von Asylsuchenden auszutauschen und Probleme zu diskutieren. Auch die Arbeit des Runden Tisches „Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse“ wurde von den kommunalen Beauftragten konstruktiv begleitet. 110 Voneinander Lernen Die Beauftragten nutzten die Möglichkeit ebenfalls, um sich über aktuelle Vorhaben und über die Situation in ihren Landkreisen/Städten auszutauschen. Einige Beispiele aus der kommunalen Arbeit finden Sie auf den folgenden Seiten. Birgit Riedel, Ausländerbeauftragte des Landkreis Zwickau Für Toleranz und Akzeptanz Seit 1991 arbeite ich u.a. als Ausländerbeauftragte mit Ausländern und Ausländervereinen und habe diesen Bereich eigenständig aufgebaut. Mein Arbeitsschwerpunkt liegt in den Bereichen Gewaltschutz, Bewusstseinsbildung bezüglich Chancengleichheit und Fluchtursachen; Koordinierung bzw. Vernetzung von Institutionen, wie Migrationsvereine, Kirchen, Bildungseinrichtungen, Unternehmen und Initiativen, die im Migrationsbereich tätig sind. Der Interkulturelle Arbeitskreis des Landkreises Zwickau, den ich leite, ist Ausdruck dieser Vernetzung. In diesem Arbeitskreis arbeiten die verschiedenen Arbeitsgruppen z.B. in den Bereichen Asyl, Integration und Bildung. Unter dem Motto: Unterschiede anerkennen, Vielfalt nutzen, Gemeinsamkeiten fördern habe ich mir das Ziel gesetzt das Miteinander und Zusammenleben zwischen den hier heimischen und den neu zugewanderten Menschen zu gestalten. Mein Anliegen ist es, für Toleranz und Akzeptanz anderer Kulturen zu werben und das friedliche Zusammenleben in unserer Region zu fördern. Der Höhepunkt im Jahr 2011 war die Interkulturelle Woche, die in unserem Landkreis seit vielen Jahren zu einem wichtigen Ereignis geworden ist. Christian Morgenstern meint: „Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird.“ Und genau da liegt mein Ansatz: Ich bin Ansprechpartnerin für Migrantinnen und Migranten und helfe ihnen durch Beratung und Vermittlung die vielfältigen bürokratischen Hürden zu verstehen und zu überwinden. 111 Deutlich wird an diesen Beispielen vor allem, dass die Vernetzung der Integrationsakteure eine unserer wichtigsten Aufgaben bleibt. Außerdem geht es um innovative Wege, mit denen Migrantinnen und Migranten als Kooperationspartner gewonnen werden können. Wo gerade in den Landkreisen Migrantenorganisationen als Vermittler und Ansprechpartner fehlen, braucht es neue Ideen: So startete Ilse Rose beispielsweise im Oktober 2011 die Initiative „Wir alle sind Mittelsachsen“. Dafür besuchte sie alle Kommunen des Landkreises, in denen mehr als 100 Migranten und Spätaussiedler leben und sucht dort das Gespräch. Damit will sie über ihre Arbeit informieren, den Dialog zwischen Einheimischen und Zugewanderten fördern und natürlich auch Migranten zur kooperativen Mitarbeit gewinnen. Ilse Rose, Kommunale Ausländerbeauftragte des Landkreises Mittelsachsen Persönliche Kontakte entwickeln Als Schaltstelle zwischen Zuwanderern und Einheimischen sowie Verbänden und Vereinen, ist es für mich wichtig, kontinuierlich Kontakte zu den Kommunen und zu freien Trägern herzustellen und sie in die Integrationsarbeit einzubinden. Das gelingt uns über das „Netzwerk Migration Mittelsachsen“ beispielsweise in Freiberg und Döbeln schon sehr gut, in anderen Städten sind wir noch in der Aufbauarbeit. Wir wollen für unseren Landkreis ein Klima der gegenseitigen Achtung und Akzeptanz schaffen und festigen. Dabei halte ich persönliche Kontakte für besonders wichtig. Aus dieser Motivation heraus haben wir das Patenprogramm „Tandem“ Theaterbegeisterung teilen, Wissen weitergeben! entwickelt. Konzipiert ist das Patenprogramm für junge Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund. Mit diesem Patenprogramm wollen wir Jugendliche mit erfahren Theaterbesucher zusammen bringen. Junge Menschen ab 16. Lebensjahr, die noch keinen Bezug zum Theater haben, können kostenfrei bis zu fünf Vorstellungen ihrer Wahl während einer Spielzeit besuchen, um sich mit der Theaterkultur als Teil des Bildungsprozesses vertraut zu machen. Die Jugendlichen bekommen jeweils einen 112 erfahrenen Theaterbesuchern als „Paten“, der mit ihnen gemeinsam die Vorstellung besucht und sich mit ihnen darüber austauscht. Das Patenprogramm ist eine Initiative des Landkreises Mittelsachsen und des Mittelsächsischen Theaters. Die Kosten für die Theaterkarten und eventuelle Fahrtkosten werden von der Stiftung Mittelsächsisches Theater übernommen. Das Projekt ist in der Spielstätte Freiberg begonnen und soll auf die zwei weiteren Spielstätten Döbeln und Seebühne Kriebstein ausgeweitet werden. Ich setze auf „Tandem“ als Mittel der Verständigung, weil Menschen sich dabei – unabhängig von ihren kulturellen Wurzeln - gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen schaffen und die Gemeinsamkeiten so stärker als das bisher Trennende werden. Strategische Integrationsarbeit „Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sie stellt Anforderungen an die Zugewanderten und die Aufnahmegesellschaft. Sie ist ein fortwährender Prozess und als politische Aufgabe auf Dauer anzulegen. Die Integration von Zugewanderten sollte zu einem zentralen Thema der politisch Verantwortlichen, also „Chefsache“ in den Kommunen werden. Die Bedeutung von Integration und interkultureller Öffnung sollte öffentlich benannt werden und die zu leistende Arbeit als Kooperationsprozess politischer, intermediärer und zivilgesellschaftlicher Akteure eingefordert und anerkannt werden. Sinnvoll ist in jedem Fall die Erarbeitung eines Integrationskonzeptes auf Landkreisebene.“13 Integrationskonzepte stellen Integrationsarbeit auf eine nachhaltige Grundlage. Sie sind ein Mittel, um den Integrationsprozess voranzutreiben, binden alle wichtigen Integrationsakteure mit ein und sichern vor allem die Teilhabe der Zielgruppe. Das Schreiben von Integrationskonzepten geht über das Erstellen von Papieren weit hinaus. Ein solches Konzept lebt von seiner Umsetzung und seiner beständigen Fortschreibung. 13 „Integrationspotenziale in kleinen Städten und Landkreisen Schader-Stiftung“, Ergebnisse des Forschungs-Praxis-Projekts, Herausgeber Schader-Stiftung, S. 28 113 Diese Prozesse sind in den drei großen Kreisfreien Städten in Sachsen bereits erfolgreich angelaufen. In der Stadt Chemnitz gilt seit 2008 ein „Rahmenplan zur Integration von MigrantInnen in Chemnitz“. Er enthält Leitlinien, Handlungsfelder und Handlungsempfehlungen. Die Stadt Dresden arbeitet seit 2009 nach einem „Konzept zur Integration von Migrantinnen und Migranten 2009“. Die Ziele und Maßnahmen des Konzeptes werden jährlich fortgeschrieben und konkretisiert. Auch die Stadt Leipzig hat sich diesem Prozess gestellt. Zunächst wurden gemeinsam „Leitlinien zur Integration der Migrantinnen und Migranten in Leipzig“ erarbeitet. Darauf aufbauend wird gerade das „Gesamtkonzept zur Integration von Migrantinnen und Migranten in Leipzig“ erarbeitet, welches voraussichtlich im 2. Quartal 2012 fertig gestellt sein wird. Auch in den sächsischen Landkreisen gewinnt das Thema der strategischen Integrationsarbeit immer mehr an Bedeutung. Veronika Glitzner: Gleichstellungs-, Integrations- und Frauenbeauftragte des Vogtlandkreises Querschnittsaufgabe Integration Die Integrationsarbeit im Landkreis folgt einem klaren Motto: Toleranz und Offenheit in unserem Zusammenleben kann unsere Gesellschaft reicher und menschlicher gestalten. Ein wesentlicher Arbeitsschwerpunkt meiner Arbeit ist die Vernetzung. Dazu zählen kontinuierliche Arbeitsberatungen mit der Ausländerbehörde und dem Jobcenter, in denen Einzelfallentscheidungen besprochen und längerfristige Integrationsmaßnahmen geplant werden können. Außerdem bin ich für die Koordination des Netzwerkes „Migration“ zuständig. Diesem Netzwerk gehört neben den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege, den zuständigen Behörden auch eine große Anzahl an Vereinen an, die im Integrationsbereich tätig sind, so z.B. das Fanprojekt Plauen – Vogtland e.V., der 114 Kreissportbund Vogtland e.V., das Boxteam Oelsnitz e.V., das Jugendzentrum Boxenstopp e.V., „Wir – in einer Welt – Verein Vogtland e.V.“, der „Eine Welt“ Verein für Interkulturelle Verständigung e.V., das Familienzentrum „Spiel-Spaß-Kindertreff“ e.V. Plauen, die Euro Schulen Plauen, die IQ Unternehmensberatung GmbH, der Verein der Vietnamesen in Plauen und Umgebung e.V., das Kunststudio „Schöne Welt“ Oelsnitz/Plauen, der Deutsche Hausfrauenbund – das Netzwerk Haushalt sowie das Natur- und Umweltzentrum Vogtland e.V. Unser Netzwerk engagiert sich unter anderem gemeinsam für die Vorbereitung der Interkulturellen Tage im Landkreis oder für andere Veranstaltungen wie das Völkerfest International der Stadt Oelsnitz oder für den Internationalen Tag gegen die Gewalt an Frauen. Integration verstehe ich als Querschnittsaufgabe: sie sollte selbstverständlich bei allen Belangen mitgedacht werden. So haben wir das Thema Integration auch bei unseren Beiträgen zu den Wettbewerben „Familienfreundlichste Stadt”, „Familienfreundlichste Gemeinde“ und „Familienfreundlichstes Unternehmen” berücksichtigt. Den gleichen Ansatz verfolgen wir bei unserer Arbeit mit Kindern. So nehmen wir bei den jährlichen Berufszukunftstagen ganz bewusst junge Migranten in den Fokus. In den letzten drei Jahren hat der Vogtlandkreis zusammen mit der Stadt Plauen in einem Forschungs-Praxis-Projekt der Schader-Stiftung mitgearbeitet, in dem es um „Integrationspotenziale in kleinen Städten und Landkreisen“ ging. Das Projekt wurde im November 2011 abgeschlossen, im Dezember fand dazu ein Workshop mit allen sächsischen kommunalen Beauftragten im Sächsischen Landtag statt. Schwerpunkt dieses Workshops war die strategische Ausrichtung der Integrationsarbeit in den sächsischen Landkreisen. Im Landkreis Nordsachsen gibt es bereits seit 2010 ein „Konzept für das Netzwerk im Landkreis Nordsachsen“. Ein Schwerpunkt der Arbeit ist die Einbindung aller relevanten Akteure im Landkreis. Auch der Landkreis Sächsische SchweizOsterzgebirge hat 2011 ein Integrationskonzept erarbeitet und stellt sich nun den Umsetzungsfragen. 115 Strategische Inklusionsarbeit Integrationsarbeit erreicht nur einen Teil der Ausländer in Sachsen; denn an staatlichen Integrationsmaßnahmen können nur die partizipieren, die einen gesicherten Daueraufenthalt im Freistaat genießen. Davon sind drei wichtige Gruppen ausgeschlossen: die Asylsuchenden ohne Anerkennung als Flüchtlinge, die auf Zeit bei uns lebenden ausländischen Fachkräfte und die ausländischen Studierenden. Wie wir schon im Vorwort dieses Berichtes gezeigt haben, haben alle bei uns lebenden Ausländer ein Recht auf soziale Inklusion, das mit Verpflichtungen und Bekenntnissen verbunden ist. Ob sie als Eltern gemeinsam mit den Lehrern die schulische Integration ihrer Kinder unterstützen sollen, ob sie unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung verstehen und respektieren sollen, ob sie unsere Kultur erkennen und schätzen lernen sollen – unsere Erwartungen an die bei uns lebenden Ausländer zeigen, wie wichtig die soziale Inklusion nicht nur für die Ausländer, sondern auch für uns als aufenthalts- und gastgebendes Land sind. Die kommunalen Ausländer- und Integrationsbeauftragten spielen in diesem Prozess eine wesentliche Rolle. Auf der einen Seite brauchen wir sie als Ermutiger und Ansprechpartner für alle Migranten, für die Integrationsakteure und auch für Unternehmen in Sachsen. Stojan Gugutschkow, Referatsleiter für Migration und Integration der Stadt Leipzig und Integrationsbeauftragter der Stadt RESQUE PLUS: Hilfe zur Selbsthilfe für Flüchtlinge mit Arbeitserlaubnis Auf Initiative des Referates für Migration und Integration der Stadt besteht das Projekt RESQUE PLUS seit 2008, nun schon in der zweiten Förderperiode, mit 5 operativen Partnern – Aufbauwerk Region Leipzig GmbH (Projektkoordinator), Caritasverband Leipzig e.V., Deutsche Angestellten-Akademie GmbH, Sächsischer Flüchtlingsrat e. V. und der INT - Gesellschaft zur Förderung der beruflichen und sozialen Integration mbH - sowie vier strategischen Partnern. 116 Sachsenweit werden derzeit ca. 376 Flüchtlinge mit Zugang zum Arbeitsmarkt durch das Netzwerkes RESQUE PLUS- Hilfe für Flüchtlinge zur Qualifizierung und Vermittlung auf den Arbeitsmarkt unterstützt. Dies geschieht im Rahmen des vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geförderten und speziell für diese Zielgruppe aufgelegten ESF-Bundesprogramms „XENOS - Arbeitsmarktliche Unterstützung für Bleibeberechtigte und Flüchtlinge II“. Wichtige Kenntnisse rechtlicher Rahmenbedingungen und persönlicher Lebenssituationen aus langjähriger Beratung der Zielgruppe im Rahmen der Arbeit des Referates für Migration und Integration stärken und ergänzen damit die Bemühungen der Jobcenter bzw. Agenturen für Arbeit, Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Leistungspakete wurden gemeinsam mit den Grundsicherungsstellen und kommunalen Trägern erarbeitet, ergänzen deren Angebote und sind bereits mit festen Verfahrensabsprachen untersetzt. Die eingesetzten Instrumente aus der ersten Förderrunde (Leipziger Netzwerk „RESQUE“) werden nun auch in Dresden und Chemnitz sowie in den sächsischen Landkreisen angewandt. Flankiert durch ein individuelles Unterstützungsmanagement, durch verbesserte Vermittlungsstrategien sowie durch eine engmaschige, sozialpädagogische Beratung und Mediation wurden bereits viele Teilnehmer aus der Zielgruppe in Arbeit vermittelt. Multiplikatorenschulungen zielen darauf ab, Öffnungsprozesse in den Regelinstitutionen zu begleiten und eine Fortführung und Ausweitung der Angebote zu realisieren. Weitere Informationen finden Sie unter www.projekt-resque.de Auf der anderen Seite sind die Kommunalen Ausländer- und Integrationsbeauftragten Botschafter für Weltoffenheit und für eine sächsische Willkommensgesellschaft. Sie können helfen Brücken zu bauen, menschliche Brücken zwischen Menschen, für die unsere Kultur und unsere Werteordnung ungewohnt oder fremd sind, und unserer Bevölkerung, die zu Fremden als erste Reaktion erst einmal auf Distanz gehen will. Auf diesem Feld für gegenseitiges 117 Vertrauen und gegenseitige Bereicherung zu werben, ist eine lohnenswerte Aufgabe für unsere Beauftragten. An wen können sich kleine und mittelständische Firmen ohne Personalabteilung wenden, die im ländlichen Raum ausländische Mitarbeiter haben, die auf ihrem Weg zur Orientierung in Sachsen betreut werden wollen? Wer kann ihnen bei Fragen des täglichen Lebens, Fragen über Umgang mit Behörden zur Seite stehen, wenn nicht der oder die Ausländerbeauftragte/r? Große Unternehmen, Forschungsinstitute oder Universität mit ausländischen Mitarbeitern haben durchweg eigene Stabsstellen, um den Mitarbeitern und ihren Familienmitgliedern zu helfen. Das können sich mittelständische sächsische Unternehmen meist nicht leisten. Kommunale Beauftragte können hier wesentlich helfen – als Vermittler und Netzwerker und natürlich auch als Gestalter der eigenen Organisation. Das Ziel heißt: Aufbau einer interkulturell kompetenten Verwaltung! Unterstützung durch Weiterbildung Um diese Prozesse zu unterstützen, haben wir besonders für die Beauftragten der Landkreise und kleineren Städte einen Workshop organisiert, in dem die Ergebnisse des Forschungs-Praxis-Projekt der Schader-Stiftung „Integrationspotenziale in kleinen Städten und Landkreisen“ bearbeitet wurden. In der gemeinsamen Arbeit wurden zunächst die derzeitigen Schwerpunkte kommunaler Integrationspolitik herausgearbeitet. Dabei wurden zwei Handlungsfelder besonders herausgehoben: die strategische Ausrichtung der Arbeit der kommunalen Beauftragten und die interkulturelle Öffnung von Verwaltung und Wirtschaft. Im Workshop wurden relevante Akteure für die Erarbeitung regionaler Integrationskonzepte identifiziert und über wichtige Strategien bei der Erarbeitung solcher Konzepte gesprochen. Die kommunalen Beauftragten haben deutlich gemacht, dass das Thema der interkulturellen Öffnung der Verwaltung und der Wirtschaft an Bedeutung gewinnt – gerade auch vor dem Hintergrund der Zuwanderungsdebatte. Das zeigt, dass sich der Aufgabenbereich der Beauftragten im Kontext der integrations- und 118 zuwanderungspolitischen Entwicklung der letzten Jahre spürbar vergrößert hat und dass neue Schwerpunkte gesetzt werden. Integration passiert vor Ort - dabei ist weniger die Anzahl der dort lebenden Menschen mit Migrationshintergrund entscheidend, als vielmehr die Öffnung von Politik und Verwaltung hin zu den Themen Integration und Zuwanderung. Diese Arbeit sollte Chefsache sein – und entsprechend unterstützt werden. Hauptamtliche kommunale Beauftragte sind dabei ein wichtiges Signal. Zu guter Letzt noch einmal: Ehren- oder Hauptamtlichkeit? Während der öffentlichen Anhörung sagte ein Sprecher des Landkreistages, dass es den Kreisen selbst überlassen bleiben soll, ob sie die kommunalen Beauftragten als Ehrenamt oder Hauptamt bestellen wollen. Ein gesetzlicher Zwang würde nicht zu mehr Bereitschaft führen, die Aufgabe der Beauftragten zu unterstützen. Grundsätzlich stimmen wir dieser Position zu. Freiwilligkeit ist immer einem Zwang vorzuziehen. Wenn allerdings die Chance zur Freiwilligkeit nicht wahrgenommen worden ist, und die Breite der Aufgaben vom Ehrenamt beim besten Willen nicht adäquat wahrgenommen werden kann, dann ist es das Anrecht der Politik, einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, um dafür zu sorgen, dass Aufgaben, die für unsere Zukunft essentiell sind, auch adäquat wahrgenommen werden. Wenn ehrenamtliche Beauftragte ein jährliches Budget von etwa 100 Euro haben, dann können keine Aufgaben angegangen werden, die mit Fahrtkosten verbunden sind. Bei Landkreisen, die geografisch weiträumig aufgestellt sind, würde das bedeuten, dass der oder die Beauftragte mehr oder weniger in einem zugewiesenen Raum sitzen und darauf warten muss, bis sich jemand meldet. So kann kein Ehrenamtlicher seiner Aufgabe gerecht werden, der nicht aus eigener Tasche seine Arbeit mitfinanziert. Auch Chancen der Vernetzung mit Kollegen zum Gedankenaustausch bleiben da schnell auf der Strecke. Deshalb würden wir es begrüßen, wenn in absehbarer Zukunft mehr Kreise dem Beispiel von Bautzen und Nordsachsen folgen, und aus eigener Initiative hauptamtliche Beauftragte ins Leben rufen. Wenn ein Gesetz den Kreisen bei der 119 Finanzierung dieser wachsenden Aufgaben helfen würde, dann stünde die Staatsregierung einer Bitte des Landkreistages sicherlich nicht im Wege. In den nächsten zwölf Monaten wird sich zeigen, ob ein gesetzlicher Rahmen notwendig geworden ist. Sollte das der Fall sein, werden wir uns in die Diskussion einbringen. 3.2 Das Netzwerk Integration und Migration Sachsen Seit Beginn der Amtszeit pflegen wir einen produktiven Austausch mit vielen sächsischen Akteuren aus den Bereichen Migration und Integration – beispielsweise in regelmäßigen Arbeitstreffen. Die halbjährig stattfindenden Treffen werden durch den Sächsischen Ausländerbeauftragten initiiert und moderiert. Hier werden gemeinsam aktuelle Themen bearbeitet, der Austausch mit wichtigen Akteuren aus der Verwaltung wird gefördert und das Netzwerk wird durch unsere Zusammenarbeit weiter gestärkt. Das Netzwerk Integration und Migration in Sachsen ist aus regelmäßigen Arbeitstreffen beim Sächsischen Ausländerbeauftragten hervorgegangen. Es besteht aus den kommunalen Ausländer- und Integrationsbeauftragten Sachsens sowie den Vertretern von Initiativen, Beratungsstellen, Vereinen oder sonstigen Projekten der Integrations- und Migrationsarbeit in Sachsen. Etwa 170 Akteure der sächsischen Migrations- und Integrationsarbeit sind derzeit Mitglieder im Netzwerk. Dazu gehören beispielsweise Vertreter der kommunalen Ausländer- und Migrantenbeiräte, Vertreter des Sächsischen Migrantenbeirates, die kommunalen Ausländer- und Integrationsbeauftragten, Vertreter der Jugendmigrationsdienste und Migrationsberatungsstellen für Erwachsene, Vertreter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Vertreter der Opferberatungsstellen und der RAA, der Sächsische Flüchtlingsrat und der Ausländerrat Dresden, 120 sowie etwa 35 Vereine, die auf den Feldern Migration und Integration tätig sind. Regelmäßig eingeladen werden auch Vertreter des Sächsischen Staatsministeriums des Innern, des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Verbraucherschutz und der Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur für Arbeit. Neu hinzugekommen sind 2011 auch Rechtsanwälte für Ausländer- und Asylrecht. Unser Netzwerk ist grundsätzlich offen für alle, die sich im Bereich Integration, Migration und soziale Inklusion engagieren und die sich in die Arbeit mit einbringen möchten. Respekt und Willkommensgesellschaft Beim ersten Treffen in diesem Jahr stand das Thema „Willkommensgesellschaft“ auf der Tagesordnung. Dazu stellten wir unsere Anregungen für eine sächsische Willkommensgesellschaft vor. Das wesentliche Fundament einer solchen Gesellschaft ist der gegenseitige Respekt, ohne den weder ein Zusammenleben noch eine Zusammenarbeit möglich ist. In den stattfindenden Workshops erarbeiteten die Teilnehmer Indikatoren, an denen sich der Respekt einer Willkommensgesellschaft gegenüber Zugewanderten bemessen lässt, sowie wesentliche Handlungsfelder für eine sächsische Willkommensgesellschaft. Entscheidend, so ein wesentliches Ergebnis der Workshops sei die Maxime: „Nicht übereinander, sondern miteinander“. Deshalb sei die eine selbstverständliche Teilhabe in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens entscheidend. Integration sei eine wesentliche Querschnittsaufgabe für alle Ressorts, die Gestaltung und Engagement braucht. Außerdem gelte es, Raum für Begegnungen zu schaffen, damit Ängste und Vorurteile abgebaut werden können. Auch eine konstruktive Medienberichterstattung sei ein wichtiger Baustein einer Willkommensgesellschaft. Sächsische Einbürgerungspraxis Das Thema Einbürgerung stand sowohl im ersten als auch im zweiten Treffen auf der Tagesordnung. Martin Strunden, Referatsleiter im Sächsischen Staatsministerium 121 des Innern, referierte zur sächsischen Einbürgerungspraxis und legte die Standpunkte des Ministeriums dar. Die kontroverse Diskussion machte unterschiedliche Standpunkte deutlich. Verschiedene Teilnehmer wiesen darauf hin, dass die sächsische Verwaltungspraxis im Vergleich zu anderen Bundesländern als sehr konservativ in der Handhabung wahrgenommen wird. Das zeige sich unter anderem an unterschiedlichen Definitionen, was als gewöhnlicher Aufenthalt gelte. Hier regten die Teilnehmer an, diese Position zu überdenken und sich an der Praxis anderer Bundesländer zu orientieren. Außerdem wurde im Interesse einer transparenten Verwaltungspraxis die Veröffentlichung der vorläufigen Anwendungshinweise angeregt. Arbeitsmarktintegration Im zweiten NIMS-Treffen 2011 gaben Vertreter der Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur für Arbeit einen Überblick über neue Regelungen der Jobcenter bei der Arbeitsmarkintegration von Migranten und Migrantinnen. Sie stellten dabei das sogenannte 4-Phasen-Modell der Integrationsarbeit als rechtskreisübergreifendes Vermittlungssystem vor, das die theoretische Grundlage für die Begleitung bzw. Vermittlung von Migranten in den Arbeitsmarkt bildet. In Arbeitsgruppen wurden Fragen zu Arbeitsgelegenheiten für Asylbewerber und Geduldete, rechtliche Regelungen in der Sprachförderung und im Vermittlungsbudget näher diskutiert und Lösungsvorschläge für Verbesserungen der Praxis der Arbeitsvermittlung erarbeitet. Vertreter der Vereine konnten rechtliche Fragen zur Dauer von Arbeitsmarktprüfungen oder zur Handhabe von Vermittlungsbudgets stellen. Die Vertreter der Regionaldirektion Sachsen nahmen Anregungen für die Arbeit in den Jobcentern mit, beispielsweise hinsichtlich der Differenzierung des Sprachniveaus und einer entsprechender Förderung des Spracherwerbs. Soziale Inklusion Sebastian Vogel vom Ausländerrat Dresden e.V. führte beim zweiten Netzwerktreffen in das Thema Inklusion ein. Er stellte die Ergebnisse einer Dresdner 122 Konferenz des Ausländerrates zum Prinzip der Inklusion vom 18.06.11 mit dem Titel „All inclusive“ vor. Eine Dokumentation der Tagung ist beim Ausländerrat Dresden erhältlich. Martin Gillo machte in seinem Beitrag deutlich, dass das Prinzip der sozialen Inklusion für alle gilt, die bei uns leben - unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status, während die staatlichen Integrationsmaßnehmen nur auf jene zielen, die auf Dauer in Deutschland leben, einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben und möglicherweise auch die Einbürgerung anstreben. 3.3 Das bundesweite Netzwerk der Länder- und Kommunalen Integrations- und Ausländerbeauftragten Die Aufgabe des Beauftragten gibt es nicht nur im Freistaat Sachsen. Fast alle Bundesländer haben entsprechende Funktionen, die unterschiedlich ausgestattet und angebunden sind. Die Netzwerkarbeit unter ihnen läuft vor allem über drei Arten kollegialer Treffen. Die Bundeskonferenz der Integrationsbeauftragten des Bundes, der Länder und der Kommunen Die Bundeskonferenz 2011 hatte das Thema Medien in den Fokus genommen. Ist Deutschland ein Integrationsland? Wie ist die Wahrnehmung in Deutschland und von Deutschland? Wie sieht die Wirklichkeit aus? Wie berichten die Medien über Integration? Ist die Vielfalt der Integrationsthemen in den Medien spürbar? Oder wird ausschließlich über Problemgruppen berichtet? Und werden bestehende Bilder nur noch reproduziert? Über diese Themen und über Strategien für die alltägliche Arbeit tauschten sich die Beauftragten von Bundes- Landes- und kommunaler Ebene in dem zweitägigen Treffen aus. Die Bundeskonferenzen finden jährlich statt und bieten vor allem den kommunalen Beauftragten eine gute Gelegenheit zu einem deutschlandweiten Erfahrungsaustausch. 123 Die Länderkonferenz der Integrations- und Ausländerbeauftragten Auch diese Gruppe trifft sich jährlich, um bundesweit relevante Themen und Trends zu diskutieren. Die Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration Prof. Maria Böhmer informiert auf diesen Treffen regelmäßig über Initiativen der Bundesregierung in den Bereichen Integration und lädt zum Dialog darüber ein, wie diese Initiativen auf Länderebene begleitet werden können. Gleichzeitig bieten diese Treffen gute Gelegenheiten für die Länderbeauftragten, um eigene Initiativen zu präsentieren und für Unterstützung bei den Kollegen zu werben. Außerdem nutzen die Länderbeauftragten die Möglichkeit, die Bundesregierung für Initiativen zu gewinnen, die aus Sicht der Bundesländer dringend angepackt werden sollten. Länderkonferenz der Beauftragten aus den Neuen Ländern. Die Situation der Neuen Länder ist qualitativ anders als in den alten Bundesländern und braucht deshalb auch einen gesonderten Austausch über Themen, die aus der Sicht der Neuen Länder Priorität haben. Das geht mit separaten Treffen der Neuen Länder einfacher und schneller. Die Zahl der Migranten, die in den Neuen Bundesländern leben, liegt weit unter dem Bundesdurchschnitt. Auch die Herkunftsländer und die Bildung unterscheiden sich grundlegend: Die größten Gruppen kommen aus Vietnam und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Außerdem haben die hier lebenden Migranten überproportional häufiger gute ausländische Berufs- und akademische Abschlüsse mitgebracht. Aus dieser grundsätzlich anderen Konstellation heraus haben alle Neuen Bundesländer ein großes Interesse am Thema der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse – hier gibt es einen deutlich höheren Bedarf. Auf der anderen Seite resultieren die Integrationsherausforderungen der Neuen Bundesländer eher aus der geringen Zahl der hier lebenden Migranten. Die Fremdendistanz gehört ebenso dazu wie Förderbedingungen, die sich an der Bevölkerungszusammensetzung in den alten Bundesländern orientieren und damit die Integrationsarbeit in den neuen Bundesländern erschweren. 124 Was können wir also tun, um die Integration der gut ausgebildete Migranten in den Arbeitsmarkt voranzubringen? Und was, um die Weltoffenheit der Menschen in den Neuen Ländern zu erhöhen? Diese und ähnliche Themen kann man im Kreis der Länderbeauftragten aus den Neuen Ländern mit ausreichend Sensitivität angehen, weil alle Betroffenen die Problematik aus erster Hand kennen. Thematische Zusammenarbeit Während des ganzen Jahres stehen die verschiedenen Länderbeauftragten als MitDenker und auch als kritisch-beratende Begleiter für neue Projekte zur Verfügung. Wer neue und potenziell kontroverse Ideen austesten möchte, ehe sie der Öffentlichkeit vorgestellt werden, der kann auf seine Kolleginnen und Kollegen in den anderen Bundesländern zugehen. Er wird in ihnen immer aufgeschlossene Unterstützer finden. Bei wichtigen Bundesthemen klappt diese Vernetzung und gegenseitige Unterstützung auch mit dem Büro der Bundesbeauftragten. Als Beispiel sei die Initiative für ein neues Anerkennungsgesetz ausländischer Berufsabschlüsse genannt. Sachsen war eines der ersten Länder, die einen Runden Tisch für die Anerkennung ausländischer Abschlüsse einrichteten. Diese Arbeit wurde aktiv durch das Büro von Prof. Maria Böhmer unterstützt. Ihr Mitarbeiter Dr. Maier-Borst nahm an einem der Treffen des Runden Tisches teil, präsentierte die Initiative der Bundesregierung und stand während eines angeregten Gedankenaustausches mit Fragen und Antworten zu allen Themen zur Verfügung. Umgekehrt konnte der Freistaat Sachsen bei einigen Turbulenzen bei der Bundesgesetzgebung zum Anerkennungsgesetz helfen, indem unnötige Barrieren benannt wurden. Der Erfolg gab dieser Kooperation recht: Das Bundesgesetz wurde von Bundesrat und Bundestag einvernehmlich verabschiedet, ohne den Vermittlungsausschuss anrufen zu müssen. Rolle der Beauftragten gestärkt Auf der letzten Konferenz der Ausländer- und Integrationsbeauftragten der Länder im November 2011 ging es vor allem um das Selbstverständnis der Beauftragten. 125 Die gehörten Experten waren sich dabei einig, dass die Beauftragten sowohl in ihrer Ombudsfunktion als auch in der Rolle als Berater, Mahner und als Ideengeber für den Prozess der Integration in Deutschland unverzichtbar seien. Sie arbeiten für die gleichberechtigte Teilhabe der Migrantinnen und Migranten und wenden sich an die relevanten Stellen sowohl im Einzelfall, aber auch mit dem Ziel die Normen oder die Verwaltungspraxis zu ändern. Entscheidend sei es, strukturelle Probleme zu erkennen und bei den zuständigen Stellen auf Lösungen zu insistieren. 3.4 Vom Nationalen Integrationsplan zum Nationalen Aktionsplan Integration: Mitwirkung am Dialogforum „Arbeitsmarkt und Erwerbsleben“ Auf dem vierten Integrationsgipfel am 03.11.2010 wurde unter Leitung der Bundeskanzlerin Angela Merkel beschlossen, einen Nationalen Aktionsplan Integration mit klaren und überprüfbaren Zielen zu entwickeln. Dazu wurden elf Dialogforen zu verschiedenen Themen eingesetzt, die von den Bundesministerien bzw. Beauftragten der Bundesregierung geleitet wurden. In diesen Dialogforen verständigten sich staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure – unter ihnen über 30 Migrantenorganisationen - gemeinsam über strategische und operative Ziele und konkrete Maßnahmen. Martin Gillo war als Sächsischer Ausländerbeauftragter zur Mitarbeit im Dialogforum „Arbeitsmarkt und Erwerbsleben“ eingeladen. Die Debatten in den fünf Sitzungen zeigte Handlungserfordernisse auf allen Seiten: Einerseits muss es darum gehen, die Beschäftigungs- und Erwerbschancen durch Bildung, Spracherwerb und die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen zu erhöhen. Gleichzeitig gelten die interkulturelle Öffnung der Institutionen und eine interkulturelle Qualifizierung des Beratungspersonals als wesentliche Voraussetzung für eine gelingende Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Migrationshintergrund. Auch die Wirtschaft muss sich dahingehend öffnen: Wer um ausländische Fachkräfte wirbt, muss auch lernen, mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zusammenzuarbeiten. 126 Die Ergebnisse des Dialogforums wurden Ende Juni 2011 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales veröffentlicht14 und werden in den Nationalen Aktionsplan Integration eingehen. Martin Gillo machte in den Diskussionen immer wieder auf die Sondersituation der Neuen Bundesländer aufmerksam. Hier lassen sich gerade für den Bereich Arbeitsmarkt und Erwerbsleben Potentiale entdecken – wenn man von der defizitorientierten Perspektive abrückt. Wenn also der Abschlussbericht des Dialogforums 3 „Arbeitsmarkt und Erwerbsleben“ eine signifikant schlechtere schulische und berufliche Qualifikation von Migranten auch der zweiten oder dritten Generation konstatiert, so ist das für den Freistaat Sachsen gerade nicht zutreffend. Das belegen die hohen beruflichen Qualifikationen der vielen Migrantinnen und Migranten in Sachsen, deren Integration in den Arbeitsmarkt eben nicht an einer fehlenden Qualifikation, wohl aber an der fehlenden Anerkennung ihrer Qualifikation scheitern. 3.5 Wir bleiben im Gespräch Eine unserer wichtigsten Arbeiten im Bereich Vernetzung sehen wir in der Information unseres Netzwerkes, der Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung durch ein tagesaktuelles Internetangebot und einen wöchentlich erscheinenden Newsletter. Dieser basiert auf eigenen Recherchen, Informationen unserer Netzwerkpartner und Informationen bundesweiter Partner. Großen Raum nehmen die Beantwortung von Presseanfragen und eine aktive sachgerechte Pressearbeit ein. Der Beauftragte und seine Mitarbeitenden verfolgen die relevanten Beratungen im Parlament, nehmen Stellung oder suchen gemeinsam mit anderen Akteuren Lösungen. Informiert wird dabei über bundesweite Entwicklungen und Zusammenhänge, über prägnante Beispiele, Gerichtsentscheidungen oder parlamentarische Beratungen; außerdem über Veranstaltungen und Beratungsangebote. Die Geschäftsstelle versteht sich bei der Information und Schulung auch als eine Art Drehscheibe, 14 http://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/inhalt.html 127 welche die verschiedenen Beteiligten von den Migrantengruppen über die Entscheidungsträger, bis zu den einzelnen Beraterinnen mit Wissen und Anregungen versorgt. Angesprochen sind grundsätzlich Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Gegenseitige Information und Verständnis ist grundlegend für die Entwicklung einer Willkommensgesellschaft. Zum Empfängerkreis gehören also Asylsuchende und Migranten in gleicher Weise wie etwa Mitarbeiter von Ordnungsämtern oder Fachanwälte. Mittler von Informationen Im Jahr 2011 wurden neben den vorgestellten Publikationen und Handreichungen auch eigene Informationsträger verwendet. Stets mit einer positiven Botschaft besetzt, welche die Vorteile der Weltoffenheit und Diversität im Blick hat, wurden Türanhänger, interkulturelle Kalender und Sattelschoner - die zu Respekt auffordern – eingesetzt. In den Rundbriefen oder bei Veranstaltungen wurde über die Angebote und Aktionen anderer Integrationspartner, wie etwa der sächsischen und der bundesdeutsche Ministerien, informiert oder für diese direkt geworben. Die Handreichungen der bundesweit agierenden Beratungsstellen, die Studien der Stiftungen oder Hochschulen wurden ebenfalls an die Wirkenden im Netzwerk weitergegeben. Direkter Dialog mit Stiftungen, Vereinen oder Bildungsträgern Im Jahr 2011 beteiligten wir uns an zahlreichen Podiumsdiskussionen oder Gesprächsrunden. Martin Gillo warb im Rahmen von Veranstaltungen, Vorträgen oder Seminaren für eine Willkommensgesellschaft und informierte über Problemlagen und wichtige Entwicklungen wie die Anerkennung von Qualifizierungen, seine systemischen Empfehlungen oder die Konsequenzen aus der Bevölkerungsentwicklung in Sachsen. So wurde gemeinsam mit der KonradAdenauer-Stiftung ein thematisches Bildungswochenende zum Thema Heimat konzipiert und im Europäischen Begegnungszentrum Kloster St. Mariental durchgeführt. 128 Ein Beispiel für die Beratung und Beteiligung ist die Zusammenarbeit mit der Verwaltungsspitze der Technischen Universität Dresden. Hier gilt es zum einen die Bedingungen für die ausländischen Mitarbeiter und Lehrkräfte und zum anderen die Attraktivität für ausländische Studierende zu optimieren. 20 Jahre »Integration durch Sport in Sachsen 2011 feierte der Landessportbund Sachsen das zwanzigste Jahr des Programms ≫Integration durch Sport≪. Dieses Programm wird vom Bundesministerium des Innern gefordert und vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und seinen Mitgliedsorganisationen durchgeführt. Das Programm hat zum Ziel, dass Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht und Alter gemeinsam Sport treiben. Heute arbeiten 32 sächsische Sportvereine als Stutzpunktvereine im Rahmen des Programmes ≫Integration durch Sport≪. Diese Stutzpunktvereine engagieren sich gezielt für die Integration von Zuwanderern in das Vereinsleben und in die Gesellschaft. Dafür setzen sie auf eine gezielte Qualifizierung ihrer Vorstände und Mitglieder, um damit die interkulturelle Öffnung des Vereins voranzubringen und die Mitglieder interkulturell zu bilden. Außerdem haben viele der Vereine Integrationsbeauftragte berufen, um die Integrationsarbeit konkret und abrechenbar zu gestalten. Die Erfolge dieses Ansatzes zeigten sich beim Wettbewerb um den Sächsischen Integrationspreis 2011, bei dem sich insgesamt fünf Stutzpunktvereine beteiligten. Ein Hohepunkt der Programmarbeit war die traditionelle Street Soccer - Tour, für die Martin Gillo auch 2011 wieder die Schirmherrschaft übernommen hatte Zitat Martin Gillo „Es gibt keine schwarz-weißen Lösungen bei der Integration, der demografischen Entwicklung oder der Anerkennung von Berufen. Es kommt bei den Lösungsansätzen auf das Wörtchen „und“ an, sowie die Perspektive des „Sowohlals-Auch.“ 129 Ausblick 2012 Im vergangenen Jahr haben wir einige wichtige Initiativen auf den Weg gebracht, die wir 2012 weitertragen und begleiten werden. Das gilt zum Beispiel für das Thema Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Wir werden uns dafür einsetzen, dass die Anregungen des Runden Tischs „Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse“ Eingang in den sächsischen Gesetzgebungsprozess finden. Auch bei der Vernetzung der sächsischen Integrations- und Inklusionsakteure sind wir einen guten Schritt vorangekommen. Auch hier bleiben wir dran. Deutsch für alle – 99 Wege zur deutschen Sprache: Das war ebenfalls eine wichtige Initiative des vergangenen Jahres. Wir werden weitere Schritte gehen, um auch diejenigen, die keinen Anspruch auf einen staatlich geförderten Sprachkurs haben, zu ermutigen, unsere Sprache zu erlernen. Selbstverständlich werden wir auch weiterhin konstruktiv die Verbesserung der Unterbringungsbedingungen in den sächsischen Gemeinschaftsunterkünften begleiten. Unsere Anregungen für mehr Menschenwürde bei der Unterbringung von Asylsuchenden sollten geprüft und umgesetzt werden. Mehr bleibt zu tun. Gerade der „Heim-TÜV“ ist auch außerhalb des Freistaates Sachsen auf viel Interesse gestoßen. Wir haben das Instrument so entwickelt, dass es auch von anderen unabhängig von uns angewendet werden kann. Hier stehen wir bereit, Anleitung und Orientierung zu geben. Außerdem werden wir weiter an der Verbesserung des Instrumentariums arbeiten und laden dazu wichtige Akteure ein, die dabei mitwirken wollen. Das Ziel all unserer Arbeit bleibt bestehen: Wir wollen Sachsen auf der Reise zu einer Willkommensgesellschaft unterstützen und ermutigen. Wir wissen, dass wir bei dieser Reise nicht allein sind. Viele engagieren sich dafür, dass Sachsen eine noch weltoffenere und tolerantere Gesellschaft wird, in der sich Alle mit Respekt begegnen – unabhängig von den kulturellen, ethnischen oder religiösen Wurzeln. Aus diesem Grunde wende ich mich an Sie, liebe Wegbereiterinnen und Wegbereiter der Willkommensgesellschaft. Wir setzen gemeinsam auf Zukunft. Und für diese 130 Zukunft brauchen wir gesellschaftlichen Fortschritt, Innovationen im Zusammenleben und neue Ansätze im konstruktiven Miteinander über Kulturen und Nationen hinweg. Woher kommen diese sozialen Innovationen? Wer erfindet sie? Wer führt sie weiter? Die Geschichte wirtschaftlicher und technologischer Innovationen zeigt, dass gute Ideen überall entstehen können. Entscheidend ist dabei häufig, dass die guten Ideen erkannt, aufgegriffen und vor allem umgesetzt werden –daran sind fast immer viele Menschen beteiligt. Das Gleiche gilt für soziale Innovationen. Auch sie kommen nur selten von einer dafür beauftragten Person. Zu meinen Aufgaben zählt nach dem Gesetz zum Beispiel die „…Förderung der gesellschaftlichen Eingliederung der hier auf Dauer oder langfristig lebenden Ausländer…“. Die Realität der vergangenen Jahre hat uns gezeigt, dass für ein konstruktives Miteinander aller Menschen mehr notwendig ist als die Anpassung der hier lebenden Migrantinnen und Migranten. Dazu braucht es eine interkulturell offene und kompetente Gesellschaft. Wenn wir auf unsere Zukunft schauen, dann wissen wir, dass wir noch weiter gehen müssen: Hin zu einer Willkommensgesellschaft, die die Vielfalt ihrer Mitglieder als Chance erkennt und die mit dieser Offenheit, mit Respekt und Flexibilität um Talente aus aller Welt wirbt. Ich bin nicht so verblendet, zu glauben, dass neue Ideen dafür nur von mir kommen können. Deshalb sehe ich mich in dieser Funktion weniger als Erfinder, denn als Moderator für neue Ideen und soziale Innovationen. Eine solche soziale Innovation ist der Gedanke der sozialen Inklusion. Inklusion ist ein Schlüsselbegriff für die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in unsere Gesellschaft. Der sächsische Ausländerrat hat während einer Veranstaltung im Jahr 2011 gezeigt, dass dieses Konzept auch für unser Zusammenleben mit Migrantinnen und Migranten gilt. Sie sind unsere Mitmenschen, manche sind Mitmenschen auf Zeit, aber sie sind unsere Mitmenschen. Wir leben gemeinsam in unseren Wohnvierteln, unsere Kinder gehen gemeinsam in die Schule, wir arbeiten und studieren zusammen, wir teilen politische, kulturelle und gesellschaftliche Interessen. Es ist falsch, eine große Gruppe von ihnen gänzlich von allen Einbeziehungsbemühungen auszuschließen. Es ist falsch, weil die Realität eine andere ist. Das Konzept der sozialen Inklusion macht uns klar, dass alle bei uns 131 lebenden Menschen Teil unserer Gesellschaft sind, solange sie bei uns leben. Wir werden diese Idee gemeinsam mit unserem Netzwerk weiter verfolgen und sind gespannt auf neue Impulse. Und wo ist die nächste gute Idee für unsere Willkommensgesellschaft? Liebe Wegbereiterinnen und Wegbereiter, ich bin überzeugt, viele von Ihnen haben gute Ideen. Lassen Sie uns diese Idee diskutieren, machen wir sie der Öffentlichkeit bekannt und sorgen wir gemeinsam für ihre Umsetzung. Wir werden 2012 gezielt Möglichkeiten dafür schaffen, dass sich engagierte Menschen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft in diesen Prozess einbringen können. Dabei wollen wir uns regelmäßig über Ideen für eine Willkommensgesellschaft austauschen und für die Umsetzung der besten Ideen werben. Sind Sie interessiert? Dann machen Sie mit! Zeigen Sie uns, was Sie tun mochten und können, um Sachsens Reise zur Willkommensgesellschaft zu unterstutzen. Was immer wir tun: Es geht um unsere gemeinsame Heimat Sachsen. Bleiben Sie uns treu. Unterstützen Sie unsere Arbeit. Und zeigen Sie uns, wie wir vorankommen können. In unser aller Interesse. 132 3.5.1 Ich habe einen Traum Ich heiße Dao Ngoc Mai. Ich bin 20 Jahre alt, wurde in Dresden geboren und studiere Grafik-Design im 1. Semester in Hamburg. Ich habe schon sehr früh mit dem Zeichnen angefangen - meine allererste Zeichnung habe ich mit 4 Jahren im Kindergarten gemalt. Seitdem macht es mir noch mehr Spaß. Neben dem Zeichnen spiele ich Gitarre, lese Bücher und schaue mir gute Filme mit Freunden an. Ich fotografiere auch gerne interessante Orte und Dinge, die mich in der Stadt umgeben und ich kann stundenlang im Großen Garten Fahrradfahren. In allem, was ich tue und kreiere, höre ich Musik, weil sie ein essentieller Teil in meinem Leben geworden ist. Ich denke, ich bin ziemlich gut darin, mich einfach zurückzulehnen und das Leben zu genießen - das ist wahrscheinlich das Hobby, womit ich am meisten und am liebsten beschäftigt bin. Ich würde ohne Zweifel Dresden als meine Heimat definieren. Ich wurde hier geboren, bin hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und habe auch meine Schulbildung mit dem sächsischen Abitur abgeschlossen. Meine Identität ist mit Dresden sehr eng verwurzelt, weil ich meine ersten 19 Lebensjahre hier verbracht habe. Jedes Mal, wenn ich meine Familie besuche, freue ich mich, weil mir alles, was ich sehe, so vertraut und bekannt vorkommt. Wenn ich in der Stadt bin und mir Gedanken wie „An dieser Straßenecke hast du dich zum allerersten Mal mit deinem Brieffreund getroffen“ oder „In diesem Restaurant hast du mit deiner Familie deinen Geburtstag gefeiert“ automatisch in den Sinn kommen, weiß ich, dass ich wieder zu Hause bin. Ehrlich gesagt habe ich noch nie richtig Heimweh gehabt, weil ich bis vor kurzem noch bei meiner Familie lebte und sie vorher sehr selten für eine längere Zeit nicht gesehen habe. Als ich jedoch einmal abends mit einer Mitfahrgelegenheit von Hamburg nach Dresden gefahren bin, habe ich lange aus dem Fenster nach oben geschaut. Während ich den dunklen Himmel mit den Sternen beobachtete, dachte ich an meine Familie und habe angefangen leise zu weinen, da mir in diesem Moment klar wurde, wie sehr ich sie vermisse. 133 Ich denke, Heimweh ist gut, weil es dir zeigt, dass du irgendwo hin- und dazugehörst und weil du weißt, dass es da draußen jemanden gibt, dem du viel bedeutest. Dieses Gefühl verbindet dich immer und überall mit deinem Ursprungsort - egal, wie weit du von ihm entfernt bist. Meine Mutter erzählte mir einmal die Geschichte eines alten Mannes, der vor langer Zeit als Baby mit seinen Eltern aus China nach Vietnam einwanderte und durch sein Leben dort praktisch zum waschechten Vietnamesen wurde. Die Jahre vergingen und der alte Mann wusste, dass er bald sterben würde. Mitten in der Nacht machte er sich trotz seines von Krankheit geschwächten Körpers auf die Reise nach seiner Heimat. Wenige Stunden später fand ihn die vietnamesische Polizei - er starb an der Grenze zwischen China und Vietnam. Solch eine Begebenheit etwa beweist eindeutig, was für einen starken und unkontrollierbaren Einfluss der Heimatinstinkt auf das Unterbewusstsein eines Menschen haben kann. Ich persönlich empfinde es als großes Glück, von zwei so gegensätzlichen Kulturen umgeben aufgewachsen zu sein. Man beginnt, die Dinge von einem anderen Blickpunkt zu betrachten und nimmt aus beidem sozusagen „Das Beste“ mit, was für einen selbst am wichtigsten ist. Zum Beispiel habe ich Werte wie Pünktlichkeit, Toleranz, Umwelt und Gründlichkeit aus Deutschland - den hohen Stellenwert der Familie, die einfache und schlichte Lebensart, den Respekt vor Autorität und die Geselligkeit aus Vietnam. Es gibt also Vieles, an denen beide Kulturen auseinandergehen und worin sie sich wie Geschwister ähneln. Man muss eben nur herausfinden, welche Aspekte man für ein gemeinsames und auch sein eigenes Leben in den Vordergrund stellen will, damit ein Zusammenleben zustande kommt. Ich bin der Meinung, dass man von jeder Kultur viel lernen und dadurch auch die Qualität der eigenen verbessern kann. Durch das Leben mit meiner Familie und der deutschen Gesellschaft kam ich schon sehr früh mit der deutschen und der vietnamesischen Sprache in Berührung. Wenn ich im Kindergarten oder in der Schule war, habe ich Deutsch gesprochen und daheim habe ich dann meinen Eltern auf Vietnamesisch erzählt, wie mein Tag war. Während meiner Schulzeit habe ich noch drei weitere Sprachen gelernt, was mir aufgrund meiner bilingualen Erziehung überhaupt nicht schwer fiel. 134 Ich kann mich noch ziemlich gut daran erinnern, wie ich mich früher während des Abendessens oft mit meiner Schwester gestritten habe. Meine Eltern waren davon natürlich überhaupt nicht begeistert, weshalb meine Mutter jedes Mal meinte: ,,Jetzt streitet euch doch mal auf Vietnamesisch, damit Papa und ich auch was mitbekommen.“ Daraufhin haben meine Schwester und ich ganz plötzlich mit dem Streiten aufgehört und einfach weitergegessen, während mein Papa anfing herzhaft zu lachen, weil er genau wusste, dass uns all die Beleidigungen und Schimpfwörter nicht auf Vietnamesisch einfielen. Und weil er lachte, haben dann alle mitgelacht und vergessen, böse aufeinander zu sein. … Was die gesellschaftliche Einstellung insgesamt betrifft, bin ich der Meinung, dass man sich nicht vor neuen Dingen verschließen und ein gesundes Maß an Offenheit und Toleranz den anderen entgegenbringen sollte. Wer nicht bereit ist, Neues kennenzulernen und sich dadurch als Mensch weiterzuentwickeln, der hat im Leben schon verloren. Eigentlich sollte man sich nicht unbedingt als Dresdner, Sachse, Deutscher oder Europäer bezeichnen - Weltbürger ist meiner Ansicht nach der beste Begriff dafür. Dao Ngoc Mai Ich heiße Kassem Taher Saleh und bin 18 Jahre alt. Ich besuche zurzeit die 12. Klasse des Beruflichen Gymnasiums für Gesundheit und Wirtschaft in Plauen. Ich bin im Irak geboren und lebe seit 2003 in Deutschland. Meine Familie besteht aus drei jüngeren Brüdern und meinen Eltern. In meiner Freizeit bin ich sehr vielfältig und versuche mich für andere Menschen einzusetzen. Ich bin Schülersprecher an meiner Schule und Kurssprecher an verschiedenen Kursen in der Jahrgangsstufe 12. In der START-Stiftung bin ich ebenfalls tätig und habe das „Verbundsprecher“-Amt zu leiten. Ich helfe anderen Migranten, indem ich sie in verschiedenen Ämtern als Dolmetscher begleite oder ihre Formulare ausfülle. Ich bin auch sportlich aktiv und spiele Fußball bei 1.FC Wacker Plauen. Ich lebe in der vogtländischen Hauptstadt und fühle mich sehr wohl in Plauen. Meine Heimatstadt ist sehr kulturell und die meisten Menschen respektieren mich und 135 meine Familie. In der Schule habe ich einen sehr guten Ruf und bin sehr hilfsbereit gegenüber den Lehrern und den Schülern. In Plauen fühle ich mich zu Hause, wenn der Umgang mit anderen Menschen offen und freundlich verläuft. Meine Familie und ich sind sehr froh, dass wir in Plauen leben und ein solches Umfeld haben. Im Oktober 2011 waren wir zum ersten Mal nach knapp neun Jahren wieder im Irak. Die Freude war sehr groß. Ich spüre an den Feiertagen Heimweh, weil meine Familienangehörigen und das Zusammensein mit ihnen in diesem Moment fehlen. Ebenfalls verspüre ich Heimweh, wenn meine Freunde über ihre Großeltern sprechen. Natürlich fehlen die Familienmitglieder bei den Geburtstagen. Heimweh drückt das Gefühl aus, dass man ein Mensch mit zwei Heimaten und zwei Identitäten ist, die letztlich in einander verschmelzen, es zeigt auch, dass zu Hause sein an mehreren Orten möglich ist und dass das Leben nur bedingt in nationale Grenzen passt. Die Sprachen bauen Brücken. Sie bieten mir die Möglichkeit Grenzen zu überwinden und zu vermitteln. Es ist auch denkbar, später im Berufsleben zum Beispiel bei internationalen Wirtschaftsverbindungen mitzuhelfen und so internationale Kooperationen mit zu gestalten. Neben den oben genannten Möglichkeiten kann man auch auf lokaler Ebene Menschen zusammenbringen, da man einen guten Kontakt zu zwei Welten hat. Wissen über die zwei Kulturen verschafft einen erweiterten Horizont und kann so helfen Vorurteile und Missverständnisse abzubauen. Auf dieser Basis kann der Erfahrungsaustausch beide Seiten befruchten und auch ich kann immer etwas dazu lernen. Die Asylpolitik sollte auf Integration gerichtet sein und nicht auf Ausgrenzung. Verständnis zwischen Menschen sollte ab dem Kindergartenalter und bis ins Erwachsenenalter durch entsprechende Projekte und Gesetzte gefördert werden. Für Integration sollte im großen Stil geworben werden und es sollten immer wieder Projekte initiiert werden. Das Asylverfahren soll in einem kürzeren Abstand entschieden werden. Die Bildungssituation für junge Migranten kann vor allem dadurch verbessert werden, dass nicht nur ein sofortiger Schulbesuch ermöglicht wird, sondern auch dadurch, 136 dass dieser Schulbesuch von Anfang an durch geeignete Unterstützung von Fachleuten intensiv begleitet wird. Nur so kann verhindert werden, dass junge Migranten gleich am Anfang den Anschluss verlieren. Diese Unterstützung muss über die Fördermaßnahmen in der Schule (Deutschkursklasse) hinausgehen. Es ist zum Beispiel wichtig, einerseits den Eltern durch interkulturell geschultes Personal die Bedeutung des Schulerfolgs für das Leben in Deutschland zu vermitteln und andererseits durch intensive praktische Begleitung den jungen Migranten die notwendigen Kompetenzen in die Hand zu geben. Kassem Taher Saleh Ich heiße Meryem Sialah Salman Hamdi. Ich wurde am 7.8.1997 in Holland (Emmeloord) geboren und meine Familie stammt aus der Türkei. Ich wohne jetzt in Meißen. Ich besuche die Pestalozzi - Mittelschule Meißen und gehe in die 8. Klasse. Mein Traumberuf ist, Krankenschwester zu werden. Seit der ersten Klasse träume ich schon davon. Jetzt will ich meine Chance nutzen und meinen Beruf erlernen. Ich liebe es Menschen zu helfen, sie wieder gesund zu sehen und mir macht es auch sehr viel Spaß in Gruppen zu arbeiten. Ich mache auch gerne Witze, bringe meine Freunde zum Lachen und ich bin wirklich froh, dass ich solche Freunde habe. Ich bin so ein Mensch, der selbstbewusst ist und auch seine Fehler einsieht. Egal was ich falsch mache, ich entschuldige mich bei jedem. Ich habe auch einen weichen Kern, wenn es mir schlecht geht, rede ich mit meiner besten Freundin. Ich habe ein sehr großes Vertrauen zu ihr. Sie spielt auch mit mir Handball. Handball ist so eine Sportart, die ich sehr liebe. Diese Sportart gibt mir alles. Es sind so viele Menschen, die mit mir spielen und mich gleichzeitig zum Lachen bringen. Das ist einmalig, so etwas muss man einfach lieben. Ich male auch gerne: ich war früher die Beste und bin es glaube immer noch. Ich war früher in der 137 Jugendkunstschule. Es hat mir Spaß gemacht, aber dann habe ich gemerkt, dass eine Sportart mich noch mehr inspiriert hat. Ich habe vor fünf Jahren eine Nachhilfelehrerin kennen gelernt, Frau F.. Ich kann sie nicht beschreiben, aber sie ist einzigartig, hilfsbereit und sehr nett. Sie hilft mir, wo sie kann. Sie ist dazu noch meine Patentante, einfach nur Klasse! Ich will hier in Meißen bleiben, der Ort ist wie mein Heimatort. Ich habe Freunde, Familie und nette Bekannte um mich herum, was brauche ich mehr? Ich will nur, dass es meiner Familie gut geht, das sie problemlos leben kann, dass wir uns wohl fühlen ohne den ganzen Stress um uns herum, das wäre mein Wunsch. Es ist selber für mich nicht einfach, wenn ich jemanden traurig sehe. Ich fühle mit denjenigen mit und helfe dort, wo ich nur kann. Ich liebe es Musik zuhören. Ich liebe das Ferienlager (in Filzteich, Schneeberg in Erzgebirge). Dort habe ich viele Freunde kennen gelernt, es war wunderbar! Ich wünsche mir wieder dorthin zu gehen. Es beginnt in den Sommerferien und es geht 10 Tage lang. Man kann verschiedenes machen, jeden Tag gibt es etwas zu erleben. Ich möchte auch gerne die Dinge wieder erleben, die mir besonders viel Spaß machen. Als ich in die erste Klasse kam, konnte ich kein Deutsch. Es war eine harte Zeit für mich, Wörter zu verstehen, die ich noch nicht einmal kannte. Es war nicht einfach für mich, aber mittlerweile habe ich alles im Griff! Die zweite, dann dritte und vierte Klasse habe ich zum Glück geschafft. Es standen auch viele Hortlehrer hinter mir und haben mir alles beigebracht (Wörter, Gegenstände…) Meine kulturellen Wuzeln liegen in der Familie. Ich bin froh, dass ich die Muttersprache Arabisch kann. Es ist keine leichte Sprache, aber ich finde es schön, wenn man drei Sprachen sprechen kann. Zum Schluss möchte ich mich noch einmal beim Freistaat Sachsen dafür bedanken, dass er meiner ganzen Familie in der schwierigen Zeit geholfen hat. Meryem Sialah 138 Ich bin Thuy My Pham, 18 Jahre alt, geboren in Dresden, Abiturientin am St. Benno Gymnasium Dresden und leidenschaftliche Musikerin. Ich bin zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen, jedoch kann ich meine vietnamesischen Wurzeln nicht wegdenken. Der Begriff Heimat hat für mich etwas mit Liebe und Geborgenheit zu tun. Und wer kann einem mehr Liebe und Geborgenheit schenken als seine Familie und Freunde? Ich fühle mich sowohl in Deutschland als auch in Vietnam zu Hause und betrachte beide Orte als meine Heimat. Um ehrlich zu sein fühle ich mich nur in meinem Elternhaus in Dresden „zu Hause“. Hier finde ich stets Zuflucht, Liebe und alles was man braucht – eine Familie. In Dresden fühle ich mich am wohlsten. Heimweh verspüre ich, wenn ich eine längere Zeit nicht zu Hause gewesen bin, z.B. wenn ich für mehrere Wochen im Urlaub bin, sprich über fast einem Monat. In diesen Situationen habe ich Heimweh nach Dresden. Doch Heimweh nach Vietnam verspüre ich fast permanent, wenn ich in Deutschland bin. Man möchte einfach mit der gesamten Familie zusammen sein. Ich glaube, ich habe manchmal auch das Bedürfnis danach, außerhalb dieses “Kulturmixes“ zu leben. So könnte ich nur die vietnamesische Kultur ausleben. Das Gute am Heimweh ist, dass man seine Wurzeln nicht vergisst und sich stets im Klaren ist, woher man kommt. Ich denke, es ist Migrationskindern in Deutschland eine sehr große Bereicherung in zwei unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen zu sein. Ich wurde bilingual erzogen und kann mittlerweile Vietnamesisch und Deutsch fließend sprechen, lesen und schreiben. Ich denke, das ist von Vorteil, in unserer heutigen Gesellschaft mehrere Sprachen sprechen zu können. Zumal sind Sprachkenntnisse in der Schule noch erweitert worden, worüber ich sehr dankbar bin. So denke ich, dass wir vietnamesische Schüler hier in Deutschland uns glücklich schätzen können, vom wunderbaren deutschen Bildungssystem, speziell sächsischen Bildungssystem, zu profitieren. Solch eine gute breitgefächerte Bildung wird so gut wie keinem Schüler in Vietnam geboten. Was auch von Vorteil für uns Kinder in Deutschland mit Migrationshintergrund ist, dass wir schon von klein auf zwei Kulturen kennen und in zwei Kulturen leben. Ich denke, dass wir unser Bundesland Sachsen mit unseren 139 verschiedenen kulturellen Wurzeln einfach viel bunter gestalten und mehr Leben und Kultur hineinbringen, seien es traditionelle Feste, wie z. B. das vietnamesische TetFest oder das chinesische Neujahrsfest, bei denen unseren deutschen Freunden die asiatische Kultur in Form von Gesangs- und Tanzdarbietungen näher gebracht wird, oder seien es die von der Stadt veranstalteten Interkulturellen Tage, bei denen alle in Dresden lebenden Kulturen vorgestellt werden. Auch ich bin mit 4 Jahren schon aktiv im Verein der Vietnamesen in Dresden tätig gewesen und versuche mit meinen musikalischen Beiträgen unsere traditionellen Feste interessant zu gestalten. Ebenfalls habe ich im Oktober 2010 ein Benefizkonzert für Agent-Orange-Kinder in Vietnam mit tatkräftiger Unterstützung von Freunden mit vietnamesischen, deutschen als auch italienischen Wurzeln veranstaltet. Heimweh zu haben ist etwas, was man für sich fühlt. Doch wenn man für seine Heimat etwas Gutes tut, wird einem ein Stück Heimweh gelindert und man kommt seiner Heimat noch ein Stück näher. Damit man sich in Sachsen zu Hause fühlen kann, gleichgültig woher man kommt, braucht man ein Umfeld, in dem man Geborgenheit und Liebe von seinen engsten Mitmenschen erfahren kann, besonders von seiner Familie. Außerdem wenn man die eigene Kultur und Sprache in Sachsen ausleben und pflegen kann, z.B. durch die traditionellen Feste, lebt man in der Gemeinschaft mit seinen Landsleute und kann sein „zu Hause“ aufbauen. Letztendlich kann ich sagen, dass das „zu Hause fühlen“ sehr viel damit zu tun hat, gewohnte Dinge und enge Bekannte um sich zu haben. Thuy My Pham Hey, wir sind Ysra und Zubeida Abdul Karim. Wir kommen ursprünglich aus Syrien und sind schon seit ca. 14 Jahren hier in Deutschland.Wir beide sind in der syrischen Stadt Dayr Azzor geboren. Ich, Ysra Abdul Karim, bin 19 Jahre alt und mache zurzeit eine Ausbildung zur technischen Assistentin für Informatik Profil Mediendesign. Danach möchte ich gerne mein Fachabitur in Richtung Gestaltung machen und anschließend studieren. Zu 140 meinen Hobbys zählen unter anderem das Fotografieren von Natur und Lebewesen und - nicht zu vergessen - das Bearbeiten der Bilder. Ich, Zubeida Abdul Karim, bin 17 Jahre alt und besuche zurzeit die 10. Klasse der Johann-Gottlieb-Fichte Schule in Mittweida und werde sie voraussichtlich Ende Juli abschließen und mit meinem Abitur beginnen. In meiner Freizeit lese ich sehr gerne Romane und treffe mich mit meinen Freunden. … Unsere Heimat Dayr Azzor liegt im Osten Syriens und ist eine beliebte Touristenstadt, da viele historische Denkmäler vorhanden sind. Wir können uns aber leider nicht viel an unsere Heimat erinnern, da wir noch sehr klein waren, als wir mit unseren Eltern nach Deutschland gekommen sind. Heimweh bekommen wir besonders stark, wenn unsere islamischen Feste stattfinden und wir sie ohne unsere Familie feiern müssen. In Sachsen fühlen wir uns immer dann wie zu Hause, wenn wir unsere Freunde um uns haben und etwas mit ihnen unternehmen können. Sie geben uns das Gefühl dazuzugehören. Dadurch, dass wir unsere Wurzeln in zwei verschiedenen Ländern haben, ist es sehr vorteilhaft für uns, da wir uns zwischen zwei Kulturen und Traditionen befinden und von jedem etwas lernen können. Außerdem erlernen wir mehr als nur eine Sprache und können mit allen kommunizieren. Damit sich alle Ausländer in Sachsen wohl fühlen, sollte es mehr Projekte geben, bei denen sich Ausländer und Deutsche näher kommen können, um Vorurteile abzuschaffen. Noch etwas zur eigenen Sache: Während meiner Ausbildung habe ich für 3 Monate an der Hochschule Mittweida im Bereich Medien mein Praktikum absolviert. Dort durfte ich einen Kurzfilm über die Stadt Mittweida drehen. Meine Idee dazu war es, die Ausländer dieser Stadt an verschiedenen Stellen in zwei kurzen Sätzen berichten zu lassen, warum sie Mittweida lieben. 141 Zum Beispiel sagten einige, dass sie den großen Sportplatz mögen, weil man hier mit seinen Freunden Sport machen kann oder den Markt, weil sie hier alles bekommen, was sie brauchen. Andere meinten, dass die Schulen hier besonders schön sind, weil die Lehrer den Unterricht interessant gestalten. Insgesamt sind alle doch glücklich, hier wohnen zu können. Der Name des Filmes heißt „Mittweida International“. Ysra und Zubeida Abdul Karim 142 Impressum Herausgeber Der Sachsische Auslanderbeauftragte Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 01067 Dresden Postanschrift: Postfach 120705 01008 Dresden Telefon: 0351 493 5171 Telefax: 0351 493 5474 [email protected] www.offenes-sachsen.de V.i.S.d.P: Dr. Ute Enderlein Mitarbeit: Dr. Ute Enderlein, Maria Friedrich, Prof. Dr. Martin Gillo, Markus Guffler, Anke Hering, Christiane Krebs, Hang Thanh Phung, Maria Richter, Jochen Vierheilig Beitrage von Gastautoren sind namentlich gekennzeichnet. 143 144