barrierefreie Textversion - Der Sächsische Ausländerbeauftragte

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Jahresbericht 2011
Sächsischer Landtag 5. Legislaturperiode
Der Sächsische Ausländerbeauftragte
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Vorbemerkungen zum Sprachgebrauch
Im Jahresbericht 2011 werden die Begriffe Menschen mit Migrationshintergrund,
Migrant, Zuwanderer und Ausländer verwendet.
Der Begriff Migrationshintergrund wurde mit dem Mikrozensus des Statistischen
Bundesamtes im Jahr 2005 eingeführt und bezieht sich auf den gesamten
Integrationsprozess, der generationenübergreifend stattfindet. Mit diesem Begriff sind
nicht mehr nur Aussagen über Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit
möglich. Der Begriff „Migrationshintergrund“ schließt vielmehr alle Menschen ein, die
entweder selbst über eine Migrationserfahrung verfügen bzw. deren Eltern
zugewandert sind. Nach der Definition des Statistischen Bundesamtes zählen zu den
Menschen mit Migrationshintergrund Personen mit einer ausländischen
Staatsangehörigkeit, (Spät-)Aussiedler sowie in Deutschland Eingebürgerte.
Daneben bezieht der Begriff auch in Deutschland Geborene mit deutscher
Staatsangehörigkeit ein, die zumindest einen zugewanderten oder als Ausländer in
Deutschland geborenen Elternteil haben. (Vgl. Statistisches Bundesamt:
Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund.
Ergebnisse des Mikrozensus 2007. Wiesbaden 2009, 6-7.)
Migranten sind Personen mit Migrationshintergrund, die selbst zugewandert sind.
Der Begriff Zuwanderer wird synonym zum Begriff Migrant verwendet, betont aber
stärker den Prozess einer künftigen oder gerade erfolgten Zuwanderung.
Der Begriff Ausländer wird vor allem in rechtlicher und statistischer Hinsicht
verwendet und bezieht sich auf alle Menschen, die nicht über die deutsche
Staatsangehörigkeit verfügen. Der Jahresbericht 2011 kann überwiegend nur
Aussagen zu Ausländern vornehmen, da das Statistische Landesamt außer für den
Bereich der Schulbildung noch nicht über Zahlen zu allen Personen mit
Migrationshintergrund verfügt.
Soweit in diesem Bericht die männliche Form gebraucht wird, werden Männer und
Frauen in gleicher Weise angesprochen.
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Liebe Leserinnen und Leser,
haben Sie sich einmal gefragt, was der demografische Wandel für Sie persönlich
bedeutet?
Merken Sie schon heute, dass – gerade auf dem Land - vieles von dem, was vor
kurzem noch selbstverständlich war, wegfällt? Der Arzt im Ort, der Bus in die nächste
Stadt? Oder dass vieles teurer wird? Die Abwasserkosten, die Benzinkosten? Dass
Schulwege länger und die aufsuchende soziale Betreuung seltener werden? Dass
die Wirtschaft stagniert und die jungen Leute weggehen? Dass ihre Gemeinde immer
älter wird? Dass das einzige kleine Unternehmen vor Ort schließen muss, weil der
Besitzer keinen Nachfolger, und schon lange keine Lehrlinge mehr findet?
Und haben Sie sich schon einmal gefragt, wie das in Zukunft weitergehen soll?
Der Freistaat Sachsen hat bereits zweimal einen Blick in diese Zukunft geworfen.
Zwei Studien haben gezeigt, dass übermorgen nichts mehr so sein wird, wie es
heute ist - wenn so weiter machen wie bisher. Eine der Studien, „Sachsen 2025 –
Optionen für eine starke Zukunft“ ist in meiner Zeit als Wirtschaftsminister des
Freistaates Sachsen entstanden. Das ist fast zehn Jahre her.
Auch die jetzige Staatsregierung hat erkannt, dass wir endlich die Augen öffnen und
die Dinge sehen müssen, wie sie sind: Die Zukunftsreise Sachsens ist eine Reise in
einen demografischen Klimawandel. Unsere Gesellschaft schrumpft. Immer mehr
von uns werden immer älter. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Menschen im
erwerbsfähigen Alter. Mit dieser Zahl sinken die Geburten. Das sind Fakten.
Die wirtschaftlichen Folgen: Die Innovationskraft und die Wirtschaftskraft werden
sinken. Wir werden künftig langsamer und weniger kreativ agieren können.
Wir werden eine „Ruhestandsgesellschaft“. Gleichzeitig „erhitzt“ sich die Lage durch
die Weiterentwicklungen der Weltwirtschaft und durch Konkurrenz.
Abkühlung durch neue Ideen, durch Innovationen aus eigener Kraft, durch
Wirtschaftswachstum aus Sachsen heraus? Fehlanzeige. Der demografische
Klimawandel: Ein Teufelskreis?
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Nein, denn die Handlungsoptionen liegen auf dem Tisch. Sie sind bekannt – wir
müssen nur noch den Mut aufbringen, sie auch tatsächlich anzuwenden.
Warum wir dafür Mut brauchen? Weil wir uns jetzt dafür verändern müssen, weil wir
jetzt Gewohnheiten in Frage stellen und weil wir jetzt über unseren Schatten springen
müssen.
Die Sächsische Staatsregierung setzt in ihrem Strategiepapier »Sachsen 2020 –
Wegweiser für unseren Freistaat« auch auf Zuwanderung. Aus meiner Sicht hat
diese Handlungsoption drei Facetten.
Erstens geht es um eine gesteuerte Zuwanderung, die Fachkräfte aus aller Welt mit
Erfolg zu uns einlädt und versucht, sie bei uns möglichst lange zu halten.
Zweitens geht es um unseren Umgang mit den Migrantinnen und Migranten, die
bereits in Sachsen leben, um die Anerkennung ihrer Abschlüsse, um Respekt
gegenüber ihren Lebens- und Integrationsleistungen.
Und drittens geht es um eine neue Haltung gegenüber der humanitären
Zuwanderung.
Diese drei Facetten können wir nicht beliebig voneinander trennen; denn sie haben
eine gemeinsame Schnittstelle: Unsere eigene Haltung gegenüber Menschen aus
anderen Ländern.
Unterschwellig neigen viele von uns noch dazu, Ausländer in nützliche und unnnütze
Gruppen zu unterteilen. Diese Trennung ist aus der Perspektive der Menschenwürde
mindestens fragwürdig.
Außerdem ist sie kontraproduktiv; denn jeder Mensch hat Talente und Fähigkeiten,
die er in eine Gesellschaft einbringen kann – und will. Das gilt für Migranten ebenso
wie für Deutsche. Kontraproduktiv ist diese Perspektive auch, weil wir von außen
daran gemessen werden, wie wir mit Menschen aus anderen Ländern umgehen –
unabhängig von Leistung oder Status. „Man sieht es beim Brötchenkaufen
niemandem an, ob er Forscher oder Flüchtling ist.“, so hat es der Leiter eines
Dresdner Max-Planck-Institutes auf den Punkt gebracht.
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Auf unsere Haltung kommt es an. Humanitäre Zuwanderung hat ihre Regeln – und
da steht nirgendwo, dass Asylsuchende als Menschen zweiter Klasse behandelt
werden sollen. Sie sind heute oft noch Mitmenschen im Schatten, aber sie sind
Mitmenschen.
Internationale Studierende, Forscher und Fachkräfte können uns dabei helfen, den
demografischen Teufelskreis zu durchbrechen. Das wird aber nur gelingen, wenn sie
merken, dass wir allen Menschen aus anderen Ländern mit Respekt begegnen. Und
wenn wir sie mit ihren Talenten und in ihrem Anderssein anerkennen.
Derzeit studieren viele junge Menschen aus den anderen Bundesländern und aus
dem Ausland an sächsischen Hochschulen. Wir bilden sie aus. Sie profitieren von
unserer Bildungslandschaft, von unserer Innovationskraft, von unserer Geschichte
und unserer Kultur. Wir sollten deshalb alles dafür tun, dass sie Sachsen zu ihrer
zweiten Heimat machen. Auch hier kommt es vor allem auf unsere Haltung an –
respektvoll und werbend für unseren Freistaat. Fremdenskepsis aber, der alltägliche
kleine Rassismus, Gewalt in Worten und Taten und Gleichgültigkeit werden dazu
führen, dass sie wieder gehen.
Wir stehen also vor der Wahl: Wollen wir eine Ruhestandsgesellschaft und ein
Transitland werden oder wollen wir ein vielfältiges, innovatives und offenes Land
bleiben?
Wer die zweite Antwort wählt, setzt auf die Willkommensgesellschaft. Eine
Willkommensgesellschaft, die Talente nicht nur einlädt, sondern auch eine
lebenswerte Heimat für sie sein will. Eine Willkommensgesellschaft, die sie ermutigt,
sich konstruktiv bei uns einzubringen. Eine Willkommensgesellschaft, die Chancen
für alle eröffnet. Denn gegen den demografischen Klimawandel hilft nur ein „Sowohlals-auch“ an Chancen für junge Menschen und für ältere Arbeitnehmer und für
Frauen, die erwerbstätig sein wollen und für Arbeitssuchende und für Talente aus
alle Welt.
Diese Aufgabe wird uns längere Zeit beschäftigen, denn das Ziel ist für viele noch
immer nicht selbstverständlich - mehr noch: Dieses Ziel löst bei vielen noch immer
Ängste und Sorgen aus.
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Umfragen in Dresden haben ergeben, dass sich 56% der Befragten für eine
Willkommensgesellschaft aussprechen. Das ist etwas mehr als die Hälfte.
Fragen wir uns, wie hoch der Prozentsatz in den ländlichen Regionen Sachsen wäre.
Ich vermute, dass die Akzeptanz wesentlich niedriger sein würde - und dass, obwohl
oder gerade weil der Ausländeranteil in den ländlichen Regionen bei nur etwa einem
Prozent liegt.
Die Willkommensgesellschaft beginnt bei uns selber. Haben wir also den Mut und
hinterfragen wir unsere eigenen Muster, in denen wir über „Ausländer“ und
„Migranten“ nachdenken. Nehmen wir z.B. den Begriff der „Integration“. Dabei gehen
wir davon aus, dass sich Menschen aus anderen Ländern bei uns integrieren, sich
anpassen müssen – beispielsweise, indem sie unsere Sprache erlernen oder sich
unseren Regeln anpassen. Das ist richtig und gleichzeitig nur die halbe Wahrheit.
Denn die Bereitschaft zur Integration brauchen beide Seiten: Migranten und die
aufnehmende Gesellschaft.
Integration ist auch deshalb nur die halbe Wahrheit, weil dieses Konzept aus
rechtlicher Perspektive nur auf die sogenannten „daueraufenthaltsberechtigten“
Ausländer zielt – und damit viele Gruppen aus unserem Denken ausblendet.
 Was ist zum Beispiel mit den ausländischen Fachkräften, die für eine Reihe
von Jahren nach Sachsen kommen und nicht wissen, ob sie langfristig bei uns
bleiben?
 Was ist mit den ausländischen Studenten? Wenn wir wollen, dass sie sich
Sachsen zur Heimat machen, dann sollten wir sie nicht ignorieren.
 Was ist mit den Flüchtlingen, die bei uns um Asyl bitten, und oftmals Jahre
warten müssen, bis ihr Fall entschieden ist?
All diese Ausländer kommen nicht in den Genuss von staatlich geförderten
Integrationsangeboten. Die einen, weil unterstellt wird, dass sie es nicht brauchen
und die anderen, weil man nicht will, dass sie sich integrieren.
Trotzdem leben sie mit uns. Und sie haben Rechte und Pflichten, und zwar die der
sozialen Inklusion (siehe Dokumentation S. ). Dass diese Rechte und Pflichten nicht
ignoriert, sondern respektiert und verwirklicht werden, das gehört zu den Elementen
der Willkommensgesellschaft.
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Was bedeutet soziale Inklusion?
Soziale Inklusion zielt auf ein konstruktives Zusammenleben aller bei uns lebenden
Menschen, ob das nun dauerhaft oder vorübergehend sein mag. Auch
"Mitmenschen auf Zeit" haben ein Anrecht auf Menschenrechte, auf Schul- und
Bildungszugang im Schul- und Bildungsalter und auf Zugang zu unserer Kultur, um
nur einige davon zu nennen. In diesem Sinne haben auch Asylsuchende ein Recht
auf soziale Inklusion, sei es hinsichtlich der menschenwürdigen Behandlung oder bei
der Begleitung ihrer schulpflichtigen Kinder.
Auf der anderen Seite haben sie auch Inklusionsverpflichtungen: Wir erwarten von
allen bei uns lebenden Menschen, dass sie unser Gesellschaftssystem und die
Prinzipien der europäische Leitkultur respektieren, zu denen das Bekenntnis zu
Demokratie, Laizismus, zu den allgemeinen Menschenrechten und den Prinzipien
der Aufklärung und der Zivilgesellschaft gehören. Wir haben die Verpflichtung, ihnen
den Zugang zu diesen Dingen zu vermitteln.
Soziale Inklusion setzt innerhalb der europäischen Leitkultur auf gegenseitigen
Respekt – unabhängig von den kulturellen und religiösen Wurzeln, unabhängig von
der Herkunft. Dieser Respekt ist das Fundament der Willkommensgesellschaft, für
die wir uns engagieren.
Eine solche Gesellschaft ist kein Hirngespinst – das zeigen unter anderem die
Träume der Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation, die in Sachsen
leben. Wir haben einige von ihnen für diesen Jahresbericht interviewt. Unter dem
Motto: „Ich habe einen Traum…“ wollten wir von ihnen wissen, ob sie sich in
Sachsen zu Hause fühlen, was Heimat für sie bedeutet und wie es ist, wenn man
kulturelle Wurzeln in mindestens zwei Ländern hat. Außerdem wollten wir wissen,
was wir tun können, damit man sich in Sachsen zu Hause fühlen kann - gleichgültig
woher einer kommt. Die Antworten die sie in diesem Bericht finden zeigen: Eine
Willkommensgesellschaft ist nicht nur Sache der großen Politik. Jeder kann dazu
beitragen – in der Nachbarschaft, in der Schule, unter den Kollegen, im Sportverein,
in der Kleingartensparte – letztlich sogar am Stammtisch.
Eine Willkommensgesellschaft ist kein Luxus für den Freistaat Sachsen. Er ist eine
notwendige Überlebensstrategie. Denn der demographische Klimawandel ist real.
Wir stecken mitten drin. Mit jeder Generation verlieren wir 35% unserer Bevölkerung.
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Hinzukommt die Abwanderung junger talentierter Menschen aus Sachsen in andere
Regionen Deutschlands und die ganze Welt. Vielleicht kann eine respektvolle und
tolerante Willkommensgesellschaft auch helfen, sie in Sachsen zu halten?
„Sachsen ist 2020 ein Entwicklungsmotor in Deutschland. Lebendigkeit,
Weltoffenheit, Innovationsfreude und Bildungskompetenz sind Stärken der Menschen
in Sachsen“ – so steht es im strategischen Grundsatzpapier der Sächsischen
Staatsregierung „Sachsen 2020 - Wegweiser für unseren Freistaat“.
Als Ausländerbeauftragter für den Freistaat gehört es zu meinen Aufgaben, mich für
die Belange der bei uns lebenden Ausländer einzusetzen. Doch wer über diese
Aufgabe nachdenkt, entdeckt schnell, dass sie nicht ohne den gesellschaftlichen
Gesamtzusammenhang gesehen werden darf. Es gilt das Prinzip: Was gut für die bei
uns lebenden Migrantinnen und Migranten ist, ist noch besser für unsere
Gesellschaft. In diesem Sinne werbe ich für die sächsische
Willkommensgesellschaft.
Ihr Martin Gillo
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1
Willkommensgesellschaft Sachsen ................................................................... 11
1.1
Der Runde Tisch „Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse“ ............. 20
1.2
Deutsch für alle – 99 Wege zur deutschen Sprache.................................... 32
1.3
Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen ................................................... 37
1.3.1
Deutsche aus aller Welt feiern Einbürgerungsfest ................................ 38
1.3.2
Interkulturelle Woche „ Zusammenhalten - Zukunft gewinnen“ Zentrale
Veranstaltungen in der Universitätsstadt Freiberg ............................................. 40
2
1.3.3
Tag der offenen Tür .............................................................................. 45
1.3.4
Sächsischer Integrationspreis ............................................................... 48
Humanität und Menschenwürde ........................................................................ 57
2.1
Mitmenschen im Schatten - „Heim-TÜV“ 2011 über das Leben in
sächsischen Gemeinschaftsunterkünften.............................................................. 59
3
2.1.1
Das System der Unterbringung in Sachsen .......................................... 63
2.1.2
Erhebungsinstrument „Heim-TÜV“ ........................................................ 67
2.1.3
Unsere Vorgehensweise ....................................................................... 68
2.1.4
Die zehn Faktoren der Datenerhebung ................................................. 69
2.1.5
Systemische Probleme: Gute Absichten – Ungewollte Konsequenzen 70
2.1.6
Ergebnisse unserer Besuche ................................................................ 79
2.1.7
Systemische Lösungen für eine menschenwürdigere Unterbringung ... 83
2.2
Härtefallkommission .................................................................................... 90
2.3
Menschlichkeit möglich machen .................................................................. 93
2.4
Die menschliche Tragödie des Kamal K. in Leipzig ..................................... 94
Gemeinsam sind wir stark – Netzwerke für eine Willkommensgesellschaft ...... 98
3.1
Die Zusammenarbeit mit den kommunalen Ausländer- und
Integrationsbeauftragten im Freistaat Sachsen ..................................................... 99
9
3.2
Das Netzwerk Integration und Migration Sachsen ..................................... 120
3.3
Das bundesweite Netzwerk der Länder- und Kommunalen Integrations- und
Ausländerbeauftragten ........................................................................................ 123
3.4
Vom Nationalen Integrationsplan zum Nationalen Aktionsplan Integration:
Mitwirkung am Dialogforum „Arbeitsmarkt und Erwerbsleben“ ........................... 126
3.5
Wir bleiben im Gespräch ........................................................................... 127
Ausblick 2012 ......................................................................................................... 130
3.5.1
Ich habe einen Traum ......................................................................... 133
10
1 Willkommensgesellschaft Sachsen
„Ich bin ein Niemand.“
So beschrieb sich Sepehr, 25, ein homosexueller iranischer Flüchtling in einem
Interview mit der Sächsischen Zeitung Anfang des Jahres 2012. Sepehr sucht in
Sachsen Asyl und hat in verschiedenen sächsischen Gemeinschaftsunterkünften
gelebt. In der iranischen Republik gibt es offiziell keine Homosexualität, Präsident
Ahmadinedschad verlautete am Rande der UNO im Jahr 2011 sogar, dass es so
etwas nur in New York, aber nicht im Iran gäbe.
Sephers Familie hatte ihn zu einer Psychotherapeutin geschickt, damit die ihn von
seiner Homosexualität „heilen“ möge. Am Ende schlug die Therapeutin der Mutter
vor, sie solle vielleicht selbst zur Behandlung kommen. Für seine Familie existierte er
nicht. Nur für seine Großmutter.
Iranisches Recht ist bei diesem Thema mittelalterlich. Wenn sich vier Zeugen für ein
homosexuelles Verhalten finden, droht die Todesstrafe. Alles ist besser als der Tod,
und so kam Sepehr nach Deutschland.
Sepehr hat Abitur und hat „Deutsch als Didaktik“ zum Masterabschluss studiert. Er
spricht drei Sprachen. Normale Zuwanderung ohne Arbeitsgarantie ist in
Deutschland praktisch unmöglich. So blieb ihm nur der Weg als Flüchtling. Er lebt in
Sachsen zugewiesen und hofft, hier als Flüchtling akzeptiert zu werden.
Als politischer Flüchtling wird er nicht gelten. Doch die Lebensbedrohung im Iran ist
für ihn real.
Sepehr lebt in sächsischen Gemeinschaftsunterkünften und darf nicht arbeiten.
Wenn er nicht abgeschoben wird oder in absehbarer Zeit keinen Aufenthaltstitel
erhält, kann es gut sein, dass er in unseren Heimen seine Kompetenzen durch
erzwungenes Nichtstun langsam verliert. Mit der Zeit wird er Angebote für
Schwarzarbeit oder andere illegale Aktivitäten erhalten. Auch Alkohol und Drogen
locken einen Menschen, der zum Nichtstun verdammt ist. Aber vielleicht gibt er ja
„nur“ seine Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben auf.
11
„Wenn es um Menschenrechte geht, wird in Deutschland immer mit dem Finger auf
andere Länder gezeigt. Aber die Rechte von Asylsuchenden werden hier oft mit
Füßen getreten“, sagt Sepehr.
Schade. Dabei ist er eigentlich einer von denen, die wir in Deutschland, in Sachsen
dringend bräuchten: gut gebildet, der deutschen Sprache und unserer Kultur
zugetan, fließend auch im Englischen, kompetent für viele verschiedene
wirtschaftliche oder kulturelle Aufgaben. Die Zuwanderungsinitiative der sächsischen
Staatsregierung hat qualifizierte Menschen wie ihn im Blick.
Warum beginnen wir das Thema Willkommensgesellschaft Sachsen eigentlich mit
der Geschichte von Sepehr? Christen kennen das Gebot: Was ihr für die Geringsten
unter euch tut, das tut ihr für mich. Auch säkulare Humanisten bekennen sich zu
diesem Prinzip. Sepehr ist in diesem Sinne einer der Geringsten unter uns. Seine
Situation fordert unser bisheriges Denken heraus und ermutigt uns, neue
Perspektiven zu suchen. Die Willkommensgesellschaft ist eine solche neue
Perspektive, mehr noch: sie ist für Sachsen ein neues Paradigma.
Neues Paradigma Willkommensgesellschaft
Die Grundidee der Willkommensgesellschaft ist denkbar einfach: Eine
Willkommensgesellschaft bekennt sich zu gegenseitigem Respekt und
Gemeinsamkeit in Vielfalt in vielen Lebensbereichen und fördert ein konstruktives
und friedliches Zusammenleben, Zusammenarbeiten und gemeinsames Gestalten
der Zukunft.
Eine Willkommensgesellschaft ist eine Gesellschaft mit einem erweiterten
Selbstverständnis, weg vom Ideal der Homogenität der Lebensweisen,
Überzeugungen und Kulturen hin zur Wertschätzung von „gesellschaftlicher BioDiversität“.
Doch warum sollten wir unser gewohntes Ideal von einer homogenen Gesellschaft
ablegen? Warum sollten wir das neue Paradigma einer offenen
Willkommensgesellschaft begrüßen, in der sich das bisher Gewohnte und Geliebte
mit Neuem, Ungewohnten und Anderem zu einer neuen Qualität, zu neuen kreativen
Lösungen verbindet?
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Was das Alte und das Neue verbindet, ist die Bedeutung der Gemeinsamkeit. Neu
am Neuen ist die Offenheit für die große Vielfalt unter dem Dach der Gemeinsamkeit.
Die Welt ist im Umbruch. China, bis vor kurzem noch in der Dritten Welt, hat uns als
Exportweltmeister abgelöst und besitzt die größten Geldreserven der Welt. China ist
der größte Kamera- und Computerproduzent, dominiert den Weltmarkt in vielen
Bereichen, auch den für Solarzellen. Auf jeden Ingenieur, der in Deutschland die
Hochschule verlässt, graduieren 100 Ingenieure in China. Indien will die Welt der
Software dominieren und ist auf gutem Weg dorthin.
Auch Sachsen will sich behaupten. Und das kann es auch, wenn es bewährte
Erfolgsstrategien einsetzt, die die Konkurrenzfähigkeit seiner Produkte und
Dienstleistungen durch Innovationskraft aufrechterhalten. Die sächsische
Industriepolitik hat nach 1990 ganz bewusst auf das Erfolgsrezept des
amerikanischen Silicon Valley, auf die sogenannte „Cluster-Politik“ gesetzt. Sachsen
hat auf Wirtschaftsregionen gesetzt, im Automobilbau, im Maschinenbau und in der
Mikroelektronik. Drei große Automobilhersteller und Hunderte von Zulieferern sind
die Bestätigung dieser Politik. Das sächsische Silicon Saxony ist heute mit 40 000
Arbeitsplätzen die größte Mikroelektronikregion Europas.
Wir haben es auch geschafft, ein attraktiver Standort für internationale Unternehmen
zu werden. 20 Prozent der Arbeitsplätze im Freistaat befinden sich bei Unternehmen
mit ausländischen Eigentümern.
Doch die Konkurrenz schläft nicht. Mit weniger Fördermitteln als in den letzten 20
Jahren müssen wir neue Wege finden, um konkurrenzfähig zu bleiben und noch
konkurrenzfähiger zu werden.
Die richtige Antwort heißt „Willkommensgesellschaft“: Eine Gesellschaft, die Vielfalt
oder Diversität bewusst fördert, weil sie in ihr eine wesentliche Ressource für
Kreativität und Innovation sieht. Die stolz ist auf das, was sie bisher geleistet hat.
Und die angesichts der demografischen Entwicklung nicht von Ängsten, sondern von
Offenheit leiten lässt.
Wege zur Willkommensgesellschaft
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Der Wandel von einer eher homogenen zu einer Willkommensgesellschaft kommt
einem langen Marsch der Generationen gleich, der viele Wegstationen kennt:

Offen für Vielfalt
Offenheit ist für junge Menschen eine Selbstverständlichkeit. Doch je älter wir
werden, desto mehr vergeht uns die Neugier für Neues und damit auch die Chancen
im „anders denken“.

Neugierig auf die Unterschiede
Die Welt ist zu komplex, als dass wir sie in ihrer Vielfalt in allen Einzelheiten
erkennen können. Deshalb konstruieren wir uns Modelle von der Welt, die für
unseren Bedarf ausreichen müssen. Wenn wir uns dabei nicht mit anderen Kulturen
auseinander setzen müssen, landen wir schnell bei allzu einfachen Urteilen über
andere, häufig auch bei Vorurteilen. Wenn wir jedoch mit anderen Kulturen
zusammenleben wollen, dann müssen wir mehr über diese Kulturen erfahren wollen
und lernen. So konstruieren wir uns Modelle anderer Kulturen und Lebensweisen, die
ihrer Realität näher kommen und die unser Verhalten realitätsnäher machen.

Andere Kulturen und Lebensweisen anerkennen
Wenn ich will, dass meine eigene Lebensweise und meine Kultur von Anderen
anerkannt werden, dann muss ich selbst bereit sein, andere Kulturen und
Lebensweisen anzuerkennen - wenn sie mit unserer freiheitlich-demokratischen
Grundordnung vereinbar sind.

Respekt auf Augenhöhe
Jede Kultur hat ihre eigenen Stärken und Schwächen. Das gilt auch für unsere.
Wenn wir unserer Kultur sicher sind, dann respektieren wir sie und sind gleichzeitig in
der Lage, über unsere Schwächen zu schmunzeln. Das Gleiche gilt für andere
Kulturen.
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Meine Töchter wurden in Kalifornien geboren und verbrachten die ersten Schuljahre
dort. Sie waren überzeugt, dass Kalifornien das Zentrum des kulturellen Universums
war. Das änderte sich, als wir in die Schweiz zogen und sie dort mit
Klassenkameradinnen aus vierzig Ländern zur Schule gingen. Dabei lernten sie zwei
Dinge. Zuerst wurde ihnen klar, dass Kalifornien nicht das Zentrum des kulturellen
Universums ist. Dann stellten sie fest, dass das kulturelle Universum – wie auch
unser Kosmos - kein Zentrum hat. Alle Kulturen haben das gleiche Recht auf
Anerkennung und Respekt.
Natürlich werden wir immer unsere eigene Kultur bevorzugen, genauso wie wir
unsere Eltern am meisten lieben. Doch Respekt und Anerkennung verdienen alle
Kulturen.
Die Willkommensgesellschaft entdeckt und feiert Gemeinsamkeiten
Wer sich von kultureller Vielfalt bedroht fühlt, konzentriert sich häufig nur auf die
Unterschiede. Dabei übersieht er Dinge, die alle Kulturen gemeinsam haben und die
uns als Menschen verbinden.
Ein Beispiel ist die Nächstenliebe - ein Gebot, das alle Religionen und Kulturen
wertschätzen. Auch die Wertschätzung der eigenen Familie gehört dazu, ebenso wie
die tiefe Liebe zwischen Eltern und Kindern.
Auch das gute nachbarschaftliche Miteinander ist ein natürliches Streben aller
Menschen. Gemeinsam zelebrierte Feiertage verbinden. Iren z.B. feiern jedes Jahr
ihren Nationalheiligen, St. Patrick. An diesem Tag gibt es in vielen amerikanischen
Gaststätten grünes „irisches“ Bier, das jeder trinkt, ob irischer Herkunft oder nicht. Mit
der „Steubenparade“ in den USA feiert man den ehemals deutschen General
Steuben, der im Revolutionskrieg erfolgreich war. Diese Gelegenheit wird
selbstverständlich von allen mitgefeiert, auch von denen, die keine deutschen
Vorfahren haben.
Wann immer die „Ode an die Freude“ erklingt - Friedrich Schiller und Ludwig van
Beethoven erinnern uns immer wieder: Alle Menschen werden Brüder. Wir müssen
nur richtig hinhören.
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Die Willkommensgesellschaft ist innovativ: Sie kombiniert unterschiedliche
Stärken unter dem Dach des Miteinanders
Jede Kultur, jede Lebensweise hat Stärken. Warum nicht diese scheinbar
unterschiedlichen Stärken miteinander kombinieren und so neuartige kreative
Lösungen schaffen? Auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten können wir die
Möglichkeiten der Vielfalt nutzen, um neue, bessere Lösungen für unsere
Gesellschaft zu finden und unserer Gesellschaft dienstbar zu machen.
Altbewährtes ist genau das, was es sagt: Alt und in der Vergangenheit bewährt. Uns
geht es um die Zukunft. Wir wollen auch in der Zukunft erfolgreich sein. Das können
wir am besten, indem wir das Gute aus der Vergangenheit mit dem Potenzial der
Zukunft verbinden. Dieser Ansatz der Willkommensgesellschaft ist in der Politik auch
unter dem Namen „Großstadtkompetenz“ bekannt.
Die Vorzüge einer innovativen Willkommensgesellschaft wurden in den Vereinigten
Staaten erforscht. Im sehr erfolgreichen kalifornischen Silicon Valley arbeiten mehr
Migranten in Schlüsselfunktionen als Herkunftsamerikaner. Die Universität Berkeley
ist für die Internationalität ihrer Studentenschaft berühmt. Über 80 Prozent der
Wertschöpfung der amerikanischen Wirtschaft findet in unter 20 Prozent des Landes
statt. In den kreativen Regionen basiert der kulturelle und wirtschaftliche Erfolg auf
einer gelebten Willkommenskultur gegenüber anderen Kulturen, Nationalitäten und
Lebensweisen.
Machen wir in Sachsen uns das Prinzip der Willkommensgesellschaft zu eigen!
Offenheit und Respekt sind wirksame Rezepte gegen Fremdenskepsis und
Diskriminierung, Vielfalt eine wichtige Komponente der Innovationskraft eines
Landes.
Wir suchen derzeit Talente aus aller Welt. Wir bringen Bundesratsinitiativen ein, um
die Hürden für Zuwanderung von Qualifizierten und Engagierten auf ein realistisches
Maß zu reduzieren. Wir werben um Menschen aus aller Welt, die sich für unsere
Gesellschaft einsetzen wollen.
Dazu gehört allerdings auch ein Blick für die Talente, die schon bei uns leben. Dazu
gehört der Blick auf die vielen, die auf die Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse und
noch viel mehr auf eine Arbeit entsprechend ihrer Abschlüsse warten.
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Dazu gehört auch, dass wir Menschen wie Sepehr eine Chance geben, sich bei uns
einzubringen. Und Menschen wie Sepehr gibt es viele in Sachsen.
So ungewohnt das auch klingen mag: So wie wir mit Asylsuchenden umgehen, hat
das auch Auswirkungen auf unser Ansehen unter denen, die wir für uns gewinnen
wollen. Das gilt auch für Talente aus aller Welt, die sich überlegen, ob sie Angebote
aus Sachsen annehmen wollen, oder woanders hinziehen sollten. Viele von ihnen
kommen mit Familienangehörigen.
Wie werden sie in unserer Gesellschaft behandelt? Wie steht unsere Bevölkerung
zur Zuwanderung? Wie steht sie zur kulturellen Vielfalt? Wie selbstbewusst und
gleichzeitig offen können wir Menschen aus anderen Ländern bei uns aufnehmen?
Woran erkennen wir, dass wir persönlich in der Willkommensgesellschaft
angekommen sind? Daran, dass wir einen ehemals Fremden als einen von uns
erkennen. Hier ist ein kleiner Test: Wenn jemand deutscher Staatsbürger ist, studiert
hat, in einer Volkspartei aktiv ist und als Landesminister arbeitet, aber sich zu einer
anderen als der christlichen Religion bekennt, ist er dann einer von uns? Ganz
konkret: Ist die niedersächsische Sozial- und Integrationsministerin Aygül Özkan eine
von uns?
Selbstverständlich.
Im Januar 2012 wies die deutsche Wirtschaft erneut darauf hin, dass jedem dritten
Unternehmen schwere Probleme durch fehlende Fachkräfte drohen. Höchste Zeit für
eine innovative Willkommensgesellschaft in Sachsen.
„Was macht Sachsen zu einer Willkommensgesellschaft?“:
„Willkommen bei Ihrem MDR“ so grüßt der Mitteldeutsche Rundfunk seine
Zuschauer, Hörerinnen und Nutzer im Fernsehen, Radio und Internet. Der MDR will
allen Menschen in seinem Sendegebiet ein vertrauenswürdiger medialer Begleiter
sein. Die Lebenswelt von Zuwanderern und ihr Verhältnis zu den Sachsen werden
sich dabei weiter als berichtenswerte und bereichernde Facetten in unseren
Angeboten wiederfinden.
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Prof. Dr. Karola Wille
Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks“
Diversity Management ist in der BA Chefsache! Ausdrücklich bekennen wir uns zu
dem Prinzip „Chancen durch Vielfalt“. Wir beschäftigen in unserer Organisation
Mitarbeiter mit Migrationshintergrund aus 70 Nationen. Jeder einzelne von Ihnen
leistet einen wichtigen Beitrag, um Menschen und Arbeit zusammenzubringen. Meine
Empfehlung für Arbeitgeber in Sachsen lautet daher: „Fachkräfte werden gebraucht.
Heißen wir Ausländer gemeinsam willkommen. Sie helfen mit, die Zukunft des
Landes zu sicheren“.
Jutta Cordt
Vorsitzende der Geschäftsführung der Regionaldirektion Sachsen
der Bundesagentur für Arbeit
Eine offene Gesellschaft entsteht nur durch den Kontakt mit anderen Menschen und
Kulturen. Der Sport ist hier Vorreiter, denn das Zusammenspiel in einer Mannschaft
ist aufrichtig und selbstverständlich. Alle strengen sich für eine Sache an und das
Team kann nur gemeinsam gewinnen, egal aus welchen Nationen die Spieler
kommen.
Dr. Jörg Dittrich
Vorsitzender DSC Volleyball und Geschäftsführer Dachdeckermeister Claus Dittrich
GmbH & Co. KG
18
An der TU Dresden studieren und arbeiten Menschen aus rund 120 Ländern.
Zahlreiche Forschungsprojekte an unserer Universität wären ohne die Mitarbeit
internationaler Forscher undenkbar. Darüber hinaus sind auch bei unseren
außeruniversitären Forschungspartnern zahlreiche ausländische Wissenschaftler und
Wissenschaftlerinnen beschäftigt. Diese Menschen sind mit Vertrauen zu uns
gekommen und stellen eine enorme Bereicherung für unser Leben dar. Sie sollen
sich hier in Sachsen wohl fühlen und ein Zuhause finden. Wir sollten ihnen täglich
zeigen, dass wir uns darüber freuen, dass sie hier sind!
Prof. Dr. Dr.-Ing. habil Hans Müller-Steinhagen
Rektor der Technischen Universität Dresden
Willkommen in der Stadt der Wissenschaften, wo junge Talente aus verschiedenen
Ländern und Kulturen neue Türen für die Zukunft öffnen. Sie haben Glück gehabt in
eine Stadt zu ziehen, in der Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft so eng miteinander
vernetzt sind. Sie werden gern in Dresden leben, denn ausländerfreundliche Arbeitsund Lebensbedingungen einschließlich Kindergärten und Schulen machen die Stadt
einmalig!
Prof. Dr. Kai Simons am MPI-CBG
Eine Willkommensgesellschaft gelingt uns in Sachsen, wenn wir uns auf einige
fundamentale Werte besinnen, die unserem Zusammenleben Maßstäbe und
Orientierung geben. Dies sind Werte wie Respekt, Offenheit und gegenseitiges
Aufeinander zugehen. Beherzigen wir dies im großen wie im kleinen Miteinander,
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werden wir bald erkennen, dass Vielfalt eine Bereicherung ist und eine große
Chance für eine gute Zukunft unseres Landes birgt.
Jens Drews
Director Communications and Government Relations
GLOBALFOUNDRIES
1.1 Der Runde Tisch „Anerkennung ausländischer
Berufsabschlüsse“
Zu einer Willkommensgesellschaft gehört, dass sie die Talente und Potentiale aller
ihrer Mitglieder wertschätzt und respektiert. Die Anerkennung ausländischer
Qualifikationen ist deshalb ein wichtiges Zeichen dieses Respektes. Gleichzeitig liegt
in dieser Anerkennung ein wichtiges Potential für unseren Freistaat, weil bei uns in
Sachsen viele Talente mit ausländischen Qualifikationen leben.
„In den Neuen Bundesländern, wo der Anteil der zugewanderten Bevölkerung
vergleichsweise klein ist, wies sogar ein höherer Teil der Menschen mit
Migrationshintergrund einen tertiären Abschluss auf als diejenigen ohne
Migrationshintergrund. Für alle anderen Bundesländer gilt das Gegenteil.“ 1
34 Prozent aller Personen mit Migrationshintergrund in den Neuen Bundesländern
haben demnach einen Berufsabschluss als Meister oder Techniker, einen
Fachhochschul- oder einen Hochschulabschluss. Bei den Personen ohne
Migrationshintergrund sind es nur 29,1 Prozent.
1
Konferenz der für Integration zuständigen Ministerinnen und Minister / Senatorinnen und Senatoren
der Länder (IntMK): Erster Bericht zum Integrationsmonitoring der Länder 2005 – 2009, Teil 1:
Ergebnisse, S. 53
20
Die ANSA-Studie2 geht für Sachsen von etwa 10 000 Migrantinnen und Migranten
aus, deren Abschlüsse bisher nicht anerkannt sind. Auch fast alle Antragssteller am
Runden Tisch Anerkennung (siehe Kasten) hatten studiert, manche sogar zweimal,
wieder andere konnten eine Berufsausbildung und ein Studium vorweisen.
Hintergrund Anfang
Im August 2010 verständigten sich die für das Thema Anerkennung ausländischer
Berufsabschlüsse zuständigen Ministerien darauf, eine Initiative zur Verbesserung
der Anerkennungssituation in Sachsen zu starten. Es wurde beschlossen, einen
Runden Tisch „Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse“ (RTA) zu gründen.
Der Runde Tisch sollte Handlungsspielräume für eine Beschleunigung der
Anerkennungsverfahren auf sächsischer Ebene identifizieren, die Vernetzung der
zuständigen Akteure vorantreiben und konkrete Vorschläge für die sächsische
Gesetzgebung machen. Der Sächsische Ausländerbeauftragte erhielt den Auftrag,
den RTA zu organisieren und zu moderieren.
Am Runden Tisch engagierten sich das Staatsministerium des Innern, die
Staatsministerien für Soziales und Verbraucherschutz, für Kultus und Sport,
Wirtschaft, Arbeit und Verkehr sowie für Wissenschaft und Kunst, die Sächsische
Bildungsagentur, weiterhin die sächsischen Industrie- und Handels- und
Handwerkskammern, die Vereinigung der Sächsischen Wirtschaft, der Deutsche
Gewerkschaftsbund sowie die Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur für
Arbeit.
Arbeitsgrundlage waren individuelle Beispielfälle von laufenden oder bereits
abgeschlossenen Anerkennungsverfahren: In einem induktiven Verfahren wurden
allgemeine Hemmnisse und Probleme identifiziert, deren Relevanz mit dem
Sachverstand externer Partner geprüft wurde. Migrantinnen und Migranten hatten so
die Möglichkeit, über ihren individuellen Fall an der Verbesserung der
Anerkennungssituation mitzuwirken.
2
ANSA-Studie - Situations- und Bedarfsanalyse zur Anerkennung ausländischer Qualifikationen in
Sachsen – eine Situations- und Bedarfsanalyse erstellt von EXIS Europa e.V. im Auftrag des
Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Verbraucherschutz und des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge
21
Aus der Arbeit des Runden Tisches sind insgesamt 24 Empfehlungen
hervorgegangen, die sich sowohl auf die anstehende Landesgesetzgebung als auch
auf untergesetzliche Maßnahmen beziehen.
Der vollständige Bericht ist unter www.offenes-sachsen.de einzusehen.
Hintergrund Ende
Unsere eigenen Gesetze haben es bisher teilweise verhindert, dass Menschen mit
ausländischen Qualifikationen auch entsprechend ihrer Qualifikation arbeiten
konnten. Bis vor kurzem war es zum Beispiel die Regel, dass Menschen mit nicht
anerkannten ausländischen Abschlüssen in den Jobcentern als ungelernt geführt
wurden. Nur wenige Migranten hatte überhaupt ein Recht auf ein
Anerkennungsverfahren und noch weniger von ihnen haben vor allem in den
reglementierten Berufen eine Chance auf Anerkennung. Ohne Anerkennung darf
aber niemand als Arzt, Lehrer oder Erzieher arbeiten. Ein Teufelskreis, der aus
Ärztinnen Putzfrauen und aus Ingenieuren Lagerarbeiter macht und der andere
daran hindert, überhaupt auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Wenn Qualifikationen nicht anerkannt werden, dann schafft das viel menschliches
Leid und es behindert ein gutes Zusammenleben. Wie soll sich jemand in unsere
Gesellschaft integrieren, wenn wir von ihm verlangen, sein Geld als Lagerarbeiter zu
verdienen, er aber eigentlich Ingenieur ist? Wie glaubwürdig ist ein Land, das nach
Fachkräften ruft, aber denen, die schon hier leben, keine Chance gibt?
Respekt ist die Grundlage
Die Grundlage für eine gelingende Anerkennung von Qualifikation ist der Respekt vor
den Lebensleistungen der Menschen und eine grundsätzliche Offenheit gegenüber
der Vielfalt menschlicher Bildungswege. Kaum ein Berufsweg verläuft heute noch
gerade. Viele Menschen haben Erfahrungen in verschiedenen Berufsfeldern
sammeln können, und Arbeitgeber wissen das auch zu schätzen. Diese Einstellung
sollten wir auf Menschen mit ausländischen Qualifikationen übertragen. Die großen
sächsischen Unternehmen und renommierten Forschungsinstitute machen es bereits
vor.
22
John F. Kennedy sagte: „Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung: keine
Bildung.“ Ich möchte ergänzen: Es grenzt an Verschwendung, wenn wir die bereits
vorhandene Bildung nicht nutzen. Das gilt übrigens für alle: Seien es ältere
Arbeitnehmer oder Frauen oder Arbeitssuchende oder eben Migranten mit
ausländischen Abschlüssen.
Anerkennungsgesetz in Sachsen als Chance
Das können und das wollen wir uns nicht leisten. Die Bundesregierung hat mit dem
Anerkennungsgesetz einen wichtigen Schritt getan. Das entsprechende "Gesetz zur
Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener
Berufsqualifikationen" tritt am 01.04.2012 in Kraft und soll die Anerkennung
ausländischer Abschlüsse für jene Berufe erleichtern, die auf Bundesebene geregelt
werden, also z.B. für die Heilberufe und die Handwerksberufe.
Nun muss die Ländergesetzgebung für die Berufe folgen, die in Länderzuständigkeit
liegen, wie beispielsweise die Ingenieure, die Lehrer und die Erzieher. Das
Sächsische Staatsministerium für Kultus und Sport hat die Federführung für die
Erarbeitung der Landesgesetzgebung übernommen. Der Runde Tisch hat für diese
Landesgesetzgebung wichtige Empfehlungen erarbeitet.
Wir setzen darauf, dass der Freistaat Sachsen diese Chance nutzen wird, denn die
Anerkennung von ausländischen Qualifikationen ist eine wichtige Brücke zwischen
Zuwanderung und Integration. Eine schnelle und serviceorientierte Anerkennung von
Qualifikationen ist nicht nur die Voraussetzung für echte Integration, sie ist auch ein
Aushängeschild, mit dem man sich gegenüber anderen Mitbewerbern um Fachkräfte
absetzen kann. Wenn wir qualifizierte Zuwanderung wollen, dann brauchen wir auch
eine attraktive und serviceorientierte Anerkennungslandschaft. Warum sollte es nicht
beispielsweise Anerkennungs-Service-Stelle für Ingenieure geben, die
Anerkennungssuchende serviceorientiert begleitet und die gleichzeitig
Ansprechpartner für potentielle Arbeitgeber ist? Das wäre ein tatsächliches
Willkommen für Fachkräfte und ein Aushängeschild, mit dem wir uns gegenüber
anderen Mitbewerbern um Fachkräfte behaupten können.
23
Anerkennungen in der Wirtschaft anerkennen
Die richtigen Gesetze sind jedoch nur ein Baustein: Anerkennungen müssen auch im
täglichen Berufsleben anerkannt werden. Sachsens Wirtschaft lebt von Klein- und
Mittelständischen Unternehmen. Anerkennung braucht Arbeitgeber, die Menschen
mit ausländischen Qualifikationen eine Chance geben, ihre Talente unter Beweis zu
stellen.
Für die Klein- und Mittelständischen Unternehmen in Sachsen ist das nicht immer
einfach. Viele haben keine eigene Personalabteilung, um sich entsprechend
weiterzubilden. Vorstellbar sind aber Verbundlösungen, in denen sich Unternehmen
gemeinsam, wie bei der Lehrlingsausbildung, der Akquise und der Nachqualifizierung
von Fachkräften mit ausländischen Qualifikationen stellen. Das wird die
Unternehmen auch intern vor Herausforderungen stellen, denn der Umgang mit
Vielfalt braucht Kompetenz. Auch dafür gibt es in Sachsen bereits gute Beispiele,
einige davon stellen wir im Kapitel 1.3.3 vor.
Gleichzeitig brauchen wir in diesem Prozess couragierte Migrantinnen und
Migranten, die die Schritte hin zu Unternehmen oder auch in die Selbstständigkeit
wagen, darüber berichten und damit gute Beispiele schaffen. Und wir brauchen
interkulturell sensible und weltoffene Behörden, die um die Probleme und um die
Chancen von Mehrsprachigkeit wissen. Letztlich sollten Behörden auch ihrer
Vorbildfunktion nachkommen, und sich selber aktiv um Mitarbeitende mit
Migrationshintergrund bemühen – das ist ein Beitrag zur interkulturellen Öffnung des
öffentlichen Dienstes und gleichzeitig ein wichtiges Signal an die bei uns lebenden
Migrantinnen und Migranten.
Fachkräfte willkommen
Fachkräfte willkommen – so sollte die Überschrift all unserer Bemühungen bei der
Anerkennung ausländischer Qualifikationen lauten. Ob als Ingenieur oder Bäcker
oder Informatiker oder Erzieher oder Altenpfleger oder Maurer oder Arzt, ob als
neuer Zuwanderer oder als jemand, der bereits seit Jahren hier lebt – die
Anerkennung ihrer Ausbildungen und ein gelingendes Zusammenleben werden nur
24
mit einem grundsätzlichen Respekt vor den Lebensleistungen dieser Menschen
gelingen.
Viele Menschen der älteren Generation in Sachsen haben in ihrem Leben eine
ähnliche Erfahrung gemacht – als nämlich die DDR-Abschlüsse bewertet und
umgewandelt wurden. Auch das war kein leichter Prozess. Viele mussten noch
einmal die Schulbank drücken, Abschlüsse nachholen. Andere haben ihre
Anerkennung ohne weitere Anstrengung erhalten, und manche mussten auch herbe
Verluste einstecken.
Als Gesellschaft haben wir daraus eines gelernt: Wenn wir etwas wollen, dann geht
es auch. Wir haben jetzt die Gelegenheit, eine Erfolgsgeschichte zu wiederholen und
aus Fehlern zu lernen. Öffnen wir also unsere Herzen und engagieren uns auf dem
Feld der Anerkennung ausländischer Abschlüsse und Qualifikation. Wir können als
Gesellschaft nur gewinnen:

eine dienstleistungsorientierte und interkulturell kompetente öffentlichen
Verwaltung,

durch weniger Amtsdeutsch in den Behördenschreiben,

durch flexible Bildungssysteme, die Quereinstiege möglich machen, und

durch ein neues Denken, das einmal Gelerntes anerkennt und auf Vielfalt setzt
Das Anerkennungsgesetz des Bundes ist ein Meilenstein in der Öffnung unserer
Gesellschaft. Dass sich der Freistaat Sachsen als Zuwanderungsland versteht, zeugt
von politischen und gesellschaftlichen Realitätssinn. Zeigen wir den gleichen
Realitätssinn mit einer modernen und aufgeschlossenen sächsischen Gesetzgebung.
Empfehlungen zur Verbesserung der Anerkennungssituation in Sachsen3
Gleiche Prinzipien für die Bundes- und Landesgesetzgebung
3
Eine vollständige Übersicht aller Anregungen befindet sich in der Dokumentation des Berichtes
25
Der Gesetzentwurf des Bundes definiert grundsätzliche Prinzipien für die
Anerkennung von Berufen, die in der Zuständigkeit des Bundes liegen.
Zu diesen Prinzipien zählen u.a.:
-
der individuelle Anspruch auf ein Anerkennungsverfahren unabhängig vom
Aufenthaltsstatus des Antragstellers,
-
die Gleichbehandlung von EU-Ausländern und Drittstaatlern
-
die Berücksichtigung der Berufserfahrung bei der Anerkennung
-
dass die Antragsteller konstruktive Bescheide erhalten, die die konkreten
Defizite und den daraus folgenden Qualifizierungsbedarf aufzeigen, und
-
dass der Antrag innerhalb von drei Monaten nach Eingang aller relevanten
Unterlagen beantwortet wird.
Diese grundsätzlichen Prinzipien sollen auch für die Landesgesetzgebung gelten.
Hier sind Sie richtig: Zentrale Anlauf- und Beratungsstelle für Migranten für
Verweisberatung und Begleitung auf dem Weg zur Anerkennung
Im September 2011 wurde Dank der Förderung des Bundesministeriums für Arbeit
und Soziales die Informations- und Beratungsstelle Anerkennung Sachsen ihre
Arbeit in Dresden aufgenommen. Bis zum Jahresende 2011 konnte bereits über 50
Ratsuchenden geholfen werden. Die Klienten sind überwiegend
Drittstaatsangehörige mit akademischen Abschlüssen (z.B. Ärzte, Lehrer). Sie
informieren sich häufig auch zu den generellen beruflichen Chancen in Sachsen, weil
daran oft die Entscheidung hängt, nach Sachsen zu kommen oder hier zu bleiben.
Zusätzlich zur Einzelberatung bietet die IBAS Schulungen für Multiplikatoren und
tangierende Beratungsstellen zum Thema „Anerkennung ausländischer
Berufsabschlüsse“ an.
IBAS Beratung
Informations- und Beratungsstelle Anerkennung Sachsen, Standort Dresden,
Weißeritzstr. 3 (Yenidze), 01067 Dresden, Tel: 0351/43 70 70 0, Fax: 0351/43 70 70
70, E-Mail: [email protected], www.anerkennung-sachsen.de
26
Anerkennung gemeinsam gestalten: Sächsische Anerkennungsakteure weiter
vernetzen
Die anstehende Gesetzgebung auf Landesebene und die Umsetzung der
Bundesgesetzgebung wird die sächsische Anerkennungslandschaft weiter verändern
und beanspruchen, da durch den individuellen Rechtsanspruch steigende
Antragszahlen zu erwarten sind. Als Zuwanderungsland braucht der Freistaat
Sachsen eine Klienten- und serviceorientierte Anerkennungspraxis. Vor diesem
Hintergrund sollte die Vernetzung und der Erfahrungsaustausch der sächsischen
Anerkennungsakteure und der relevanten externen Partner (z.B. Sozialpartner)
weiter intensiviert werden.
Wir kennen den Weg: Verweis- und Berufsberatungskompetenz bei allen
Anerkennungsakteuren steigern
Vielfach ist die Art des Anerkennungsweges abhängig davon, in welchem Berufsfeld
die Betreffenden mit ihrem Abschluss tätig sein wollen. Anerkennungsstellen sind
deshalb häufig damit konfrontiert, dass Migrantinnen und Migranten nicht genau
wissen, ob sie an der richtigen Stelle sind oder ob die angestrebte Anerkennung für
ihren Berufswunsch relevant ist. Deshalb brauchen alle Anerkennungsstellen eine
übergreifende Beratungskompetenz, um die Klienten zu möglichen Berufswegen im
Berufsfeld beraten zu können und an die richtigen Stellen weiterzuvermitteln.
Wir sind alle anders: Interkulturelle Kompetenz stärken
Interkulturelle Kompetenz ist ein entscheidendes Kriterium für eine Gesellschaft, die
auf Zuwanderung und Integration setzt und spielt natürlich auch in Verbindung mit
der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse eine entscheidende Rolle. Dabei
geht es um mehr als das Verständnis der Bräuche und Sitten von Menschen aus
anderen Ländern oder Kulturen. Die Beraterinnen und Berater brauchen emotionale
Kompetenz, interkulturelle Sensibilität und die Fähigkeit, mit kultureller Vielfalt (und
mit vielfältigen Qualifikationen und Abschlüssen) so umzugehen, dass der von
27
beiden Seiten gewünschte Effekt eintreten kann: die Integration in den Arbeitsmarkt.
Respekt ist dabei eine wesentliche Grundlage.
Klugen Köpfen Türen öffnen: Ausländerbehörden als „Welcome-Center“
Sachsen setzt auf Zuwanderung: Das wird sich künftig auch in den sächsischen
Ausländerbehörden spiegeln. Zuwanderung aber braucht die Anerkennung der
ausländischen Abschlüsse, denn sie ist eine entscheidende Grundlage für den
Eintritt in den Arbeitsmarkt. Ausländerbehörden sind häufig die ersten
Ansprechpartner von Migranten. Deshalb ist es sinnvoll, wenn auch hier erste
Informationen zum Anerkennungsthema verfügbar sind. Für erste steuernde
Hinweise brauchen Ausländerbehörden ausreichend Kompetenzen und
Informationsmaterial, um in Anerkennungsfragen direkt zur Informations- und
Beratungsstelle Anerkennung Sachsen IBAS weitervermitteln oder auf relevante
Anerkennungsakteure verweisen zu können. Das erhöht die Servicequalität in den
Ausländerbehörden und ist ein sichtbares Zeichen einer modernen
Zuwanderungspolitik.
Kompetenzen bündeln: Eine Anerkennungsstelle im Lehrer- und Erzieherbereich
Wir empfehlen für den Kultusbereich eine zentrale Anerkennungsstelle, die sowohl
für die schulischen als auch für die Lehrer-, die Erzieher- und die
Fachschulabschlüsse zuständig ist. Das führt nach außen zu einer Reduzierung der
Anerkennungsstellen und zu einer erhöhten Transparenz und ermöglicht eine
kompetente Anerkennungsberatung als Berufswegeberatung.
Ingenieure willkommen: Anerkennungsstelle als Servicestelle
Ingenieure brauchen keine formale Anerkennung ihres Abschlusses, um bei einem
Unternehmen angestellt zu werden. Wer aber den Titel "Ingenieur " führen will - und
die meisten wollen als "Ingenieur" eingestellt werden - oder sich selbstständig
machen will, braucht eine Anerkennung, die die Ausbildung auf Hochschulniveau,
bestimmte Ausbildungsinhalte und eine bestimmte Ausbildungsdauer bestätigt. In
28
Sachsen gibt es für Ingenieure derzeit noch mindestens fünf zuständige Stellen –
regional aufgegliedert und nach Herkunftsländern unterschieden.
Wir empfehlen deshalb auch hier eine Zentralisierung der Stellen und eine
entsprechende Qualifizierung der Bearbeiter zur Anerkennungsthematik, zur
Berufswegeberatung und zur interkulturellen Kompetenz.
Wir empfehlen außerdem, die notwendige gesetzliche Regelung im Einklang mit der
sächsischen Zuwanderungsinitiative und der sächsischen Fachkräftestrategie
aufgeschlossen und serviceorientiert zu gestalten. Vorstellbar wäre eine
Servicestelle, die nicht nur die Anerkennungsverfahren abwickelt, sondern auch als
Schnittstelle zwischen ausländischen Fachkräften und potentiellen Arbeitgeber
fungiert.
Wir sprechen Deutsch und verstehen Sie trotzdem: Vorurteile gegenüber
Mehrsprachigkeit abbauen
Die beruflichen Kompetenzen von Migranten werden häufig anhand ihrer
Sprachkenntnisse beurteilt. „Wer nicht perfekt deutsch spricht, kann nicht wirklich
gut sein“, so kann die dahinter liegende Haltung auf den Punkt gebracht werden. Wir
brauchen deshalb eine Sensibilisierung hinsichtlich realistischer Erwartungen an die
Deutschkenntnisse mehrsprachiger Menschen. Auch bei den entsprechenden
Prüfungen muss das berücksichtigt werden. Grundsätzlich regen wir einen
Perspektivwechsel an: Weg von der rein defizitorientierten Beurteilung der
Deutschkenntnisse von Zuwanderern hin zur ressourcenorientierten Beurteilung von
Mehrsprachigkeit.
Wir können alles außer Amtsdeutsch: Verständlichkeit der Informationsblätter,
Anerkennungsbescheide bzw. Hinweisschreiben erhöhen
Anerkennungsbescheide, Hinweisschreiben und Informationsblätter sind selbst für
deutsche Muttersprachler häufig schwer zu verstehen. Deshalb sollten Standards für
Anerkennungsbescheide bzw. Hinweisschreiben entwickelt werden, die
zielgruppenorientiert sind (Antragsteller, Arbeitgeber, Bildungsinstitutionen), die sich
an den Potentialen der Antragsteller orientieren, die Verweise auf evtl. weitere
29
notwendige Schritte enthalten, die gut verständlich und einem bürgerfreundlichen
Deutsch gehalten sind.
Es geht weiter: Nachqualifizierungen neu denken
Für die Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen fehlen den
Antragstellern oftmals verschiedene Kompetenzfelder, die in Deutschland verlangt
werden, im Herkunftsland aber nicht gelehrt wurden. Das macht häufig
Anpassungsqualifizierungen oder Nachqualifizierungen nötig, die jedoch nur selten
von den Migranten und Migrantinnen finanziert werden können. Die Sächsische
Staatsregierung sollte sich dieses Themas grundsätzlich annehmen und bestehende
Förderinstrumente dahingehend prüfen, ob sie in diesem Feld angewandt werden
können und wie sie entsprechend bekannt gemacht werden können (z.B.
Weiterbildungsscheck für Erwerbstätige).
Nachqualifizierungen neu denken, heißt auch über Quereinsteigerqualifizierungen
nachzudenken, die es erlauben, Kompetenzen aus bisherigen Abschlüssen sowie
Berufserfahrungen einzubringen und mit neuen Kenntnissen und Fertigkeiten zu
kombinieren.
Deutschlernen lebenslang: Spracherwerb unterstützen
Der Erwerb der deutschen Sprache ist essentiell für die Anerkennung ausländischer
Abschlüsse und vor allem für den Einstieg in das Arbeitsleben. Zusammen mit der
Erleichterung der Anerkennung ausländischer Abschlüsse brauchen wir deshalb
auch eine systematische Unterstützung der Betroffenen beim berufsbezogenen
Spracherwerb. Unsere gegenwärtigen Integrationskurse genügen diesen
Anforderungen nicht. Auch hier muss – wie bei den Nachqualifizierungen – parallel
die Frage der Finanzierung beantwortet werden. Alle Beteiligten und vor allem auch
die Wirtschaft sollten dahingehend sensibilisiert werden, dass ein solides
Berufsdeutsch erst nach einer gewissen Zeit der täglichen Arbeit erwartet werden
kann, dann nämlich, wenn man sich in den praktischen Zusammenhängen mit dem
notwendigen Vokabular vertraut gemacht hat und ausreichend Sprachpraxis hatte.
30
Sprache ist Sprache und Wissen ist Wissen: Prüfungen mit Sach- und mit
Sprachverstand
Nicht selten müssen Anerkennungssuchende Prüfungen absolvieren, um insbesondere im Bereich der reglementierten Berufe - eine Anerkennung erhalten zu
können. Diese Prüfungen werden in deutscher Sprache durchgeführt.
Das ist sowohl für die Prüflinge als auch für die Prüfenden eine Herausforderung: Die
Antragsteller müssen die Prüfung in einer Fremdsprache (deutsch) ablegen, was die
Prüfung zusätzlich erschwert und den Druck in der Prüfungssituation erhöht.
Die Prüfenden müssen ihrerseits sicherstellen, dass sie ihre fachliche Beurteilung
nicht mit der Beurteilung der Deutschkenntnisse der Prüflinge vermischen. Auch die
richtige Einschätzung des kulturellen Hintergrundes des Prüflings ist für die faire und
richtige Einschätzung von Wissen und Fähigkeiten entscheidend.
Faire Kosten: Gebühren für Anerkennungsverfahren niedrig halten
Die Kosten für Anerkennungsbescheide oder Hinweisschreiben werden derzeit sehr
unterschiedlich gehandhabt. Auffällig sind die Unterschiede besonders dort, wo es
um negative Bescheide geht – viele Stellen verzichten hier auf eine Gebühr, andere
nicht. Wir plädieren für die Einheitlichkeit bei der Handhabung der Kosten unter
Berücksichtigung der aufgrund von Arbeitslosigkeit und unterqualifizierter
Beschäftigung häufig schlechten finanziellen Lage: Ein schwaches Einkommen darf
kein Grund für eine fehlende Anerkennung sein.
Unternehmen im Verbund: Gemeinsam ausländische Qualifikationen erschließen
Wir möchten die sächsischen Klein- und Mittelständischen Unternehmen (KMU)
ermutigen, ihre Kompetenzen beim Umgang mit Bewerbern mit ausländischen
Qualifikationen systematisch auszubauen.
Es gibt in Sachsen bereits einige KMU, die sich der Vielfalt in ihren Unternehmen
stellen, Menschen mit ausländischen Qualifikationen beschäftigen und ihre
Erfahrungen als Mentoren weitergeben können.
31
Darüber hinaus bieten sich Verbundlösungen an. So wie viele KMU ihre
Auszubildenden über Verbünde erfolgreich gemeinsam ausbilden, könnten klein- und
mittelständische Unternehmen in Zukunft auch Verbundlösungen entwickeln, mit
deren Hilfe die Einbindung von Fachkräften mit ausländischen Abschlüssen für das
einzelne Unternehmen erleichtert wird.
<<<Kästen Ende <<<
1.2 Deutsch für alle – 99 Wege zur deutschen Sprache
Sprache ist ein wichtiger Schlüssel für die Integration und soziale Teilhabe in einer
Gesellschaft. Wir sollten daran interessiert sein, dass alle bei uns lebenden
Menschen eine Chance bekommen, unsere schöne Sprache zu erlernen und zu
praktizieren, egal, wie lange sie bei uns leben mögen.
Deutsche Sprache – schwere Sprache. Diesen Satz kennen wir alle. Wer als
Erwachsener zu uns kommt, wird sein Leben lang auf dem Weg zum perfekten
Deutsch unterwegs sein. Wir können die Menschen auf dieser Reise ermutigen, auch
wenn sie noch kein perfektes Deutsch sprechen. Diese Ermutigung zeigt sich auch
im Respekt; denn fehlerhaftes Deutsch bedeutet nicht fehlerhafte Kompetenz.
„Ich habe fertig“ - Giovanni Trapattoni’s Rede in „verdrehtem“ Deutsch auf einer
Pressekonferenz hat es zu einiger Berühmtheit gebracht. Doch bei allen
Lachkrämpfen hat niemand vergessen, dass Trapattoni als einer der erfolgreichsten
Trainer weltweit gilt. Alle verstanden ihn, seine Kritik war inhaltlich berechtigt und
deshalb hat man ihn – trotz der Fehler im Deutschen – respektiert.
Lachen wir also nicht über diejenigen, die unsere Sprache lernen. Schmunzeln wir
mit ihnen und helfen wir ihnen, ihr Deutsch zu verbessern - bei voller Anerkennung
all ihrer Kompetenzen.
Zuwanderer wollen Deutsch lernen – und was können wir beitragen?
Das Erlernen einer Sprache ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Im Mittelpunkt steht
der Lernende, der sich zur lebenslangen Reise zum guten Deutsch entschließt. Egal,
32
wie viel Unterstützung der Lernende erhält, am Ende steht und fällt die Reise mit
dem Lernenden selbst.
Aber zu dieser Reise gehören auch die Rahmenbedingungen, die das Lernern
erleichtern oder erschweren können.
Stellen wir uns einige Fragen:
 Wie steht es bei uns um die Möglichkeiten, die deutsche Sprache zu erlernen?
 Reichen die Integrationskurse aus?
 Wie steht es um die Weiterbildung im Bereich des berufsqualifizierenden
Deutschlernens?
 Wie agieren wir als Muttersprachler gegenüber Lernenden, die noch nicht
perfekt Deutsch sprechen oder schreiben können?
 Mit welcher Haltung gehen wir auf sie zu: anerkennend und motivierend oder
überkritisch und mit überhöhten Erwartungen?
Wenn wir Deutsche an Deutsch denken, dann denken wir an perfektes Deutsch.
Manche gehen deshalb irrtümlich davon aus, dass nur der, der perfekt Deutsch
spricht, auch richtig integriert sei. Manche setzen gar die Qualität der
Deutschkenntnisse mit der Qualität der beruflichen Kenntnisse gleich. Eine solche
überhöhte Erwartung führt uns leicht in die Irre, weil wir gar nicht erst fragen, was
einer kann. Außerdem verstellt dieser hohe Anspruch den Blick darauf, welche
Begabung die Mehrsprachigkeit von Migrantinnen und Migranten ist.
Deshalb gehört zu einer Willkommensgesellschaft auch, dass wir anerkennen, wenn
jemand unsere Sprache erlernt und dass wir ihn unterstützen und ihn ermutigen, zu
sprechen. Denken wir nur an unsere eigenen Lernerfahrungen. Die wenigsten von
uns beherrschen mehrere Sprachen auf muttersprachlichem Niveau. Warum
erwarten wir dann von den anderen, dass sie perfekt im Deutschen sind? Es ist ein
Zeichen von Respekt, wenn wir hier realistischer werden.
Deutsch für alle
33
Auch die Praxis unserer Sprachförderung müssen wir im Interesse eines
konstruktiven Zusammenlebens überdenken: Die derzeitige Gesetzeslage sieht eine
formelle Unterstützung der Sprachkurse für Ausländer erst dann vor, wenn die
Menschen einen gesicherten/unbefristeten Aufenthaltsstatus haben. In der Praxis
bedeutet das allerdings, dass z.B. Asylsuchende über Jahre hinaus keine
Unterstützung beim Erlernen der deutschen Sprache bekommen, weil sich die
Verfahren über Jahre hinziehen können.
Das schafft eine schizophrene Situation: Auf der einen Seite verwehren wir die
Unterstützung beim Erlernen unserer Sprache. Auf der anderen Seite erwarten wir,
dass sich alle Migranten im alltäglichen Leben gesellschaftskonform und konstruktiv
verhalten. Sie sollen bei Behörden mitwirken, in Gesprächen mit den Lehrern ihre
Kinder in der Schule unterstützen oder als Nachbarn freundlich und umgänglich mit
uns kommunizieren. Wie geht das ohne gemeinsame Sprache?
Unsere Broschüre
Vor diesem Hintergrund haben wir in der Geschäftsstelle die Broschüre „Deutsch für
alle - 99 Wege zur deutschen Sprache“ entwickelt. Diese Broschüre ist ein Teil
unseres Willkommens für alle Migrantinnen und Migranten, die unsere Sprache
lernen wollen. Wir wissen, dass das nicht leicht ist und wollen sie mit dieser
Broschüre ermutigen. Gleichzeitig wollen wir bei allen Menschen in Sachsen
Verständnis dafür wecken, dass das Erlernen einer Sprache nicht von heute auf
morgen möglich ist, sondern Zeit und unsere Unterstützung braucht.
Für diese Broschüre haben wir zunächst Erfahrungen, Methoden und Lernstrategien
beim Fremdsprachenerwerb recherchiert und zusammengetragen. Auch die
Erfahrungen zahlreicher Migranten aus Sachsen sind dabei mit eingeflossen. Die
Methoden und Strategien wurden durch zwei Fachleute geordnet und strukturiert.
Außerdem haben wir recherchiert, wo man in Sachsen kostengünstig Deutsch lernen
kann und welche Möglichkeiten das Internet bietet.
Mit der Broschüre wollen zeigen, dass Sprachkurse nur ein Weg sind, die deutsche
Sprache zu lernen. Und wir wollen Mut machen, noch heute mit dem Lernen
34
anzufangen. Denn wenn wir unser Erlernen einer Fremdsprache selbst in die Hand
nehmen, stoßen wir eine Tür auf. Wir übernehmen Verantwortung für unser Leben
und können anderen auf gleicher Augenhöhe gegenübertreten. Wir können sagen,
was wir denken und fühlen. Wir können zeigen, wer wir sind. Wir haben teil an der
Gesellschaft. Wir können uns selbstständig über unsere Rechte informieren. Wir
können selbstbewusst auftreten und Vorurteile beseitigen helfen.
Die Lebenswelt um uns herum wird mit jedem neu gelernten Wort ein Stückchen
größer. Wir verstehen, was die anderen Menschen sagen und können uns
verständigen. Wir verschaffen uns Gehör und werden wahrgenommen.
Unsere Broschüre will den Blick öffnen für Wege, die trotz vieler Hindernisse offen
stehen und gibt praktische Tipps, wie man zu seinem Ziel kommen kann. Vor allem
will sie den aktiven und selbstverantwortlichen Spracherwerb unterstützen.
Diese Broschüre ist kein Lehrbuch. Sie ist vielmehr eine Sammlung von Ideen und
Anregungen, die wir dem Alltag entnommen haben. Die Sammlung ist nicht
vollständig, aber ein Anfang. Damit sind alle eingeladen, neugierig zu sein und die
verschiedenen Wege zu gehen. Vielleicht findet jemand seinen Lieblingsweg und hilft
damit die Sammlung weiter zu vervollständigen.
Im Mittelpunkt der Broschüre stehen die Fertigkeiten Lesen, Sprechen, Hören und
Schreiben. Die Broschüre stellt Wege vor, wie diese Fertigkeiten erlernt und vertieft
werden können.
Auch soziale Strategien werden gezeigt, mit denen sprachliche Herausforderungen
im Alltag gemeistert werden können. Sie ergänzen den schulischen Sprachunterricht
und sind geeignet, einen bereits erlernten Wortschatz zu festigen.
Wichtig sind auch die Lerntipps, die dazu zu ermutigen, den Weg des
Deutschlernens mit anderen Menschen gemeinsam zu gehen. Damit regen die
Übungen auch Lehrer, Co-Lehrer, Betreuer und Weggefährten an, den Lernanfänger
35
fachgerecht und effektiv zu unterstützen. Sie tragen zur Bildung von Patenschaften
und sozialen Netzwerken bei.
„Work in progress“ – Wir werden besser
Der Untertitel unserer Broschüre heißt: 99 Wege zur deutschen Sprache. Unsere
Broschüre zeigt viele, aber nicht alle Wege. Wir ermutigen damit alle Leserinnen und
Leser, weitere Wege zu finden und mit uns zu teilen, damit wir sie in zukünftigen
Auflagen auflisten können. Wenn Sie neuartige Wege kennen und sie erfolgreich
ausprobiert haben, schreiben Sie uns! So können wir voneinander lernen. Parallel
zur kostenlosen Verteilung der herausgegebenen Broschüre arbeiten wir an der
Sammlung der Lerntipps weiter.
Bücher in die sächsischen Gemeinschaftsunterkünfte
Um auch Asylsuchende und Geduldete beim Spracherwerb zu unterstützen, werden
wir 2012 gemeinsam mit unseren kommunalen Partnern eine Bücheraktion starten.
Dabei wollen wir die Broschüre „Deutsch für alle – 99 Wege zur deutschen Sprache“
in den Gemeinschaftsunterkünften verteilen. Außerdem wollen wir jede sächsische
Gemeinschaftsunterkunft mit Wörterbüchern in sieben Sprachen ausstatten und so
die Bewohnerinnen und Bewohner motivieren, Deutsch zu lernen.
36
1.3 Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen
Mit unseren Veranstaltungen wollen wir die Integrationsleistungen und die Arbeit der
sächsischen Integrationsakteure der Öffentlichkeit vorstellen und würdigen:
Erfolgreiche Vielfalt braucht Sichtbarkeit.
Deshalb legen wir bei unserer Öffentlichkeitsarbeit großen Wert darauf, die Medien
mit einzubeziehen. Seien es erfolgreiche Integrationsgeschichten, die mit dem
jährlichen Einbürgerungsfest bekannt werden, seien es Projekte, die sich alltäglich
für ein konstruktives Miteinander einsetzen oder Initiativen, die gegen Missstände
vorgehen: Wir wollen die Geschichten dahinter bekannt machen.
Unsere Gesellschaft öffnet sich diesen Themen mehr und mehr. Beispielhaft sei hier
der Mitteldeutsche Rundfunk genannt, der sich 2011 sehr intensiv mit dem Thema
der Integration befasst hat. Am 14.10.2011 trafen sich beispielsweise die
Programmverantwortlichen des Senders mit Vertretern sächsischer
Migrantenverbände in der Leipziger Mediacity des Mitteldeutschen Rundfunks. Dabei
wurde die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Integrationsprozess erörtert.
„Wir möchten den direkten Dialog aufnehmen mit Menschen unseres Sendegebiets,
die nicht hier geboren sind oder deren familiäre Wurzeln außerhalb von Deutschland
liegen“, erklärte die heutige MDR-Intendantin, Frau Prof. Dr. Karola Wille, in ihrer
Begrüßungsrede.
Der Film „Vielfalt im MDR – alle unter einem Dach“ von Efthymia Mourgela zeigte,
dass es in allen Bereichen des MDR, von Fernsehen über Hörfunk, bis hin zu den
MDR-Landesfunkhäusern, den Klangkörpern und dem ARD/ZDF-Kinderkanal
Kolleginnen und Kollegen mit ausländischen Wurzeln gibt, die erfolgreich im Sender
arbeiten.
Prof. Wille ging in ihrer Rede auch auf Ergebnisse der ARD/ZDF-Studie „Migranten
und Medien 2011“ ein. Zuwanderer seien keine homogene Gruppe. Gerade bei der
Mediennutzung erscheinen die Faktoren Alter, Bildung und sozialer Kontext der in
Deutschland lebenden Migranten ebenso wichtig, wenn nicht gar wichtiger, als der
Faktor ethnischer Herkunft. Es gebe also keine mediale Parallelgesellschaft. Folglich
erscheine es auch nicht sinnvoll, programmliche „Insellösungen“ oder spezielle
37
Redaktionen zu schaffen. „Integration und kulturelle Vielfalt betrachten wir als
Querschnittsaufgabe bei unserer täglichen Programmarbeit“, sagte die Vertreterin
des Intendanten.
Martin Gillo wertete das Treffen als gelungenen Auftakt für weitere derartige
Veranstaltungen. Er ermutigte die Medien, das Verbindende in unserer Gesellschaft
konsequent hervorzuheben.
„Die Vielfalt der Kulturen und Lebensweisen in Deutschland ist uns wichtig. Der MDR
hat aber vor allem auch die Grundaufgabe, ein regionales Programm zu sein. Hier
müssen wir prüfen, wie sich kulturelle Vielfalt am besten unterbringen lässt“, erklärte
der neue MDR-Fernsehdirektor Wolf-Dieter Jacobi. „Die Untertitel-Quote soll 2012
weiter erhöht werden“, kündigte Georg Maas, Hauptabteilungsleiter Neue Medien,
an. Dies gelte insbesondere für Sendungen in der MDR-Mediathek. Hörfunkdirektor
Johann Michael Möller interessiert vor allem die Lebensgeschichte der Menschen mit
Migrationshintergrund: „Lassen Sie uns diese Geschichten erzählen“, regte er an.
Eine Neuauflage dieses erfolgreichen Dialogs ist geplant, zunächst wird es aber
solche Treffen auch in Sachsen-Anhalt und Thüringen geben.
Auch innerhalb des MDR sollen die Themen Migration und Integration noch stärker
kommuniziert werden. Im Rahmen der Fort- und Weiterbildungsangebote wird derzeit
eine offene Informationsveranstaltung vorbereitet. Diese soll sich mit „Migration und
Migranten in Mitteldeutschland“ befassen.
Integration braucht Öffentlichkeit – mit dieser Strategie zeigen wir nicht nur, was
gelingt oder nicht gelingt. Wir zeigen Respekt vor dem, was in Sachsen an Vielfalt in
Gemeinsamkeit alltäglich gelebt wird.
1.3.1 Deutsche aus aller Welt feiern Einbürgerungsfest
Auch 2011 luden der Sächsische Staatsminister des Innern Markus Ulbig und Martin
Gillo wieder gemeinsam zum Einbürgerungsfest ein. 250 neue Staatsbürgerinnen
und Staatsbürger kamen am 21.05.2011 in den Plenarsaal des Sächsischen
Landtags zu diesem Festakt, zu dem jährlich alle Personen und Familien eingeladen
werden, die im Vorjahr die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatten.
38
Die Vizepräsidentin des Sächsischen Landtags Andrea Dombois begrüßte die Gäste
und ermutigte die Zuwanderer dazu, Verantwortung zu übernehmen. „Wer sich selbst
verwirklichen will, der verwirklicht sich auch in der Welt, die ihn umgibt.“ Der Blick in
die Welt und die Offenheit gegenüber der Welt habe Sachsen von der Reformation
bis zur Friedlichen Revolution immer wieder nach vorne gebracht.
Joachim Reinelt, Bischof von Dresden-Meißen hielt eine festliche Ansprache. Er ließ
die Menschen aus allen Kontinenten mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen und
Glaubenstraditionen auf herzliche Weise spüren, dass sie in Sachsen willkommen
sind. Reinelt verband seine eigene Geschichte mit den Lebenswegen der Gäste und
der Sachsen. Er ermutigte die neuen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in seiner
Festrede, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen, um in Sachsen richtig
heimisch zu werden. „Sie haben etwas zu geben: Seien Sie deshalb stolz auf Ihre
Wurzeln und stolz auf Ihre neue Heimat!“
Markus Ulbig „Sachsen braucht Menschen wie Sie!“
Der Sächsische Innenminister Markus Ulbig betonte in seiner Begrüßung, dass er
sich über die Einbürgerung als ein Bekenntnis zu unserem Staat freue. Er verwies
auf die erfolgreiche Zuwanderungsgeschichte Sachsens und betonte den Beitrag
jedes und jeder Einzelnen, die sich um eine Einbürgerung bemühen: „Es sind
Menschen wie Sie, die diese Erfolgsgeschichte fortschreiben!“ Er warb in diesem
Zusammenhang auch dafür, die Sächsische Zuwanderungsinitiative zu unterstützen:
„Geben Sie Ihre Erfahrungen weiter und seien Sie ein Beispiel.“
Martin Gillo „Hier in Dresden feiern Deutsche aus aller Welt ihre Vielfalt und
ihre Gemeinsamkeit!“
Für Martin Gillo ist das Einbürgerungsfest ein wichtiger Baustein der sächsischen
Willkommensgesellschaft. Die neuen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger brächten
eine große individuelle und kulturelle Vielfalt in unser Gemeinwesen ein. Diese
Vielfalt sei ein Gewinn für Sachsen, so Gillo in seinem Grußwort. Die Unterschiede
zwischen denen, die hier geboren und denen, die dazugekommen seien, trennten
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nicht; sondern seien Ergänzung und Stärkung. Dabei seien die Gemeinsamkeiten die
Brücken zum Miteinander: „Reden wir über das, was uns eint. Reden wir darüber,
wie wir unsere verschiedenen Talente miteinander verbinden und erfolgreich zu
unseren gemeinsamen Zielen kommen. Reden wir darüber, was wir voneinander
lernen können!“
Noch ist nicht alles im grünen Bereich
Kritisch mahnte Gillo den Nachholbedarf bei der Anerkennung von ausländischen
Berufsabschlüssen und Berufserfahrungen an. Dieser Bedarf wurde auch bei den
persönlichen Begegnungen in der Lobby deutlich. Einige der Neubürger illustrierten
am eigenen Beispiel, wie schwierig es für sie ist, trotz guter Ausbildung und
Berufserfahrung Fuß auf dem sächsischen Arbeitsmarkt zu fassen und welche
Hürden bei der Anerkennung ihrer ausländischer Qualifikationen bestehen.
Ein Fest mit Frohsinn und Hoffnungszeichen
Von allen Grußworten, den persönlichen Begegnungen und dem kulturellen Rahmen
ging eine gemeinsame Botschaft aus: „Sie sind uns herzlich willkommen. Wir freuen
uns und wir brauchen sie.“ Dazu passte ein gut gelauntes Gastgeberquartett aus
Andrea Dombois, Markus Ulbig, Joachim Reinelt und Martin Gillo. Den kulturellen
Höhepunkt setzte der Puppenspieler Franz W. Lasch: Er verkörperte Herrn Arnold
Böswetter, eine überlebensgroße kabarettistische Puppe, Allesredner, Charmeur der
alten Schule, Vermittler von „homöopathischen Gesunderhaltungstipps“ und von
verbindender Mitmenschlichkeit. Andrea Dombois machte den Spaß mit und tanzte
zur Freude aller mit dem großartig aufgelegten Böswetter, einem Entertainer par
excellence.
1.3.2 Interkulturelle Woche „ Zusammenhalten - Zukunft gewinnen“
Zentrale Veranstaltungen in der Universitätsstadt Freiberg
In der Universitätsstadt Freiberg fand am 26.09.2011 die zentrale Veranstaltung der
Interkulturellen Woche (IKW) in Sachsen statt.
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Freiberg hatte 2011 mit einer der Initiative „Wir sind Freiberg“ auf sich aufmerksam
gemacht. Außerdem sollte der Focus auf die engagierte Arbeit der Initiativen, Vereine
und der Ausländerbeauftragten in Mittelsachsen unter den besonderen Bedingungen
eines Landkreises gelegt werden.
Pressekonferenz im Ratssaal
Den Auftakt bildete eine Pressekonferenz, auf der Superintendent Christoph Noth
über die wesentliche Rolle der Kirchen bei der Entstehung der Interkulturellen Tage
bzw. Wochen informierte. Freibergs Oberbürgermeister Bernd-Erwin Schramm stellte
erste Ergebnisse der Initiative „Wir sind Freiberg“ vor und Ilse Rose, die
Ausländerbeauftragte des Landkreises Mittelsachsen gab einen Ausblick auf die
Arbeitsschwerpunkte in ihrer Region. Martin Gillo verwies auf die zahlreichen
Aktivitäten und Aktionen der IKW in ganz Sachsen und warb für weitere
Anstrengungen auf dem Weg zur Willkommensgesellschaft.
Gottesdienst im Dom zu Freiberg
Der folgende ökumenische Gottesdienst im Freiberger Dom stand ebenso wie die
bundesweiten Aktionen unter dem Motto „Zusammenhalten – Zukunft gewinnen“.
Neben der Besinnung auf grundlegende und gemeinsame Bekenntnisse luden die
Vertreter der christlichen Kirchen zu einem Blick aus der Universitätsstadt in die
ganze Welt ein. In seiner Predigt lud Christoph Noth gemeinsam mit den anderen
Pfarrern zu einem Miteinander zwischen Mitbrüdern und Mitschwestern in der
ganzen Welt ein. Die Fürbitten wurden in mehreren Sprachen gesprochen. Etwa 150
Menschen aller Bekenntnisse beteiligten sich an der Andacht.
Zusammentrommeln zum Fest
Der anschließende Fußweg vom Dom zum städtischen Festsaal am Obermarkt
gestaltete sich bei lateinamerikanischen und afrikanischen Rhythmen sehr lebendig
und rhythmisch. Auch die Festveranstaltung war geprägt von Tanz, Musik und
Poesie. Besonders eindrücklich war der interkulturelle Chor mit seinem Lied „Die
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Sonne kommt immer wieder“. Ebenfalls beindruckend war der Gedichtvortrag eines
syrischen Mädchens, das von der Besonderheit berichtete, in zwei Kulturen
verwurzelt zu sein.
Ich bin ein Baum mit zwei Stämmen
Ich bin ein Baum,
bin ein Baum mit zwei Stämmen.
Ja, ja: mit zwei Stämmen!
Das verstehst Du nicht?
Ich bin ein Baum
und habe nur eine Wurzel,
eine Wurzel dort, wo ich geboren bin.
Du willst, dass ich immer grün bleibe,
willst mich biegsam wie eine Weide
oder blühend wie eine Linde?
- Aber ich bin ein anderer Baum
und habe zwei Stämme.
Sie sind nicht gleich können nicht gleich sein.
Es ist schön und doch schwer,
zwei Seelen zu haben.
- Du willst, dass ich eine wähle,
Nur eine Seele?
Aber schau dir diesen Baum an,
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wie lebendig er ist, wie harmonisch!
Und nun stell dir vor,
ein Stamm würde abgeschnitten.
Wie verletzbar müsste er sein,
mein Baum.
Nein, ich möchte keinen Stamm verlieren, ich will ich bleiben...
und weiterwachsen.
Denke nicht, ich stelle mich über die anderen.
Nein, ich bin ein Baum unter vielen;
nur ein wenig anders:
Eine Wurzel, ein Herz...
aber zwei Seelen.
Maria Bender
Lu Sponheimer
Freibergs Oberbürgermeister Bernd-Erwin Schramm stellte die städtische Initiative
„Wir sind Freiberg“ vor. Ein Imagevideo informierte über den engagierten
Diskussionsprozess für ein besseres Miteinander bei den „World Cafés“ im Sommer.
Diese World-Cafés sind eine konstruktive und nachhaltige Reaktion auf die
Anschlagsserie auf Freiberger Döner-Imbisse im Vorjahr.
Für den Landkreis Mittelsachsen berichtete der zweite Beigeordnete Dieter Steinert
über die Vielzahl ausländischer Investoren und Unternehmen und die
Bildungsstandorte. Die Bedeutung der Migration zeige sich auch an der Teilnahme
43
des Landkreises an einem Modellprojekt zur Beschleunigung der Verfahren zur
Erteilung eines Aufenthaltstitels bei Fachkräften. Auch das sei ein Zeichen von
Willkommenskultur im Amt, so Steinert.
Ilse Rose, warb für ihre Initiative „Wir alle sind Mittelsachsen“. Sie stellte ihre Arbeit
vor unter dem Goethe-Motto: „ Wir lernen Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns
kommen; wir müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht.“ Ein
besonderer Erfolg dieser Bemühungen ist das Tandemprojekt für Theaterbesucher,
das auch in diesem Jahresbericht vorgestellt wird.
Den wirtschaftlichen Vorteil von multinationalen Teams stellte David Greenlaw,
Direktor bei der sächsischen Niederlassung des Unternehmens Globalfoundries in
den Vordergrund seines Grußwortes. Er berichtet von seinen positiven Erfahrungen
mit multinationalen Teams. In einer globalen Wirtschaftswelt führe kein Weg an
einem Zusammenwirken von internationalen Wissenschaftlern vorbei. Jedoch seien
für eine erfolgreiche Zusammenarbeit nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern
auch die Lebensbedingungen für Familien und die Bildungschancen für die Kinder
ausschlaggebend.
Martin Gillo gab einen Ausblick auf die künftigen Anforderungen an unsere
Willkommensgesellschaft. Wichtig sei die Neugier auf Anderes. Die Vielfalt der
Kulturen und die Mehrsprachigkeit der hier lebenden Menschen stellt eine
Bereicherung dar. Der Abend endete mit zahlreichen Gesprächen bei einem interkulinarischen Buffet.
Geschichte der Interkulturellen Woche
Die Interkulturelle Woche wird seit 1975 begangen und geht auf eine Initiative der
Deutschen Bischofkonferenz, der Evangelischen Kirche in Deutschland und der
Griechisch-Orthodoxen Metropolie zurück.
Ziel der Interkulturellen Woche ist bis heute das Eintreten für bessere politische und
rechtliche Rahmenbedingungen des Zusammenlebens von Deutschen und
Zugewanderten. Darüber hinaus soll die Chance geboten werden, durch persönliche
Begegnungen und Kontakte ein besseres gegenseitiges Verständnis zu entwickeln
und Vorurteile abzubauen. Deshalb gibt es neben reinen
44
Informationsveranstaltungen vor allem auch Feste, Theater- und Filmvorführungen
und Lesungen von Künstlerinnen und Künstlern.
Die Veranstaltungen zur Interkulturellen Woche oder zu den Interkulturellen Tagen
sind für viele Kommunen ein lebendiges Zeichen für ein gelingendes Miteinander vor
Ort und ein wichtiger Beitrag der Kommune für eine gelebte
Willkommensgesellschaft.
1.3.3 Tag der offenen Tür
Am 03.10.2011, dem Tag der Deutschen Einheit, öffnete der Sächsische Landtag
zum 17. Mal seine Pforten. Mehrere tausend Bürgerinnen und Bürger nutzten den
„Tag der offenen Tür“, um die Arbeit der Landtagsfraktionen und der
Landtagsverwaltung kennenzulernen.
Die Geschäftsstelle des Ausländerbeauftragten war mit einer mehrteiligen
Präsentation am Start. Die Besucher konnten sich über die aktuellen Projekte des
Ausländerbeauftragten informieren, wie z.B. über die Arbeit des Runden Tisches
„Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse“, über die Arbeit des Netzwerks
Integration und Migration Sachsen oder den Wettbewerb zum Sächsischen
Integrationspreis.
Die Veranstaltung bot viele Gelegenheiten für Gespräche, in denen auch Vorbehalte
und Sorgen vor einer „Überfremdung“ thematisiert worden. Deutlich wurde wieder,
dass der „gefühlte Ausländeranteil“ häufig viel höher ist als der tatsächliche. Hier half
dann nicht nur der Blick in die Statistik, sondern auch ein Quiz unter dem Motto
"Dashätschnigedacht“, mit dem die Besucher ihr Wissen testen konnten und das
reichlich Gelegenheit gab, über gängige Vorurteile ins Gespräch zu kommen und das
Potential der bei uns lebenden Migranten zu verdeutlichen.
Dieses Potential steht auch im Fokus der Initiative „Charta der Vielfalt“, die bei der
Veranstaltung vorgestellt wurde. Bundesweit wurde diese Selbstverpflichtung von
über tausend Firmen und Organisationen unterzeichnet. Die Besucher konnten sich
auch über die konkreten Motive und Ziele jener 14 sächsischen Firmen und
Verbände informieren, die der Charta bisher beigetreten sind.
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Charta der Vielfalt
Die Vielfalt der modernen Gesellschaft, beeinflusst durch die Globalisierung und den
demografischen Wandel, prägt das Wirtschaftsleben in Deutschland. Wir können
wirtschaftlich nur erfolgreich sein, wenn wir die vorhandene Vielfalt erkennen und
nutzen. Das betrifft die Vielfalt in unserer Belegschaft und die vielfältigen Bedürfnisse
unserer Kundinnen und Kunden sowie unserer Geschäftspartner.
Die Vielfalt der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren unterschiedlichen
Fähigkeiten und Talenten eröffnet Chancen für innovative und kreative Lösungen.
Die Umsetzung der „Charta der Vielfalt“ in unserer Organisation hat zum Ziel, ein
Arbeitsumfeld zu schaffen, das frei von Vorurteilen ist. Alle Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter sollen Wertschätzung erfahren – unabhängig von Geschlecht,
Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter,
sexueller Orientierung und Identität. Die Anerkennung und Förderung dieser
vielfältigen Potenziale schafft wirtschaftliche Vorteile für unsere Organisation.
Wir schaffen ein Klima der Akzeptanz und des gegenseitigen Vertrauens. Dieses hat
positive Auswirkungen auf unser Ansehen bei Geschäftspartnern, Verbraucherinnen
und Verbrauchern sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern der Welt.
Im Rahmen dieser Charta werden wir
1. eine Organisationskultur pflegen, die von gegenseitigem Respekt und
Wertschätzung jeder und jedes Einzelnen geprägt ist. Wir schaffen die
Voraussetzungen dafür, dass Vorgesetzte wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diese
Werte erkennen, teilen und leben. Dabei kommt den Führungskräften bzw.
Vorgesetzten eine besondere Verpflichtung zu.
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2. unsere Personalprozesse überprüfen und sicherstellen, dass diese den vielfältigen
Fähigkeiten und Talenten aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie unserem
Leistungsanspruch gerecht werden.
3. die Vielfalt der Gesellschaft innerhalb und außerhalb der Organisation
anerkennen, die darin liegenden Potenziale wertschätzen und für das Unternehmen
oder die Institution gewinnbringend einsetzen.
4. die Umsetzung der Charta zum Thema des internen und externen Dialogs
machen.
5. über unsere Aktivitäten und den Fortschritt bei der Förderung der Vielfalt und
Wertschätzung jährlich öffentlich Auskunft geben.
6. unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Diversity informieren und sie bei der
Umsetzung der Charta einbeziehen.
Wir sind überzeugt: Gelebte Vielfalt und Wertschätzung dieser Vielfalt hat eine
positive Auswirkung auf die Gesellschaft in Deutschland.
Das Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik schreibt in seiner
Begründung, warum es die Charta unterzeichnet hat:
„Wir haben seit jeher - seit 2001 arbeiten wir an unserem Standort in Dresden unsere Mitarbeiter nicht nur als Arbeitskräfte, sondern als Menschen mit
verschiedenen Geschichten, Ideen, Identitäten, Problemen und Belangen gesehen.
Familienfreundlichkeit wurde und wird immer groß geschrieben, Hierarchien sollen so
flach wie möglich gehalten werden. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Menschen ihr
Potential besser ausschöpfen, wenn sie sich rundum akzeptiert fühlen. Die Charta
der Vielfalt sehen wir als eine gute Chance, diese Bestrebungen zu
professionalisieren und zu vertiefen.“
Die Handwerkskammer zu Leipzig ist am 26.08.2010 der Charta der Vielfalt
beigetreten. „Grund für die Unterzeichnung der Charta der Vielfalt war zum einen das
Bekenntnis der Handwerkskammer zu Leipzig zu Fairness und Wertschätzung von
Menschen unabhängig von religiösen, kulturellen und ethnischen Unterschieden.
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Zum anderen wollten wir auch ein Signal an unsere Mitgliedsbetriebe senden, denn
eine Mitarbeiterstruktur, die interkulturell geprägt ist, kann befruchtend in den
Unternehmen wirken. Einen weiteren Grund sehen wir in dem Potenzial von
Zuwanderern, die uns helfen können, den Fachkräftebedarf in unserer Region zu
sichern.“
Auch der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ (HMT) in
Leipzig ist es ein Anliegen und Bedürfnis, die Inhalte der „Charta der Vielfalt“
umzusetzen. „Internationalisierung sowie Wertschätzung gegenüber allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unabhängig von Geschlecht, Rasse, Nationalität,
ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller
Orientierung und Identität waren und sind die Grundlagen des Umgangs miteinander
und der Gestaltung des künstlerischen wie des Arbeitslebens an der HMT Leipzig.“
Das Leibniz-Institut für Festkörper- und Werkstoffforschung Dresden (IFW) ist der
Charta der Vielfalt 2008 beigetreten und begründet diese Entscheidung so: „Das IFW
sieht darin ein großes Potential für die Kreativität und Leistungsfähigkeit, das
bewusst gefördert und genutzt wird. Zu den umgesetzten Maßnahmen gehören die
Beteiligung des IFW am Welcome-Center der Stadt Dresden, die Finanzierung und
Organisation von Deutschkursen für nicht-deutschsprachige Mitarbeiter sowie
Englischkurse für die Angestellten in der Verwaltung.“
Deutlich wurde bei den Gesprächen im Landtag vor allem eines: Wer sich für Vielfalt
interessiert, sucht weniger nach den Unterschieden, als nach den Gemeinsamkeiten.
Das gelingt am besten, wenn man sich gemeinsame Ziele setzt. Vielfalt
wertzuschätzen, ist eine gute Brücke hin zu einer Willkommensgesellschaft. Die
Basis dieser Wertschätzung ist der Respekt vor anderen Menschen – unabhängig
von ihrem Geschlecht, ihrem Aussehen, ihrer Religion und ihrer Herkunft.
1.3.4 Sächsischer Integrationspreis
2011 wurde der Sächsische Integrationspreis zum zweiten Mal gemeinsam von
Christine Clauß, Sächsische Staatsministerin für Soziales und Verbraucherschutz,
und Martin Gillo ausgeschrieben.
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Unter dem Motto „Gemeinsamkeit in Vielfalt“ konnten sich Vereine, Verbände,
Initiativen und Privatpersonen bewerben, die auf dem Feld der Integration tätig sind.
Durch den Wettbewerb wollten die Organisatoren sichtbar machen, wie es
Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in Sachsen gelingt, ein vielfältiges
gemeinsames Leben zu gestalten. Sei es im Sport- oder Kulturverein, in der Elternund Bildungsarbeit, bei der Freiwilligen Feuerwehr, im Nachbarschaftsprojekt, im
Unternehmen oder auch beim Feiern.
Insgesamt bewarben sich 43 Vereine, Verbände, Initiativen und Privatpersonen um
den Preis. Die Projekte wurden von einer Jury bewertet, deren Mitglieder in
unterschiedlichsten Bereichen der Integration tätig sind und die verschiedene
Perspektiven in die Beurteilung einbringen. Den Vorsitz führten die Sächsische
Staatsministerin für Soziales und Verbraucherschutz und der Sächsische
Ausländerbeauftragte gemeinsam.
Am 25.11.2011 wurde der Preis bei einer Festveranstaltung im Sächsischen Landtag
an vier Projekte verliehen
Bon Courage gewinnt
Den mit 2.500 Euro dotierten ersten Preis nahmen die Vereinsmitglieder des Bon
Courage e.V. aus Borna in Empfang. Seit 2007 engagieren sich die etwa 60
Mitglieder im Alter zwischen 16 und 24 Jahren für Asylsuchende. Ehrenamtlich
organisieren sie integrative Volleyballspiele, zu denen sie die Migranten in den
Asylbewerberunterkünften abholen. Außerdem helfen sie bei Behördengängen,
Arztbesuchen, Übersetzungen oder Formularen und unterstützen die Migranten in
der neuen Umgebung.
Den zweiten Preis, der mit 1.500 Euro dotiert war, erhielt der Ausländerrat Dresden
e.V. für sein Projekt „Die Bildungspatenschaften“. 84 Paten und Patinnen stehen
Schülern aus Migrantenfamilien zur Seite. Die Projektleiter legen Wert darauf, dass
Paten und Patenkind gut zusammen passen, damit vertrauensvoll auch
nichtschulische Probleme, sei es in der Familie oder bei der Berufswahl, besprochen
werden können.
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Das Projekt “Science goes to School!” des Dresden International PhD Program
(DIPP) wurde mit dem dritten Preis und 500 Euro geehrt. Die internationalen
Promotionsstudenten engagieren sich als Lehrende in Dresdner Schulen. Sie
vermitteln Fachwissen und schlagen so Brücken zur deutschen Gesellschaft. Das
Projekt entstand als konstruktive Reaktion nach dem Mord an der Wissenschaftlerin
Marwa El-Sherbini. So befand es auch die Jury, in der neben den Initiatoren und
Vertretern von Migranten auch der Kommunikationsexperte Wolfgang Donsbach saß.
Empowerment in Döbeln
Den Sonderpreis des Sozialministeriums für Junge Projekte nahm der Verein zur
Förderung von Fraueninitiativen - Frauenzentrum „Regenbogen“ e.V. aus Döbeln
entgegen. Das Projekt „Future Kids“ bestärkt Kinder zwischen 7 und 17 Jahren und
befähigt sie, sich in der Gesellschaft zu entwickeln. Dabei helfen Theater, Sport und
Kreativspiele, die eigenen Stärken wahrzunehmen und gleichberechtigt miteinander
umzugehen. Durch den Kontakt mit den vor Ort ansässigen Hilfs- und
Freizeitangeboten wird Isolation verhindert.
Preisverleihung und Wertschätzung
Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler legte in seiner Begrüßung zur Preisverleihung
Wert auf verlässliche Rahmenbedingungen für die Integration. So verwies er auf den
gesetzgeberischen Prozess im Parlament zur Anerkennung von im Ausland
erworbenen Qualifikationen. Er hatte auch die Schirmherrschaft über die
Veranstaltung übernommen. Christine Clauß hob die Brückenfunktion der Integration
hervor: „Wir brauchen in unserem Land Menschen, die Brücken für die Integration
bauen. Wir brauchen Integration, damit unser Land ein guter Ort zum Leben ist und
unsere Wirtschaft wettbewerbsfähig bleibt“. Dieser Prozess verlange Respekt,
Toleranz und Achtung gegenüber dem Anderen. Dieser Meinung war auch Martin
Gillo: „Jedes einzelne Projekt, jedes Engagement und jeder Mensch, der offen
anderen begegnet, bringt unsere Gesellschaft voran, damit sie eine
Willkommensgesellschaft wird. Damit Sachsen immer mehr zu einem Land wird, in
50
dem wir respektvoll und auf Augenhöhe miteinander umgehen. Ein Land, in dem sich
jeder wohlfühlt.“
Die Laudationes wurden durch Schüler des St. Benno-Gymnasiums gehalten. Die 17
Gymnasiasten hatten sich vorher eingehend mit den Projekten befasst. So
entstanden eine fiktive Radioshow, ein auf Englisch gehaltener Disput des Debating
Club, ein liebenswertes Sketch unter Gastschülern und ein Volleyspiel im Rund des
Plenarsaals. Für den nötigen kulturellen Schwung sorgten die Blasmusiker der
Dresdner Band „Banda Comunale“ und die Europameisterinnen im Showtanz vom
TSV-Joker e.V. aus Leipzig.
Neben den Preisträgern waren alle Bewerber um den Sächsischen Integrationspreis
2011 zur Festveranstaltung eingeladen. Eine Plakatausstellung in der Lobby des
Landtags informierte über alle Projekte und lud zum Austausch ein. Eine Broschüre
über alle Projekte wurde im Nachhinein an alle sächsischen Gemeinden versandt,
um den Austausch vor Ort zu fördern und zum Nachahmen anzuregen.
Preisträger kommen zu Wort
Bon Courage e. V. Borna
Projekt “Engagement für Asylbewerber“
Warum engagieren Sie sich für dieses Projekt?
Den Anstoß für mein Engagement bekam ich durch den Kontakt zu einer
asylsuchenden Familie aus einer Gemeinschaftsunterkunft, durch die ich zum ersten
Mal mit der unmenschlichen und diskriminierenden Lebenssituation von
Asylsuchenden direkt konfrontiert worden bin. Ich kann bis heute nicht verstehen,
warum Menschen im 21. Jahrhundert durch Einschränkungen in ihren Rechten wie
bspw. die Residenzpflicht oder die Versorgung über Magazine sowie katastrophalen
Unterbringungsbedingungen noch eine so unwürdige Behandlung erfahren müssen.
Für Bon Courage war das ein Grund aktiv zu werden. Auch wenn das Engagement
zugegeben manchmal sehr viel Zeit und Kraft kosten kann, überwiegen die schönen
51
und spaßigen Momente. Zudem ist die Dankbarkeit der Menschen die beste
Entlohnung, die durch kein Geld der Welt ersetzbar ist.
Was bedeutet Ihnen der Preis?
Seit Beginn unseres Engagements für Asylsuchende im Landkreis Leipzig sind wir
mit unseren Projekten bei einigen LokalpolitikerInnen, Mitarbeiterinnen der
Gemeinschaftsunterkünfte und Behörden sowie bei BürgerInnen im Landkreis auf
mehr Ablehnung, Kritik und Skepsis als auf Zuspruch, Unterstützung und
Anerkennung gestoßen. Die Auszeichnung mit dem Sächsischen Integrationspreis ist
daher eine große Anerkennung und eine Bestätigung der Bedeutung unserer Arbeit.
Die Auszeichnung hat uns gezeigt, dass auch Andere die Notwendigkeit eines
solchen Engagements sehen und statt der Absicht es zerschmettern zu wollen, es
mit offenen Armen begrüßen. Durch den Preis haben wir zudem für die Zukunft neue
Kraft schöpfen können.
Was wünschen Sie sich von ihrem Umfeld?
Von meinem gesellschaftlichen Umfeld wünsche ich mir, sich mehr mit den einzelnen
Lebensgeschichten und Schicksalen von Flüchtlingen auseinanderzusetzen und sich
dann zu überlegen, wie man selber in solch einer Lebenslage von einem
Aufnahmeland behandelt werden möchten. Ich wünsche mir von meinem Umfeld
außerdem einen respekt- und verständnisvolleren Umgang mit Menschen und
ebenso, dass eigene Stereotypen und Vorurteile, die zu oberflächlichen
Verurteilungen von Menschen führen können, reflektiert und hinterfragt werden. Und
zu guter Letzt wünsche ich mir, dass sich unsere Gesellschaft in Zukunft für mehr
kulturelle Vielfalt öffnen kann.
Ausländerrat Dresden e.V.
„Die Bildungspatenschaften“
Warum engagieren Sie sich für dieses Projekt?
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Wir engagieren uns für dieses Projekt, da wir an das große Potenzial von jungen
MigrantInnen für das kulturelle und gesellschaftliche Leben in Dresden glauben. Die
persönlichen, sprachlichen, interkulturellen und fachlichen Ressourcen werden
unserer Meinung nach jedoch noch immer zu wenig gefördert und beachtet. Wir
setzen uns gegen eine Defizitorientierung ein und versuchen mithilfe des Projektes
uns an den individuellen Fähig- und Fertigkeiten jedes Patenkindes und jeder PatIn
zu orientieren und diese zu fördern, um eine Chancengleichheit herzustellen und
einen beidseitigen, bereichernden Austausch zu ermöglichen.
Was bedeutet Ihnen der Preis?
Der Preis ist in erster Linie eine Anerkennung und Auszeichnung der vielen
PatInnen, die sich ehrenamtlich für das Projekt engagieren. Die PatInnen bilden die
Grundlage unserer Arbeit und Ihnen gelten alle Wertschätzung und ein großer Dank.
Zum anderen bedeutet uns die Auszeichnung so viel, da sie unsere Arbeit bestätigt
und anerkennt. Die Bildungsaptenschaften leben von vielen freiwilligen HelferInnen,
die sich immer für das Gelingen des Projektes einsetzen. Gerade aktuell gibt sie uns
Mut, obwohl wir fachlich und zeitlich mit dem freiwilligen Engagement an unsere
Grenzen gelangen und für die Erhaltung des Projektes dringend auf eine
KoordinatorInnenstelle angewiesen sind.
Was wünschen Sie sich von ihrem Umfeld?
Wir wünschen uns weiterhin von allen Beteiligten und Interessierten viel Neugier und
Freude sich mit dem Projekt und den Menschen auseinanderzusetzen und sich dafür
in welcher Form auch immer zu engagieren. Wir freuen uns auf viele Kooperationen
und Austausche mit anderen Projekten und Initiativen. Was die Zukunft des Projektes
betrifft, hoffen wir weiterhin auf Vertrauen und Engagement, sodass wir das Projekt
nachhaltig am Leben erhalten und die Patenschaften fachlich weiterhin auf hohem
Niveau durchführen und ausbauen können.
Dresden International PhD Program
Projekt „Science goes to School!“
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Warum engagieren Sie sich für dieses Projekt?
Für die ortsansässigen ausländischen Doktoranden des Dresden International PhD
Program ist dieses Projekt eine große Chance, in Kontakt mit Dresdner Schülern zu
kommen. Die Wissenschaft ist das vermittelnde Element, um die Schülern für die
Gesetzmäßigkeiten der Natur zu begeistern, an denen die jungen Wissenschaftler in
internationalen Arbeitsgruppen selbst forschen. Die gemeinsame Sprache in der
Wissenschaft sowie bei den Schuleinsätzen ist Englisch. Es bereitet den jungen
Wissenschaftlern viel Spaß, Schüler zu motivieren, sich im Laufe des
eineinhalbstündigen gemeinsamen Experimentierens immer mehr auf die
verbindende Fremdsprache einlassen, die Scheu davor verlieren. Dabei sind die
wissenschaftlichen Experimente in Gruppenarbeit ein extrem effizientes didaktisches
Mittel für den naturwissenschaftlichen Unterricht und ein Weg, wichtige soziale
Kompetenzen zu schulen und zu stärken: die Fähigkeit, im Team zu arbeiten, mit
Mitschülern und anderen Menschen zu kommunizieren, an einer gemeinsamen
Strategie und einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten.
Was bedeutet Ihnen der Preis?
Der Preis ist für die Doktoranden eine große Anerkennung ihrer Idee, über die
Wissenschaft die nicht sofort erkennbare Integration schrittweise anzugehen.
Gleichzeitig motiviert die Auszeichnung jeden einzelnen ausländischen Studenten,
sich weiterhin stark in dem Projekt zu engagieren. Alle Rückmeldungen aus den
Schulen und nun der Preis selbst zeigen, dass „Science goes to School!“ interessant
und wichtig für die Entwicklung der Schüler ist, deren Gedanken über ausländische
Studenten und ein internationales Umfeld zu verändern.
Was wünschen Sie sich von ihrem Umfeld?
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Die ausländischen Studenten, die zeitweise in Dresden leben, wünschen sich eine
freundliche, respektvolle und offene Atmosphäre zum Arbeiten und Leben - Dresden
als einen Lebensort, an dem sie von anderem Menschen lernen und ihr Wissen
weitergeben können
Frauenzentrum „Regenbogen“ e.V. Döbeln
Projekt „Future Kids“.
Warum engagieren Sie sich für dieses Projekt?
Die stetig steigende Armut unter Kindern und Jugendlichen (32,8% der Kinder unter
15 Jahren; Stand 2007 Armutskonferenz) geht einher mit materiellen
Einschränkungen, sozialem Abstieg, Anerkennungsverlust und dem nicht mehr
teilhaben können an kulturellem Reichtum. Die Arbeitslosigkeit der Familie und die
damit verbundenen Ohnmachtsgefühle werden an die Heranwachsenden geradezu
"vererbt". Wir engagieren uns, da grundlegende Handlungsstrategien dringend
erforderlich sind, um zu erreichen, dass diese Kinder und Jugendlichen eine reale
Chance haben, diese Negativspirale zu durchbrechen: Wir wollen erreichen, dass
diese sich selbstbewusst in ihrer Gesellschaft bewegen und einbringen können, die
gerade in Familien mit Migrationshintergrund häufig durch ambivalente
Anforderungen geprägt ist. Durch soziokulturelle Aktivitäten, wie selbst kreierte
Theaterstücke und deren Aufführung, Argumentationsrollenspiele und
genderübergreifende Aktivitäten (Boxen für Mädchen, Bauchtanz für Jungen) erlebt
unsere Zielgruppe, dass sie zu mehr fähig sind, als ihnen von außen suggeriert wird
und geben Lösungsstrategien an die Hand, wie Kinder mit ihrer prekären Lage
gesund umgehen können (z.B. Argumentationstraining gegen rassistische Parolen
und erschlagende Konsumerfordernisse).
Was bedeutet Ihnen der Preis?
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Die Auszeichnung mit dem Sonderpreis des Sächsischen Ausländerbeauftragten
setzt für uns ein Zeichen, dass die soziokulturelle Arbeit mit benachteiligten Kindern
und Jugendlichen ein wichtiger Bestandteil in der Infrastruktur eines gut
funktionierenden Hilfenetzwerkes für die Zielgruppe ist. Unsere Gesellschaft spricht
von drohendem Fachkräftemangel und sieht zugleich nicht selten zu, wie Kinder und
Jugendliche hilflos ihrer prekären sozialen Situation ausgeliefert sind. Wenn die
Heranwachsenden zwangsläufig für sie mögliche "Überlebensstrategien" entwickeln
müssen, werden diese wiederum in der öffentlichen Meinung stigmatisiert. Unsere
Zielgruppe erlebt diese beschriebene Situation mitunter sehr reflektiert. Dass sie
durch die Verleihung des Sonderpreises in einen wertschätzenden Fokus gerückt
sind und deren erreichte Erfolge in den Medien präsent sind, ist für nahezu alle
Kinder und Jugendlichen ein Novum, was das Bild von sozialem Engagement und
Interesse greifbar und erlebbarer macht.
Was wünschen Sie sich von ihrem Umfeld?
Auch Aktivitäten, Projekte und Vereine, die sich für benachteiligte Menschen
engagieren laufen Gefahr, selbst stigmatisiert zu werden, z.B. durch die Aussage,
"einen künstlichen Bedarf zu schaffen". Es ist schwer, sich mit thematisierten
Problemlagen auseinanderzusetzen, da die erwünschte Idylle einer Stadt, eines
Landkreises dadurch erschüttert wird. Wir wünschen uns, dass bewährte
Handlungskonzepte, die unseren Kindern und Jugendlichen zugutekommen, aus
ihnen verantwortungsvolle, engagierte Erwachsene machen können, endlich fester
Bestandteil einer sozialen Infrastruktur und der Jugendhilfe würden. Für die Zukunft
ist es wünschenswert, wieder als Frauenzentrum die Akzeptanz zu finden, die wir
bereits in unserem 17-jährigen Bestehen erfahren hatten.
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2 Humanität und Menschenwürde
Zu meinen gesetzlichen Aufgaben als Sächsischer Ausländerbeauftragter gehört die
Wahrung der Belange der im Freistaat lebenden Ausländer. Bei dieser Aufgabe lasse
ich mich von der Haltung der Humanität und einem wichtigen Grundwert unserer
eigenen Gesellschaft leiten: der Menschenwürde.
Jede und jeder hat eine menschenwürdige Behandlung verdient, unabhängig von der
Herkunft, unabhängig vom Aufenthaltsstatus und unabhängig davon, ob einer bei
uns dauerhaft leben kann oder wieder gehen muss. „Die Würde des Menschen ist
unantastbar“ – diesem Grundsatz müssen zuallererst wir als Bürgerinnen und Bürger
dieses Staates gerecht werden, denn es ist unser Grundgesetz. Dieser Grundsatz ist
eine Handlungsmaxime für unser eigenes Handeln und nicht abhängig davon, mit
wem wir es zu tun haben.
Diese Arbeit hat für mich zwei Seiten: Einerseits nimmt sie organisatorische und
systemische Verhältnisse in unserem Freistaat in den Blickpunkt. Auf der anderen
Seite vergisst sie nicht, sich auch um Einzelfälle zu kümmern. Sei es, indem wir
vorhandene Freiräume in den Verwaltungsregelungen nutzen, um Menschen in Not
zu helfen, oder sei es, indem wir Menschen zur Seite stehen und ihnen zeigen, dass
wir sie in Zeiten der extremen Not nicht allein lassen.
Zu den organisatorisch-systemischen Aufgaben gehört auch die Überprüfung und
Beurteilung der sächsischen Gemeinschaftsunterkünfte, in denen Asylsuchende dem
Gesetz entsprechend überwiegend untergebracht werden. Hier übernehmen wir eine
Verantwortung, der wir auch hinsichtlich der Menschenwürde gerecht werden
müssen. Denn wenn der Staat einen Menschen zwingt in einem Heim zu leben, dann
muss er gleichzeitig dafür sorgen, dass Leib und Leben, Unversehrtheit und
Menschenwürde gewahrt werden. Das trifft auch auf die Unterbringung von
Asylsuchenden zu.
Unser Team hat in den vergangenen zwei Jahren alle Gemeinschaftsunterkünfte in
Sachsen zweimal besucht. Dabei mussten wir feststellen, dass wir Gefahr liefen,
abzustumpfen. Nach dem anfänglichen Schock begannen wir, die Verhältnisse für
normal zu halten und vor allem für unveränderbar: Weil Verhältnisse eben sind, wie
sie sind.
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Diese Haltung passt nicht zu meinem Aufgabenverständnis. Um der eigenen
Abstumpfung bei den Besuchen entgegenzuwirken und um die Wahrung des Rechts
auf eine menschenwürdige Behandlung sicherzustellen, haben wir einen „Heim-TÜV“
für die sächsischen Gemeinschaftsunterkünfte entwickelt.
Es gibt für solche Prozesse in unserer Gesellschaft gute Vorbilder: Ein Beispiel sind
die Überprüfung der Zustände in den deutschen Pflegeheimen. Bis vor nicht allzu
langer Zeit galt ein Heim als ordentlich, wenn seine Bewohner „trocken, sauber und
satt“ waren. Mittlerweile gibt es einen „Pflege-TÜV“4, der Pflegeheime detailliert
einstuft und damit zu verbesserter Pflegequalität geführt hat. Transparenz ist hier die
Grundlage für die Verbesserung.
Das gilt auch für die Verbesserung der Unterbringungssituation von Asylbewerbern
und Geduldeten. Unser „Heim-TÜV“ hat es uns ermöglicht das, was wir vor Ort
gesehen haben, systematisch zu erfassen, verbesserungswürdige Zustände zu
kennzeichnen und gute Beispiele zu identifizieren.
Der „Heim-TÜV“-Bericht ist allen Interessierten über unsere Internetseite
www.offenes-sachsen.de zugänglich. Auf den folgenden Seiten wollen wir die
wichtigsten Einsichten und Ergebnisse präsentieren.
Außerdem berichten wir in diesem Kapitel über die Arbeit der Sächsischen
Härtefallkommission und über zwei humanitäre Einzelfälle.
Gerade der erste Fall zeigt, dass es mit Ausdauer möglich ist, auch scheinbar
unlösbare humanitäre Probleme zu lösen. Der zweite Fall zeigt, wie wichtig es ist,
ausländische Mitmenschen in Extremsituationen nicht allein zu lassen. Er zeigt leider
auch, wie schnell bei Gewaltverbrechen an einem Ausländer in der Öffentlichkeit der
Verdacht aufkommt, er sei selber schuld an dem, was passiert ist.
4
Transparenzberichte der gesetzlichen Krankenkassen über Leistungen und Qualität von
Pflegeheimen
58
2.1
Mitmenschen im Schatten - „Heim-TÜV“ 2011 über das Leben in
sächsischen Gemeinschaftsunterkünften
Flüchtlinge sind aus unserer Welt nicht mehr wegzudenken. Menschen versuchen
ihrer tiefen Not zu entkommen, indem sie ihre Heimat unter großen Risiken
verlassen. Viele wollen einer menschenbedrohenden Politik oder einer
lebensgefährlich-repressiven Gesellschaft entkommen. Viele fliehen vor Kriegen und
wollen ihr Leben retten.
Andere werden durch Hungersnöte aus ihrer Heimat vertrieben. Und immer mehr
Menschen müssen als Klimaflüchtlinge ihre Regionen verlassen, weil aus fruchtbaren
Böden staubige Wüsten oder überschwemmte Landstriche geworden sind. Mehr als
45 Millionen Menschen sehen sich deshalb weltweit gezwungen, woanders als
Flüchtlinge eine neue Chance auf Leben zu finden. Drei Viertel von ihnen finden in
einem Nachbarland Zuflucht, 80 Prozent der grenzüberschreitenden Flüchtlinge
werden von Entwicklungsländern aufgenommen.5
Auch Europa, die Bundesrepublik Deutschland und der Freistaat Sachsen sind von
diesen Flüchtlingsströmen betroffen. Und natürlich ist die Zahl der Flüchtlinge zu
groß, um sie alle bei uns aufzunehmen. Deshalb hat sich die Europäische Union
entschlossen, auf der einen Seite die Zahl der nach Europa kommenden Flüchtlinge
durch aktive Maßnahmen an seinen Außengrenzen einzudämmen und auf der
anderen Seite zu helfen, die Not in den verschiedenen Regionen zu lindern. Die
Festungspolitik zeigt Wirkung.
Der Flüchtlingsstrom nach Europa ist im Vergleich zu den 90er Jahren wesentlich
zurückgegangen. Davon hat auch die Bundesrepublik Deutschland „profitiert“. Die
Flüchtlingsströme nach Deutschland fanden 1992 ihren Höhepunkt. Über 400 000
Menschen kamen zu uns und baten um Asyl bzw. um Anerkennung als Flüchtling. Im
Jahre 2010 waren es nur noch zehn Prozent von dieser Zahl, also 40 000. Etwa fünf
Prozent davon kamen nach Sachsen, oder besser gesagt, sie wurden uns über das
5
UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR „Global Trends 2010“, veröffentlicht im Juli 2011.
59
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nach dem „Königsteiner Schlüssel“6
zugeteilt, weil praktisch kaum Flüchtlinge direkt nach Sachsen kommen. Die meisten
versuchen in westdeutschen Städten unterzukommen.
Die Flüchtlinge durchlaufen nach ihrer Ankunft die Verwaltungsprozesse, die über
ihre Anerkennung als Flüchtling entscheiden. Eigentlich sollte das innerhalb von 1-2
Jahren abgeschlossen sein. Doch die Praxis sieht anders aus. Nicht wenige von
ihnen warten bis zu sieben Jahre oder länger, bis endgültig über ihren Antrag oder
Folgeantrag entschieden wird.
Die Statistiken besagen, dass von zehn Asylbewerbern etwa drei wieder gehen und
dass drei einen Aufenthaltsstatus bekommen. Vier sind eigentlich ausreisepflichtig,
gehen aber nicht zurück. Das sind die Geduldeten. Zwei der vier Ausreisepflichtigen
dürfen bleiben, weil sie aus verschiedensten Gründen nicht abgeschoben werden
dürfen. Die anderen beiden bleiben, weil sie ihre wahre Identität verschweigen und
nach den europäischen Menschenrechtsregeln nicht abgeschoben werden können.
Die Verhältnisse variieren von Jahr zu Jahr. 2010 waren es beispielsweise nicht drei,
sondern fünf von zehn, die wieder gegangen sind, wenn man die freiwilligen
Rückkehrer und die nach dem Dubliner Übereinkommen7 in die EU-Länder
zurückgesendeten Flüchtlinge miteinbezieht.
Die Unterbringung von Asylbewerbern und Geduldeten wird in der Bundesrepublik
Deutschland durch das Asylverfahrensgesetz geregelt. Gemäß § 53 Abs. 1
Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) sollen Ausländer, die einen Asylantrag gestellt
haben und nicht oder nicht mehr verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung zu
wohnen, in der Regel in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. Hierbei
6 Der Königsteiner Schlüssel legt die Zuweisungsquote der Asylbewerber auf die einzelnen Bundesländer fest. Der Schlüssel
geht auf das Königsteiner Abkommen von 1949 zurück, das zur Finanzierung von Forschungseinrichtungen entstanden ist.
Die Länderanteile werden jedes Jahr von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) neu berechnet.
7 Das „Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der
Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags vom 15. Juni 1990“ (Dubliner Übereinkommen) ist ein
völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Es regelt die Verteilung der Zuständigkeit
für die Durchführung von Asylverfahren innerhalb der Europäischen Union und ist für alle Mitgliedstaaten am 1. Januar
1998 in Kraft getreten (Bundesministerium des Innern, Stand Oktober 2011).
60
sind, so heißt es in § 53 Abs. 1 Satz 2, „… sowohl das öffentliche Interesse als auch
Belange des Ausländers zu berücksichtigen.“
Genau an dieser Stelle setzt unser „Heim-TÜV“ an. Wir sind überzeugt, dass es
möglich ist, den ordnungspolitischen und öffentlichen Interessen gerecht zu werden
und den humanitären Ansprüchen zu genügen. Wir wollen sicherstellen, dass die
Bedingungen in den Unterkünften den allgemeinen Menschenrechten und unseren
eigenen Ansprüchen an eine menschenwürdige Behandlung gerecht werden.
Erst die Menschenwürde, dann die Ordnungspolitik
Auf der einen Seite bringen wir die Mehrheit der Asylsuchenden in
Gemeinschaftsunterkünften unter. Auf der anderen Seite steht unser klares
Bekenntnis zum humanen Umgang mit allen bei uns lebenden Menschen.
Auch die Wohlfahrtsverbände Deutschlands beschäftigen sich mit diesem Thema. Zu
ihnen gehören z.B. Caritas, Diakonie, Paritätischer Wohlfahrtsverband,
Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, Deutsches Rotes Kreuz und die
Arbeiterwohlfahrt. Sie orientieren ihr Handeln an religiösen und humanitären
Überzeugungen. Wenn die Wohlfahrtsverbände das Thema Unterbringung der
Asylbewerber in Deutschland aufgreifen, dann tun sie das also mit der Perspektive
jener Werte, die uns am wichtigsten sind.
Die Liga der Wohlfahrtsverbände des Landes Baden-Württemberg e.V. erstellte im
Jahr 2009 einen Bericht, in dem sie Standards für eine menschenwürdige und
solidarische Unterbringung der Asylbewerber und Geduldeten beschrieben und
vorgeschlagen haben: „Kerngehalt der Menschenwürde ist es, jeden Menschen als
Subjekt zu begreifen. Die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz
verbietet es, den Menschen zum bloßen Objekt hoheitlichen Handelns zu
degradieren.“8
8 Liga der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg e.V.: Unterbringung von Asylsuchenden und
Flüchtlingen, Stand 2009, Seite 1.
61
Hinter diesem Satz steht die Überzeugung, dass unsere grundgesetzliche
Verpflichtung zur Menschenwürde auch bei der Unterbringung von Asylbewerbern
und Geduldeten in Gemeinschaftsunterkünften Geltung hat: Zuerst kommt die
Menschenwürde, dann kommt die Ordnungspolitik.
Deshalb ist unser oberstes Kriterium bei der Beurteilung der
Gemeinschaftsunterkünfte das Kriterium der Menschenwürde. Die Unterbringung von
Asylbewerbern und Geduldeten soll mehr vom Gedanken der Humanität und der
sozialen Fürsorge geleitet sein, als vom Gedanken der Abschreckung und der
Vergrämung.
Asylbewerber und Geduldete haben ein Recht auf soziale Inklusion in unserer
Gesellschaft, so lange sie bei uns leben. Sie sollten die Gelegenheit bekommen sich
als Menschen in unsere Gesellschaft einzubringen, ob als Eltern in der Schule, als
Mitglieder in Migrantenbeiräten, in gemeinnützigen Vereinen oder anderen
Aktivitäten. Das ist nichts Neues – das ist zum großen Teil schon gelebte Praxis.
Auch in Sachsen gibt es gute Beispiele für diese soziale Inklusion. So bekennen wir
uns in vorbildlicher Weise zur schulischen Integration für alle Kinder, egal welchen
Status ihre Eltern haben mögen. Das gilt auch für die Kinder illegal hier lebender
Eltern und ist Konsens der Innenministerkonferenz der Bundesrepublik seit 2010.
Vorbildwirkung entfaltet Sachsen dadurch, dass es den besonderen Bedürfnissen
von zweisprachigen Kindern beim Deutschunterricht Rechnung trägt, indem das
Fach „Deutsch als Zweitsprache“ schulbegleitend angeboten wird und sich nicht nur
auf einen Anfangskurs beschränkt.
Auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge erhalten Unterstützung, damit auch sie
eine Chance auf menschenwürdige Behandlung und Entfaltung ihrer Talente
bekommen. Hier handeln wir in klarer Übereinstimmung mit unserem Bekenntnis zu
Humanität und Menschenwürde.
Die gleiche Haltung sollten wir bei der Frage der Unterbringung der bei uns lebenden
Asylbewerber und Geduldeten einnehmen.
62
2.1.1 Das System der Unterbringung in Sachsen
In Sachsen wird die Aufnahme, Unterbringung und Verteilung von Asylbewerbern
nach dem Asylverfahrensgesetz durch das Gesetz zur Aufnahme und Unterbringung
von Flüchtlingen im Freistaat Sachsen geregelt.
Zuständig für die Unterbringung sind das Staatsministerium des Innern als oberste
Unterbringungsbehörde, die Landesdirektion als höhere und die Landkreise und
Kreisfreien Städte als untere Unterbringungsbehörden.
Die Landesdirektion Chemnitz verteilt in Abstimmung mit der Landesdirektion
Dresden oder Leipzig die aufzunehmenden Ausländer auf die unteren
Unterbringungsbehörden.9
Die Verteilung erfolgt nach einem Schlüssel, der sich aus dem Anteil des jeweiligen
Landkreises oder der Kreisfreien Stadt an der Wohnbevölkerung des Freistaates
Sachsen errechnet. Der Freistaat Sachsen erstattet den Landkreisen und Kreisfreien
Städten die entstehenden Kosten in Form einer Pauschale.10 Die Zuordnung der
einzelnen Asylbewerber zu bestimmten Heimen erfolgt nach dem Zufallsprinzip.
Aus systemischer Sicht lässt sich die Praxis der Unterbringung als gesellschaftliches
System mit Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen und je verschiedenen Aufgaben
beschreiben. Alle Akteure tragen mit ihrem Handeln oder Nichthandeln dazu bei, ob
die Unterbringung menschenwürdig ist oder nicht. Mindestens vier Gruppen sind hier
zu beachten.
Die Geldgeber:
Gemeinschaftsunterkünfte müssen finanziert werden. Die finanziellen Aufwendungen
sollen eine einfache, funktionelle und sichere Unterbringung ermöglichen, die aber
nicht menschenunwürdig sein darf. Was bedeutet das heute in der Praxis?
9 Verordnung über Zuständigkeiten nach dem Aufenthaltsgesetz und Asylverfahrensgesetz (SächsAAZuVO) vom 22.
Dezember 2008, § 3 Abs. 2.
10 Gesetz zur Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen im Freistaat Sachsen (SächsFlüAG) vom 25. Juni 2007, § 10.
63
In vielen Fällen reicht die festgesetzte Pauschale für eine menschenwürdige
Unterbringung nicht mehr aus. Der Freistaat Sachsen hat diese Pauschale seit etwa
zehn Jahren nicht mehr erhöht. Gleichzeitig steigen die Kosten - Heimbetreiber
haben uns eindringlich darauf hingewiesen, dass sich z.B. ihre Erdgaskosten in
diesem Zeitraum um 240 Prozent und die Elektrizitätskosten um 170 Prozent erhöht
haben.
Die Landkreise und Kreisfreien Städte beteiligen sich mit eigenen Beiträgen an der
Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber und Geduldeten, beispielsweise
durch die Finanzierung der schulischen Integration der Kinder, durch Beiträge zu
Krankheitskosten oder auch durch Zuschüsse für Unterbringung und soziale
Betreuung von Asylbewerbern.
Die Heimbetreiber:
Die meisten Heime in Sachsen werden von Drittanbietern betrieben, die nach
öffentlichen Ausschreibungen den Zuschlag bekommen haben. Bei den konstanten
Mitteln für die Unterbringung wird es trotz steigender Unterbringungskosten nicht
überraschen, dass sich bei den Ausschreibungen immer weniger Firmen bewerben,
bzw. dass es teilweise überhaupt keine Bieter gibt, bis die Anforderungen herunteroder die Vergütung heraufgeschraubt werden.
Ebenso wird nachvollziehbar, dass über die Jahre immer mehr Leistungen abgebaut
wurden, um kostendeckend zu bleiben. Ergebnis? In vielen Heimen in Dritthand
werden die Heimbewohner weitgehend sich selbst überlassen. Mittlerweile müssen
sich die Dienstleistungen vieler Betreiber aus Kostengründen im Wesentlichen auf
Hausmeisterdienste beschränken.
Da kann der professionelle Wachdienst schnell zur freundlichen Anwesenheit
Geringbeschäftigter abgeschwächt werden, die zwar da sind, aber bei Konflikten
schnell ihre Tür verschließen können, bis Ruhe eintritt. Es kann sogar dazu kommen,
dass nachts niemand mehr da ist.
Einige Heimleiter erwecken den Eindruck, dass sie sich den Provokationen und
Bedrohungen durch Bewohner mehr oder weniger wehrlos ausgesetzt fühlen und
antworten darauf scheinbar mit Resignation zu n. Die Ursachen für das Verhalten
64
der Bewohner werden dann nicht mehr hinterfragt, sondern den Bewohnern auf
stereotype Art zugeschrieben.
Die Heimbewohner:
Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften werden in sehr unterschiedlichem Maß
betreut. Werden sie sich selbst überlassen, kommt es häufig zu negativen
Entwicklungen:
 Nur wenige Heimbewohner haben die Möglichkeit, sich sinnvoll zu
beschäftigen oder gar zu arbeiten. Die erzwungene Untätigkeit führt deshalb
häufig zu einer schleichenden Lähmung der Initiative, zu Depressionen und
anderen physischen und psychischen Krankheiten bis hin zu einer
gesteigerten Selbstmordneigung unter den Bewohnern der
Gemeinschaftsunterkünfte.
•
Bei anderen führt die fehlende Möglichkeit, sich konstruktiv einzubringen,
dazu, dass sie sich auf organisierte Kriminalität oder Schwarzarbeit einlassen
und damit unserer Gesellschaft schaden.
 Hohe Frustration und soziale Isolation führen immer wieder zu Zerstörungen
von Einrichtungen und Mitteln, die von den Heimbetreibern ersetzt werden
müssen. Das kann dann aus Kostengründen zur weiteren Reduzierung der
Versorgung führen und das wiederum zu mehr Zerstörung usw.
•
Angesichts einer weitgehenden gesellschaftlichen Isolation gehören auch
Alkoholismus und Drogenkonsum für eine Reihe alleinstehender Männer zum
täglichen Leben in den sächsischen Heimen.
 Gewalt unter den Bewohnern scheint in manchen Heimen keine Seltenheit zu
sein, ebenso kommt Gewalt zwischen Heimbewohnern und Heimleitung vor.
Heimbewohner können aber auch konstruktiv auf das Zusammenleben und die Form
der Unterbringung einwirken, nämlich dort, wo ihnen die Möglichkeit gegeben wird,
das Leben in der Gemeinschaftsunterkunft mitzugestalten und zu bereichern.>>>
Die Gesellschaft:
65
Auch die Gesellschaft spielt eine erhebliche Rolle in diesem System, denn in der
Demokratie hören Politik und öffentliche Verwaltung auf die Wählerinnen und Wähler.
Wer Asylbewerber und Geduldete für „Schmarotzer“ hält, der will sie möglichst
schnell vertrieben wissen; fast egal mit welchen Mitteln – solange diese Mittel nur im
Verborgenen bleiben und in der Öffentlichkeit nicht gerechtfertigt werden müssen.
Schnell können so unsere menschlichen Grundwerte in Frage gestellt werden.
Über die Lebenswirklichkeit der Asylbewerber und Geduldeten ist in der Öffentlichkeit
wenig bekannt. Schlagzeilen machen zumeist Negativberichte und Informationen
über Kriminalität. Deshalb wehren sich Anwohner häufig gegen die Errichtung großer
Gemeinschaftsunterkünfte mit über 100 Bewohnern in der eigenen Nachbarschaft.
Daraus entsteht der Druck, Heime möglichst weit abgelegen von Ortschaften zu
unterhalten. Dieser öffentliche Druck ist bei kleinen Heimen deutlich geringer.
Allerdings tragen auch weit abgelegene Heime zu einer ablehnenden Haltung durch
die heimische Bevölkerung bei, denn sie vermitteln die Botschaft, dass es guten
Grund dafür gibt, Asylbewerber an den Rand unserer Gesellschaft zu schieben. Die
Ressentiments auf der einen Seite schüren die Ressentiments auf der anderen Seite.
Die wiederum können die Ressentiments auf der einen Seite erhöhen und so weiter
und so fort.
Eine Chance zur Verbesserung der Einstellung der Öffentlichkeit zum Umgang mit
den Asylbewerbern liegt in einer besseren Kenntnis über ihre Situation und ein
Einsetzen für menschliche Umstände ihres täglichen Lebens. Nicht umsonst ist die
Einstellung der Menschen in den großen Städten entspannter, als in den ländlichen
Regionen – und das, obwohl (oder vielleicht gerade weil) der Anteil der Ausländer in
den Städten größer ist, als auf dem Land.
Alle tragen Verantwortung
Alle Beteiligten in einem System tragen Mitverantwortung für das System, im
Schlechten wie im Guten, manche mehr, manche weniger. Die Betonung liegt
allerdings auf dem Wort „alle“. Deshalb gibt es auch keine Einzelschuldigen für
systemische Fehlentwicklungen. Wenn wir Probleme in einem System erkennen,
dann lohnt sich nur eins: Die Ursachen zu erkennen, sie abzustellen oder zu
66
verändern und dadurch zu den Ergebnissen zu gelangen, die unseren eigenen
Werten entsprechen.
2.1.2 Erhebungsinstrument „Heim-TÜV“
Erhebungsinstrument des „Heim-TÜV“ ist ein Fragenkatalog für
Gemeinschaftsunterkünfte, der von uns für eine umfassende Einschätzung von
Gemeinschaftsunterkünften für Asylbewerber und Geduldete entwickelt wurde (siehe
Dokumentation ).
Grundlage der Einschätzungen sind immer beobachtbare Einzelfaktoren, die die
Realität der Asylbewerber und Geduldeten im Alltag wiedergeben. Diese
Einschätzungen können von Jedem beobachtet bzw. nachvollzogen werden, der mit
den Bewohnern, den Betreibern, und auch mit der Unterbringungsbehörde ins
Gespräch kommt. Der Fragenkatalog des „Heim-TÜVs“ besteht aus 46 Fragen, die in
zehn Faktoren gruppiert sind.
Eine angemessene Unterbringung für Asylbewerber und Geduldete in Sachsen lässt
sich optimal nur im Dialog mit allen Betroffenen verwirklichen. Deshalb wurde die
Situation in den Gemeinschaftsunterkünften sowohl aus der Sicht und der
Wahrnehmung der Betreiber als auch aus der der Asylbewerber erfasst. Wichtige
Basisinformationen haben wir vorab von der zuständigen Unterbringungsbehörde
eingeholt.
Bei unseren Besuchen standen bewusst die betroffenen Menschen in ihrer
alltäglichen Situation, ihre Sicherheit und ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten im
Mittelpunkt. Jede Einschätzung ist eine Momentaufnahme. Sie spiegelt die aktuelle
Lebenssituation wider, wie sie am Tag des Besuches vorgefunden wurde. Die
Gespräche mit den Beteiligten erfassten aber auch längerfristige Trends.
Grundsätzlich wurde die Datenerhebung von der Bewertung getrennt. Beim Besuch
und in den Gesprächen stand ausschließlich die Datenerhebung im Vordergrund.
Erst im Nachhinein erfolgte die Beurteilung im Beobachterteam. Neben der reinen
Datenerhebung haben wir in den Heimen mit vielen Heimbewohnern gesprochen und
dabei auch eine Vielzahl von Einzelanliegen aufgenommen. Die Einzelfälle haben wir
67
je nach Zuständigkeit an die Unterbringungsbehörde oder die Sächsische
Bildungsagentur übergeben und wir werden deren Bearbeitung nachverfolgen.
Alles was wir tun, kann auch verbessert werden. Das gilt auch für unseren Ansatz. In
diesem Sinne werden wir vor unserem nächsten „Heim-TÜV“ Experten einladen, um
mit uns gemeinsam über Verfeinerungen unserer Methode nachzudenken.
Grundsätzlich ist der „Heim-TÜV“ auch auf Gemeinschaftsunterkünfte in anderen
Bundesländern übertragbar und kann durch andere Akteure benutzt werden.
2.1.3 Unsere Vorgehensweise
Wir kündigten unsere Besuche mit einer sehr kurzen Vorlaufzeit von drei Tagen an,
um zu verhindern, dass der Zustand der Unterkunft auf den Besuch hin verändert
wurde. Das ist nicht immer gelungen. Häufig haben wir Gemeinschaftsküchen und
Sanitäranlagen vorgefunden, in denen es beispielsweise sehr stark nach
Reinigungsmitteln roch, oder in denen neue Duschvorhänge befestigt wurden, die
noch den üblichen Plastegeruch der Verpackung und die Verpackungsfalten
aufwiesen.
Die Besuche selbst bestanden aus einem Vorgespräch mit den Betreibern, der Kreisbzw. Stadtverwaltung vor Ort im Heim, einer anschließenden Besichtigung der
Unterkunft und vielen Gesprächen mit anwesenden Bewohnern, die uns auf unsere
Bitten hin auch ihre jeweiligen Zimmer bzw. Wohneinheiten zeigten. Außerdem
hatten viele Heimbetreiber entsprechend unserer Bitte den Bewohnern unsere
Besuche vorher angekündigt und ihnen so ermöglicht, mit uns direkt ins Gespräch zu
kommen.
Im Anschluss an unsere Besuche fanden Einschätzungsgespräche mit den
Teilnehmenden statt, an denen neben den Mitgliedern des Teams des Sächsischen
Ausländerbeauftragten (SAB) auch die Mitarbeitenden der Landkreis-, Stadt- und
Schulverwaltung teilgenommen haben. Dabei wurden die Beobachtungen
durchgesprochen und, wenn notwendig, ergänzt. Die Beobachtungen waren damit
immer gemeinsame, intersubjektive Ergebnisse auf einer breiten Basis.
68
Die Ergebnisse der Besuche, die Einschätzungen und unsere Anregungen für
Verbesserungen wurden im Anschluss in einem Gespräch mit den zuständigen
Landräten und Bürgermeistern bzw. Oberbürgermeistern erörtert. Die detaillierten
Unterlagen einschließlich aller Notizen und Fotografien stehen den interessierten
Landräten und Oberbürgermeistern selbstverständlich zur Einsicht zur Verfügung.
2.1.4 Die zehn Faktoren der Datenerhebung
Die Unterbringung der Asylbewerber und Geduldeten haben wir anhand der
folgenden zehn Faktoren beurteilt, die mit Einzelfragen untersetzt sind und die auf
beobachtbare Sachverhalte zielen:
1.
Unterbringung von Familien und Frauen in der Gemeinschaftsunterkunft
2.
Sicherheit
3.
Betreuung
4.
Frauen- und Familiengerechtheit
5.
Integration von Kindern
6.
Bildungsangebote
7.
Mitwirkungsmöglichkeiten
8.
Lage und Infrastruktur
9.
Zustand und Umfeld
10.
Gesellschaftliche Einbindung
Höchste Priorität haben für uns die angemessene Unterbringung und Behandlung
von Familien, Alleinerziehenden und Frauen, die innere Sicherheit im Heim sowie die
Integration von Kindern. Deshalb werden diese Faktoren in der Bewertung stärker
gewichtet. Wir haben auch danach gefragt, wie hoch der Grad der dezentralen
Unterbringung von Familien im Landkreis bzw. der Kreisfreien Stadt ist, dieser Faktor
ist aber nicht in die Beurteilung der einzelnen Heime eingeflossen.
69
Die Gesamtbewertung der Faktoren erfolgte auf Grundlage der Bewertung der
einzelnen Fragen. Nähere Details zum Bewertungsverfahren finden sich im Bericht
oder auf unserer Internetseite www.offenes-sachsen.de.
2.1.5 Systemische Probleme: Gute Absichten – Ungewollte Konsequenzen
Wir haben während unserer Besuche und in den vielen Gesprächen fast
ausschließlich Verantwortliche getroffen, die gute Absichten hatten. Das hat damit zu
tun, dass alle Verantwortlichen nicht nur die Unterbringung der Asylbewerber,
sondern ihren gesamten Verantwortungsbereich im Auge haben. Sie müssen
Prioritäten setzen und dafür sorgen, dass Haushalte nicht überlastet werden. Sie
müssen die rechtlichen Vorgaben einhalten und die Sorgen der Bürger ernst
nehmen. Jeder einzelne Heimbetreiber muss sich dafür einsetzen, dass sein Heim
als Ganzes funktioniert, es bezahlbar bleibt, keine Energie verschwendet wird usw.
Alles gute Absichten und immer eine Gradwanderung zwischen „… dem öffentlichen
Interesse und den Belangen der Ausländer …“, wie es im Asylverfahrensgesetz
heißt.
Trotzdem haben wir nicht nur Gutes zu berichten, weil in komplexen Systemen gute
Absichten nicht automatisch zu guten Ergebnissen führen. Deshalb suchen wir nicht
nach Schuldigen, sondern fassen das gesamte System und seine Architekten ins
Auge.
Wir zeigen in unserem Bericht auch, dass trotz guter Absichten bei der
Unterbringung von Flüchtlingen in Sachsen unbeabsichtigte Konsequenzen eintreten
können und geben hier einige Beispiele.
Finanzierung
Der Sächsische Landtag verabschiedet den Haushalt, der die Mittel für die
Unterbringung zur Verfügung stellt. Wenn in Zeiten von schwierigen
Haushaltsentscheidungen die Mittel für die Unterbringung nicht gekürzt werden, dann
könnte man der Meinung sein, dass wir richtig gehandelt haben. Ähnlich verfährt
70
auch eine Reihe von Landkreisverwaltungen, wenn sie die Ausgaben für
Unterbringung Jahr für Jahr konstant halten.
Allerdings müssen die privat betriebenen Heime bei gleichbleibenden Mitteln sehen,
wie sie ihre unvermeidlichen Kostensteigerungen durch Einsparungen auf anderen
Gebieten ausgleichen können. Zusätzliche menschliche Spannungen zwischen
Heimleitung und Bewohnern und andere negative Effekte sind vorprogrammiert.
Wo liegt hier das systemische Problem? Unterbringungskosten sind keine Fixkosten,
sondern flexible und häufig auch steigende Kosten. Wir können zwar sparsam mit
Energie, Wasser und Wärme umgehen, aber wir entscheiden nicht, wie hoch die
Preise für Strom, Wasser und Heizung sind. Das tut der Markt.
Aber wir entscheiden, dass die Versorgung mit Heizung, Wasser und Energie zu
einer menschenwürdigen Unterbringung dazu gehört. Preissteigerungen können
nicht zu Lasten einer menschenwürdigen Behandlung gehen.
Auch die Leistungen, die Asylbewerbern und Geduldeten nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz zustehen, wurden seit 1993 nicht mehr angehoben,
obwohl beispielsweise die Lebensmittelpreise seit dieser Zeit deutlich gestiegen sind
– manche Berechnungen belaufen sich auf über 20 Prozent. Das
Bundesverfassungsgericht befasst sich derzeit mit der Frage, ob die Leistungen nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar sind, weil
bezweifelt wird, dass diese Leistungen überhaupt ein menschenwürdiges
Existenzminimum sicherstellen können.
Selbstverständlich muss es auch darum gehen, die vorhandenen Mittel so effizient
wie möglich einzusetzen. Deshalb geht man in einigen Heimen nachahmenswerte
Wege, um Heimbewohner beispielsweise zu energiesparendem Verhalten zu
motivieren. Andere drehen die Heizung einfach ab.
Nicht alle Landkreise und Kreisfreien Städte in Sachsen geben den Druck, der durch
die realen Kostensteigerungen entsteht, unvermittelt an die Heime und vor allem die
Heimbewohner weiter. Viele von ihnen setzen auf Menschlichkeit und engagieren
sich trotz gleichbleibender Pauschale des Freistaates auf freiwilliger Basis mit
weiteren Zuschüssen aus den eigenen Mitteln. Sie sorgen damit für Heime, die
unseren eigenen Prinzipien für eine menschenwürdige Unterbringung entsprechen.
71
Unterbringung in Kasernen
Das Gesetz sieht in der Regel eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften vor.
Es macht keine Vorschriften zur Art der Gebäude. Wir haben eine Reihe von
Unterkünften besucht, die einen Wohnhauscharakter haben und akzeptabel sind.
In Kasernen und Gebäuden mit Kasernencharakter herrschen dagegen andere
Dynamiken. Sie wurden ursprünglich bewusst mit der Absicht gebaut, das
Durchgreifen starker (militärischer) Autorität zu begünstigen. Was geschieht heute in
den Kasernen, die als Unterkünfte genutzt werden? Sie fördern die Entwicklung von
selbstorganisierten Hierarchien unter den Bewohnern. Wenn jeder Mann, jede Frau
und jedes Kind für jeden Gang zur Gemeinschaftstoilette oder zum Waschraum
durch lange, dunkle Flure gehen muss, dann bietet sich für dominante Personen
tagtäglich die Möglichkeit, auf die Bewohner sowohl physisch wie psychisch
einzuwirken. Besonders problematisch kann das in der Nacht werden, wenn das
Heimpersonal zwar anwesend ist, aber bei Problemen nicht schützend eingreift oder
eingreifen kann.
Uns sind immer wieder die Kostenvorteile dieser Unterbringungsform als Argument
genannt worden – diese Vorteile halten allerdings nur dem ersten Blick stand. Heime
in Kasernenform haben soziale Folgekosten, die nicht zu unterschätzen sind. Sie
brauchen mehr qualifizierte Sozialarbeit als andere Heimarten, um das Entstehen
repressiver Hierarchien rechtzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Das
Gleiche gilt für qualifizierte Wachdienste. Dabei gilt: Je größer die Kasernenanlage,
desto mehr Aufwand zur Vermeidung von Hierarchien und zur Herstellung innerer
Sicherheit ist angebracht.
Hygiene und Gesundheit
Alle Verantwortlichen, mit denen wir gesprochen haben, wollen eine gute Hygiene in
den Heimen sichergestellt wissen. Das Gleiche gilt für einen angemessenen Zugang
der Bewohner zu ärztlicher Versorgung für akute Erkrankungen und Schmerzfälle,
wie es auch das Gesetz vorsieht.
72
Dennoch haben wir in einer Reihe von Heimen Schimmel und Kakerlaken in fast
allen Räumen vorgefunden. Vereinzelt war der Befall so stark, dass die
normalerweise nachtaktiven Kakerlaken auch während unseres Besuches am
helllichten Tag in den Räumen herum liefen. Besonders nachts ist die Situation in
einigen Heimen unerträglich, wenn die Kakerlaken über Gesichter der Bewohner
laufen und versuchen, in deren Ohren- und Nasenlöcher einzudringen.
Die Gespräche ergaben natürlich, dass niemand mit solchen Situationen
einverstanden war. Aber wir mussten uns auch häufig anhören, dass Betreiber und
Verwaltung die Schuld allein bei den Bewohnern sehen, weil diese ihre Lebensmittel
in den Zimmern aufbewahren, wo die Kakerlaken ungehindert heran könnten.
Doch wie sieht die Ausstattung der Zimmer aus, in denen die Flüchtlinge wohnen?
Die Kühlschränke sind oft zu klein, um alle eigenen Nahrungsmittel vollständig
aufzubewahren. Wenn Küchenregale o. Ä. fehlen, müssen Geschirr und Lebensmittel
auf Abstelltischen oder auf dem Fußboden offen abgelegt werden.
Hier drehen sich die Schuldzuweisungen über Schädlingsbefall im Kreise und führen
zu nichts. Unsere Perspektive ist anders. Wir sind der Überzeugung, dass alle für
das System der Hygiene im Heim verantwortlich sind, sowohl die Heimbewohner als
auch die Heimbetreiber.
Ein betroffenes Heim wird nicht dadurch von Kakerlaken befreit, dass Bewohner
tagsüber die frei herumlaufenden Kakerlaken einsammeln und zertreten. Zur
Befreiung von Kakerlaken ist eine umfassende, mehrstündige Reinigung der
gesamten Heimanlage notwendig, während derer die Heimbewohner nicht im Heim
sind. Und es ist eine angemessene Ausstattung für die Aufbewahrung von
Lebensmitteln und Geschirr notwendig. Sind Kakerlaken ein notwendiges Übel, dort
wo Menschen auf engstem Raum zusammenleben? Viele schädlingsfreie Heime in
Sachsen beweisen das Gegenteil.
Auch der Umgang mit Notfällen ist von Heim zu Heim unterschiedlich. Ob
Heimbewohner bei Schmerzen oder in einem Notfall rechtzeitig zum Arzt kommen,
scheint auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen Heimleitung und Bewohnern zu
basieren. In Heimen, in denen das Vertrauen gestört ist, hörten wir von den
Bewohnern regelmäßig, dass der Zugang zum Arzt auch in Notsituationen spät oder
gar nicht ermöglicht wurde. Das Heimpersonal beklagte sich dann, dass viele
73
Bewohner einfach simulieren würden. In anderen Unterkünften werden Bewohner
vom Heimpersonal zum Arzt gefahren, wenn es dringend ist.
Auch hier lohnt es sich, über Wege nachzudenken, wie wir das Vertrauen zwischen
beiden Gruppen festigen. Das Engagement jedes Einzelnen ist gefragt, um das zu
verwirklichen.
Akkulturation
Akkulturation bedeutet mit einer anderen Kultur vertraut zu werden. Dieser Prozess
findet in den Gemeinschaftsunterkünften auf mehreren Ebenen statt.
Die Flüchtlinge leben in einer extrem belastenden Situation: Sie haben ihre Heimat
verlassen müssen, sind teilweise traumatisiert, kämpfen mit dramatischen Verlusten
und müssen häufig auch einen gravierenden Statusverlust hinnehmen. In
Deutschland und damit auch in den Heimen müssen sie dazu mit einem
„Kulturschock“ zurechtkommen: Sie erleben hier eine zumeist gänzlich andere Welt,
hier gelten andere Werte, neue Normen und vor allem auch eine andere Sprache, in
der sie sich nicht verständigen können. Das alles führt zu einer extrem
verunsichernden Situation für den Einzelnen.
Häufig verstehen sie weder sprachlich, geschweige denn inhaltlich, warum für uns in
Deutschland bestimmte Werte und Prinzipien wichtig sind, die in ihrer eigenen Kultur
keine große Relevanz haben mögen. Nehmen wir die gleichberechtigte Bildung für
Mädchen und Frauen: ein für uns absolut selbstverständlicher und wichtiger Wert,
den wir auch eingehalten wissen wollen. Nur muss man ihn auch sprachlich und
inhaltlich verstehen und nachvollziehen können – das ist Akkulturation. Die im
Übrigen auch zwischen den Nationalitäten eine Rolle spielt.
Letztlich steht auch das Personal der Gemeinschaftsunterkunft in einem
Akkulturationsprozess: Es ist auch konfrontiert mit anderen Kulturen und anderen
Wertvorstellungen. Bestimmte Werte, die für das Selbstverständnis von Flüchtlingen
aus aller Welt bisher entscheidend waren, sind bei uns weniger wichtig. Das können
wir dann nur schwer verstehen und aus Unverständnis wird schnell Empörung,
warum „die“ denn nicht verstehen wollen, was uns doch so einfach erscheint.
74
Verschiedene Wertvorstellungen können zu Konflikten führen, die dann
vorprogrammiert sind, wenn man diese Prozesse dem Selbstlauf überlässt. Unsere
Werte und Standards zu vermitteln, bedeutet in jedem Fall mehr als eine Einweisung
in die Brandschutzregeln und die Müllsortierung.
Verzichtet man auf eine angemessene Begleitung dieser Prozesse, entstehen
schnell Selbstorganisationsprozesse unter den Bewohnern. Es liegt nahe, dass sich
die Bewohner an denen orientieren, die im Heim das Sagen haben. Man sucht
Landsleute und kopiert deren Verhalten. Und selbst wenn deren Stil unsozial und
dem eigenen Verhalten fremd ist, ist die Tendenz groß, dass sich „die Neuen“ dem
anpassen – solange sie keine anderen Informations- und Handlungsmöglichkeiten
haben.
Wenn ein Neuankömmling von seinen langjährigen Heimbewohnern mit den selbst
organisierten Regeln des Heimes bekannt gemacht wird und ihm gleichzeitig
angedeutet wird, er brauche die deutsche Sprache nicht zu erlernen, dann passt er
sich in eine bestehende Ordnung ein und verfestigt sie gleichzeitig. Die so
entstehende Kultur wird von Heimbetreibern als „nachtaktiv“ bezeichnet, weil das
„wirkliche“ Leben im Heim meist erst in der Nacht beginnt. Das sind eher ungewollte
Auswirkungen von ausgrenzenden Systemeigenschaften.
Auch eine mögliche Skepsis der alteingesessenen Bewohner gegenüber
Deutschland wird der Neuankömmling, wenn er allein gelassen wird, schnell
übernehmen. Denn Menschen, die einige Jahre in solchen Situationen leben,
verlieren jede Neugier auf unsere Sprache und Kultur. Und ihre Heimatkultur verliert
angesichts der Heimkultur ihre Konturen.
Die Gefahr besteht also, dass bei unbegleiteter Akkulturation zur deutschen Kultur
beide Kulturen auf der Strecke bleiben. Wer nur in einem abgeschotteten Heimlebt,
kann seine eigene kulturelle Identität verlieren, ohne eine neue, nämlich die deutsche
kulturelle Identität zu gewinnen. Er kann sich im kulturellen Vakuum verlieren.
Dem können konstruktive Angebote der Akkulturation entgegenwirken. Der bewusst
ermöglichte Zugang zu unserer Kultur und zu unserer Sprache hilft Menschen, in
unserer Kultur das Positive und Lebensbejahende zu entdecken. Er hilft vor allem,
unsere Werte und Regeln zu verstehen und sich damit auseinanderzusetzen. Das ist
essentiell für diejenigen, die nach einigen Jahren bei uns eine
75
Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Das ist ebenso wichtig für diejenigen, die in ihre
Heimat zurückkehren; denn ob wir wollen oder nicht, sie werden dort
Meinungsmultiplikatoren für unser Land sein.
Bildung
Wir bekennen uns zu den Menschenrechten, die vorsehen, dass alle Kinder und
Jugendliche ein Recht auf Bildung haben. Deshalb haben wir dementsprechende
Regeln für Kinder von Asylbewerbern und Geduldeten geschaffen, damit sie
unabhängig vom Aufenthaltsstatus ihrer Eltern ihren Bildungsweg bei uns fortsetzen
können. Kinder ab drei Jahre haben das Recht, eine Kindertagesstätte zu besuchen,
sofern Plätze vorhanden sind und die Eltern das wollen.
Schulpflichtige Kinder sollen ab dem ersten Tag nach der Zuweisung in die
Landkreise oder Kreisfreien Städte in die Schule gehen.11 Sachsen ist auch deshalb
ein Vorreiter, weil Schüler mit Migrationshintergrund systematisch und
schullaufbahnbegleitend in allen Schularten Unterricht im Fach Deutsch als
Zweitsprache erhalten. Zweisprachige Kinder entwickeln ihre Sprachfähigkeiten
anders als einsprachige. Dem trägt Sachsen Rechnung und fördert aktiv die
vorhandene Zwei- und Mehrsprachigkeit z.B. durch den herkunftssprachlichen
Unterricht.
Auch junge Menschen im Alter von 18 bis 27 Jahren haben das Anrecht auf
Fortsetzung ihrer Bildungslaufbahn, beispielsweise um einen Schulabschluss zu
erwerben oder eine berufliche Qualifizierung zu erreichen. Auch ein Studium kann
bei entsprechend mitgebrachter Qualifikation ermöglicht werden.
In der Regel funktioniert diese schulische Integration vorbildlich. Nur gelegentlich
trafen wir auf Kinder, die nicht eingeschult waren. Dabei handelte es sich häufig um
Familien, die kurz vor der Abschiebung standen. Nicht nachvollziehbar wird die
fehlende schulische Integration allerdings, wenn sich der Zustand „kurz vor der
11 Für Illegale hat der Gesetzgeber im Juli 2011 beschlossen, die öffentlichen Bildungseinrichtungen von der Pflicht
auszunehmen, den Ausländerbehörden Illegale zu melden. Aus Furcht vor ihrer damit verbundenen Entdeckung hätten
diese ihre Kinder nicht beschulen lassen.
76
Abschiebung“ über sechs Monate hinzieht. So lange sollte kein Kind unbeschult
bleiben.
Die Praxis bei der Bildungsfortsetzung für die 18 bis 27-Jährigen entspricht jedoch
noch nicht überall den Zielsetzungen des Freistaates. Angebote werden oft nicht
systematisch unterbreitet, und auch nicht alle Bewerber bekommen die Chance, die
sie verdient hätten.
Wir trafen beispielsweise auf Fälle, in denen vor der Genehmigung der
Bildungsweiterführung verlangt wurde, dass die Originalzeugnisse aus dem
Fluchtland vorgelegt werden. Weil das nicht in allen Fällen möglich ist, sieht es der
Freistaat auch nicht ausdrücklich vor. Der Bildungsstand lässt sich auch auf andere
Weise erfassen.
Die theoretischen Möglichkeiten scheitern häufig auch an den örtlichen
Gegebenheiten. Gerade die Bewohner in den sehr abgelegenen
Gemeinschaftsunterkünften haben weniger Möglichkeiten. Um
Bildungsaufwendungen nicht unnötig zu erhöhen, bietet es sich deshalb an,
Bildungsmaßnahmen so zusammenzufassen, dass genügend Schüler
zusammenkommen. Hier bietet die Unterbringung in Schulnähe die Lösung für
sinnvolle Kostenoptimierung.
Besonders schwierig ist es, wenn junge Menschen als Analphabeten oder mit nur
drei bis fünf Jahren Schulbildung zu uns kommen. Um hier das Recht auf Bildung
durchsetzen zu können, brauchen wir andere Wege, zum Beispiel über von der
Europäischen Gemeinschaft geförderte Programme des zweiten Bildungsweges oder
der Alphabetisierung. Dazu bedarf es Organisationen, die dieses Thema aufgreifen
und Fördermittel einwerben.
Sprache
Asylbewerber und Geduldete haben keinen Anspruch auf kostenfreie Teilnahme an
einem Integrationskurs. Die Absicht des Gesetzgebers ist nachvollziehbar: Nur der,
der auch eine Daueraufenthaltsperspektive in Deutschland hat, der soll eine
Unterstützung bei der Integration bekommen. Auch diese Absicht hat ungewollte
Konsequenzen. Die Asylverfahren, die die Flüchtlinge durchlaufen müssen, ziehen
77
sich teilweise über sieben Jahre und mehr hin. Geduldeten ist eine
Daueraufenthaltsperspektive verwehrt – auch sie bekommen keine Unterstützung
beim Spracherwerb.
Und dennoch leben diese Menschen bei und mit uns. Ihre Kinder gehen mit unseren
Kindern in die Schule und lernen die deutsche Sprache. Anders als ihre Eltern,
denen das aus ordnungspolitischen Gründen verwehrt bleibt.
Bildungspolitisch ist das jedoch kontraproduktiv: Ohne Deutschkenntnisse haben
diese Eltern wenig Möglichkeiten, ihre Kinder in der Schule zu unterstützen. Sie
können ihnen weder bei den Hausaufgaben helfen noch einen tragfähigen LehrerEltern-Kontakt herstellen. Damit entsteht die Gefahr, dass die Kinder ihr
Lernpotenzial nicht nutzen oder ausschöpfen, und dass sie in der Schule merklich
hinterherhinken, obwohl das gar nicht nötig wäre.
Außerdem kommt es in solchen Familien zu weiteren Dysfunktionalitäten. Die Kinder
sind in der neuen Sprache oft schnell kompetent und treten als Übersetzer ihrer
Eltern auf. Auf der einen Seite kann das leicht überfordernd werden, auf der anderen
Seite bekommen sie damit mehr Macht in der Familie als ihre Eltern. Damit können
Eltern nicht mehr als konstruktives Rollenvorbild für ihre Kinder wirken, und
besonders junge Männer geben in der Familie den Ton an. Diese verkehrte Welt
entsteht, weil Eltern der Zugang zur deutschen Sprache verwehrt bleibt.
Für die, die bereits etwas Deutsch können, ist es schwer, die Kenntnisse ohne
deutsche Literatur, ohne deutsche Zeitschriften in den Heimen aufrecht zu erhalten
bzw. zu verbessern. Ein ehemaliger Student, der den Kriegswirren in seinem Land
entflohen war, berichtete uns, dass er während seines Studiums dort auch zwei
Jahre Deutsch als Nebenfach studiert hatte. Nach zwei Jahren Aufenthalt in einer
abgelegenen sächsischen Gemeinschaftsunterkunft sagte er uns: „Bei mir zuhause
sprach ich ein besseres Deutsch als heute. Ich holte mir Bücher aus dem GoetheInstitut. Hier habe ich keinen Zugang zu Büchern oder zu Deutsch.“
Spracherwerb sollte gerade wegen fehlender staatlicher Finanzierung unterstützt
werden. Verschiedene Vereine, vereinzelt auch Lehrerinnen oder Lehrer versuchen
den Heimbewohnern Deutsch auf ehrenamtlicher Basis beizubringen. Viel kann bei
anfänglichen Kenntnissen der deutschen Sprache auch durch die Eigeninitiative der
Bewohner verbessert werden. Dazu haben wir die Broschüre „Deutsch für alle. 99
78
Wege zur deutschen Sprache“ herausgegeben und in den Heimen, aber auch den
Vereinen zur Verfügung gestellt.
Demokratie leben
Viele Flüchtlinge kommen aus demokratie-fernen Ländern zu uns. Demokratie ist für
sie ein attraktiver Begriff, den sie aber nur aus der Theorie kennen.
In der Demokratie wird der Einzelne respektiert, seine Stimme hat beim
Gesamtergebnis das gleiche Gewicht wie die Perspektive jedes Anderen. Daraus
ergeben sich anspruchsvolle und tragfähige Formen des gesellschaftlichen
Zusammenlebens. In einer Welt ohne Demokratie formt sich das Zusammenleben
nach anderen Regeln. Die Macht des Stärkeren kann das ebenso sein wie einfache
Gewohnheitsrechte. In Hierarchien, die auf dieser Basis entstehen, gelten sachliche
Argumente weniger als schlagende Argumente. Solche Verhaltensmuster passen
nicht zu unserer Gesellschaft. Wir erwarten von allen Bewohnern der
Gemeinschaftsunterkünfte, dass sie sich an demokratische Regeln halten und dass
der Einzelne respektiert wird.
Demokratie erlernt man aber nur, indem man sie praktiziert. Die Gelegenheit dazu
ergibt sich in zwei Situationen. Gibt es in einem Heim einen Heimbeirat, so wie das in
Sachsen z. T. schon praktiziert wird, dann entsteht Mitverantwortung für das
Heimleben und für die Zustände im Heim. Vandalismus ist ein Fremdwort dort, wo es
einen Heimbeirat gibt. Zum Zweiten gibt es in verschiedenen Kommunen Sachsens
schon Migrantenbeiräte. Sie treten für ein konstruktives Miteinander von Migranten
und heimischer Bevölkerung ein. Auch Asylbewerber profitieren von einer
Beteiligung, weil sie ihnen signalisiert, dass sie als Menschen akzeptiert werden.
2.1.6 Ergebnisse unserer Besuche
Die folgende Tabelle zeigt die Rangliste aller 30 Heime, die im Jahre 2011 besucht
worden sind. Die Rangordnung ergibt sich nach der jeweiligen Gesamtnote der
Heime. Außerdem werden die Heime gezeigt, die im Jahre 2012 geschlossen
werden sollen.
Tabelle Gesamtbewertung
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Rang Landkreis / Stadt Unterkunft Note / Schließung ●
1 Chemnitz Schloßchemnitz 2 0,92
2 Chemnitz Furth 0,87
3 Dresden Friedrichstadt 0,80
4 Leipzig Grünau-Süd 0,73
5 Chemnitz Schloßchemnitz 1 0,67
6 Dresden Mickten 0,37
7 Dresden Altstadt 0,37
8 Dresden Johannstadt 0,35
9 Zwickau Zwickau 0,27
10 Zwickau Werdau 0,27
11 Leipzig Schönefeld-Ost 0,23
12 Erzgebirge Aue-Alberoda 0,23
13 Mittelsachsen Striegistal 0,10
14 Vogtland Plauen 0,08
15 Dresden Hosterwitz 0,03
16 Mittelsachsen Döbeln -0,14
17 Erzbgebirge Venusberg -0,17
18 Mittelsachsen Freiberg -0,19 ●
19 Erzgebirge Schneeberg -0,23 ●
20 Görlitz Niesky -0,25
21 Meißen Weinböhla -0,27
22 Landkreis Leipzig Bahren -0,37
23 Nordsachsen Delitzsch -0,47
24 Landkreis Leipzig Hopfgarten -0,48
80
25 Bautzen Kamenz -0,50 ●
26 Meißen Radebeul -0,50
27 Bautzen Seeligstadt -0,51 ●
28 Landkreis Leipzig Thräna -0,51
29 Landkreis Leipzig Elbisbach -0,54
30 Nordsachsen Torgau -0,60 ●
Sächs. Schweiz-Osterzgebirge 10 Langburkersdorf
Zusätzlich zeigen wir im Bericht die detaillierten Bewertungen aller
Gemeinschaftsunterkünfte in Form einer in der Wirtschaft üblichen „Balanced
Scorecard“, die auf den ersten Blick zeigt, wo Veränderungen angesagt sind.
Außerdem wird für jedes einzelne Heim aufgezeigt, welche guten Ansätze bereits
praktiziert werden und mit welchen Schritten die Situation verbessert werden könnte.
Verbesserungen zwischen der ersten und zweiten Runde des „Heim-TÜVs“
Wir sind der Überzeugung, dass Transparenz und ein verantwortungsvoller Umgang
mit der Information der Öffentlichkeit bein wichtigen Themen die Einhaltung von
Werten, Prinzipien und Regeln erhöht. Die Ergebnisse unserer Besuche haben uns
in dieser Überzeugung bestärkt.
Im Vergleich zur ersten Runde des „Heim-TÜVs“ 2010 haben sich sieben Heime in
der Gesamteinstufung von Rot auf Gelb verbessert.
Vor allem bei der dezentralen Unterbringung lassen sich in einigen Landkreisen
deutliche Verbesserungen erkennen. Familien werden verstärkt dezentral
untergebracht, so dass wir davon ausgehen können, dass der Prozentsatz der
dezentral Untergebrachten in ganz Sachsen gestiegen ist.
Weitere Verbesserungen lassen sich bei der Einbindung der Bewohner in die
Gesellschaft erkennen. Vereine kommen jetzt vereinzelt auch in relativ weit
abgelegene Heime. Nur wenige Heime verweigern gemeinnützigen Vereinen noch
den Zutritt. Auch gibt es Verbesserungen im Angebot von gelegentlichen
Sprachkursen und sozialer Betreuung. Ebenso haben sich Heime im Allgemeinen
81
darin verbessert, dass zumindest einige wenige Bewohner die Möglichkeit zur
Wahrnehmung von Arbeitsgelegenheiten erhalten. Das ist ein erfreulicher Anfang
und wir erwarten für die Zukunft, dass solche Arbeitsgelegenheiten vermehrt
angeboten werden.
Mittlerweile haben sich außer einem alle Landkreise für die Bargeldzahlung
entschieden. Ein Landkreis hat 2011 von der Magazinverpflegung auf ein
Gutscheinsystem gewechselt. Das ist begrüßenswert.
Positive Entwicklungen nach der zweiten Besuchsrunde
Nach unseren Nachfolgegesprächen in den Landkreisen und Kreisfreien Städten
wurde schon eine Reihe von ersten konkreten Maßnahmen eingeleitet. Die
Schließung von fünf ehemals rot bewerteten Heimen in Sachsen steht an: Kamenz,
Schneeberg, Seeligstadt, Torgau und Freiberg.
Diese Schließungen haben in der Folge in einigen Landkreisen zu weiteren positiven
Entwicklungen geführt. Beispielsweise wurden unsere Anregungen im Landkreis
Nordsachsen zum Anlass genommen, mit ansässigen Trägern der
Wohlfahrtsverbände ins Gespräch zu kommen, um mehr soziale Betreuung
anzubieten. Der Landkreis unterbreitet jetzt außerdem gezielte Angebote für
besondere Bildungsberatungen für 18- bis 27-Jährige und richtete eine
entsprechende Klasse im Beruflichen Schulzentrum ein. Ebenfalls wurde durch die
Ausländerbehörde ein aufsuchender Dienst für zentral und dezentral untergebrachte
Asylbewerber und Geduldete eingerichtet. Schließlich werden im Heim Delitzsch
Angebote für Deutschkurse gemacht.
In vielen Landkreisen nahmen wir Gespräche mit der Sächsischen Bildungsagentur
auf, um den jungen Erwachsenen Angebote für die Weiterführung ihrer Bildung zu
machen. Ein Landkreis ist bereit, geeignete Asylbewerber und Geduldete in einer
Gemeinschaftsunterkunft zu diesem Zweck zusammenzuführen. In einem Landkreis
wurde inzwischen eine Stelle für eine hauptamtliche kommunale
Ausländerbeauftragte entsprechend unserer Empfehlungen eingerichtet, in einem
anderen Landkreis wurde eine solche Stelle angekündigt.
82
Auch unsere Empfehlungen zur Einrichtung von Heimbeiräten werden in einigen
Gemeinschaftsunterkünften erörtert.
In einigen von Kommunen betriebenen Heimen wird bereits an einem Konzept für
soziale Betreuung gearbeitet. Darüber hinaus wurde in Zusammenarbeit mit einer
Kreisvolkshochschule an einer Erstellung eines Konzepts für einen Deutschkurs in
Form eines Alphabetisierungskurses gearbeitet.
Einem im Hygienebereich festgestellten Schädlingsbefall wurde mit unangemeldeten
Besuchen durch das Gesundheitsamt nachgegangen. Auch die von uns
vorgetragenen Einzelfälle wurden größtenteils sofort von den Zuständigen bearbeitet.
In einigen Landkreisen sucht man aufgrund von Schließungen oder aufgrund der
leicht zunehmenden Zahlen an Flüchtlingen neue Gebäude und
Unterbringungsmöglichkeiten. Wir hoffen, dass unsere Anregungen zur dezentralen
Unterbringung weiter nachgegangen wird und Gebäude von 50 – 100 Bewohnern als
Gemeinschaftsunterkünfte bevorzugt werden.
Die vielen positiven Reaktionen sind ermutigend. Sie zeigen, dass die sächsische
Verwaltung offen ist für angemessene Verbesserungen, die die Lebensumstände der
Heimbewohner fördern. Offen miteinander zu sprechen erhöht die Wahrscheinlichkeit
für Verbesserungen. Wir gehen davon aus, dass sich die Heime konsequent vom
roten Bereich weg und hin zum grünen Bereich entwickeln werden.
2.1.7 Systemische Lösungen für eine menschenwürdigere Unterbringung
Wir sind es gewohnt, bei Missständen schnell nach einem Schuldigen zu suchen, um
ihm die alleinige Schuld zuzuweisen. Dann sind alle anderen „fein heraus“ – und das
System wird nicht verbessert, sondern höchstens verschlimmbessert.
Doch es gibt keine Schuldigen. Es gibt nur Mitverantwortliche. Bei systemischen
Problemen tragen alle einen Teil der Verantwortung. Um erkennbar unakzeptable
Situationen zu verbessern, müssen die Regeln des Systems erkennbar verbessert
werden. Glücklicherweise sind wir nicht nur Teilnehmer im System. Wir sind auch
seine Architekten. Wir können das System und seine Regeln so verändern, dass wir
damit die Ergebnisse erreichen, die im langfristigen Interesse aller sind.
83
Aus dieser Perspektive heraus haben wir in unserem Bericht die Sächsische
Staatsregierung gebeten, die folgenden 20 Anregungen zu erörtern und ggf.
umzusetzen bzw. deren Umsetzung zu unterstützen. Die Mehrheit unserer
Anregungen ergibt sich aus den „Best Practices“ der Heime.
 Die Unterbringung von Asylbewerbern und Geduldeten sollte in die
Verantwortungsbereiche des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales
und Verbraucherschutz und der zuständigen Sozialbehörden der Landkreise
bzw. Kreisfreien Städten übertragen werden.
 Eine angemessene Finanzierung der Unterbringung ist die Grundlage für ein
menschenwürdiges Heimleben.
 Konsequent den Weg der dezentralen Unterbringung von Familien,
Alleinerziehenden und Anderen aus humanitären Gründen weitergehen.
 Asylbewerber und Geduldete sollten dort untergebracht werden, wo sie ihre
mitgebrachte Bildung weiterführen können.
 In jedem Heim sollte qualifizierte Sozialarbeit sichergestellt werden, um damit
pro-soziales Verhalten zu fördern und notwendige Unterstützung zu leisten.
Dabei sollte eine Vollzeitstelle pro 100 Bewohner zur Verfügung gestellt
werden.
 Adäquate Sicherheit in allen Heimen gewährleisten.
 Vorsorgeuntersuchungen auf ansteckende Krankheiten sowie Betreuung von
Müttern mit Kleinkindern sicherstellen.
 Gesundheitsgefährdender Schimmel und Ungeziefer sind ernst zu nehmen
und sollten, sobald sie entdeckt sind, effektiv beseitigt werden.
 Soziale Inklusionsrechte und –pflichten sichtbar machen und Asylbewerbern
und Geduldeten darin Orientierung geben.
 Deutscherwerb für alle ermöglichen.
 In jedem Heim einen Leseraum mit deutschen Büchern und Zeitschriften
einrichten und führen.
84
 Alphabetisierungskurse und Wege zum zweiten Bildungsweg für gering
Beschulte einrichten.
 Individuelle Mobilität mit gespendeten Fahrrädern erhöhen.
 Arbeitsgelegenheiten mit Vergütung nach § 5 AsylbLG für verschiedene
Tätigkeiten im Heim schaffen und unterstützen.
 Demokratie erlernen durch Einbindung in Heim und Gesellschaft.
 Gemeinnützigen Vereinen Zugang zu allen Heimen gewähren, um die
gesellschaftliche Inklusion der Heimbewohner zu fördern.
 Jährliche Tage der offenen Tür in allen Asylbewerberheimen einrichten.
 Ermutigung zur Einrichtung von Gemeinschaftsunterkünften in Wohnhäusern
mit einer Belegung zwischen 50 und 100 Bewohnern.
 Das Heimleben ist zur Dauerunterbringung ungeeignet. Bringen wir Menschen
aus humanitären Gründen dezentral unter, wenn erkennbar wird, dass sie an
den Konsequenzen des Heimlebens menschlich zu zerbrechen drohen.
 Für eine mitmenschlichere Asylpolitik auf Bundesebene: Deutsche Verfahren
verkürzen, beschleunigende internationale Rückführungsabkommen
vereinbaren und ab 12 Monaten bis zur Abreise einen neuen Warte-Titel mit
Arbeitsberechtigung und Deutschkursen gewähren.
Das System den Menschen anpassen – und nicht umgekehrt
Best Practices
Es gibt in sächsischen Gemeinschaftsunterkünften eine Reihe von positiven
Ansätzen, die Vorbild sein können. Wir stellen hier einige davon vor:
Heimbeiräte: Eigenverantwortung und Mitwirkung möglich machen
Viele Flüchtlinge kommen aus Regionen, die keine Demokratie kennen. Sie sollen
aber unsere Demokratie kennen- und respektieren lernen. Ganz konkret geht das in
85
Heimbeiräten, die bei Entscheidungen über das tägliche Leben in den
Gemeinschaftsunterkünften mitwirken. Demokratie lernt man, indem man sie
praktiziert. Heimbeiräte erlauben das.
In einer kleineren sächsischen Gemeinschaftsunterkunft wird dieses Modell sehr
erfolgreich angewandt. Mehrere gewählte Heimbewohnerinnen und –bewohner
arbeiten zusammen in einem Heimbeirat. Der sorgt hausintern für Sauberkeit und
Sicherheit und gestaltet das Zusammenleben konstruktiv. Der für das Heim
zuständige Sozialarbeiter ist ebenfalls Mitglied im Heimbeirat. Das Heimleben
profitiert, indem sich die Bewohner mit verantwortlich fühlen. Und unsere
Gesellschaft profitiert durch Mitbewohner, die unsere demokratische Ordnung
kennen und nach ihr leben.
Beschäftigungsmöglichkeiten nach Asylbewerberleistungsgesetz schaffen
Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht vor, dass in den Gemeinschaftsunterkünften
Arbeitsgelegenheiten zur Aufrechterhaltung und Betreibung der Einrichtung zur
Verfügung gestellt werden sollen. Außerdem sollen soweit wie möglich
Arbeitsgelegenheiten bei staatlichen, kommunalen und gemeinnützigen Trägern
angeboten werden. Dafür erhalten die Asylsuchenden eine Aufwandsentschädigung
von 1,05 Euro in der Stunde.
Bewohner können sich über solche Arbeitsgelegenheiten für die Gemeinschaft
engagieren. Eine Vielzahl von Unterkünften bietet diese Möglichkeiten bereits an und
hat positive Erfahrungen damit gemacht. Sie fördern ein konstruktives
Zusammenleben und bieten, da viele Asylsuchende nicht regulär arbeiten dürfen,
eine sinnvolle Beschäftigung.
Auf qualifizierte Heimleiter setzen
Heimleiter haben nicht nur Verwaltungsaufgaben und sind für Ordnung und
Sicherheit zuständig. Sie sind auch wichtige Kontaktpersonen für die Bewohner und
haben damit eine wichtige soziale Rolle in der Gemeinschaftsunterkunft. Ihre
86
Sozialkompetenz und ihre Haltung gegenüber den Bewohnern sind entscheidend für
das Klima in der Unterkunft.
Einige Kommunen und Kreise setzen deshalb auf speziell ausgebildete oder
besonders qualifizierte Heimleiter, die über interkulturelle und/oder
sozialpädagogische oder ähnliche Fachkompetenz verfügen.
Sozialarbeiter mit Migrationshintergrund einstellen
Qualifizierte Sozialarbeiter mit Migrationshintergrund können mit ihren Sprach- und
Kulturkenntnisse zu einem konstruktiven Leben in der Gemeinschaftsunterkunft
beitragen. Sie helfen Brücken zu bauen – sowohl zwischen den Bewohnern und der
Heimleitung, als auch zwischen verschiedenen Ethnien in der Unterkunft. Der uns
bekannte Sozialarbeiter einer sächsischen Unterkunft ist selber als Flüchtling nach
Deutschland gekommen. Aus dieser Erfahrung schöpft er eine besonders hohe
Konfliktkompetenz, kann Missverständnisse abbauen, Konflikte bereits im Entstehen
entschärfen. Er genießt viel Vertrauen und eine hohe Achtung bei den Bewohnern.
Spracherwerb für Asylsuchende unterstützen
Asylsuchende haben keinen Zugang zu staatlich geförderten Integrations- und damit
Deutschkursen. Trotzdem setzen einige Kommunen, Landkreise und Heimbetreiber
darauf, Asylsuchende beim Erlernen der deutschen Sprache zu unterstützen. Hier
gibt es mehrere mögliche Wege: Sie kooperieren mit Vereinen und Initiativen, die
dann kostenlosen Deutschunterricht in der Unterkunft anbieten können. Teilweise
gibt es auch Kooperationen mit Privatpersonen, die in die Heime kommen und
Deutschkurse geben. In einer Stadt werden sehr preisgünstige Sprachkurse für
Asylsuchende von der Volkshochschule angeboten.
Bildung möglich machen
18- bis 27jährige Asylsuchende haben ein Recht darauf, ihre mitgebrachte Bildung
fortzusetzen. Ihnen steht eine „Besondere Bildungsberatung“ zu und sie können zur
87
weiteren Ausbildung in Berufliche Schulzentren vermittelt werden. Für die
Bildungsberatung ist der Koordinator für Migration in der jeweiligen Regionalstelle der
Sächsischen Bildungsagentur zuständig.
Damit Asylsuchende dieses Recht auch wahrnehmen können, brauchen sie
entsprechende Informationen. Hier sind die Regionalstellen der Sächsischen
Bildungsagentur gefragt.
Ein Landkreis hat 2011 mit den jungen Bewohnern einer Gemeinschaftsunterkunft
eine Klasse in einem Beruflichen Schulzentrum einrichten können.
Um ihr Recht auf Bildung in Anspruch nehmen zu können, brauchen die Schüler
Unterstützung für die Wege in das Schulzentrum. Deshalb unterstützen einige
Landkreise und Kommunen die Ausbildung, indem sie die Beförderungskosten zum
Schulzentrum übernehmen oder ermäßigte Zeitkarten o.ä. zur Verfügung stellen.
Eigenständige Mobilität unterstützen
Mobilität kostet Geld – das gilt gerade für die abgelegenen
Gemeinschaftsunterkünfte. Bei einem Taschengeld von 40 Euro im Monat kann sich
kaum einer Fahrten mit dem öffentlichen Nahverkehr leisten. Wege müssen trotzdem
erledigt werden: Sei es zur Ausländerbehörde, in die Beruflichen Schulzentren, zum
Arzt, zum Einkaufen oder in die Beratungsstellen oder Vereine.
Ein eigenes Fahrrad bekommt unter diesen Bedingungen einen hohen Stellenwert.
Hier gibt es in Sachsen immer wieder einzelne Spendenaktionen, bei denen
Asylsuchenden gebrauchte Fahrräder zur Verfügung gestellt werden. Diese
Möglichkeit sollte in allen Regionen genutzt werden.
Asylsuchende gesellschaftlich einbinden
Es gibt in Sachsen Gemeinschaftsunterkünfte, zu denen haben weder Vereine, noch
Beratungsstellen der Freien Wohlfahrtspflege noch Menschen aus der
Nachbarschaft, die vielleicht ehrenamtlich helfen wollen, Zutritt. Aber auch
Asylsuchende haben soziale Inklusionsrechte. Völlige Isolation ist nicht nur
88
menschenunwürdig, sie verschärft auch die Spannungen im Heim und mit der
Umgebung.
Eine Reihe von Landkreisen und Kommunen setzt auf die Zusammenarbeit mit
Vereinen und Nachbarschaftsinitiativen. Dabei entstehen Kontakte, die dazu
beitragen können Unkenntnis, Misstrauen und Vorurteile abzubauen. Gemeinsame
Sommerfeste mit der Nachbarschaft oder regelmäßige Tage der offenen Tür in einer
sächsischen Gemeinschaftsunterkunft sind gute Beispiele, wie ein konstruktives
Miteinander im Quartier gestaltet werden kann. Auch Sportvereine gehen zum Teil
gezielt auf Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften zu und werben um ihre
Mitgliedschaft im Verein.
Um diese Angebote der Einbindung nicht nur gelegentlich aufzugreifen, sondern um
sie auf eine langfristige Basis zu stellen, bedarf es allerdings meist einer
Sozialarbeiterin, die als interkulturelle Mittlerin zwischen der Welt, aus der die
Asylsuchenden stammen, und der Wirklichkeit vor Ort in unseren Vereinen
vermitteln. Ein Heim in Chemnitz praktiziert das erfolgreich. Ein Verein im Leipziger
Land, Bon Courage e.V. aus Borna, übernimmt diese Vermittlung selbständig und
hat für sein Engagement auf diesem Feld 2011 den Sächsischen Integrationspreis
gewonnen.
Freiwilliges Engagement der Asylsuchenden ermöglichen
Asylsuchende dürfen in den meisten Fällen nicht arbeiten. Viele von ihnen wollen
sich trotzdem konstruktiv in unsere Gesellschaft einbringen. Auch hier gibt es in
Sachsen gute Ansätze, wie Asylsuchenden ein freiwilliges Engagement für die
Gesellschaft ermöglicht werden kann.
Beispielsweise vermitteln in einer Stadt ehrenamtliche Kulturvermittler in den
Gemeinschaftsunterkünften den Kontakt zu einer Freiwilligenagentur. Über diese
Agentur werden auch Asylsuchende in ehrenamtliche Tätigkeiten vermittelt.
In einem Landkreis wird gerade über den Lokalen Aktionsplan das Förderprojekt
„Integration im ehrenamtlichen Rettungswesen“ initiiert und evaluiert. Nach
Abschluss der Evaluation können auch Asylsuchende daran teilnehmen.
89
Systeme können negative Auswirkungen haben, obwohl ihre Architekten und
Betreiber gute Absichten hatten und immer noch haben. So auch das System der
Unterbringung der Asylbewerber, wo die Prinzipien der Würde, der Mitmenschlichkeit
und der Menschenrechte auf die ordnungspolitischen Absichten der Vergrämung von
Asylbewerbern stoßen. Da die Auswirkungen der Systementscheidungen den
Entscheidungsträgern an der Spitze oft nicht klar sind, haben wir es uns zur Aufgabe
gemacht, diese Auswirkungen sichtbar zu machen. Aufgrund dieser Daten wird es
möglich, das System entsprechend anzupassen, damit das System so funktioniert,
wie es unseren Werten und unserem Grundgesetz entspricht.
Wir werden auch in den kommenden Jahren an diesem Thema dranbleiben und
haben uns vorgenommen, alle bisher roten, alle neuen Heime sowie darüber hinaus
stichprobenartig weitere Heime zu besuchen. Wir stehen als Ansprechpartner für die
Unterbringungsbehörden zur Verfügung. Wir werden Vereine unterstützen, die in die
Unterkünfte gehen und wir werden Workshops zur Methodik des „Heim-TÜVs“
veranstalten. Außerdem werden wir den Austausch zu den in Sachsen praktizierten
guten Ansätzen fördern. Wir unterstützen den Deutscherwerb für alle mit unserer
Broschüre „Deutsch für alle – 99 Wege zur deutschen Sprache“.
Alle Menschen, die bei uns leben, sind unsere Mitmenschen. Manche bleiben
langfristig bei uns, andere sind sozusagen Mitmenschen auf Zeit. In jedem Fall sind
sie unsere Mitmenschen. Unser menschenwürdiger und respektvoller Umgang mit
den Flüchtlingen heute wird wesentlich dazu beitragen, dass wir zu einer
Gesellschaft werden, die Menschen aus aller Welt gern zu ihrer permanenten Heimat
machen.
2.2
Härtefallkommission
Der Ausländerbeauftragte ist zugleich Vorsitzender der Sächsischen
Härtefallkommission.12 Dieses Gremium wurde 2005 auf Grundlage des
Zuwanderungsgesetzes gebildet und ist eine wichtige Ergänzung zum
Ausländerrecht; denn es berücksichtigt individuelle Notlagen, die vom Gesetz nicht
12
Die Mitglieder der Härtefallkommission finden Sie in der Dokumentation zum Bericht
90
unmittelbar erfasst sind. Hier gilt das Prinzip: zuerst die Menschlichkeit, dann die
Regeln.
Die Sächsische Härtefallkommission behandelt Fälle, die ein Mitglied des Gremiums
einbringt. Ausländer, die ihren Fall vor die Härtefallkommission bringen wollen,
wenden sich zunächst an eines der Kommissionsmitglieder und versuchen, es für
ihren Fall zu gewinnen und diesen in die Härtefallkommission einzubringen. Dabei
können sie sich von Vertrauenspersonen begleiten lassen. Als unmittelbarer Vorteil
gilt, dass mit der Antragstellung ein Abschiebestopp für die Dauer des Verfahrens
verbunden ist.
Die Kommissionsmitglieder beurteilen gemeinsam, ob humanitäre oder persönliche
Gründe vorliegen, die eine Ausreise aus Deutschland zu einer besonderen Härte
machen würden und eine Aufenthaltserlaubnis erwirkt werden kann.
Die Integrationsprognose zählt
Dabei achtet die Kommission vor allem darauf, wie gut sich die Familien oder
Einzelpersonen in unsere Gesellschaft integriert haben und wie weit sie in der Lage
sind, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.
Stellt die Härtefallkommission mit der Mehrheit von zwei Dritteln ihrer Mitglieder
derartige Gründe fest, ersucht der Vorsitzende der Härtefallkommission den
Sächsischen Staatsminister des Innern eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Es ist
dann der Innenminister, der sich entscheidet, ob er sich der Empfehlung der
Härtefallkommission anschließen möchte oder nicht.
Die Menschen, die sich an die Härtefallkommission wenden, sind häufig im
Durchschnitt seit zehn Jahren hier und lediglich geduldet. Seit 2005 haben 280
Personen auf diesem Wege einen Aufenthaltstitel erhalten.
Jahresweise Übersicht (bearbeitete Fälle/ davon betroffene Personen):
2005/6 2007 2008 2009 2010 2011
Befassung
43/120 11/26 16/49 20/61 20/77 26/63
91
Härtefallersuchen
25/90
9/23 15/37 15/44 17/61 21/51
21/80
9/19
Aufenthaltserlaubnis
bewilligt nach § 23a AufenthG
9/19 7/35 20/59 20/68
Neues Recht für integrierte Jugendliche und Heranwachsende
Mittelpunkt zahlreicher Verfahren vor der Härtefallkommission war bisher das
Schicksal der in Sachsen aufgewachsenen integrierten Jugendlichen und
Heranwachsenden, die perfekt in Schule, Verein und Nachbarschaft integriert waren,
aber das Leben und die Schriftsprache im Herkunftsland der Eltern nicht kannten.
Seit 01.07.2011 gilt nun eine eigene Rechtsgrundlage für den Aufenthalt der jungen
Migranten, die mehr als sechs Jahre in Deutschland gelebt haben. Nach diesem § 25
a Aufenthaltsgesetz (siehe Dokumentation S.) erhalten diese jungen Menschen und
unter weiteren Voraussetzungen - wie der Sicherung des Lebensunterhaltes - auch
die gesamte Familie einen Aufenthaltstitel.
Prinzipiell geht diese Regelung dem Verfahren vor der Härtefallkommission vor.
Damit sind die Anliegen, die vor die Kommission gebracht werden, nicht mehr
dominiert von den Jugendlichen und Heranwachsenden der Familie. Die Praxis der
Härtefallkommission wird zeigen, inwieweit diese Konkurrenzsituation auch das
Grundrecht der Familieneinheit von Eltern und minderjährigen Kindern berücksichtigt
und schützt.
Neue Mitglieder
Mit Wirkung zum 03.11.2011 wurden die Mitglieder der Härtefallkommission wieder
neu für die zweijährige Amtszeit ernannt.
Den Sächsischen Flüchtlingsrat vertritt nun Ali Moradi, der Johanna Stoll nach ihrer
vieljährigen Mitgliedschaft ersetzt. Bei ihrem Übergang wurde die langjährige
engagierte Arbeit von Frau Stoll von allen Beteiligten ausdrücklich gewürdigt.
92
Martin Gillo und Klaus Schurig wurden 2011 in ihrer Rolle als
Kommissionsvorsitzender bzw. stellvertretender Vorsitzender für eine weitere
Amtszeit von zwei Jahren gewählt.
2.3
Menschlichkeit möglich machen
Manche Lösungen brauchen etwas länger. Im letzten Jahresbericht schrieb ich über
Daniel aus der Ukraine. Der Name wurde geändert, um die Privatsphäre zu
respektieren. Wir erinnern uns: Daniel überlebte wie durch ein Wunder ein deutsches
Ghetto in der Ukraine. Als jüdischer Junge sollte er nach dem Willen der Nazis
ermordet werden.
Glücklicherweise konnte er fliehen und überleben. Er heiratete, blieb aber ohne
Kinder. In den 90er Jahren bot die Bundesregierung allen Juden aus der ehemaligen
Sowjetunion, die von den Nazis verfolgt waren, die Einwanderung nach Deutschland
an. Viele kamen und leben hier glücklich. Daniel schaffte es nicht in der
vorgeschriebenen Frist, weil er schwer lungenkrank war und nicht reisen konnte.
Wieder wie durch ein Wunder ging es ihm in den letzten Jahren gut genug, um von
einer Übersiedlung nach Deutschland zu träumen. Und so stellten Daniel und seine
Frau den Antrag zur Einreise. Zu spät, sagten unsere Behörden. Auch der
Krankheitsgrund wollte die Verwaltung nicht akzeptieren.
So wanten sich Daniels Freunde, die mittlerweile in Dresden wohnen, per Petition an
den Sächsischen Landtag. Der bat mich um Stellungnahme.
Der Weg bis zur Erlaubnis der Einreise nahm 18 Monate in Anspruch. Entlang dieser
Strecke gab es viele Helfer: Die Oberbürgermeisterin der Stadt Dresden, Helma
Orosz, die Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, Maria
Böhmer, Gerhard Ehninger vom Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden und
der Sächsische Innenminister Markus Ulbig: Sie alle unterstützten diesen Weg.
Aber selbst danach warteten noch einige Hürden in Berlin. Verschiedene
Zuständigkeiten verschiedener Ministerien boten verschiedene Anlässe, das
Anliegen wieder und wieder zu prüfen. Den gordischen Knoten durchschlug
letztendlich das Bundeskanzleramt selbst.
93
Im Herbst kamen Daniel und seine Frau nach 36-stündiger Fahrt mit dem Bus aus
Kiew erschöpft, aber glücklich in Dresden-Neustadt an. Für mich war das ein Moment
mit historischer Symbolik: Vom Bahnhof Neustadt aus begannen vor fast 70 Jahren
die Deportationen der Dresdner Juden in die polnischen Konzentrationslager, wo der
Tod auf sie wartete. Jetzt kamen Daniel und seine Frau mit ihren drei Koffern
wohlbehalten an genau diesem Bahnhof in ihrer neuen Heimat an, wo ihre Freunde
strahlend auf sie warteten.
Und die Moral von der Geschichte?
2.4
Die menschliche Tragödie des Kamal K. in Leipzig
Die Meldung der Polizei ist kurz: In einem Park vor dem Leipziger Hauptbahnhof
wurde an einem Samstagabend gegen ein Uhr nachts der neunzehnjährige Kamal K.
getötet. Schnell geht man von einer Affäre in der Drogenszene aus. Schurken unter
sich. Fall abgehakt.
Ich werde von Dresdner Freunden der Familie gebeten, mit ihnen zur Familie nach
Leipzig zu fahren, um mit ihnen zu trauern und sie zu unterstützen. Ich sage zu, und
wir fahren hin. Die Familie steht unter großem Schock, schildert mir aber die
Geschichte aus ihrer Perspektive.
Kamal K. kam mit seiner Mutter vor Jahren als Flüchtling nach Deutschland. Er war
wie seine Mutter koptischer Christ und trat als 16-Jähriger der evangelischen Kirche
bei. Seine beiden Brüder sind Muslime, weil der Vater auch Muslim war. Die Familie
94
lebt ein ganz selbstverständliches, friedliches Miteinander von Christentum und
Islam.
Ich lerne an diesem Abend auch Kamals Freundin kennen, eine junge Deutsche. Sie
erzählt mir, dass sie von einer Diskothek auf dem Wege nach Hause zu einer der
Plattenbauten am Leipziger Hauptbahnhof gewesen seien. Als sie und Kamal durch
den Park gingen, beobachten sie, wie zwei Männer einen Jugendlichen bedrohen.
Um zu helfen, geht Kamal auf die beiden Attackierer zu und fragt: „Gibt es hier ein
Problem?“ Die antworten: „Ja, es gibt ein Problem“, ziehen ein Pfefferspray aus der
Jacke und spritzen ihm damit in die Augen.
Er kann nichts mehr sehen und kann sich nicht wehren. Die beiden schlagen ihn
zusammen, bis er auf dem Boden liegt. Einer zieht ein Messer, sticht ihm gezielt in
den Bauch und verletzt ihn damit so schwer, dass er am folgenden Tag stirbt.
Ein Schock für die Familie. Die Mutter bricht zusammen, ihr Mann erleidet einen
Kreislaufkollaps. Man ruft den Rettungswagen. Der kommt sofort, wartet aber zehn
Minuten vor dem Haus, bis ein Streifenwagen eintrifft. Erst dann gehen sie zur
Wohnung, um zu helfen. Die Familie kann es nicht verstehen. Sie sind doch die
Opfer, nicht die Verdächtigen. Oder?
Einer der beiden Täter hat während des Überfalls sein Handy verloren. 20 Minuten
nach der Tat kommen sie zurück an den Ort des Geschehens, um danach zu
suchen. Die Freundin, die gerade mit der Polizei spricht, kann die Täter identifizieren
und sie werden festgenommen.
Die Schilderung der Familie und der Augenzeugin liefern ein völlig anderes Bild als
es die Polizeimeldung tut. Das zeigt uns: Unsere Wahrnehmung bestimmt unser
Handeln. Wer denkt, dass es sich um einen unglücklich ausgegangenen Streit in der
Drogenszene handelt, der sucht nicht weiter nach Motiven und gibt sich vielleicht mit
schwerer Körperverletzung zufrieden. Wer die Tat nicht gleich in ein Schema ordnet,
der macht sich die Mühe, nach den wahren Motiven zu suchen.
Bei unvoreingenommener Sicht wird sehr schnell die Möglichkeit eines rassistischen
Motivs deutlich: Der Haupttäter stammt aus der Naziszene. Sein Körper ist übersät
mit verbotenen Naziparolen und sogar einem Bild von Adolf H. Von den vergangenen
15 Jahren hat er 14 Jahre wegen schwerer Körperverletzung und ähnlichen
95
Gewalttaten im Gefängnis gesessen. Er war gerade eine Woche vorher aus dem
Gefängnis entlassen worden. Der Mittäter stammt auch aus der Naziszene – mit
entsprechenden Tätowierungen. Beide schweigen sich der Polizei gegenüber aus.
Wie erreichen wir Gerechtigkeit in diesem tragischen Fall? Ich habe der Familie
geglaubt und mich auch öffentlich dafür eingesetzt, dass der Fall in alle Richtungen
untersucht wurde. Dass man anfangs „nur“ von Körperverletzung mit Todesfolge
ausgeht, schockiert die Familie ein weiteres Mal. Doch ihr wird auch angeboten, das
Recht auf einen Nebenkläger wahrzunehmen. Dazu ermutige ich sie ausdrücklich.
Bei der Eröffnung der Gerichtsverhandlung plädiert die Staatsanwaltschaft auf
Totschlag. Der Nebenkläger geht weiter. Mit einer langen Argumentation zeigt er auf,
dass hier eine Anklage wegen Mordes angebracht ist. Der Vorsitzende Richter
meldet gleichzeitig die Möglichkeit der Sicherungsverwahrung an.
Am Tag der Urteilsverkündigung wird es sehr spannend; denn das Urteil wird nicht
wie angekündigt um 9.00 Uhr, sondern erst um 15.30 Uhr verkündet. Ein Journalist
erzählt mir in der Wartezeit, dass die Staatsanwaltschaft in
Pressehintergrundgesprächen versuchte zu begründen, warum hier nur auf
Totschlag plädiert werden konnte. Das Gericht sieht es anders und verurteilt den
Haupttäter wegen Mordes zu 15 Jahren Haft mit anschließender
Sicherungsverwahrung. Der Mittäter wird wegen gefährlicher Körperverletzung zu
drei Jahren Gefängnis verurteilt. Das Gericht hatte sich die Mühe gemacht, den Tag
der Tat minutiös nachzuvollziehen, auch aufgrund der Teilaussage des Mittäters. Der
Haupttäter kam auf Besuch zum Mittäter nach Leipzig. Beide wollten an dem Abend
„was lostreten“. Mit einem „Kampftrinken“ tranken sie sich die letzten Hemmungen
weg. Sie wurden von Sicherheitskräften aus einem Lokal geworfen, weil sie Gäste
anpöbelten. Später fuhren sie gezielt zum Park vor dem Bahnhof, wo sie hofften,
entweder auf Linke oder auf Ausländer zu treffen, um die fertig zu machen. Es gab
keinen anderen Grund für sie, dorthin zu fahren. Erst hatten sie sich den 16-Jährigen
vorgenommen. Als Kamal dazwischen trat, um zu schlichten, wurde er das Opfer.
Ich denke, den Richtern gebührt unsere Hochachtung. Sie haben ihre eigenen
Nachforschungen angestellt, um Licht in die Umstände des Verbrechens zu bringen.
Sie gingen im Urteil über die Empfehlungen der Staatsanwaltschaft hinaus.
Chapeau! Das Urteil signalisiert uns: Vor dem Gesetz sind alle gleich – und zwar
96
unabhängig von ihrer Herkunft. Vorverdächtigungen und Ungleichbehandlungen sind
unvereinbar mit unseren demokratischen Grundwerten. Der Bundesgerichtshof hat
das Urteil des Landgerichts Leipzig bestätigt und die Revision des Angeklagten als
unbegründet verworfen.
Für die Familie und Freunde Kamals ist das klare Urteil hoffentlich eine
Erleichterung. Die erste Polizeimeldung drohte, Kamals Ehre zu nehmen, indem sie
ihm eine Mitschuld unterstellte. Das eindeutige Urteil macht Kamal nicht wieder
lebendig, aber es hat ihm seine Ehre wiedergegeben.
Wenn Menschen einem solch ungeheuerlichen Verbrechen zum Opfer fallen, dann
sollten wir ihren Familien und Freunden menschlich zur Seite stehen. Hier möchte ich
der Opferberatung RAA in Leipzig danken. Sie standen der Familie in den langen
Monaten zur Seite und sie tun es noch. Der Schmerz über den Verlust allerdings, der
bleibt. Kamal hat ein schönes Grab auf dem evangelischen Friedhof. Seine Mutter
sitzt dort oft auf einer Bank, denkt an ihn, spricht mit ihm. So wie wir das auch täten.
Kamals Familie ist, bei allen Unterschieden, eine von uns. Unsere Mitmenschen
eben. Das sollten wir ihnen zeigen.
97
3 Gemeinsam sind wir stark – Netzwerke für eine
Willkommensgesellschaft
Der Titel dieses Kapitels ist die Antwort auf die Frage, warum Vernetzung zu den
wichtigsten Aufgaben eines Ausländerbeauftragten gehört.
Wir benutzen gern das Bild der Karawane, wenn wir gefragt werden, wie
gesellschaftliche Veränderungen befördert werden können.
An der Spitze gehen die Pioniere, die neue Wege und Möglichkeiten sehen und sich
mit aller Kraft dafür einsetzen, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Das sind etwa fünf
Prozent der Bevölkerung. Diese fünf Prozent gilt es, zu unterstützen und zu
ermutigen. Ihnen folgen in einigem zeitlichen Abstand die frühen Trendaufgreifer. Sie
sind offen für Neues und lassen sich gern von den Chancen der neuen Wege
überzeugen. Sie machen etwa 15 Prozent der Bevölkerung aus.
Danach, wieder mit einiger zeitlicher Verzögerung, kommt die einsichtige
Mehrheitsbevölkerung, die sinnvolle Veränderungen verstehen, akzeptieren und
dann übernehmen will und wird. Ganz am Ende der Karawane, meist mit sehr langer
zeitlicher Verzögerung, kommen die Nachzügler und die ewigen Skeptiker, die von
jeder Art der Veränderung so verunsichert werden, dass sie den Status quo
einfrieren wollen.
Wer auf diese Nachzügler einwirken will, um ihre Skepsis zu überwinden, reitet oft
gegen Windmühlen. Es ähnelt der Aufgabe, einem Pessimisten Optimismus
einzureden. Wer Zukunft positiv mit gestalten will, tut stattdessen gut daran, die
Vorreiter zu begleiten, die frühen Trendaufgreifer zum Mitmachen zu ermutigen und –
so sehe ich meine Aufgabe - mit der breiten Bevölkerung über Sinn und Zweck einer
Willkommensgesellschaft zu kommunizieren.
In Sachsen gibt es viele Vereine und Initiativen, die sich für ein konstruktives
Miteinander zwischen unserer Gesellschaft und den zu uns kommenden Migranten
aus aller Welt einsetzen. Sie tun das mit viel Engagement. Aber Sachsen zu einer
Willkommensgesellschaft zu machen – das übersteigt die Möglichkeit einzelner
Initiativen. Dazu braucht es Netzwerke von Gleichgesinnten, die diese Aufgabe
98
gemeinsam anpacken und in Angriff nehmen. Netzwerke benötigen wir auch, weil
diese Aufgabe einen langen Atem braucht. Sie ist eine Daueraufgabe, die uns über
Generationen beschäftigen wird. Wir können deshalb sagen: die Reise zur
Willkommensgesellschaft ist unser Ziel. Und genau dieses Ziel haben die
verschiedenen Netzwerke, die wir hier präsentieren wollen:
 Das Netzwerk der kommunalen Ausländer- und Integrationsbeauftragten im
Freistaat Sachsen fördert das gemeinsame Lernen, die Orientierung der Arbeit
an gemeinsamen Zielen und das gemeinsame Handeln in den verschiedenen
Aufgabenbereichen der Beauftragten.
 Das Netzwerk Integration und Migration Sachsen (NIMS) ist der
Zusammenschluss vieler Initiativen, die in den Bereichen Migration und
Integration für eine sächsische Willkommensgesellschaft arbeiten.
 Die Vernetzung der Länderbeauftragten für Integration und Migration auf
Bundesebene hilft den Teilnehmern, von den Innovationen in anderen
Bundesländern zu lernen, Initiativen von der Bundesseite her aufzugreifen und
zu bereichern, und gemeinsame Länderinitiativen dem Bund nahe zu bringen.
3.1 Die Zusammenarbeit mit den kommunalen Ausländer- und
Integrationsbeauftragten im Freistaat Sachsen
Im Freistaat Sachsen gibt es 18 kommunale Ausländer- oder Integrationsbeauftragte
in den Landkreisen, den Kreisfreien Städten und in weiteren Städten. Zwölf
Beauftragte arbeiten in hauptamtlicher Funktion, vier von ihnen nehmen neben
diesem Amt noch weitere Ämter wie Gleichstellungs-, Frauen oder
Behindertenbeauftragte wahr. Sechs der Beauftragten arbeiten noch immer
ehrenamtlich. Eine zusätzliche Stelle im Landkreis Leipzig soll im Ehrenamt neu
besetzt werden.
Die Ämter sind hinsichtlich der Budgets, der verwaltungsinternen Verfahren und der
Anbindung sehr unterschiedlich ausgestaltet. Einige Beauftragte sind dem Landrat
oder dem Oberbürgermeister zugeordnet, wieder andere werden vom Kreistag
gewählt, wieder andere haben gar keine administrative Zuordnung. Bestellt werden
99
die Beauftragten auf Grundlage der Sächsischen Landkreisordnung (§ 60) bzw. der
Sächsischen Gemeindeordnung (§ 64). Demnach sollen die Landkreise zur Wahrung
der Belange der im Landkreis lebenden Ausländer Ausländerbeauftragte bestellen.
Die Gemeinden dagegen können für bestimmte Aufgabenbereiche besondere
Beauftragte bestellen. Ob sie haupt- oder ehrenamtlich sind, das bleibt den Kreisen
bzw. Kreisfreien Städten überlassen.
„Alles hat sich gelohnt!“
Interview mit Silvia Liersch, Kommunale Ausländerbeauftragte der Stadt
Plauen/Vogtland von 1991 bis 2011
Was hat Sie ursprünglich motiviert, diese wichtige Aufgabe anzupacken?
Ich habe mich 1991 auf diese Stelle beworben, weil ich in meiner Familie selbst
erfahren habe, wie schwer es ein Zugewanderter in Deutschland hat. Meine Mutter
hat einen sogenannten Migrationshintergrund, sie ist als junges Mädchen nach
Deutschland gekommen, durfte nie eine deutsche Schule besuchen, hat sich lesen
und schreiben selbst beibringen müssen und hat es ihr Leben lang schwer gehabt,
eine qualifizierte Arbeit zu finden.
Außerdem bin ich von Haus aus Dolmetscherin für Englisch und Spanisch und hatte
folglich immer mit Ausländern zu tun. Auch während der DDR-Zeit habe ich beruflich
mit und für Menschen aus anderen Ländern gearbeitet und habe von dieser Arbeit
sehr profitiert. Das hat mich bewogen, mich für diesen Job zu bewerben.
Wenn Sie auf die Jahre des Engagements zurückblicken, was hat sich aus Ihrer
Sicht am meisten gelohnt?
Was sich am meisten gelohnt hat? Alles hat sich gelohnt! Die Bemühungen um
jedem einzelnen, dem man einen Schritt weiter helfen konnte auf seinem Weg in ein
neues Leben in Deutschland haben sich gelohnt! In all den Jahren kam sehr viel
zurück von den Menschen, die sehr dankbar waren. Ich habe so viele nette Leute
100
kennengelernt. Natürlich, die anderen gibt es auch. Aber viel mehr nette und
freundliche Menschen!
Wenn wir das Quantum betrachten, dann würde ich sagen, hat sich am meisten der
Einsatz für das Bleiberecht der Vietnamesen gelohnt, weil das sehr vielen Menschen
geholfen hat.
Was sollten wir in Sachsen tun, um noch schneller zur
Willkommensgesellschaft in gegenseitigem Respekt zusammenzuwachsen?
Besonders wichtig finde ich zum Beispiel die Arbeit des Runden Tischs
„Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse“. Damit ist man einen
entscheidenden und für mich den eigentlich wichtigsten Schritt gegangen, weil die
beste Integration über Arbeit und Berufsausbildung gelingt. Wenn wir die Menschen,
die hierher kommen, in Arbeit bringen, dann ist der größte Teil der
Integrationsproblematik beseitigt.
Ich habe während meiner Tätigkeit im Rahmen des Gesellschaftskundeunterrichts in
Schulen und Jugendeinrichtungen unterrichtet und musste dort wiederholt feststellen,
dass es ein großes Wissensdefizit bei den Jugendlichen gibt. Sie haben zum Teil
Vorstellungen, die schlicht falsch sind, beispielsweise was die finanziellen
Zuwendungen an Asylsuchende und Spätaussiedler betrifft. Das entbehrte jeglicher
Realität, und sie haben es mir geglaubt, wenn ich ihnen aus der Praxis erzählen
konnte, was die Menschen wirklich bekommen.
In der Vergangenheit hat es mehrfach Projekte gegeben, in deren Verlauf
Multiplikatoren in die Schulen gegangen sind, um über die Situation der
Ausländerinnen und Ausländer zu berichten. Ich denke, so etwas sollte wieder
geschehen. Fachleute, die Wissen verbreiten, um diese ganzen falschen Meinungen
zu revidieren.
Das letzte, und das ist mir persönlich wichtig, sind die kommunalen Beauftragten: Die
muss es weiter geben! Leider ist es so, dass in Sachsen einer nach dem anderen
eingespart wird. Und dabei gibt es den Bedarf, das merke ich, wenn ich privat in
Plauen unterwegs bin und mich Migranten ansprechen und sagen: „Ach, Sie fehlen
uns! Wo sollen wir denn jetzt hingehen, wenn wir ein Problem haben?“
101
Die müssen gar nicht Beauftragte heißen, aber es muss jemanden geben, der für
diese Bevölkerungsgruppe verantwortlich ist, der sich in allen Dingen kümmert.
Deshalb bin ich sehr dankbar, dass der Oberbürgermeister der Stadt Plauen meine
Aufgabe zumindest in Teilen einer Kollegin übertragen hat. Ich denke, das hat jede
Kommune nötig, in der Migranten leben!
Die kommunalen Ausländer- oder Integrationsbeauftragten haben 2010 gemeinsam
mit dem Netzwerk Integration und Migration Sachsen (siehe NIMS) eine
Stellenbeschreibung erarbeitet, die das breite Aufgabenspektrum der Beauftragten
beschreibt und Vorschläge bzgl. der Bestellung hauptamtlicher Beauftragter macht.
Demnach agieren die Beauftragten auf mindestens sechs Feldern:
 Sie beraten, informieren und begleiten Menschen mit Migrationshintergrund,
Vereine, Institutionen und Migrationsfach- und -regeldienste, um eine
gleichberechtigte Teilhabe von Migranten in unserer Gesellschaft
voranzubringen und realisieren zu helfen.
 Sie engagieren sich für den Auf- und Ausbau eines lokalen
Integrationsnetzwerkes und für die Schaffung örtlicher Migrantenbeiräte, um
die Integrationskräfte in der Kommune zu bündeln und zu stärken.
 Sie sind Interessenvertreter der Menschen mit Migrationshintergrund
gegenüber der Verwaltung, den Gremien und Dritten und vermitteln zwischen
den Perspektiven, damit die berechtigten Interessen aller ausgeglichen
berücksichtigt werden.
 Sie initiieren, erarbeiten regionale Integrationskonzepte und begleiten dessen
Umsetzung und Fortschreibung.
 Durch regelmäßige Öffentlichkeitsarbeit informieren sie auf kommunaler
Ebene über die Integrationsarbeit des Landkreises bzw. der Städte und
erhöhen damit die gegenseitige Akzeptanz und den Respekt zwischen
Zugewanderten und Mehrheitsgesellschaft.
 Außerdem engagieren sie sich im Umgang mit den verschiedenen Akteuren
im Bereich Migration und Integration präventiv und deeskalierend für
102
krisenvermeidende Optionen und sind auch Ansprechpartner für die
Mehrheitsbevölkerung.
Ein solches Aufgabenspektrum ist im Ehrenamt praktisch nicht zu bewältigen. Häufig
hören wir als Argument gegen hauptamtliche Beauftragte in den sächsischen
Landkreisen oder kleineren Kommunen, es gäbe doch so wenige Migrantinnen und
Migranten.
Dieses Argument verkennt dreierlei:
Zum Ersten gehen deutliche Fremdenskepsis und geringe Ausländerzahlen häufig
Hand in Hand. Zweitens steht Integrationsarbeit gerade in den Landkreisen vor
besonderen Herausforderungen: Sie erfordert aufgrund der geringen Konzentration
von Migranten eine hohe Mobilität; denn es gibt wenige Migrantenorganisationen
oder Migrantenbeiräte, die als wichtigsten Partner eine kooperative Integrationsarbeit
mitgestalten könnten. Eine Finanzierung kommunaler Integrationsprojekte scheitert
häufig an den Förderbedingungen des Bundes, die sich an den
Bevölkerungsverhältnissen der alten Bundesländer orientieren. Das Projekte aus den
neuen Bundesländern dabei häufig zu kurz kommen, liegt auf der Hand. Auch die
effektive Vernetzung der Integrationsakteure ist wegen der sozialräumlichen
Bedingungen eine echte Herausforderung.
Drittens und letztens ist Integrationsarbeit eine Arbeit in beide Richtungen: Denn
neben der Begleitung von Migranten geht es schwerpunktmäßig auch um die
interkulturelle Öffnung der Verwaltung. Nicht nur das: Es geht vor allem um die Arbeit
mit der Mehrheitsgesellschaft und darum, Menschen zu gewinnen, sich konkret für
eine Willkommensgesellschaft in Sachsen einzusetzen.
Erfreulicherweise ist in das Thema Hauptamtlichkeit im Jahr 2011 viel Bewegung
gekommen: Anna Piętak-Malinowska, kommunale Ausländerbeauftragte des
Landkreises Bautzen ist nach drei Jahren ehrenamtlichen Engagements mit Beginn
des Jahres 2012 hauptamtlich angestellte Ausländerbeauftragte des Landkreises
Bautzen. Ihre Teilanstellung ist vorerst auf zwei Jahre befristet, wir hoffen natürlich
auf eine Verstetigung dieser Stelle.
Die Motivation des Landkreises Bautzen ist klar: Wir werben für Zuwanderung von
Fachkräften aus dem Ausland. Die wollen begleitet, ermutigt und unterstützt werden.
103
Auch gilt es, in der Bevölkerung für Akzeptanz und Respekt gegenüber Zuwanderern
zu werben, eine Generationenaufgabe. Frau Piętak-Malinowska weiß, wie sich
Zuwanderer fühlen, die neu im Landkreis ankommen. Sie wird deshalb schnell
Signale setzen können, die helfen, den Landkreis in die gewünschte Richtung voran
zu bringen.
Andere Landkreise, so z.B. der Landkreis Nordsachsen, haben angekündigt, die
bislang ehrenamtliche Stelle in eine hauptamtliche umzuwandeln.
Integrationsarbeit vor Ort: Warum wir im Freistaat Sachsen hauptamtliche
kommunale Ausländer- und Integrationsbeauftragte brauchen>>>
Es mag als Widerspruch erscheinen: Die Zahl der Migrantinnen und Migranten ist
besonders in den sächsischen Landkreisen sehr gering und trotzdem werben wir
dafür, dass jeder Landkreis und jede größere Kommune einen hauptamtlich
bestellten Integrationsbeauftragten hat. Warum tun wir das?
Das Verständnis des Aufgabenbereichs von kommunalen Beauftragten hat sich vor
dem Hintergrund der aktuellen Integrations- und Zuwanderungsdebatte erheblich
gewandelt. Gerade in den neuen deutschen Bundesländern ist das gut
nachzuvollziehen. Ging es anfangs darum, überhaupt eine Integrationslandschaft
aufzubauen und in vielen Einzelfällen konkret zu helfen, stehen die Beauftragten
heute vor neuen Aufgaben. Neben der Unterstützung von Asylsuchenden und der
Unterstützung der Integration von Zugewanderten, neben den vielen einzelnen
Fällen, in denen Unterstützung, Begleitung und Hilfe gebraucht wird, geht es heute
vor allem um die Themen Willkommensgesellschaft und Weltoffenheit.
•
Die aktuelle Arbeit kommunaler Beauftragter hat deshalb heute mehrere
Schwerpunkte: die professionelle Begleitung der Zuwanderer,
•
die Förderung eines weltoffenen Klimas in der Kommune oder im Landkreis
•
und die Sensibilisierung der eigenen Institution im Sinne einer interkulturellen
Öffnung.
Dieses Aufgabenspektrum ist anspruchsvoll. Erfolge wird man dabei nur dann
erzielen, wenn alle Integrationsakteure vor Ort gemeinsam an einem Strang ziehen
104
und – im Sinne der interkulturellen Öffnung - immer neue Unterstützer gewonnen
werden.
Viele Wege führen nach Rom – das gilt auch für die Umsetzung dieser enormen
Aufgabenfülle. Die in Sachsen tätigen kommunalen Ausländer- und
Integrationsbeauftragten sind bereits viele kreative Schritte gegangen. Aber selbst
die größte Kreativität kann fehlende Ressourcen nicht ersetzen.
Auch die Kommunalen Spitzenverbände haben sich bereits im „Nationalen
Integrationsplan Neue Wege – Neue Chancen“ zu diesem Thema positioniert: Sie
sehen Integration als kommunale Querschnittsaufgabe von hoher
kommunalpolitischer Bedeutung und empfehlen:
•
Integration als ressortübergreifende Aufgabe in der Kommunalverwaltung zu
verankern und ihrer Bedeutung entsprechend anzusiedeln sowie
•
Die Entwicklung und Fortschreibung von kommunalen Gesamtstrategien, die
den jeweiligen örtlichen Bedürfnissen angepasst sind.
Vor dem Hintergrund der wachsenden Anforderungen fand im Herbst 2011 im
Sächsischen Landtag eine öffentliche Anhörung statt. Anlass war ein Gesetzentwurf
der Fraktion DIE LINKE, in dem gefordert wird, in Kommunen ab einer Größe von
40 000 Einwohnern einen hauptamtlichen Beauftragten für Migrationsfragen zu
bestellen.
Der Integrationsbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung, Martin Neumeyer MdL,
der als Sachverständiger zur Anhörung geladen war, wies daraufhin, dass in Bayern
82 kommunale Beauftragte tätig sind. Die Förderung der Integration sei unter
anderem aufgrund der demographischen Entwicklung von besonderer Relevanz. Die
Zahl der Beauftragten sei steigend, und er fordere die bayerischen Kommunen auf,
Beauftragte zu bestellen, weil besonders das Zusammenwirken vor Ort wichtig sei.
Die Staatsregierung in Bayern unterstütze die Arbeit der Beauftragten durch das
„Netzwerk Integration Bayern“. Das Netzwerk hat den Auftrag, die Kommunen bei der
Integrationsarbeit zu beraten.
Stojan Gugutschkow, Integrationsbeauftragter der Stadt Leipzig und Leiter des Querschnittsreferates „Migration und Integration“ sowie Ilse Rose, kommunale
Integrationsbeauftragte des Landkreises Mittelsachsen hatten als hauptamtliche
105
sächsische Beauftragte ebenfalls die Möglichkeit, als Sachverständige Stellung zu
nehmen. Auszüge aus Ihren Standpunkten lesen Sie hier:
Stojan Gugutschkow, Integrationsbeauftragter der Stadt Leipzig und Leiter des
Querschnittsreferates
Gemeindeordnung ergänzen
Die derzeitig gültigen kommunalrechtlichen Vorgaben für Beauftragte in Sachsen
sind paradox: Die Sächsische Gemeindeordnung sieht lediglich die Bestellung von
Gleichstellungsbeauftragten verbindlich vor und überlässt es den Gemeinden,
eventuell auch andere Beauftragte zu bestellen. Davon machen auch eine Reihe von
Städten Gebrauch – mit unterschiedlicher Bezeichnung, Zuordnung und Ausstattung
der Beauftragten.
Die Sächsische Landkreisordnung wiederum enthält eine Soll-Bestimmung zur
Bestellung von „Ausländerbeauftragten“, die allerdings offenbar nicht überall
„verinnerlicht“ worden ist. Eine Ergänzung der Sächsischen Gemeindeordnung im
vorgeschlagenen Sinne ist aus meiner Sicht durchaus sinnvoll – zum einen, um den
Kommunen, die bereits hauptamtliche Beauftragte haben, zu bestätigen, dass sie mit
ihrem Engagement richtig liegen und die Unterstützung des Freistaates haben, aber
v.a. um allen anderen die Schaffung solcher Stellen vorzugeben. Die Tatsache, dass
die bisherige Vorgabe der Sächsischen Landkreisordnung wiederum bislang nicht die
gewünschte Wirkung entfaltet, bringt mich auf den Gedanken, dass eigentlich eine
Soll-Vorschrift nicht ausreicht. Daher würde ich – in Anlehnung an die Bestimmungen
für die Gleichstellungsbeauftragten – für beide Rechtsnormen die Formulierung
„haben Integrationsbeauftragte zu bestellen“ bevorzugen.
Ich kann als Vertreter einer Kommunalverwaltung, die in der Stellungnahme des
Sächsischen Städte- und Gemeindetages (SSG) deutlich werdende Empfindlichkeit
gegenüber möglichen Eingriffen in die kommunale Organisationshoheit durchaus
nachvollziehen. Da allerdings die Querschnittsaufgabe „Integration“ auch vom SSG
nicht angezweifelt wird, kann ich mir durchaus vorstellen, dass man dort auch die
Einsicht in die Notwendigkeit gewinnt, diese auch aktiv wahrzunehmen, was man bei
106
den Gleichstellungsbeauftragten ohne das Gefühl eines unangemessenen Eingriffs
auch tut.
Und es ist meines Erachtens auch nicht damit getan, wie es leider vielerorts in
Sachsen der Fall ist, dass man Ehrenamtliche damit betraut, oder aber
Festangestellten „neben-bei“ auch die Aufgaben als Ausländer- oder
Integrationsbeauftragte überträgt. Bei aller Hochachtung vor dem Engagement
ehrenamtlicher oder teilzeitbeschäftigter Kollegen – solche Konstruktionen können
nach meinen Erfahrungen auf Dauer nicht funktionieren.
Eine gezielte Integration vor Ort erfordert Aktivitäten in verschiedenen
Handlungsfeldern: Bildung, Erziehung und Spracherwerb, Ausbildung, Qualifizierung
und Beschäftigung, Zugang zu den Angeboten im gesamten Sozial- und
Gesundheitsbereich und ihre interkulturelle Öffnung – was auch für die öffentliche
Verwaltung insgesamt gilt – interkultureller und interreligiöser Dialog, Bekämpfung
von Diskriminierung und Rassismus u.a.m.
Bei der Umsetzung aller Maßnahmen in diesen Handlungsfeldern erscheint es mir
unabdingbar, wie inzwischen allgemein anerkannt, die Integration als notwendige
Querschnittsaufgabe kommunalen Handelns anzuerkennen und aufzuwerten, und
diese auch mit den dazu erforderlichen Ressourcen auszustatten.
Denn nach meiner festen Überzeugung rächen sich Versäumnisse in der
Integrationspolitik über kurz oder lang. Wir dürfen m.E. nicht zu voreilig und unter
Sparzwängen die Warnung ignorieren, dass die Kosten der Nicht-Integration
wesentlich höher liegen, als der gezielte und koordinierte Aufwand zur
Integrationsförderung, bei der die Tätigkeit der vor Ort damit Befassten – egal ob wir
sie Ausländer-, Integrations- oder Migrationsbeauftragte nennen – eine
entscheidende koordinierende, steuernde und vernetzende Rolle spielen.
Ungeachtet der Definitionen von freiwilligen und Pflichtaufgaben, die aus den 1970er und 80-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammen und die wir längst
hätten überprüfen müssen, gelten „Migration und Integration“ inzwischen als
Mainstream-Themen von zentraler wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer
Bedeutung, auch auf kommunaler Ebene. Dieser Erkenntnis entspricht meines
Erachtens auch der vorliegende Gesetzentwurf, den ich nicht so sehr vor dem
Hintergrund des Nationalen Integrationsplans sehe, der ja für die Kommunen nicht
107
unmittelbar bindend ist, auch wenn zu seiner Umsetzung zuletzt ein Dialogforum
„Integration vor Ort“ eingerichtet wurde, sondern vielmehr im Kontext des zur Zeit
erarbeiteten Sächsischen Zuwanderungs- und Integrationskonzepts, das sicherlich
auch auf die Rolle der Beauftragten vor Ort Bezug nehmen wird.
Ilse Rose, kommunale Integrationsbeauftragte des Landkreises Mittelsachsen
Landkreis zukunftsfähig gestalten
Im Gegensatz zu den Großstädten des Freistaates, die aufgrund der hohen Anzahl
ausländischer Bürgerinnen und Bürgern mit Beginn der 90-er Jahre und der damit
verbundenen großen Verantwortung für ein friedliches Miteinander mit allen
Einwohnern der Stadt, die Notwendigkeit einer zentrale Steuerung erkannten und
hauptamtliche Stellen für Ausländerbeauftragte schufen, sahen die Landkreise kaum
Bedarf.
Mit der Aufnahme von Flüchtlingen, die in großer Anzahl auf die Landkreise verteilt
wurden und deren Unterbringung die Kommunen vor ungeahnte Herausforderungen
stellte, sollten ehrenamtliche Ausländerbeauftragte sich dieser angespannten
Situation in den einzelnen Kommunen annehmen und mit den
Unterbringungsbehörden vermittelnd tätig werden. Mit den vielen Einzelanfragen und
Problemlagen in dem begrenzten Zeitlimit waren sie völlig ausgelastet. Somit war
das Thema „Asyl“ auch im Hinblick auf die politische Brisanz in den Mittelpunkt der
Wahrnehmung gerückt. In den Folgejahren blieb die Unterbringung der Flüchtlinge
und Geduldeten oftmals Schwerpunkt der Arbeit der Ausländerbeauftragten.
Integration und Zuwanderung war auch aufgrund der mehrmaligen
Kreisgebietsreformen nicht das zentrale Thema – die Selbstfindung der neuen
Landkreise stand im Mittelpunkt.
Mit der letzten Kreisgebietsreform 2008 entstanden sehr große Landkreise mit bis zu
60 und mehr Städten und Gemeinden, in denen fast in jedem Ort Menschen nicht
deutscher Herkunft bzw. (Spät)Aussiedler leben. Trotz der zwischenzeitlich sowohl
auf Bundes- als auch auf Landesebene entwickelten Initiativen zu Migration,
Integration und Zuwanderung spiegeln sich diese auf kommunaler Ebene kaum
wider. In den zurückliegenden 20 Jahren wuchsen in den Landkreisen nur
108
unzureichend Strukturen, die den heutigen Anforderungen an eine sachdienliche
Integrationsarbeit nicht mehr gerecht werden. Dazu gehören fehlende
Beratungsstellen mit migrationsspezifischen Angeboten in weiten Teilen eines
Landkreises und Migrantenselbstorganisationen, die einen unverzichtbaren Beitrag
zum Thema Integration und Zuwanderung leisten könnten.
Aufgrund der Größe eines Landkreises und der relativ geringen Zahl von
Angehörigen anderer Nationalitäten werden sich in naher Zukunft nur noch wenige
Vereine gründen. Zwischen den Menschen vor Ort, dem evtl. vorhandenen Netzwerk
eines Landkreises und der/dem Ausländerbeauftragten fehlen dringend erforderliche
Kontakte, um Informationen auszutauschen und von den Sorgen und Nöten der
ausländischen Bevölkerung zu erfahren. Die Initiierung eines Migrantenbeirates, als
Interessenvertreter der ausländischen Bevölkerung gegenüber der
Kommunalverwaltung blieb bisher weitestgehend den Großstädten vorbehalten.
Insofern obliegt es dem Ausländerbeauftragten ganz nah an der Bevölkerung zu
sein, um die Befindlichkeiten und Defizite im Zusammenleben mit Menschen anderer
Länder zu erkennen, zu hinterfragen und nach Lösungen zu suchen. Dazu gehört
auch die Sensibilisierung der eigenen Verwaltung und der Verwaltungen der Städte
und Gemeinden, der Kommunalpolitiker, der Entscheidungsträger bis hin zu
Bürgerinnen und Bürgern der einzelnen Kommune, für die Themen Integration und
Zuwanderung. Eine Vielzahl von persönlichen Gesprächen im Kreisgebiet ist dafür
erforderlich.
Es geht nicht darum, etwas für Ausländer zu machen, sondern es geht darum,
gemeinsam mit den Zuwanderern den Landkreis und kleinere Städte zukunftsfähig
zu gestalten. Die demografische Entwicklung sei hier nur erwähnt.
Um all diesen Aufgaben gerecht zu werden, bedarf es Raum und Zeit, geht es doch
um die positive Entwicklung zwischenmenschlicher, interkultureller Beziehungen.
Als wesentliches Ergebnis der Arbeit eines Ausländerbeauftragten ist das
Entgegenwirken ausländerfeindlichen Gedankengutes zu nennen. Das geschieht
allerdings auf leisen Sohlen. Wir sprechen von Fremdenfreundlichkeit, von einem
entspannten Miteinander. Deshalb hat jedes Aufklärungsgespräch, jede
wechselseitige Information, jede interkulturelle Initiative, die das friedliche
Miteinander fördern, gesellschaftspolitische Bedeutung. Jedem
109
Ausländerbeauftragten gibt die Hauptamtlichkeit Kraft und Motivation, die Umsetzung
dieses politischen und humanitären Auftrages im Sinne einer Willkommensgesellschaft zu steuern und wesentlich zu beeinflussen. In seiner Rolle als Agent,
Netzwerker, Moderator und Advokat ist ein hauptamtlicher Ausländerbeauftragter
unverzichtbar.
Vernetzung und Zusammenarbeit
Die Zusammenarbeit mit den sächsischen kommunalen Ausländer- und
Integrationsbeauftragten (KAIB) und deren Unterstützung gehört zu den gesetzlich
verankerten Aufgaben des Sächsischen Ausländerbeauftragten. Auch 2011 haben
wir uns wieder Arbeitsschwerpunkte gesetzt. Wir wollten
1. die KAIBs über aktuelle Entwicklungen und Vorhaben unserer Arbeit
informieren,
2. unseren gemeinsamen Erfahrungsaustausch intensivieren, um so von
positiven Ansätzen profitieren und lernen zu können,
3. die KAIB weiter in Richtung Hauptamtlichkeit ihrer Stellen unterstützen
4. und die Professionalisierung unserer gemeinsamen Arbeit durch gemeinsame
Weiterbildungen fördern.
2011 haben wir uns in drei Treffen mit den kommunalen Ausländer- und
Integrationsbeauftragten ausgetauscht und gemeinsam gearbeitet.
Die Treffen nutzten wir, um über aktuelle Themen unserer eigenen Arbeit, wie
beispielsweise den „Heim-TÜV“ zu informieren. Die KAIB waren in die Besuche der
Gemeinschaftsunterkünfte von Beginn an eingebunden und hatten während unserer
Treffen Gelegenheit, sich über gute Ansätze bei der Begleitung von Asylsuchenden
auszutauschen und Probleme zu diskutieren.
Auch die Arbeit des Runden Tisches „Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse“
wurde von den kommunalen Beauftragten konstruktiv begleitet.
110
Voneinander Lernen
Die Beauftragten nutzten die Möglichkeit ebenfalls, um sich über aktuelle Vorhaben
und über die Situation in ihren Landkreisen/Städten auszutauschen. Einige Beispiele
aus der kommunalen Arbeit finden Sie auf den folgenden Seiten.
Birgit Riedel, Ausländerbeauftragte des Landkreis Zwickau
Für Toleranz und Akzeptanz
Seit 1991 arbeite ich u.a. als Ausländerbeauftragte mit Ausländern und
Ausländervereinen und habe diesen Bereich eigenständig aufgebaut. Mein
Arbeitsschwerpunkt liegt in den Bereichen Gewaltschutz, Bewusstseinsbildung
bezüglich Chancengleichheit und Fluchtursachen; Koordinierung bzw. Vernetzung
von Institutionen, wie Migrationsvereine, Kirchen, Bildungseinrichtungen,
Unternehmen und Initiativen, die im Migrationsbereich tätig sind. Der Interkulturelle
Arbeitskreis des Landkreises Zwickau, den ich leite, ist Ausdruck dieser Vernetzung.
In diesem Arbeitskreis arbeiten die verschiedenen Arbeitsgruppen z.B. in den
Bereichen Asyl, Integration und Bildung.
Unter dem Motto: Unterschiede anerkennen, Vielfalt nutzen, Gemeinsamkeiten
fördern habe ich mir das Ziel gesetzt das Miteinander und Zusammenleben zwischen
den hier heimischen und den neu zugewanderten Menschen zu gestalten. Mein
Anliegen ist es, für Toleranz und Akzeptanz anderer Kulturen zu werben und das
friedliche Zusammenleben in unserer Region zu fördern. Der Höhepunkt im Jahr
2011 war die Interkulturelle Woche, die in unserem Landkreis seit vielen Jahren zu
einem wichtigen Ereignis geworden ist.
Christian Morgenstern meint: „Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat,
sondern wo man verstanden wird.“ Und genau da liegt mein Ansatz: Ich bin
Ansprechpartnerin für Migrantinnen und Migranten und helfe ihnen durch Beratung
und Vermittlung die vielfältigen bürokratischen Hürden zu verstehen und zu
überwinden.
111
Deutlich wird an diesen Beispielen vor allem, dass die Vernetzung der
Integrationsakteure eine unserer wichtigsten Aufgaben bleibt. Außerdem geht es um
innovative Wege, mit denen Migrantinnen und Migranten als Kooperationspartner
gewonnen werden können. Wo gerade in den Landkreisen Migrantenorganisationen
als Vermittler und Ansprechpartner fehlen, braucht es neue Ideen:
So startete Ilse Rose beispielsweise im Oktober 2011 die Initiative „Wir alle sind
Mittelsachsen“. Dafür besuchte sie alle Kommunen des Landkreises, in denen mehr
als 100 Migranten und Spätaussiedler leben und sucht dort das Gespräch. Damit will
sie über ihre Arbeit informieren, den Dialog zwischen Einheimischen und
Zugewanderten fördern und natürlich auch Migranten zur kooperativen Mitarbeit
gewinnen.
Ilse Rose, Kommunale Ausländerbeauftragte des Landkreises Mittelsachsen
Persönliche Kontakte entwickeln
Als Schaltstelle zwischen Zuwanderern und Einheimischen sowie Verbänden und
Vereinen, ist es für mich wichtig, kontinuierlich Kontakte zu den Kommunen und zu
freien Trägern herzustellen und sie in die Integrationsarbeit einzubinden.
Das gelingt uns über das „Netzwerk Migration Mittelsachsen“ beispielsweise in
Freiberg und Döbeln schon sehr gut, in anderen Städten sind wir noch in der
Aufbauarbeit.
Wir wollen für unseren Landkreis ein Klima der gegenseitigen Achtung und
Akzeptanz schaffen und festigen. Dabei halte ich persönliche Kontakte für besonders
wichtig. Aus dieser Motivation heraus haben wir das Patenprogramm „Tandem“ Theaterbegeisterung teilen, Wissen weitergeben! entwickelt. Konzipiert ist das
Patenprogramm für junge Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund. Mit
diesem Patenprogramm wollen wir Jugendliche mit erfahren Theaterbesucher
zusammen bringen. Junge Menschen ab 16. Lebensjahr, die noch keinen Bezug
zum Theater haben, können kostenfrei bis zu fünf Vorstellungen ihrer Wahl während
einer Spielzeit besuchen, um sich mit der Theaterkultur als Teil des
Bildungsprozesses vertraut zu machen. Die Jugendlichen bekommen jeweils einen
112
erfahrenen Theaterbesuchern als „Paten“, der mit ihnen gemeinsam die Vorstellung
besucht und sich mit ihnen darüber austauscht.
Das Patenprogramm ist eine Initiative des Landkreises Mittelsachsen und des
Mittelsächsischen Theaters. Die Kosten für die Theaterkarten und eventuelle
Fahrtkosten werden von der Stiftung Mittelsächsisches Theater übernommen. Das
Projekt ist in der Spielstätte Freiberg begonnen und soll auf die zwei weiteren
Spielstätten Döbeln und Seebühne Kriebstein ausgeweitet werden. Ich setze auf
„Tandem“ als Mittel der Verständigung, weil Menschen sich dabei – unabhängig von
ihren kulturellen Wurzeln - gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen schaffen und
die Gemeinsamkeiten so stärker als das bisher Trennende werden.
Strategische Integrationsarbeit
„Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sie stellt Anforderungen an die
Zugewanderten und die Aufnahmegesellschaft. Sie ist ein fortwährender Prozess
und als politische Aufgabe auf Dauer anzulegen. Die Integration von Zugewanderten
sollte zu einem zentralen Thema der politisch Verantwortlichen, also „Chefsache“ in
den Kommunen werden. Die Bedeutung von Integration und interkultureller Öffnung
sollte öffentlich benannt werden und die zu leistende Arbeit als Kooperationsprozess
politischer, intermediärer und zivilgesellschaftlicher Akteure eingefordert und
anerkannt werden. Sinnvoll ist in jedem Fall die Erarbeitung eines
Integrationskonzeptes auf Landkreisebene.“13
Integrationskonzepte stellen Integrationsarbeit auf eine nachhaltige Grundlage. Sie
sind ein Mittel, um den Integrationsprozess voranzutreiben, binden alle wichtigen
Integrationsakteure mit ein und sichern vor allem die Teilhabe der Zielgruppe. Das
Schreiben von Integrationskonzepten geht über das Erstellen von Papieren weit
hinaus. Ein solches Konzept lebt von seiner Umsetzung und seiner beständigen
Fortschreibung.
13
„Integrationspotenziale in kleinen Städten und Landkreisen Schader-Stiftung“, Ergebnisse des
Forschungs-Praxis-Projekts, Herausgeber Schader-Stiftung, S. 28
113
Diese Prozesse sind in den drei großen Kreisfreien Städten in Sachsen bereits
erfolgreich angelaufen. In der Stadt Chemnitz gilt seit 2008 ein „Rahmenplan zur
Integration von MigrantInnen in Chemnitz“. Er enthält Leitlinien, Handlungsfelder und
Handlungsempfehlungen.
Die Stadt Dresden arbeitet seit 2009 nach einem „Konzept zur Integration von
Migrantinnen und Migranten 2009“. Die Ziele und Maßnahmen des Konzeptes
werden jährlich fortgeschrieben und konkretisiert.
Auch die Stadt Leipzig hat sich diesem Prozess gestellt. Zunächst wurden
gemeinsam „Leitlinien zur Integration der Migrantinnen und Migranten in Leipzig“
erarbeitet. Darauf aufbauend wird gerade das „Gesamtkonzept zur Integration von
Migrantinnen und Migranten in Leipzig“ erarbeitet, welches voraussichtlich im
2. Quartal 2012 fertig gestellt sein wird.
Auch in den sächsischen Landkreisen gewinnt das Thema der strategischen
Integrationsarbeit immer mehr an Bedeutung.
Veronika Glitzner: Gleichstellungs-, Integrations- und Frauenbeauftragte des
Vogtlandkreises
Querschnittsaufgabe Integration
Die Integrationsarbeit im Landkreis folgt einem klaren Motto: Toleranz und Offenheit
in unserem Zusammenleben kann unsere Gesellschaft reicher und menschlicher
gestalten.
Ein wesentlicher Arbeitsschwerpunkt meiner Arbeit ist die Vernetzung. Dazu zählen
kontinuierliche Arbeitsberatungen mit der Ausländerbehörde und dem Jobcenter, in
denen Einzelfallentscheidungen besprochen und längerfristige
Integrationsmaßnahmen geplant werden können. Außerdem bin ich für die
Koordination des Netzwerkes „Migration“ zuständig.
Diesem Netzwerk gehört neben den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege, den
zuständigen Behörden auch eine große Anzahl an Vereinen an, die im
Integrationsbereich tätig sind, so z.B. das Fanprojekt Plauen – Vogtland e.V., der
114
Kreissportbund Vogtland e.V., das Boxteam Oelsnitz e.V., das Jugendzentrum
Boxenstopp e.V., „Wir – in einer Welt – Verein Vogtland e.V.“, der „Eine Welt“ Verein
für Interkulturelle Verständigung e.V., das Familienzentrum „Spiel-Spaß-Kindertreff“
e.V. Plauen, die Euro Schulen Plauen, die IQ Unternehmensberatung GmbH, der
Verein der Vietnamesen in Plauen und Umgebung e.V., das Kunststudio „Schöne
Welt“ Oelsnitz/Plauen, der Deutsche Hausfrauenbund – das Netzwerk Haushalt
sowie das Natur- und Umweltzentrum Vogtland e.V.
Unser Netzwerk engagiert sich unter anderem gemeinsam für die Vorbereitung der
Interkulturellen Tage im Landkreis oder für andere Veranstaltungen wie das
Völkerfest International der Stadt Oelsnitz oder für den Internationalen Tag gegen die
Gewalt an Frauen.
Integration verstehe ich als Querschnittsaufgabe: sie sollte selbstverständlich bei
allen Belangen mitgedacht werden. So haben wir das Thema Integration auch bei
unseren Beiträgen zu den Wettbewerben „Familienfreundlichste Stadt”,
„Familienfreundlichste Gemeinde“ und „Familienfreundlichstes Unternehmen”
berücksichtigt.
Den gleichen Ansatz verfolgen wir bei unserer Arbeit mit Kindern. So nehmen wir bei
den jährlichen Berufszukunftstagen ganz bewusst junge Migranten in den Fokus.
In den letzten drei Jahren hat der Vogtlandkreis zusammen mit der Stadt Plauen in
einem Forschungs-Praxis-Projekt der Schader-Stiftung mitgearbeitet, in dem es um
„Integrationspotenziale in kleinen Städten und Landkreisen“ ging. Das Projekt wurde
im November 2011 abgeschlossen, im Dezember fand dazu ein Workshop mit allen
sächsischen kommunalen Beauftragten im Sächsischen Landtag statt. Schwerpunkt
dieses Workshops war die strategische Ausrichtung der Integrationsarbeit in den
sächsischen Landkreisen.
Im Landkreis Nordsachsen gibt es bereits seit 2010 ein „Konzept für das Netzwerk im
Landkreis Nordsachsen“. Ein Schwerpunkt der Arbeit ist die Einbindung aller
relevanten Akteure im Landkreis. Auch der Landkreis Sächsische SchweizOsterzgebirge hat 2011 ein Integrationskonzept erarbeitet und stellt sich nun den
Umsetzungsfragen.
115
Strategische Inklusionsarbeit
Integrationsarbeit erreicht nur einen Teil der Ausländer in Sachsen; denn an
staatlichen Integrationsmaßnahmen können nur die partizipieren, die einen
gesicherten Daueraufenthalt im Freistaat genießen. Davon sind drei wichtige
Gruppen ausgeschlossen: die Asylsuchenden ohne Anerkennung als Flüchtlinge, die
auf Zeit bei uns lebenden ausländischen Fachkräfte und die ausländischen
Studierenden.
Wie wir schon im Vorwort dieses Berichtes gezeigt haben, haben alle bei uns
lebenden Ausländer ein Recht auf soziale Inklusion, das mit Verpflichtungen und
Bekenntnissen verbunden ist.
Ob sie als Eltern gemeinsam mit den Lehrern die schulische Integration ihrer Kinder
unterstützen sollen, ob sie unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung
verstehen und respektieren sollen, ob sie unsere Kultur erkennen und schätzen
lernen sollen – unsere Erwartungen an die bei uns lebenden Ausländer zeigen, wie
wichtig die soziale Inklusion nicht nur für die Ausländer, sondern auch für uns als
aufenthalts- und gastgebendes Land sind.
Die kommunalen Ausländer- und Integrationsbeauftragten spielen in diesem Prozess
eine wesentliche Rolle. Auf der einen Seite brauchen wir sie als Ermutiger und
Ansprechpartner für alle Migranten, für die Integrationsakteure und auch für
Unternehmen in Sachsen.
Stojan Gugutschkow, Referatsleiter für Migration und Integration der Stadt
Leipzig und Integrationsbeauftragter der Stadt
RESQUE PLUS: Hilfe zur Selbsthilfe für Flüchtlinge mit Arbeitserlaubnis
Auf Initiative des Referates für Migration und Integration der Stadt besteht das
Projekt RESQUE PLUS seit 2008, nun schon in der zweiten Förderperiode, mit 5
operativen Partnern – Aufbauwerk Region Leipzig GmbH (Projektkoordinator),
Caritasverband Leipzig e.V., Deutsche Angestellten-Akademie GmbH, Sächsischer
Flüchtlingsrat e. V. und der INT - Gesellschaft zur Förderung der beruflichen und
sozialen Integration mbH - sowie vier strategischen Partnern.
116
Sachsenweit werden derzeit ca. 376 Flüchtlinge mit Zugang zum Arbeitsmarkt durch
das Netzwerkes RESQUE PLUS- Hilfe für Flüchtlinge zur Qualifizierung und
Vermittlung auf den Arbeitsmarkt unterstützt.
Dies geschieht im Rahmen des vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales
geförderten und speziell für diese Zielgruppe aufgelegten ESF-Bundesprogramms
„XENOS - Arbeitsmarktliche Unterstützung für Bleibeberechtigte und Flüchtlinge II“.
Wichtige Kenntnisse rechtlicher Rahmenbedingungen und persönlicher
Lebenssituationen aus langjähriger Beratung der Zielgruppe im Rahmen der Arbeit
des Referates für Migration und Integration stärken und ergänzen damit die
Bemühungen der Jobcenter bzw. Agenturen für Arbeit, Flüchtlinge in den
Arbeitsmarkt zu integrieren.
Die Leistungspakete wurden gemeinsam mit den Grundsicherungsstellen und
kommunalen Trägern erarbeitet, ergänzen deren Angebote und sind bereits mit
festen Verfahrensabsprachen untersetzt. Die eingesetzten Instrumente aus der
ersten Förderrunde (Leipziger Netzwerk „RESQUE“) werden nun auch in Dresden
und Chemnitz sowie in den sächsischen Landkreisen angewandt. Flankiert durch ein
individuelles Unterstützungsmanagement, durch verbesserte Vermittlungsstrategien
sowie durch eine engmaschige, sozialpädagogische Beratung und Mediation wurden
bereits viele Teilnehmer aus der Zielgruppe in Arbeit vermittelt.
Multiplikatorenschulungen zielen darauf ab, Öffnungsprozesse in den
Regelinstitutionen zu begleiten und eine Fortführung und Ausweitung der Angebote
zu realisieren.
Weitere Informationen finden Sie unter www.projekt-resque.de
Auf der anderen Seite sind die Kommunalen Ausländer- und
Integrationsbeauftragten Botschafter für Weltoffenheit und für eine sächsische
Willkommensgesellschaft. Sie können helfen Brücken zu bauen, menschliche
Brücken zwischen Menschen, für die unsere Kultur und unsere Werteordnung
ungewohnt oder fremd sind, und unserer Bevölkerung, die zu Fremden als erste
Reaktion erst einmal auf Distanz gehen will. Auf diesem Feld für gegenseitiges
117
Vertrauen und gegenseitige Bereicherung zu werben, ist eine lohnenswerte Aufgabe
für unsere Beauftragten.
An wen können sich kleine und mittelständische Firmen ohne Personalabteilung
wenden, die im ländlichen Raum ausländische Mitarbeiter haben, die auf ihrem Weg
zur Orientierung in Sachsen betreut werden wollen? Wer kann ihnen bei Fragen des
täglichen Lebens, Fragen über Umgang mit Behörden zur Seite stehen, wenn nicht
der oder die Ausländerbeauftragte/r?
Große Unternehmen, Forschungsinstitute oder Universität mit ausländischen
Mitarbeitern haben durchweg eigene Stabsstellen, um den Mitarbeitern und ihren
Familienmitgliedern zu helfen. Das können sich mittelständische sächsische
Unternehmen meist nicht leisten. Kommunale Beauftragte können hier wesentlich
helfen – als Vermittler und Netzwerker und natürlich auch als Gestalter der eigenen
Organisation. Das Ziel heißt: Aufbau einer interkulturell kompetenten Verwaltung!
Unterstützung durch Weiterbildung
Um diese Prozesse zu unterstützen, haben wir besonders für die Beauftragten der
Landkreise und kleineren Städte einen Workshop organisiert, in dem die Ergebnisse
des Forschungs-Praxis-Projekt der Schader-Stiftung „Integrationspotenziale in
kleinen Städten und Landkreisen“ bearbeitet wurden. In der gemeinsamen Arbeit
wurden zunächst die derzeitigen Schwerpunkte kommunaler Integrationspolitik
herausgearbeitet.
Dabei wurden zwei Handlungsfelder besonders herausgehoben: die strategische
Ausrichtung der Arbeit der kommunalen Beauftragten und die interkulturelle Öffnung
von Verwaltung und Wirtschaft.
Im Workshop wurden relevante Akteure für die Erarbeitung regionaler
Integrationskonzepte identifiziert und über wichtige Strategien bei der Erarbeitung
solcher Konzepte gesprochen.
Die kommunalen Beauftragten haben deutlich gemacht, dass das Thema der
interkulturellen Öffnung der Verwaltung und der Wirtschaft an Bedeutung gewinnt –
gerade auch vor dem Hintergrund der Zuwanderungsdebatte. Das zeigt, dass sich
der Aufgabenbereich der Beauftragten im Kontext der integrations- und
118
zuwanderungspolitischen Entwicklung der letzten Jahre spürbar vergrößert hat und
dass neue Schwerpunkte gesetzt werden.
Integration passiert vor Ort - dabei ist weniger die Anzahl der dort lebenden
Menschen mit Migrationshintergrund entscheidend, als vielmehr die Öffnung von
Politik und Verwaltung hin zu den Themen Integration und Zuwanderung.
Diese Arbeit sollte Chefsache sein – und entsprechend unterstützt werden.
Hauptamtliche kommunale Beauftragte sind dabei ein wichtiges Signal.
Zu guter Letzt noch einmal: Ehren- oder Hauptamtlichkeit?
Während der öffentlichen Anhörung sagte ein Sprecher des Landkreistages, dass es
den Kreisen selbst überlassen bleiben soll, ob sie die kommunalen Beauftragten als
Ehrenamt oder Hauptamt bestellen wollen. Ein gesetzlicher Zwang würde nicht zu
mehr Bereitschaft führen, die Aufgabe der Beauftragten zu unterstützen.
Grundsätzlich stimmen wir dieser Position zu. Freiwilligkeit ist immer einem Zwang
vorzuziehen. Wenn allerdings die Chance zur Freiwilligkeit nicht wahrgenommen
worden ist, und die Breite der Aufgaben vom Ehrenamt beim besten Willen nicht
adäquat wahrgenommen werden kann, dann ist es das Anrecht der Politik, einen
gesetzlichen Rahmen zu schaffen, um dafür zu sorgen, dass Aufgaben, die für
unsere Zukunft essentiell sind, auch adäquat wahrgenommen werden.
Wenn ehrenamtliche Beauftragte ein jährliches Budget von etwa 100 Euro haben,
dann können keine Aufgaben angegangen werden, die mit Fahrtkosten verbunden
sind. Bei Landkreisen, die geografisch weiträumig aufgestellt sind, würde das
bedeuten, dass der oder die Beauftragte mehr oder weniger in einem zugewiesenen
Raum sitzen und darauf warten muss, bis sich jemand meldet. So kann kein
Ehrenamtlicher seiner Aufgabe gerecht werden, der nicht aus eigener Tasche seine
Arbeit mitfinanziert. Auch Chancen der Vernetzung mit Kollegen zum
Gedankenaustausch bleiben da schnell auf der Strecke.
Deshalb würden wir es begrüßen, wenn in absehbarer Zukunft mehr Kreise dem
Beispiel von Bautzen und Nordsachsen folgen, und aus eigener Initiative
hauptamtliche Beauftragte ins Leben rufen. Wenn ein Gesetz den Kreisen bei der
119
Finanzierung dieser wachsenden Aufgaben helfen würde, dann stünde die
Staatsregierung einer Bitte des Landkreistages sicherlich nicht im Wege.
In den nächsten zwölf Monaten wird sich zeigen, ob ein gesetzlicher Rahmen
notwendig geworden ist. Sollte das der Fall sein, werden wir uns in die Diskussion
einbringen.
3.2 Das Netzwerk Integration und Migration Sachsen
Seit Beginn der Amtszeit pflegen wir einen produktiven Austausch mit vielen
sächsischen Akteuren aus den Bereichen Migration und Integration – beispielsweise
in regelmäßigen Arbeitstreffen. Die halbjährig stattfindenden Treffen werden durch
den Sächsischen Ausländerbeauftragten initiiert und moderiert. Hier werden
gemeinsam aktuelle Themen bearbeitet, der Austausch mit wichtigen Akteuren aus
der Verwaltung wird gefördert und das Netzwerk wird durch unsere Zusammenarbeit
weiter gestärkt. Das Netzwerk Integration und Migration in Sachsen ist aus
regelmäßigen Arbeitstreffen beim Sächsischen Ausländerbeauftragten
hervorgegangen. Es besteht aus den kommunalen Ausländer- und
Integrationsbeauftragten Sachsens sowie den Vertretern von Initiativen,
Beratungsstellen, Vereinen oder sonstigen Projekten der Integrations- und
Migrationsarbeit in Sachsen.
Etwa 170 Akteure der sächsischen Migrations- und Integrationsarbeit sind derzeit
Mitglieder im Netzwerk. Dazu gehören beispielsweise
 Vertreter der kommunalen Ausländer- und Migrantenbeiräte,
 Vertreter des Sächsischen Migrantenbeirates,
 die kommunalen Ausländer- und Integrationsbeauftragten,
 Vertreter der Jugendmigrationsdienste und Migrationsberatungsstellen für
Erwachsene,
 Vertreter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge,
 Vertreter der Opferberatungsstellen und der RAA,
 der Sächsische Flüchtlingsrat und der Ausländerrat Dresden,
120
 sowie etwa 35 Vereine, die auf den Feldern Migration und Integration tätig
sind.
Regelmäßig eingeladen werden auch Vertreter des Sächsischen Staatsministeriums
des Innern, des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Verbraucherschutz
und der Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur für Arbeit. Neu
hinzugekommen sind 2011 auch Rechtsanwälte für Ausländer- und Asylrecht. Unser
Netzwerk ist grundsätzlich offen für alle, die sich im Bereich Integration, Migration
und soziale Inklusion engagieren und die sich in die Arbeit mit einbringen möchten.
Respekt und Willkommensgesellschaft
Beim ersten Treffen in diesem Jahr stand das Thema „Willkommensgesellschaft“ auf
der Tagesordnung. Dazu stellten wir unsere Anregungen für eine sächsische
Willkommensgesellschaft vor. Das wesentliche Fundament einer solchen
Gesellschaft ist der gegenseitige Respekt, ohne den weder ein Zusammenleben
noch eine Zusammenarbeit möglich ist.
In den stattfindenden Workshops erarbeiteten die Teilnehmer Indikatoren, an denen
sich der Respekt einer Willkommensgesellschaft gegenüber Zugewanderten
bemessen lässt, sowie wesentliche Handlungsfelder für eine sächsische
Willkommensgesellschaft. Entscheidend, so ein wesentliches Ergebnis der
Workshops sei die Maxime: „Nicht übereinander, sondern miteinander“. Deshalb sei
die eine selbstverständliche Teilhabe in allen Bereichen des gesellschaftlichen
Lebens entscheidend. Integration sei eine wesentliche Querschnittsaufgabe für alle
Ressorts, die Gestaltung und Engagement braucht. Außerdem gelte es, Raum für
Begegnungen zu schaffen, damit Ängste und Vorurteile abgebaut werden können.
Auch eine konstruktive Medienberichterstattung sei ein wichtiger Baustein einer
Willkommensgesellschaft.
Sächsische Einbürgerungspraxis
Das Thema Einbürgerung stand sowohl im ersten als auch im zweiten Treffen auf der
Tagesordnung. Martin Strunden, Referatsleiter im Sächsischen Staatsministerium
121
des Innern, referierte zur sächsischen Einbürgerungspraxis und legte die
Standpunkte des Ministeriums dar.
Die kontroverse Diskussion machte unterschiedliche Standpunkte deutlich.
Verschiedene Teilnehmer wiesen darauf hin, dass die sächsische Verwaltungspraxis
im Vergleich zu anderen Bundesländern als sehr konservativ in der Handhabung
wahrgenommen wird. Das zeige sich unter anderem an unterschiedlichen
Definitionen, was als gewöhnlicher Aufenthalt gelte. Hier regten die Teilnehmer an,
diese Position zu überdenken und sich an der Praxis anderer Bundesländer zu
orientieren. Außerdem wurde im Interesse einer transparenten Verwaltungspraxis die
Veröffentlichung der vorläufigen Anwendungshinweise angeregt.
Arbeitsmarktintegration
Im zweiten NIMS-Treffen 2011 gaben Vertreter der Regionaldirektion Sachsen der
Bundesagentur für Arbeit einen Überblick über neue Regelungen der Jobcenter bei
der Arbeitsmarkintegration von Migranten und Migrantinnen. Sie stellten dabei das
sogenannte 4-Phasen-Modell der Integrationsarbeit als rechtskreisübergreifendes
Vermittlungssystem vor, das die theoretische Grundlage für die Begleitung bzw.
Vermittlung von Migranten in den Arbeitsmarkt bildet.
In Arbeitsgruppen wurden Fragen zu Arbeitsgelegenheiten für Asylbewerber und
Geduldete, rechtliche Regelungen in der Sprachförderung und im
Vermittlungsbudget näher diskutiert und Lösungsvorschläge für Verbesserungen der
Praxis der Arbeitsvermittlung erarbeitet. Vertreter der Vereine konnten rechtliche
Fragen zur Dauer von Arbeitsmarktprüfungen oder zur Handhabe von
Vermittlungsbudgets stellen. Die Vertreter der Regionaldirektion Sachsen nahmen
Anregungen für die Arbeit in den Jobcentern mit, beispielsweise hinsichtlich der
Differenzierung des Sprachniveaus und einer entsprechender Förderung des
Spracherwerbs.
Soziale Inklusion
Sebastian Vogel vom Ausländerrat Dresden e.V. führte beim zweiten
Netzwerktreffen in das Thema Inklusion ein. Er stellte die Ergebnisse einer Dresdner
122
Konferenz des Ausländerrates zum Prinzip der Inklusion vom 18.06.11 mit dem Titel
„All inclusive“ vor. Eine Dokumentation der Tagung ist beim Ausländerrat Dresden
erhältlich. Martin Gillo machte in seinem Beitrag deutlich, dass das Prinzip der
sozialen Inklusion für alle gilt, die bei uns leben - unabhängig von ihrem
aufenthaltsrechtlichen Status, während die staatlichen Integrationsmaßnehmen nur
auf jene zielen, die auf Dauer in Deutschland leben, einen gesicherten
Aufenthaltsstatus haben und möglicherweise auch die Einbürgerung anstreben.
3.3 Das bundesweite Netzwerk der Länder- und Kommunalen
Integrations- und Ausländerbeauftragten
Die Aufgabe des Beauftragten gibt es nicht nur im Freistaat Sachsen. Fast alle
Bundesländer haben entsprechende Funktionen, die unterschiedlich ausgestattet
und angebunden sind. Die Netzwerkarbeit unter ihnen läuft vor allem über drei Arten
kollegialer Treffen.
Die Bundeskonferenz der Integrationsbeauftragten des Bundes, der Länder
und der Kommunen
Die Bundeskonferenz 2011 hatte das Thema Medien in den Fokus genommen. Ist
Deutschland ein Integrationsland? Wie ist die Wahrnehmung in Deutschland und von
Deutschland? Wie sieht die Wirklichkeit aus? Wie berichten die Medien über
Integration? Ist die Vielfalt der Integrationsthemen in den Medien spürbar? Oder wird
ausschließlich über Problemgruppen berichtet? Und werden bestehende Bilder nur
noch reproduziert? Über diese Themen und über Strategien für die alltägliche Arbeit
tauschten sich die Beauftragten von Bundes- Landes- und kommunaler Ebene in
dem zweitägigen Treffen aus.
Die Bundeskonferenzen finden jährlich statt und bieten vor allem den kommunalen
Beauftragten eine gute Gelegenheit zu einem deutschlandweiten
Erfahrungsaustausch.
123
Die Länderkonferenz der Integrations- und Ausländerbeauftragten
Auch diese Gruppe trifft sich jährlich, um bundesweit relevante Themen und Trends
zu diskutieren. Die Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration Prof.
Maria Böhmer informiert auf diesen Treffen regelmäßig über Initiativen der
Bundesregierung in den Bereichen Integration und lädt zum Dialog darüber ein, wie
diese Initiativen auf Länderebene begleitet werden können.
Gleichzeitig bieten diese Treffen gute Gelegenheiten für die Länderbeauftragten, um
eigene Initiativen zu präsentieren und für Unterstützung bei den Kollegen zu werben.
Außerdem nutzen die Länderbeauftragten die Möglichkeit, die Bundesregierung für
Initiativen zu gewinnen, die aus Sicht der Bundesländer dringend angepackt werden
sollten.
Länderkonferenz der Beauftragten aus den Neuen Ländern.
Die Situation der Neuen Länder ist qualitativ anders als in den alten Bundesländern
und braucht deshalb auch einen gesonderten Austausch über Themen, die aus der
Sicht der Neuen Länder Priorität haben. Das geht mit separaten Treffen der Neuen
Länder einfacher und schneller.
Die Zahl der Migranten, die in den Neuen Bundesländern leben, liegt weit unter dem
Bundesdurchschnitt. Auch die Herkunftsländer und die Bildung unterscheiden sich
grundlegend: Die größten Gruppen kommen aus Vietnam und den Ländern der
ehemaligen Sowjetunion. Außerdem haben die hier lebenden Migranten
überproportional häufiger gute ausländische Berufs- und akademische Abschlüsse
mitgebracht.
Aus dieser grundsätzlich anderen Konstellation heraus haben alle Neuen
Bundesländer ein großes Interesse am Thema der Anerkennung ausländischer
Berufsabschlüsse – hier gibt es einen deutlich höheren Bedarf.
Auf der anderen Seite resultieren die Integrationsherausforderungen der Neuen
Bundesländer eher aus der geringen Zahl der hier lebenden Migranten. Die
Fremdendistanz gehört ebenso dazu wie Förderbedingungen, die sich an der
Bevölkerungszusammensetzung in den alten Bundesländern orientieren und damit
die Integrationsarbeit in den neuen Bundesländern erschweren.
124
Was können wir also tun, um die Integration der gut ausgebildete Migranten in den
Arbeitsmarkt voranzubringen? Und was, um die Weltoffenheit der Menschen in den
Neuen Ländern zu erhöhen? Diese und ähnliche Themen kann man im Kreis der
Länderbeauftragten aus den Neuen Ländern mit ausreichend Sensitivität angehen,
weil alle Betroffenen die Problematik aus erster Hand kennen.
Thematische Zusammenarbeit
Während des ganzen Jahres stehen die verschiedenen Länderbeauftragten als MitDenker und auch als kritisch-beratende Begleiter für neue Projekte zur Verfügung.
Wer neue und potenziell kontroverse Ideen austesten möchte, ehe sie der
Öffentlichkeit vorgestellt werden, der kann auf seine Kolleginnen und Kollegen in den
anderen Bundesländern zugehen. Er wird in ihnen immer aufgeschlossene
Unterstützer finden.
Bei wichtigen Bundesthemen klappt diese Vernetzung und gegenseitige
Unterstützung auch mit dem Büro der Bundesbeauftragten. Als Beispiel sei die
Initiative für ein neues Anerkennungsgesetz ausländischer Berufsabschlüsse
genannt. Sachsen war eines der ersten Länder, die einen Runden Tisch für die
Anerkennung ausländischer Abschlüsse einrichteten. Diese Arbeit wurde aktiv durch
das Büro von Prof. Maria Böhmer unterstützt. Ihr Mitarbeiter Dr. Maier-Borst nahm an
einem der Treffen des Runden Tisches teil, präsentierte die Initiative der
Bundesregierung und stand während eines angeregten Gedankenaustausches mit
Fragen und Antworten zu allen Themen zur Verfügung. Umgekehrt konnte der
Freistaat Sachsen bei einigen Turbulenzen bei der Bundesgesetzgebung zum
Anerkennungsgesetz helfen, indem unnötige Barrieren benannt wurden. Der Erfolg
gab dieser Kooperation recht: Das Bundesgesetz wurde von Bundesrat und
Bundestag einvernehmlich verabschiedet, ohne den Vermittlungsausschuss anrufen
zu müssen.
Rolle der Beauftragten gestärkt
Auf der letzten Konferenz der Ausländer- und Integrationsbeauftragten der Länder im
November 2011 ging es vor allem um das Selbstverständnis der Beauftragten.
125
Die gehörten Experten waren sich dabei einig, dass die Beauftragten sowohl in ihrer
Ombudsfunktion als auch in der Rolle als Berater, Mahner und als Ideengeber für
den Prozess der Integration in Deutschland unverzichtbar seien.
Sie arbeiten für die gleichberechtigte Teilhabe der Migrantinnen und Migranten und
wenden sich an die relevanten Stellen sowohl im Einzelfall, aber auch mit dem Ziel
die Normen oder die Verwaltungspraxis zu ändern. Entscheidend sei es, strukturelle
Probleme zu erkennen und bei den zuständigen Stellen auf Lösungen zu insistieren.
3.4 Vom Nationalen Integrationsplan zum Nationalen Aktionsplan
Integration: Mitwirkung am Dialogforum „Arbeitsmarkt und
Erwerbsleben“
Auf dem vierten Integrationsgipfel am 03.11.2010 wurde unter Leitung der
Bundeskanzlerin Angela Merkel beschlossen, einen Nationalen Aktionsplan
Integration mit klaren und überprüfbaren Zielen zu entwickeln. Dazu wurden elf
Dialogforen zu verschiedenen Themen eingesetzt, die von den Bundesministerien
bzw. Beauftragten der Bundesregierung geleitet wurden.
In diesen Dialogforen verständigten sich staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure
– unter ihnen über 30 Migrantenorganisationen - gemeinsam über strategische und
operative Ziele und konkrete Maßnahmen.
Martin Gillo war als Sächsischer Ausländerbeauftragter zur Mitarbeit im Dialogforum
„Arbeitsmarkt und Erwerbsleben“ eingeladen. Die Debatten in den fünf Sitzungen
zeigte Handlungserfordernisse auf allen Seiten: Einerseits muss es darum gehen, die
Beschäftigungs- und Erwerbschancen durch Bildung, Spracherwerb und die
Anerkennung von ausländischen Abschlüssen zu erhöhen. Gleichzeitig gelten die
interkulturelle Öffnung der Institutionen und eine interkulturelle Qualifizierung des
Beratungspersonals als wesentliche Voraussetzung für eine gelingende
Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Migrationshintergrund. Auch die Wirtschaft
muss sich dahingehend öffnen: Wer um ausländische Fachkräfte wirbt, muss auch
lernen, mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zusammenzuarbeiten.
126
Die Ergebnisse des Dialogforums wurden Ende Juni 2011 vom Bundesministerium
für Arbeit und Soziales veröffentlicht14 und werden in den Nationalen Aktionsplan
Integration eingehen. Martin Gillo machte in den Diskussionen immer wieder auf die
Sondersituation der Neuen Bundesländer aufmerksam. Hier lassen sich gerade für
den Bereich Arbeitsmarkt und Erwerbsleben Potentiale entdecken – wenn man von
der defizitorientierten Perspektive abrückt.
Wenn also der Abschlussbericht des Dialogforums 3 „Arbeitsmarkt und
Erwerbsleben“ eine signifikant schlechtere schulische und berufliche Qualifikation
von Migranten auch der zweiten oder dritten Generation konstatiert, so ist das für den
Freistaat Sachsen gerade nicht zutreffend. Das belegen die hohen beruflichen
Qualifikationen der vielen Migrantinnen und Migranten in Sachsen, deren Integration
in den Arbeitsmarkt eben nicht an einer fehlenden Qualifikation, wohl aber an der
fehlenden Anerkennung ihrer Qualifikation scheitern.
3.5 Wir bleiben im Gespräch
Eine unserer wichtigsten Arbeiten im Bereich Vernetzung sehen wir in der
Information unseres Netzwerkes, der Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung
durch ein tagesaktuelles Internetangebot und einen wöchentlich erscheinenden
Newsletter. Dieser basiert auf eigenen Recherchen, Informationen unserer
Netzwerkpartner und Informationen bundesweiter Partner.
Großen Raum nehmen die Beantwortung von Presseanfragen und eine aktive
sachgerechte Pressearbeit ein. Der Beauftragte und seine Mitarbeitenden verfolgen
die relevanten Beratungen im Parlament, nehmen Stellung oder suchen gemeinsam
mit anderen Akteuren Lösungen.
Informiert wird dabei über bundesweite Entwicklungen und Zusammenhänge, über
prägnante Beispiele, Gerichtsentscheidungen oder parlamentarische Beratungen;
außerdem über Veranstaltungen und Beratungsangebote. Die Geschäftsstelle
versteht sich bei der Information und Schulung auch als eine Art Drehscheibe,
14
http://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/inhalt.html
127
welche die verschiedenen Beteiligten von den Migrantengruppen über die
Entscheidungsträger, bis zu den einzelnen Beraterinnen mit Wissen und Anregungen
versorgt. Angesprochen sind grundsätzlich Menschen mit und ohne
Migrationshintergrund. Gegenseitige Information und Verständnis ist grundlegend für
die Entwicklung einer Willkommensgesellschaft. Zum Empfängerkreis gehören also
Asylsuchende und Migranten in gleicher Weise wie etwa Mitarbeiter von
Ordnungsämtern oder Fachanwälte.
Mittler von Informationen
Im Jahr 2011 wurden neben den vorgestellten Publikationen und Handreichungen
auch eigene Informationsträger verwendet. Stets mit einer positiven Botschaft
besetzt, welche die Vorteile der Weltoffenheit und Diversität im Blick hat, wurden
Türanhänger, interkulturelle Kalender und Sattelschoner - die zu Respekt auffordern
– eingesetzt. In den Rundbriefen oder bei Veranstaltungen wurde über die Angebote
und Aktionen anderer Integrationspartner, wie etwa der sächsischen und der
bundesdeutsche Ministerien, informiert oder für diese direkt geworben. Die
Handreichungen der bundesweit agierenden Beratungsstellen, die Studien der
Stiftungen oder Hochschulen wurden ebenfalls an die Wirkenden im Netzwerk
weitergegeben.
Direkter Dialog mit Stiftungen, Vereinen oder Bildungsträgern
Im Jahr 2011 beteiligten wir uns an zahlreichen Podiumsdiskussionen oder
Gesprächsrunden. Martin Gillo warb im Rahmen von Veranstaltungen, Vorträgen
oder Seminaren für eine Willkommensgesellschaft und informierte über
Problemlagen und wichtige Entwicklungen wie die Anerkennung von
Qualifizierungen, seine systemischen Empfehlungen oder die Konsequenzen aus der
Bevölkerungsentwicklung in Sachsen. So wurde gemeinsam mit der KonradAdenauer-Stiftung ein thematisches Bildungswochenende zum Thema Heimat
konzipiert und im Europäischen Begegnungszentrum Kloster St. Mariental
durchgeführt.
128
Ein Beispiel für die Beratung und Beteiligung ist die Zusammenarbeit mit der
Verwaltungsspitze der Technischen Universität Dresden. Hier gilt es zum einen die
Bedingungen für die ausländischen Mitarbeiter und Lehrkräfte und zum anderen die
Attraktivität für ausländische Studierende zu optimieren.
20 Jahre »Integration durch Sport in Sachsen
2011 feierte der Landessportbund Sachsen das zwanzigste Jahr des Programms
≫Integration durch Sport≪. Dieses Programm wird vom Bundesministerium des
Innern gefordert und vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und seinen
Mitgliedsorganisationen durchgeführt. Das Programm hat zum Ziel, dass Menschen
unabhängig von Herkunft, Geschlecht und Alter gemeinsam Sport treiben.
Heute arbeiten 32 sächsische Sportvereine als Stutzpunktvereine im Rahmen des
Programmes ≫Integration durch Sport≪.
Diese Stutzpunktvereine engagieren sich gezielt für die Integration von Zuwanderern
in das Vereinsleben und in die Gesellschaft. Dafür setzen sie auf eine gezielte
Qualifizierung ihrer Vorstände und Mitglieder, um damit die
interkulturelle Öffnung des Vereins voranzubringen und die Mitglieder interkulturell zu
bilden. Außerdem haben viele der Vereine Integrationsbeauftragte berufen, um die
Integrationsarbeit konkret und abrechenbar zu gestalten. Die Erfolge dieses
Ansatzes zeigten sich beim Wettbewerb um den Sächsischen Integrationspreis 2011,
bei dem sich insgesamt fünf Stutzpunktvereine beteiligten. Ein Hohepunkt der
Programmarbeit war die traditionelle Street Soccer - Tour, für die Martin Gillo auch
2011 wieder die Schirmherrschaft übernommen hatte
Zitat Martin Gillo „Es gibt keine schwarz-weißen Lösungen bei der Integration, der
demografischen Entwicklung oder der Anerkennung von Berufen. Es kommt bei den
Lösungsansätzen auf das Wörtchen „und“ an, sowie die Perspektive des „Sowohlals-Auch.“
129
Ausblick 2012
Im vergangenen Jahr haben wir einige wichtige Initiativen auf den Weg gebracht, die
wir 2012 weitertragen und begleiten werden.
Das gilt zum Beispiel für das Thema Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse.
Wir werden uns dafür einsetzen, dass die Anregungen des Runden Tischs
„Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse“ Eingang in den sächsischen
Gesetzgebungsprozess finden.
Auch bei der Vernetzung der sächsischen Integrations- und Inklusionsakteure sind
wir einen guten Schritt vorangekommen. Auch hier bleiben wir dran.
Deutsch für alle – 99 Wege zur deutschen Sprache: Das war ebenfalls eine wichtige
Initiative des vergangenen Jahres. Wir werden weitere Schritte gehen, um auch
diejenigen, die keinen Anspruch auf einen staatlich geförderten Sprachkurs haben,
zu ermutigen, unsere Sprache zu erlernen.
Selbstverständlich werden wir auch weiterhin konstruktiv die Verbesserung der
Unterbringungsbedingungen in den sächsischen Gemeinschaftsunterkünften
begleiten. Unsere Anregungen für mehr Menschenwürde bei der Unterbringung von
Asylsuchenden sollten geprüft und umgesetzt werden.
Mehr bleibt zu tun. Gerade der „Heim-TÜV“ ist auch außerhalb des Freistaates
Sachsen auf viel Interesse gestoßen. Wir haben das Instrument so entwickelt, dass
es auch von anderen unabhängig von uns angewendet werden kann. Hier stehen wir
bereit, Anleitung und Orientierung zu geben. Außerdem werden wir weiter an der
Verbesserung des Instrumentariums arbeiten und laden dazu wichtige Akteure ein,
die dabei mitwirken wollen.
Das Ziel all unserer Arbeit bleibt bestehen: Wir wollen Sachsen auf der Reise zu
einer Willkommensgesellschaft unterstützen und ermutigen. Wir wissen, dass wir bei
dieser Reise nicht allein sind. Viele engagieren sich dafür, dass Sachsen eine noch
weltoffenere und tolerantere Gesellschaft wird, in der sich Alle mit Respekt begegnen
– unabhängig von den kulturellen, ethnischen oder religiösen Wurzeln.
Aus diesem Grunde wende ich mich an Sie, liebe Wegbereiterinnen und Wegbereiter
der Willkommensgesellschaft. Wir setzen gemeinsam auf Zukunft. Und für diese
130
Zukunft brauchen wir gesellschaftlichen Fortschritt, Innovationen im Zusammenleben
und neue Ansätze im konstruktiven Miteinander über Kulturen und Nationen hinweg.
Woher kommen diese sozialen Innovationen? Wer erfindet sie? Wer führt sie weiter?
Die Geschichte wirtschaftlicher und technologischer Innovationen zeigt, dass gute
Ideen überall entstehen können. Entscheidend ist dabei häufig, dass die guten Ideen
erkannt, aufgegriffen und vor allem umgesetzt werden –daran sind fast immer viele
Menschen beteiligt.
Das Gleiche gilt für soziale Innovationen. Auch sie kommen nur selten von einer
dafür beauftragten Person. Zu meinen Aufgaben zählt nach dem Gesetz zum
Beispiel die „…Förderung der gesellschaftlichen Eingliederung der hier auf Dauer
oder langfristig lebenden Ausländer…“. Die Realität der vergangenen Jahre hat uns
gezeigt, dass für ein konstruktives Miteinander aller Menschen mehr notwendig ist
als die Anpassung der hier lebenden Migrantinnen und Migranten. Dazu braucht es
eine interkulturell offene und kompetente Gesellschaft.
Wenn wir auf unsere Zukunft schauen, dann wissen wir, dass wir noch weiter gehen
müssen: Hin zu einer Willkommensgesellschaft, die die Vielfalt ihrer Mitglieder als
Chance erkennt und die mit dieser Offenheit, mit Respekt und Flexibilität um Talente
aus aller Welt wirbt.
Ich bin nicht so verblendet, zu glauben, dass neue Ideen dafür nur von mir kommen
können. Deshalb sehe ich mich in dieser Funktion weniger als Erfinder, denn als
Moderator für neue Ideen und soziale Innovationen.
Eine solche soziale Innovation ist der Gedanke der sozialen Inklusion. Inklusion ist
ein Schlüsselbegriff für die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in
unsere Gesellschaft. Der sächsische Ausländerrat hat während einer Veranstaltung
im Jahr 2011 gezeigt, dass dieses Konzept auch für unser Zusammenleben mit
Migrantinnen und Migranten gilt. Sie sind unsere Mitmenschen, manche sind
Mitmenschen auf Zeit, aber sie sind unsere Mitmenschen. Wir leben gemeinsam in
unseren Wohnvierteln, unsere Kinder gehen gemeinsam in die Schule, wir arbeiten
und studieren zusammen, wir teilen politische, kulturelle und gesellschaftliche
Interessen. Es ist falsch, eine große Gruppe von ihnen gänzlich von allen
Einbeziehungsbemühungen auszuschließen. Es ist falsch, weil die Realität eine
andere ist. Das Konzept der sozialen Inklusion macht uns klar, dass alle bei uns
131
lebenden Menschen Teil unserer Gesellschaft sind, solange sie bei uns leben. Wir
werden diese Idee gemeinsam mit unserem Netzwerk weiter verfolgen und sind
gespannt auf neue Impulse.
Und wo ist die nächste gute Idee für unsere Willkommensgesellschaft? Liebe
Wegbereiterinnen und Wegbereiter, ich bin überzeugt, viele von Ihnen haben gute
Ideen. Lassen Sie uns diese Idee diskutieren, machen wir sie der Öffentlichkeit
bekannt und sorgen wir gemeinsam für ihre Umsetzung.
Wir werden 2012 gezielt Möglichkeiten dafür schaffen, dass sich engagierte
Menschen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft in diesen Prozess
einbringen können. Dabei wollen wir uns regelmäßig über Ideen für eine
Willkommensgesellschaft austauschen und für die Umsetzung der besten Ideen
werben. Sind Sie interessiert? Dann machen Sie mit!
Zeigen Sie uns, was Sie tun mochten und können, um Sachsens Reise zur
Willkommensgesellschaft zu unterstutzen.
Was immer wir tun: Es geht um unsere gemeinsame Heimat Sachsen. Bleiben Sie
uns treu. Unterstützen Sie unsere Arbeit. Und zeigen Sie uns, wie wir vorankommen
können. In unser aller Interesse.
132
3.5.1 Ich habe einen Traum
Ich heiße Dao Ngoc Mai. Ich bin 20 Jahre alt, wurde in Dresden geboren und
studiere Grafik-Design im 1. Semester in Hamburg. Ich habe schon sehr früh mit
dem Zeichnen angefangen - meine allererste Zeichnung habe ich mit 4 Jahren im
Kindergarten gemalt. Seitdem macht es mir noch mehr Spaß. Neben dem Zeichnen
spiele ich Gitarre, lese Bücher und schaue mir gute Filme mit Freunden an. Ich
fotografiere auch gerne interessante Orte und Dinge, die mich in der Stadt umgeben
und ich kann stundenlang im Großen Garten Fahrradfahren. In allem, was ich tue
und kreiere, höre ich Musik, weil sie ein essentieller Teil in meinem Leben geworden
ist. Ich denke, ich bin ziemlich gut darin, mich einfach zurückzulehnen und das Leben
zu genießen - das ist wahrscheinlich das Hobby, womit ich am meisten und am
liebsten beschäftigt bin.
Ich würde ohne Zweifel Dresden als meine Heimat definieren. Ich wurde hier
geboren, bin hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und habe auch meine
Schulbildung mit dem sächsischen Abitur abgeschlossen.
Meine Identität ist mit Dresden sehr eng verwurzelt, weil ich meine ersten 19
Lebensjahre hier verbracht habe. Jedes Mal, wenn ich meine Familie besuche, freue
ich mich, weil mir alles, was ich sehe, so vertraut und bekannt vorkommt. Wenn ich in
der Stadt bin und mir Gedanken wie „An dieser Straßenecke hast du dich zum
allerersten Mal mit deinem Brieffreund getroffen“ oder „In diesem Restaurant hast du
mit deiner Familie deinen Geburtstag gefeiert“ automatisch in den Sinn kommen,
weiß ich, dass ich wieder zu Hause bin.
Ehrlich gesagt habe ich noch nie richtig Heimweh gehabt, weil ich bis vor kurzem
noch bei meiner Familie lebte und sie vorher sehr selten für eine längere Zeit nicht
gesehen habe.
Als ich jedoch einmal abends mit einer Mitfahrgelegenheit von Hamburg nach
Dresden gefahren bin, habe ich lange aus dem Fenster nach oben geschaut.
Während ich den dunklen Himmel mit den Sternen beobachtete, dachte ich an meine
Familie und habe angefangen leise zu weinen, da mir in diesem Moment klar wurde,
wie sehr ich sie vermisse.
133
Ich denke, Heimweh ist gut, weil es dir zeigt, dass du irgendwo hin- und dazugehörst
und weil du weißt, dass es da draußen jemanden gibt, dem du viel bedeutest. Dieses
Gefühl verbindet dich immer und überall mit deinem Ursprungsort - egal, wie weit du
von ihm entfernt bist.
Meine Mutter erzählte mir einmal die Geschichte eines alten Mannes, der vor langer
Zeit als Baby mit seinen Eltern aus China nach Vietnam einwanderte und durch sein
Leben dort praktisch zum waschechten Vietnamesen wurde. Die Jahre vergingen
und der alte Mann wusste, dass er bald sterben würde. Mitten in der Nacht machte er
sich trotz seines von Krankheit geschwächten Körpers auf die Reise nach seiner
Heimat. Wenige Stunden später fand ihn die vietnamesische Polizei - er starb an der
Grenze zwischen China und Vietnam. Solch eine Begebenheit etwa beweist
eindeutig, was für einen starken und unkontrollierbaren Einfluss der Heimatinstinkt
auf das Unterbewusstsein eines Menschen haben kann.
Ich persönlich empfinde es als großes Glück, von zwei so gegensätzlichen Kulturen
umgeben aufgewachsen zu sein. Man beginnt, die Dinge von einem anderen
Blickpunkt zu betrachten und nimmt aus beidem sozusagen „Das Beste“ mit, was für
einen selbst am wichtigsten ist. Zum Beispiel habe ich Werte wie Pünktlichkeit,
Toleranz, Umwelt und Gründlichkeit aus Deutschland - den hohen Stellenwert der
Familie, die einfache und schlichte Lebensart, den Respekt vor Autorität und die
Geselligkeit aus Vietnam.
Es gibt also Vieles, an denen beide Kulturen auseinandergehen und worin sie sich
wie Geschwister ähneln. Man muss eben nur herausfinden, welche Aspekte man für
ein gemeinsames und auch sein eigenes Leben in den Vordergrund stellen will,
damit ein Zusammenleben zustande kommt. Ich bin der Meinung, dass man von
jeder Kultur viel lernen und dadurch auch die Qualität der eigenen verbessern kann.
Durch das Leben mit meiner Familie und der deutschen Gesellschaft kam ich schon
sehr früh mit der deutschen und der vietnamesischen Sprache in Berührung. Wenn
ich im Kindergarten oder in der Schule war, habe ich Deutsch gesprochen und
daheim habe ich dann meinen Eltern auf Vietnamesisch erzählt, wie mein Tag war.
Während meiner Schulzeit habe ich noch drei weitere Sprachen gelernt, was mir
aufgrund meiner bilingualen Erziehung überhaupt nicht schwer fiel.
134
Ich kann mich noch ziemlich gut daran erinnern, wie ich mich früher während des
Abendessens oft mit meiner Schwester gestritten habe. Meine Eltern waren davon
natürlich überhaupt nicht begeistert, weshalb meine Mutter jedes Mal meinte: ,,Jetzt
streitet euch doch mal auf Vietnamesisch, damit Papa und ich auch was
mitbekommen.“ Daraufhin haben meine Schwester und ich ganz plötzlich mit dem
Streiten aufgehört und einfach weitergegessen, während mein Papa anfing herzhaft
zu lachen, weil er genau wusste, dass uns all die Beleidigungen und Schimpfwörter
nicht auf Vietnamesisch einfielen. Und weil er lachte, haben dann alle mitgelacht und
vergessen, böse aufeinander zu sein.
… Was die gesellschaftliche Einstellung insgesamt betrifft, bin ich der Meinung, dass
man sich nicht vor neuen Dingen verschließen und ein gesundes Maß an Offenheit
und Toleranz den anderen entgegenbringen sollte. Wer nicht bereit ist, Neues
kennenzulernen und sich dadurch als Mensch weiterzuentwickeln, der hat im Leben
schon verloren. Eigentlich sollte man sich nicht unbedingt als Dresdner, Sachse,
Deutscher oder Europäer bezeichnen - Weltbürger ist meiner Ansicht nach der beste
Begriff dafür.
Dao Ngoc Mai
Ich heiße Kassem Taher Saleh und bin 18 Jahre alt. Ich besuche zurzeit die 12.
Klasse des Beruflichen Gymnasiums für Gesundheit und Wirtschaft in Plauen. Ich bin
im Irak geboren und lebe seit 2003 in Deutschland. Meine Familie besteht aus drei
jüngeren Brüdern und meinen Eltern.
In meiner Freizeit bin ich sehr vielfältig und versuche mich für andere Menschen
einzusetzen. Ich bin Schülersprecher an meiner Schule und Kurssprecher an
verschiedenen Kursen in der Jahrgangsstufe 12. In der START-Stiftung bin ich
ebenfalls tätig und habe das „Verbundsprecher“-Amt zu leiten. Ich helfe anderen
Migranten, indem ich sie in verschiedenen Ämtern als Dolmetscher begleite oder ihre
Formulare ausfülle. Ich bin auch sportlich aktiv und spiele Fußball bei 1.FC Wacker
Plauen.
Ich lebe in der vogtländischen Hauptstadt und fühle mich sehr wohl in Plauen. Meine
Heimatstadt ist sehr kulturell und die meisten Menschen respektieren mich und
135
meine Familie. In der Schule habe ich einen sehr guten Ruf und bin sehr hilfsbereit
gegenüber den Lehrern und den Schülern. In Plauen fühle ich mich zu Hause, wenn
der Umgang mit anderen Menschen offen und freundlich verläuft. Meine Familie und
ich sind sehr froh, dass wir in Plauen leben und ein solches Umfeld haben.
Im Oktober 2011 waren wir zum ersten Mal nach knapp neun Jahren wieder im Irak.
Die Freude war sehr groß. Ich spüre an den Feiertagen Heimweh, weil meine
Familienangehörigen und das Zusammensein mit ihnen in diesem Moment fehlen.
Ebenfalls verspüre ich Heimweh, wenn meine Freunde über ihre Großeltern
sprechen. Natürlich fehlen die Familienmitglieder bei den Geburtstagen. Heimweh
drückt das Gefühl aus, dass man ein Mensch mit zwei Heimaten und zwei Identitäten
ist, die letztlich in einander verschmelzen, es zeigt auch, dass zu Hause sein an
mehreren Orten möglich ist und dass das Leben nur bedingt in nationale Grenzen
passt.
Die Sprachen bauen Brücken. Sie bieten mir die Möglichkeit Grenzen zu überwinden
und zu vermitteln. Es ist auch denkbar, später im Berufsleben zum Beispiel bei
internationalen Wirtschaftsverbindungen mitzuhelfen und so internationale
Kooperationen mit zu gestalten.
Neben den oben genannten Möglichkeiten kann man auch auf lokaler Ebene
Menschen zusammenbringen, da man einen guten Kontakt zu zwei Welten hat.
Wissen über die zwei Kulturen verschafft einen erweiterten Horizont und kann so
helfen Vorurteile und Missverständnisse abzubauen. Auf dieser Basis kann der
Erfahrungsaustausch beide Seiten befruchten und auch ich kann immer etwas dazu
lernen.
Die Asylpolitik sollte auf Integration gerichtet sein und nicht auf Ausgrenzung.
Verständnis zwischen Menschen sollte ab dem Kindergartenalter und bis ins
Erwachsenenalter durch entsprechende Projekte und Gesetzte gefördert werden. Für
Integration sollte im großen Stil geworben werden und es sollten immer wieder
Projekte initiiert werden. Das Asylverfahren soll in einem kürzeren Abstand
entschieden werden.
Die Bildungssituation für junge Migranten kann vor allem dadurch verbessert werden,
dass nicht nur ein sofortiger Schulbesuch ermöglicht wird, sondern auch dadurch,
136
dass dieser Schulbesuch von Anfang an durch geeignete Unterstützung von
Fachleuten intensiv begleitet wird. Nur so kann verhindert werden, dass junge
Migranten gleich am Anfang den Anschluss verlieren. Diese Unterstützung muss
über die Fördermaßnahmen in der Schule (Deutschkursklasse) hinausgehen. Es ist
zum Beispiel wichtig, einerseits den Eltern durch interkulturell geschultes Personal
die Bedeutung des Schulerfolgs für das Leben in Deutschland zu vermitteln und
andererseits durch intensive praktische Begleitung den jungen Migranten die
notwendigen Kompetenzen in die Hand zu geben.
Kassem Taher Saleh
Ich heiße Meryem Sialah Salman Hamdi. Ich wurde am 7.8.1997 in Holland
(Emmeloord) geboren und meine Familie stammt aus der Türkei. Ich wohne jetzt in
Meißen. Ich besuche die Pestalozzi - Mittelschule Meißen und gehe in die 8. Klasse.
Mein Traumberuf ist, Krankenschwester zu werden. Seit der ersten Klasse träume
ich schon davon. Jetzt will ich meine Chance nutzen und meinen Beruf erlernen. Ich
liebe es Menschen zu helfen, sie wieder gesund zu sehen und mir macht es auch
sehr viel Spaß in Gruppen zu arbeiten. Ich mache auch gerne Witze, bringe meine
Freunde zum Lachen und
ich bin wirklich froh, dass ich solche Freunde habe. Ich bin so ein Mensch, der
selbstbewusst
ist und auch seine Fehler einsieht. Egal was ich falsch mache, ich entschuldige mich
bei jedem.
Ich habe auch einen weichen Kern, wenn es mir schlecht geht, rede ich mit meiner
besten Freundin. Ich habe ein sehr großes Vertrauen zu ihr. Sie spielt auch mit mir
Handball.
Handball ist so eine Sportart, die ich sehr liebe. Diese Sportart gibt mir alles. Es sind
so viele Menschen, die mit mir spielen und mich gleichzeitig zum Lachen bringen.
Das ist einmalig, so etwas muss man einfach lieben. Ich male auch gerne: ich war
früher die Beste und bin es glaube immer noch. Ich war früher in der
137
Jugendkunstschule. Es hat mir Spaß gemacht, aber dann habe ich gemerkt, dass
eine Sportart mich noch mehr inspiriert hat.
Ich habe vor fünf Jahren eine Nachhilfelehrerin kennen gelernt, Frau F.. Ich kann sie
nicht beschreiben, aber sie ist einzigartig, hilfsbereit und sehr nett. Sie hilft mir, wo
sie kann. Sie ist dazu noch meine Patentante, einfach nur Klasse! Ich will hier in
Meißen bleiben, der Ort ist wie mein Heimatort. Ich habe Freunde, Familie und nette
Bekannte um mich herum, was brauche ich mehr? Ich will nur, dass es meiner
Familie gut geht, das sie problemlos leben kann, dass wir uns wohl fühlen ohne den
ganzen Stress um uns herum, das wäre mein Wunsch. Es ist selber für mich nicht
einfach, wenn ich jemanden traurig sehe. Ich fühle mit denjenigen mit und helfe dort,
wo ich nur kann.
Ich liebe es Musik zuhören. Ich liebe das Ferienlager (in Filzteich, Schneeberg in
Erzgebirge).
Dort habe ich viele Freunde kennen gelernt, es war wunderbar! Ich wünsche mir
wieder dorthin zu gehen. Es beginnt in den Sommerferien und es geht 10 Tage lang.
Man kann verschiedenes machen, jeden Tag gibt es etwas zu erleben. Ich möchte
auch gerne die Dinge wieder erleben, die mir besonders viel Spaß machen.
Als ich in die erste Klasse kam, konnte ich kein Deutsch. Es war eine harte Zeit für
mich, Wörter zu verstehen, die ich noch nicht einmal kannte. Es war nicht einfach für
mich, aber mittlerweile habe ich alles im Griff! Die zweite, dann dritte und vierte
Klasse habe ich zum Glück geschafft. Es standen auch viele Hortlehrer hinter mir
und haben mir alles beigebracht (Wörter, Gegenstände…)
Meine kulturellen Wuzeln liegen in der Familie. Ich bin froh, dass ich die
Muttersprache Arabisch kann. Es ist keine leichte Sprache, aber ich finde es schön,
wenn man drei Sprachen sprechen kann.
Zum Schluss möchte ich mich noch einmal beim Freistaat Sachsen dafür bedanken,
dass er meiner ganzen Familie in der schwierigen Zeit geholfen hat.
Meryem Sialah
138
Ich bin Thuy My Pham, 18 Jahre alt, geboren in Dresden, Abiturientin am St. Benno
Gymnasium Dresden und leidenschaftliche Musikerin.
Ich bin zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen, jedoch kann ich meine
vietnamesischen Wurzeln nicht wegdenken. Der Begriff Heimat hat für mich etwas
mit Liebe und Geborgenheit zu tun. Und wer kann einem mehr Liebe und
Geborgenheit schenken als seine Familie und Freunde? Ich fühle mich sowohl in
Deutschland als auch in Vietnam zu Hause und betrachte beide Orte als meine
Heimat.
Um ehrlich zu sein fühle ich mich nur in meinem Elternhaus in Dresden „zu Hause“.
Hier finde ich stets Zuflucht, Liebe und alles was man braucht – eine Familie. In
Dresden fühle ich mich am wohlsten.
Heimweh verspüre ich, wenn ich eine längere Zeit nicht zu Hause gewesen bin, z.B.
wenn ich für mehrere Wochen im Urlaub bin, sprich über fast einem Monat. In diesen
Situationen habe ich Heimweh nach Dresden. Doch Heimweh nach Vietnam
verspüre ich fast permanent, wenn ich in Deutschland bin. Man möchte einfach mit
der gesamten Familie zusammen sein.
Ich glaube, ich habe manchmal auch das Bedürfnis danach, außerhalb dieses
“Kulturmixes“ zu leben. So könnte ich nur die vietnamesische Kultur ausleben. Das
Gute am Heimweh ist, dass man seine Wurzeln nicht vergisst und sich stets im
Klaren ist, woher man kommt.
Ich denke, es ist Migrationskindern in Deutschland eine sehr große Bereicherung in
zwei unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen zu sein. Ich wurde bilingual erzogen
und kann mittlerweile Vietnamesisch und Deutsch fließend sprechen, lesen und
schreiben. Ich denke, das ist von Vorteil, in unserer heutigen Gesellschaft mehrere
Sprachen sprechen zu können. Zumal sind Sprachkenntnisse in der Schule noch
erweitert worden, worüber ich sehr dankbar bin. So denke ich, dass wir
vietnamesische Schüler hier in Deutschland uns glücklich schätzen können, vom
wunderbaren deutschen Bildungssystem, speziell sächsischen Bildungssystem, zu
profitieren. Solch eine gute breitgefächerte Bildung wird so gut wie keinem Schüler in
Vietnam geboten. Was auch von Vorteil für uns Kinder in Deutschland mit
Migrationshintergrund ist, dass wir schon von klein auf zwei Kulturen kennen und in
zwei Kulturen leben. Ich denke, dass wir unser Bundesland Sachsen mit unseren
139
verschiedenen kulturellen Wurzeln einfach viel bunter gestalten und mehr Leben und
Kultur hineinbringen, seien es traditionelle Feste, wie z. B. das vietnamesische TetFest oder das chinesische Neujahrsfest, bei denen unseren deutschen Freunden die
asiatische Kultur in Form von Gesangs- und Tanzdarbietungen näher gebracht wird,
oder seien es die von der Stadt veranstalteten Interkulturellen Tage, bei denen alle in
Dresden lebenden Kulturen vorgestellt werden. Auch ich bin mit 4 Jahren schon aktiv
im Verein der Vietnamesen in Dresden tätig gewesen und versuche mit meinen
musikalischen Beiträgen unsere traditionellen Feste interessant zu gestalten.
Ebenfalls habe ich im Oktober 2010 ein Benefizkonzert für Agent-Orange-Kinder in
Vietnam mit tatkräftiger Unterstützung von Freunden mit vietnamesischen, deutschen
als auch italienischen Wurzeln veranstaltet. Heimweh zu haben ist etwas, was man
für sich fühlt. Doch wenn man für seine Heimat etwas Gutes tut, wird einem ein Stück
Heimweh gelindert und man kommt seiner Heimat noch ein Stück näher.
Damit man sich in Sachsen zu Hause fühlen kann, gleichgültig woher man kommt,
braucht man ein Umfeld, in dem man Geborgenheit und Liebe von seinen engsten
Mitmenschen erfahren kann, besonders von seiner Familie. Außerdem wenn man die
eigene Kultur und Sprache in Sachsen ausleben und pflegen kann, z.B. durch die
traditionellen Feste, lebt man in der Gemeinschaft mit seinen Landsleute und kann
sein „zu Hause“ aufbauen.
Letztendlich kann ich sagen, dass das „zu Hause fühlen“ sehr viel damit zu tun hat,
gewohnte Dinge und enge Bekannte um sich zu haben.
Thuy My Pham
Hey, wir sind Ysra und Zubeida Abdul Karim. Wir kommen ursprünglich aus Syrien
und sind schon seit ca. 14 Jahren hier in Deutschland.Wir beide sind in der syrischen
Stadt Dayr Azzor geboren.
Ich, Ysra Abdul Karim, bin 19 Jahre alt und mache zurzeit eine Ausbildung zur
technischen Assistentin für Informatik Profil Mediendesign. Danach möchte ich gerne
mein Fachabitur in Richtung Gestaltung machen und anschließend studieren. Zu
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meinen Hobbys zählen unter anderem das Fotografieren von Natur und Lebewesen
und - nicht zu vergessen - das Bearbeiten der Bilder.
Ich, Zubeida Abdul Karim, bin 17 Jahre alt und besuche zurzeit die 10. Klasse der
Johann-Gottlieb-Fichte Schule in Mittweida und werde sie voraussichtlich Ende Juli
abschließen und mit meinem Abitur beginnen. In meiner Freizeit lese ich sehr gerne
Romane und treffe mich mit meinen Freunden.
… Unsere Heimat Dayr Azzor liegt im Osten Syriens und ist eine beliebte
Touristenstadt, da viele historische Denkmäler vorhanden sind. Wir können uns aber
leider nicht viel an unsere Heimat erinnern, da wir noch sehr klein waren, als wir mit
unseren Eltern nach Deutschland gekommen sind.
Heimweh bekommen wir besonders stark, wenn unsere islamischen Feste stattfinden
und wir sie ohne unsere Familie feiern müssen.
In Sachsen fühlen wir uns immer dann wie zu Hause, wenn wir unsere Freunde um
uns haben und etwas mit ihnen unternehmen können. Sie geben uns das Gefühl
dazuzugehören.
Dadurch, dass wir unsere Wurzeln in zwei verschiedenen Ländern haben, ist es sehr
vorteilhaft für uns, da wir uns zwischen zwei Kulturen und Traditionen befinden und
von jedem etwas lernen können. Außerdem erlernen wir mehr als nur eine Sprache
und können mit allen kommunizieren.
Damit sich alle Ausländer in Sachsen wohl fühlen, sollte es mehr Projekte geben, bei
denen sich Ausländer und Deutsche näher kommen können, um Vorurteile
abzuschaffen.
Noch etwas zur eigenen Sache:
Während meiner Ausbildung habe ich für 3 Monate an der Hochschule Mittweida im
Bereich Medien mein Praktikum absolviert. Dort durfte ich einen Kurzfilm über die
Stadt Mittweida drehen. Meine Idee dazu war es, die Ausländer dieser Stadt an
verschiedenen Stellen in zwei kurzen Sätzen berichten zu lassen, warum sie
Mittweida lieben.
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Zum Beispiel sagten einige, dass sie den großen Sportplatz mögen, weil man hier mit
seinen Freunden Sport machen kann oder den Markt, weil sie hier alles bekommen,
was sie brauchen. Andere meinten, dass die Schulen hier besonders schön sind, weil
die Lehrer den Unterricht interessant gestalten. Insgesamt sind alle doch glücklich,
hier wohnen zu können. Der Name des Filmes heißt „Mittweida International“.
Ysra und Zubeida Abdul Karim
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Impressum
Herausgeber
Der Sachsische Auslanderbeauftragte
Bernhard-von-Lindenau-Platz 1
01067 Dresden
Postanschrift:
Postfach 120705
01008 Dresden
Telefon: 0351 493 5171
Telefax: 0351 493 5474
[email protected]
www.offenes-sachsen.de
V.i.S.d.P: Dr. Ute Enderlein
Mitarbeit:
Dr. Ute Enderlein, Maria Friedrich, Prof. Dr. Martin Gillo,
Markus Guffler, Anke Hering, Christiane Krebs,
Hang Thanh Phung, Maria Richter, Jochen Vierheilig
Beitrage von Gastautoren sind namentlich gekennzeichnet.
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