14. Kapitel Cross Tree Ich war tatsächlich tief eingeschlafen - ein Klopfen an der Tür schreckte mich auf. Es war vor dem Fenster immer noch hell, aber Mittag vorbei, und es herrschte in meiner Kammer bereits das Licht der von den Hügeln herabsteigenden Dämmerung dieses Wintertages, demnach etwa vier Uhr des Nachmittags. Ich hatte, als ich mich vor Stunden gebettet, nur die obere Bekleidung ausgezogen, also warf ich mir, als ich mich erhob, flüchtig den Schafspelz um, ging zur Tür und öffnete. Draußen stand das eine Zwillingsmädchen des Wirtes und schlug, als sie meiner ansichtig wurde, schicklich die Augen nieder. „Bist du dieselbe, die mir gestern dies Zimmer gezeigt?“ erkundigte ich mich, vermutlich in einer Mischung aus Schlaftrunkenheit und Freundlichkeit, woraufhin sie eifrig nickte. „Und wie heißt du?“ fragte ich. „Margo“, flüsterte sie. „Nun, Margo“, sagte ich, „und was führt Dich zu mir?“ Da erst sah ich, daß sie einen kleinen Zettel in der Hand hielt, den sie mir jetzt vorsichtig hinreichte. Ich nahm ihn, faltete ihn auseinander und las nur zwei Worte, aber in einer Schrift, die mir innig bekannt geblieben seit jenem Tage, als mir Fiona de Cato jenes wunderbare Gedicht übermittelt. Ich las nur zwei Worte, und die lauteten: „Cross Tree“. Ich sah Margo an, während ein ungeheurer Tumult in mir auftobte. „Wer hat dir das gegeben, Kind?“ „Westpoint, Sir“, sagte sie verschüchtert. „Ah ja“, sagte ich, augenblicklich etwas ernüchtert. „Und wer oder was ist Westpoint?“ „Ein Knabe oben aus der Stadt, der für alle Leute Botendienste macht“, gab sie Auskunft. „Ah, ich verstehe“, murmelte ich. - Die Botschaft war also durch mehrere Hände gegangen, aber dieser Westpoint oder ein anderer vor ihm hatte sie unmittelbar von Auberge empfangen, wußte also, wo sie war – andererseits - war das nicht sowieso ganz gleich, da mich der Zettel doch unmittelbar zu ihr führen würde? „Cross Tree“ war der Treffpunkt, den sie, den Auberge mir genannt … Sie hatte Ihr Versprechen „Morgen …“ wahrgemacht. In mir mischten sich zu gleichen Teilen Unglaube und ungeheurer, tanzender, bebender Triumpf. War ich nun am Ende meines ach so langen Weges, am Ziel? „Ich danke dir“, stammelte ich und gab dem Mädchen Margo einen weiteren Penny, worauf sie dankbar lächelnd knickste und sich zurückzog. Ich schloß die Tür und schlüpfte, so schnell ich vermochte, in meine Kleidung, ich warf abermals den Schafspelz über, ging hinaus, und schon die nächste Minute sah mich die Straße hinunterlaufen, die ich frühmorgens zur Kirche schon einmal genommen. Ich wählte meine Schritte in einer Geschwindigkeit, die mich, so hoffte ich, gerade noch nicht auffallen lassen sollte - aber schon von weitem erkannte ich, daß sie nicht da war. 298 Der Treffpunkt unter der Ulme war leer, auch oben, natürlich, auf der Terrasse im Baum, bewegte sich nichts. Ich trat näher und warf einen Blick hinter die Säulen von Alms House, aber auch hier hatte sie sich nicht versteckt. Ich trat zurück, und meine Seele wollte in schiere Verzweiflung verfallen. Sollte dieser Teufel in Lebendgestalt, Sir Enid Luciter, sie mir abermals in letzter Minute vor den Augen weggefischt haben? Wunders genug, dachte ich, daß sie - für eine allzu kurze Zeit - so weit herausgekonnt …? Das Firmament über den Hügeln im Westen war urplötzlich aufgerissen, die Sonne schon untergegangen, aber dort glühte ein roter Himmel wie Blut, und die Wolken, von unten beleuchtet, zogen wie glühende Galleonen ihre Bahnen auf Moretonhampstead zu. Ich trat im Herzen erschüttert auf die Stufen, die zur Kirche führten. Selbst der graue Granit des alten Gotteshauses glänzte im Lichte des scheidenden Tages, als ob er in der nächsten Sekunde schmölze. Ich stieg langsam unter den Bäumen die Treppe hinauf und näherte mich dem Eingang. Die Gräber, welche nicht im Schatten lagen, sahen aus, als ob sie sich sogleich im blutüberströmten Widerscheine öffnen wollten. Ich zog die schwere Tür der Pfarrkirche mit der hohen Klinke vor mir auf und trat ins Dämmernde hinein. Ich wußte, daß es noch Zeit war bis zur Abendandacht und daß ich hier eine kleine Weile würde ungestört verbringen können, allein mit mir und mit Gott, den ich befragen wollte, warum er mich so erbarmungslos prüfte. Ich durchschritt langsam den großen, leeren, bereits in halber Dunkelheit liegenden Innenraum in Richtung auf den goldfunkelnden Altar, und ich hatte wohl schon mehr als den halben Weg zurückgelegt, als die Knie drohten, unter mir wegzusinken und ich wankend und ungläubig stehen blieb. Halb zur Linken, an einer der ersten Säulen, vom Altare aus gesehen, unterhalb der Statue des Heiligen Andreas, kniete eine Frau, versunken ins Gebet, und obwohl sie ein Tuch um ihr Haar geschlungen trug, in eine schwarze Mantille gehüllt war und mir den Rücken zuwandte, erkannte ich sie umgehend und sah, daß sie es war. Sie war es, und sie war tatsächlich gekommen. Ein kostbares Wunder … wahrgeworden … Dort, unter dem Andreaskreuz mit der Statuette, kniete mit gesenktem Kopf … Auberge. Ich stand dort, lange, lange … dann zog ich mich auf leisen Sohlen rückwärts langsam in den Schatten der rechten Säulenreihe zurück und wartete, daß sie ihre heilige Verrichtung beendet haben würde. Und dies geschah nun auch nach einiger Zeit, ich weiß nicht, wie lange es in Wirklichkeit gewährt – sie war so versunken ... Und es war mir auch vollständig gleich, offen gesprochen, es hätte liebend gerne auch Tage dauern mögen, und genauso lange hätte ich dort still hinter ihr verharrt. So lange sie nur da war, und ich in ihrer Nähe sein konnte … Dann aber, in der Tat, schlug sie ein Kreuz auf ihrer Brust, erhob sich auf ihre zarten Füße, sie seufzte einmal tief auf, sah sich flüchtig um, und, ohne mich im Schatten zu erblicken, ging sie gesenkten Hauptes an mir vorbei auf die Kirchentüre zu. Nun trat ich hervor und sprach gedämpft das erste Wort – trotz alledem schien es mir, als ob es im stillen Kirchenraume wie eine Glocke nachhallte: „Auberge …“. Ich sah sie zusammenzucken und sich umdrehen, sie fuhr nicht herum, wie im Todesschrekken, aber ihr Antlitz, als sie sich umwandte, trug die Züge plötzlicher Angst. Dann erkannte sie mich - und die Furcht verging und wich … nein, keinem Lächeln, aber einem sanften, herrlichen Ausdruck. „Auberge“, wiederholte ich flüsternd, und nun traten wir beide über eine kurze Entfernung aufeinander zu, blieben in zwei Schritten Abstand voreinander stehen. Ich bemühte mich, nicht zu wanken oder sonst eine Form von Schwäche zu zeigen … Der Moment, den ich seit Monaten herbeigesehnt – er war nun da, endlich da, und nun stand ich 299 vor ihr und wußte nicht, was ich sagen oder tun sollte – ich wußte es nicht. „Auberge“, flüsterte ich statt dessen zum dritten Mal. Sie trug unter der schwarzen Mantille, das sah ich, das nämliche, lange, weiße Gewand, das sie in der Nacht zuvor getragen, welches solcherart, wie sich zeigte, natürlich kein Nachthemd war, wie ich geglaubt. Sie war ohne Handschuh und Hut, hatte lediglich ein einfaches, wollenes Tuch, das einer Magd, um ihr volles, dunkles Haar geschlungen. Sie blickte mich an. Mit ihren Augen, von denen ich in der fallenden Dämmerung des weiten Kirchenraumes nicht die Farbe erkennen konnte, blickte sie mich an und erforschte vorsichtig, zurückhaltend mein Gesicht. Um uns war jene Stille, wie man sie nur in Kirchenräumen antrifft. Schließlich seufzte sie leise und nickte. Es war kaum ein Nicken, nur eine Bewegung des Kopfes, dann schlug sie die Augen nieder. Und dann, und es durchfuhr mich wie ein Feuerstoß, fühlte und sah ich, wie ihre Hand langsam nach der meinen griff, ich fühlte plötzlich an meiner Hand die Wärme ihrer Haut, ihres Blutes, und ich hörte ich sie sprechen, es war das erste Mal im Leben, daß ich ihre Stimme vernahm. „Komm“, flüsterte sie, und sie führte mich langsam und sorglich an der Hand hinüber zu der Statuette des Andreas, ich folgte ihr willig - sie hatte nicht wissen können, daß ich sie zuvor bereits beobachtet, als sie schon dort gewesen - und dort sank sie langsam in die Knie und nötigte mich so, der sie mich sanft an der Hand hielt, ebenfalls mit ihr hinabzugehen, und so knieten wir wie Geschwister nebeneinander auf dem kühlen Steinboden der Pfarrkirche vor dem Abbild des Heiligen. Sie blickte mich mit ihren rätselvollen Augenlichtern an und bat mich mit diesen Augen, indem sie sie nach oben und zu dem Heiligen kehrte, daß ich ihn auch anschauen sollte, und ich tat, wie sie mich mit ihren Blicken gelehrt. Und ich sah das von vielen Darstellungen und Abbildern vertraute bärtige, milde und weißhaarige Antlitz über mir, ich sah den Strick, sah den Fisch, den er demütig in der Hand hielt, und seine bloßen Füße, und ich hörte dazu ihre Stimme, wie ich noch nie zuvor eine Stimme vernommen, nun, als sie sprach, eine für diesen kleinen Leib überraschend dunkle, aber eine so weiche, wunderbare Stimme, und sie sprach verhalten, fast flüsternd. „Das ist der heilige Andreas“, sagte sie zart. „Er war der erste Jünger des Herrn, weißt du, der erste, den ER sich erwählt. Er war vorher ein Jünger des Johannes gewesen, er war Fischer und sein Bruder ist Petrus. – ‚Es war aber um die zehnte Stunde’, steht geschrieben. ‚Einer von den zweien, die es von Johannes hörten und Jesus nachfolgten, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das ist verdolmetscht: der Gesalbte, und führten ihn zu Jesus. Da ihn Jesus sah, sprach er: Du bist Simon, des Johannes Sohn; Du sollst Kephas heißen, das ist verdolmetscht: Fels.’“ Ich hatte heute in dieser Kirche bereits eine Predigt gehört, aber wie anders war dieses hier nun! Ihre Hand drückte sacht und langsam die meine. Auf dieses Signal hin sah ich sie an, und ich nahm wahr, daß sie mir direkt in die Augen blickte. Sie sprach in tiefen Ernst, und mir wurde klar, daß dies es eigentlich war, woran ihr lag, nicht an dem Heiligen – dies war es, worum es ihr ging, und der Heilige nur ein Mittel, sich mir verständlich zu machen. „Willst Du“, fragte sie verhalten, „willst du mir schwören, daß du mir nichts Übles tun wirst, was immer in der Zukunft geschieht, willst du schwören beim heiligen Andreas, - sondern daß du zu mir halten wirst, auf meiner Seite stehen und mir helfen? Wirst du meinen Weg begleiten und für mich da sein, wann immer ich bedroht bin vom Bösen und Menschen, die mir schaden und mich vernichten wollen, wann immer ich in Not bin und dich benötige, mein Freund? Wirst du das?“ fragte sie dringlicher, „und willst Du mir das wirklich schwören?“ 300 Meine Stimme klang rauh, und sie hallte in dem weiten, dunkelnden Gewölbe nach, als ich sagte: „Ja, ich schwöre.“ Und ich fühlte, wie sie nach einer kleinen Pause dankbar meine Hand drückte, wie sie mich ansah, und, wenn auch nicht lächelte, so doch immerhin etwas Ähnliches um Ihre Lippen schien. „Mein Freund“, flüsterte sie. Sie richtete ihre Augen wieder auf den Heiligen, ich beobachtete sie von der Seite, ohne daß sie es bemerkte, und ihr Gesicht bekam den Ausdruck tiefsten Schmerzes. Ihre Stimme, als sie sprach, blieb im Grundton der Trauer. Zutiefst litt sie durch, was sie erzählte, und sie sprach im leisen, einfachen Ton, sprach gänzlich einfache Dinge … „Er wurde von Kaiser Nero ans Kreuz geschlagen“, flüsterte sie, „jedoch nicht an eines wie unser HErr, sondern, um ihn zu lästern und zu schänden, wurde er an roh zugeschnittene und schräg zusammengebundene Äste gebunden, an das Schragenkreuz für Märtyrer, jenes Kreuz, das seit jenem Tage nach ihm heißt. -- Heute genau in zwei Wochen, auch auf den Sonntag, ist sein Tag, der 30. November, und seine liturgische Farbe ist rot, die des Blutes. -- Ist es nicht sonderbar?“ fragte sie mich, ohne wirklich Antwort zu heischen, „ist es nicht sonderbar, daß sogar die Flagge unseres ehrwürdigen Landes Gebrauch vom blutigen Andreaskreuz macht?“ Ihre Augen vertieften sich erneut in das Antlitz des Heiligen. „Wußtest du, was nach seinem Tode mit ihm geschah?“ fragte sie, und ich bemerkte, wie ihr zarter Körper schauderte. „Seine Gebeine wurden dreihundert Jahre nach seinem Tod auf Dekret Kaiser Konstantins nach Konstantinopel überführt, doch auch dort fand er die ewige Ruhe nicht. Fast tausend Jahre später, während des vierten Kreuzzuges, wurden sie geraubt und über Patras in Griechenland in die Seerepublik Amalfi gebracht, angeblich, um sie vor den Türken zu schützen. Dort wurden dem Leichnam - als auch die Eroberung Amalfis, abermals durch die Türken, drohte - auf Geheiß des Papstes Pius II., Kopf und Arme abgetrennt. Der Kopf wurde nach Rom in den Petersdom gebracht, wo er gebettet blieb, ein Arm gelangte so nach Deutschland, ein anderer nach Schottland, wo er in der St Andrews-Kathedrale in der Grafschaft Fife aufbewahrt wurde – bis die Kathedrale in der Reformation zerstört wurde. Keiner weiß, wo die Reliquie geblieben ist, vermutlich wurde sie restlos vernichtet. Ich habe die Ruinen der Kathedrale selbst gesehen, ich war einmal dort, es war eine wunderbare Kirche direkt am Meer …“ Sie machte eine Pause, in der ich kaum zu atmen wagte. „-- Der Kopf“, fuhr sie schließlich fort, „blieb in Rom - bis selbst er im 16. Jahrhundert auch noch einmal zerteilt ward. Der eigentliche Schädel verblieb im Petersdom, der großen Kirche, die seinem bedeutenderen Bruder geweiht ist, und der Hinterschädel ist wohl noch heute dort, aber der Teil, der das Gesicht gewesen, wurde zurück nach Griechenland, nach Patras gegeben, von wo er, dieser Mensch Andreas, einst hergekommen …“ Ich sah, fühlte, wußte das Mädchen Auberge neben mir, ihr verzauberndes Gesicht, ihren delikaten Leib, ihre zutrauliche Seele, und während der ganzen Zeit, als sie dies sprach, all diese Minuten und Aber-Minuten, die mir die wunderbarsten meines bisherigen Lebens waren, hielt sie meine Hand umfaßt … ihre Augen irrten eine flüchtige, trauliche Sekunde zu mir her, bevor sie sie wieder innig auf die Stauette an der Säule richtete. „Seit jenem Besuch in den Ruinen der Kathedrale am Meer“, flüsterte sie, „vor vielen, vielen Jahren, wußte ich, das St. Andrew der Heilige war, der für mich da war, der mich verstehen würde, wann immer ich ihn benötigte - er, der bei den Geschändeten und Gequälten war und sie verstand, er, dessen Leichnam sogar … ruhelos geblieben und in Stücken durch die Welt getrieben ward, bis er vernichtet war und verschwand … er würde mich verstehen … er hat 301 mich immer verstanden … Viele Jahre habe ich ihn erforscht, habe gelernt und gelesen und mir erzählen lassen, was ich über ihn nur erfahren konnte, weil er mich verstand …“ Ihre Stimme versiegte, und einen Augenblick glaube ich, daß sie sich verlor, ihr selbst und mir auf immer verlor, und mich kam Furcht davor an, aber sie kehrte zu mir zurück, blickte mich an mit ihren holden Augen, und jetzt lächelte sie gar - das erste Mal, daß ich deutlicher ein Lächeln auf ihrem Antlitz erkannte, ein Ausdruck, der mich unsterblich zu ihr hingezogen hätte, selbst wenn ich sie bislang noch nie zuvor gesehen. Sie war das Bild, so ganz das Bild, das mich einstmals getroffen wie ein Blitz, meine nackte Io, halb und schrecklich verwandelt zur Färse, und doch so viel mehr als dies, und jetzt war sie köstlich hier, hier bei mir, in dieser Kirche, warm und menschlich und ein Wesen aus Fleisch und Blut, und ich fühlte ihre anmutige, blutdurchpulste Hand in der meinen. „Mein Freund“, wisperte sie, „mein wahrhaftig leibgewordener heiliger Andreas. Ich habe dich nur einmal gesehen, als du hinter der Kutsche hergerannt, damals in London, und gestern am Fenster der Herberge, hier. Was weißt Du von mir? - Woher weißt Du, wie ich genannt werde? - Und warum folgst Du mir? - Warum folgst du mir überhaupt, als ob Du mir helfen könntest, als ob Du dazu bereit wärest, warum, aus welchem Motiv, als ob du wüßtest, was mit mir geschieht? – Was geschieht denn mit mir? --- Ich weiß nicht einmal Deinen Namen“, das Lächeln war erstorben, aber sie hielt immer noch meine Hand. „Ich weiß doch gar wohl“, murmelte sie, „daß du nicht der heilige Andreas bist, mein Freund ...“ Eine Pause entstand. „Mein Name ist Domenic Holland“, sagte ich dann rauh, „verzeih, daß ich dies nicht vorher erwähnt“, - und sie, die mich wieder anblickte, nickte mir langsam und verloren zu wie ein Kind. „Domenic Holland“, wiederholte sie leise mit ihrer dunklen, samtenen, weichen Stimme, so als ob sie eine Speise zum ersten Male koste, die fremd und süß und sonderbar war. „Domenic Holland …“ Sie sah mich an. „Ich weiß nicht, Domenic Holland“, sprach sie, „was du für mich getan --- oder warum du es getan, aber ich spüre, daß du mir gut willst, und dafür danke ich dir …“ Ich habe es geschworen, Auberge, daß ich dir gut will, dachte ich bei mir, ich habe es doch gerade erst geschworen - und ich hätte, ohne zu zögern, für dich noch viel mehr getan und geschworen … Sie seufzte und blickte nieder auf die Stelle, wo ihre Hand die meine hielt. „Sage mir: Woher wußtest du meinen Namen?“ fragte sie. „Du hast mich mit ‚Auberge’ angerufen …“ „Das ist eine lange Geschichte“, entgegnete ich. Abermals glitt die Andeutung eines Lächelns über ihr Gesicht. „Oh, das dachte ich mir wohl, Domenic Holland“, meinte sie sinnend, „daß es eine lange Geschichte sei, aber glaubst du nicht, daß ich sie trotzdem sehr gerne hören möchte?“ „Gewiß“, gab ich zu, „das ist nur natürlich - und ich würde sie auch gerne erzählen, Auberge. Ich weiß nur nicht, ob wir jetzt die Zeit dazu haben … und ob es nicht unendlich viel Wichtigeres zu besprechen gäbe …“ Sie blickte mich unverwandt an, dann schwand mit einem Mal alle Freude aus ihrem Gesicht, und sie nickte langsam. „Ich verstehe“, sagte sie tonlos, „… und ich glaube, du hast vermutlich recht, mein Freund … Domenic Holland … ich habe diesen Namen schon gehört.“ „Wo?“ fragte ich überrascht. „Wann?“ Sie nickte abermals ganz schwach, mit der sonderbaren, traurigen, kaum wahrnehmbaren Bewegung, die ihr eigen war. 302 „Ich werde mich besinnen, mein Freund, und es dir dann sagen“, versprach sie. „Ganz gewiß ...“ Sie ließ meine Hand los, und mir war eine schreckliche Sekunde, als ob ich alleingelasssen worden sei in der Welt. Gleichzeitig vermeinte ich noch die Berührung ihrer lebendigen Haut in meiner Handfläche und an den Fingern zu spüren. Ich war ein anderer Mensch, als sie mich losließ, aber ich bemerkte sogleich, daß dies nicht in schlechtem Sinne von ihr gemeint gewesen war. „Komm“, wisperte sie das Wort, wie ganz zu Beginn unserer Bekanntschaft. Sie hatte zum Hauptportal hinausgehen wollen, jetzt steuerte sie eine kleinere Tür auf der Ostseite an, ich ging ihr hinterher. Ihr fließender Gang hatte etwas von einem Gleiten. Sie langte an der geduckten Pforte in dem dicken Mauerwerk an, sie prüfte die Klinke, die Tür ließ sich öffnen, und sie schlüpfte mir voraus, ich folgte ihr nach. Draußen lag der Friedhof in den sinkenden Schatten. Das Licht hatte, während ich darinnen gewesen, spürbar nachgelassen, das Sonnenglühen war von den Wolken verschwunden, es herrschte ein Grau wie im Totenreiche selbst. In diesem lichtlosen Grau schwebte sie vor mir zwischen den Grabsteinen dahin wie ein Schatten, mit suchenden Blicken und unhörbarem Schritt. An einem blieb sie stehen, sie vergewisserte sich, strich vorsichtig mit den Fingern über den Namenszug, nickte mich an und winkte mich näher. „Sieh …“ wisperte sie. Ich schaute hin. Es war ein französischer Name, der mir nichts sagte, der Name eines Mannes, und jetzt, als ich genauer hinsah, bemerkte ich auch auf den benachbarten Grabsteinen französische Namen. Da ich das Kuriosum der Franzosen allhier von meinem Wirt erzählt bekommen, konnte ich mir die Geschichte der Namen auf den Grabsteinen leicht zusammenreimen. Aber das war es nicht, worauf sie hinauswollte. „Da komme ich her, da bin ich geboren“, sagte sie, „in Frankreich, am Unterlauf der Seine, in einem winzigen Dorfe namens la Roche Guyon, sehr malerisch zwischen dem Fluß und unterhalb steiler Felsen gelegen, wo es eine großes Schloß gab, auf halbem Wege zwischen Paris und Rouen, ich habe mir diesen Ort viel später einmal angesehen, - aber geboren wurde ich im Wirtshaus dieses Dorfes. Den Namen des Wirtshauses – nun, ich habe ihn einstmals gelesen, als ich wieder dagewesen, aber unterdessen vergessen - und da man mich wohl nicht ‚Le Cerf blanc’ oder gleich ‚la Roche Guyon’ nennen konnte, nannte man mich ‚Auberge’“, setzte sie mit mildem Spott hinzu. „Das ist kein richtiger Name, oh, ich weiß, mein Freund, und ich sollte wohl einen richtigen Namen bekommen haben, sobald ich getauft ward, da ich vermutlich richtige Eltern gehabt haben werde, ich bin ja nicht vom Himmel gefallen, einen Vater, der mich gezeugt, und eine Mutter, die mich zur Welt gebracht … aber diese Leute ließen mich in der Herberge von la Roche Guyon zurück, ohne daß ich das Sakrament empfangen, und ich habe nie erfahren, was sie zu ihrer Flucht von dort bewegt und wer sie waren.“ Ihr Blick glitt einen Moment verloren in das dunkelnde Gezweig der Bäume über uns und hinüber zum Kirchturm. „Das ist traurig“, bekannte sie, „wenn man keine Eltern hat, aber es ist auch ein Zustand, an den man sich gewöhnt. - Ein reicher Engländer, der in la Roche Guyon gute Geschäfte machte, bezahlte eine Amme und nahm mich mit, als er zurück in seine Heimat fuhr - ich war noch ein Säugling damals, ich weiß davon nichts - aber er zog mich auf und schenkte mir eine gute Ausbildung … und ließ mich Flöte spielen … und reisen … und die Welt sehen. … Er schenkte mir sogar einen Ring, als ich erwachsen wurde. Es war ein wunderbarer Ring, mit einem Herzen darauf aus Diamanten und Rubinen, Diamanten, weil sie unvergänglich seien wie seine Liebe, und Rubine, weil sie rot und ehrlich sind wie das Blut. Ich habe diesen Ring geliebt, oh, ich habe ihn geliebt … und ich habe ihn dennoch weggeben. Ich habe dies tun müssen. Es ging nicht anders, ich mußte es. Nein, ich wollte es …“ 303 Meine Io, meine Auberge … dachte ich in tiefer, schmerzender Liebe, und betrachtete sie, wie sie, so nahe und so fern zugleich, mit ihrer zarten Gestalt dort zwischen den Grabsteinen stand und ihre Hand über das Moos auf den Steinen gleiten ließ, umweht von dieser rätselhaften Aura der Traurigkeit. „Einmal, wie ich gesagt, auf einer der Reisen kam ich nach La Roche Guyon zurück“, berichtete sie. „– Der Ort dort ist sehr hübsch, und das Schloß wahrhaftig prächtig, es gehörte über Generationen den La Rochefoucaults, aber es sagte mir nichts … Woher wissen Sie soviel über mich, Monsieur Holland?“ wiederholte sie plötzlich die Frage von vorher, daß es mich überraschte, und sie sah mich mit ihren wundervollen Rätselaugen im sinkenden Licht bei den Grabsteinen an, „warum wissen Sie, daß man mich Auberge nennt, so sprachen Sie mich drinnen in der Kirche an - verraten Sie mir dies, auch wenn es eine lange Geschichte ist?“ Reisen, dachte ich, und daß ich mich zum ersten Male im Leben selbst auf einer Reise befand. Sie war viel gereist in ihrem Leben, hatte sich bilden dürfen, sie hatte zumindest Schottland gesehen und Frankreich, wie ich von ihr vernommen, hatte einen kostbaren Ring mit einem Herzen getragen – was für ein seltsamer Weg mochte es wohl sein von den Orten in der weiten Welt in die Enge eines Kerkers? -- Aus dem sie jedoch straflos, wie es schien, Stunden für Stunden entfloh … wie gerade eben jetzt? Mich quälten Fragen, und sie quälten andere Fragen, und ich mußte ihr die Liebe tun, einige der ihren zu beantworten. Ich mußte ihr ihre Ungewißheiten beantworten, selbst wenn ich instinktiv, im Inneren, drängend, quälend, unerträglich, spürte, daß uns dadurch womöglich zu wenig gemeinsame Zeit verblieb. „Ich kannte dich lange, bevor du mich in der Kutsche gesehen“, gab ich ihr Auskunft. „Ich bin seit dem September aus, dich zu treffen, Auberge. Ich habe versucht herauszubekommen, wer du bist. Ich bin herumgelaufen und –gefahren, es war mein Beruf geworden, dich zu finden, ich habe viele Menschen getroffen, die mir weiterhelfen konnten, oder von denen ich glaubte, ich würde Hilfe erfahren. Ich war auf dem Wege nach Cornwall, weil ich zuletzt vernommen, daß man dich dorthin brächte. Ich habe mich, verzeih mir, unsterblich in dich verliebt, obwohl du nichts davon weißt.“ Ich fühlte, wie ich zutiefst errötete, aber es war mir gänzlich einerlei. In dem letzten schwindenden Licht des Tages zwischen den Gräbern auf diesem Friedhof würde sie es sowieso nicht sehen können. „… denn Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren …“, dachte ich, und so war doch eh alles einerlei. „Es geht dies alles um ein Bild, um ein Gemälde, auf dem ich dich gesehen“, versuchte ich mich zu erklären. „Ich hätte dieses Gemälde gar nicht sehen dürfen, versteh mich recht, aber ich habe es gesehen. Ein reicher Mann in London hat es einem deutschen Maler in Auftrag gegeben, und als es fertig war, hat er es einem geheimen Zirkel gezeigt, in den ich mich eingeschlichen; ich habe es damals für meinen Brotherrn getan, der, ebenso in London, ein Journal betreibt. Es war Arbeit, Auberge, meine Stellung, mein Beruf, nichts als das, und ich drang dort unerlaubt ein - aber bei dieser Gelegenheit, Gott steh mir bei, ohne daß es vorgesehen war, habe ich mich unsterblich verliebt.“ „Du liebtest mich?“ vergewisserte sie sich mit einer geradezu körperlosen Stimme, die im sinkenden Dunkel des Friedhofes zu mir herüberwehte. Das Licht, das es noch gab, kam von den tiefwehenden Wolken über den Bäumen herab. „Du liebtest mich, meinst du?“ wiederholte sie mit ihrer körperlosen Stimme. „Das heißt, du liebst mich jetzt immer noch?“ „Ja“, sagte ich - und stellte überrascht fest, daß meine Stimme genauso tonlos war wie die ihre. 304 Es war unterdessen so finster, daß ich kaum noch ihr Gesicht erkennen konnte. Der Tag schwand zusehends, es war erst später Winternachmittag, kalt und klamm, aber im Grunde war die Nacht bereits da. Ich sah, wie sie in der herabsinkenden Finsternis des Kirchhofes zu mir herankam, und dann spürte ich ihre Fingerspitzen kurz zärtlich über meinen Mund hinstreifen. Es sandte mir eine Gänsehaut über den ganzen Rücken hinab. „Das Bild“, flüsterte sie traurig. „Das Bild also … immer das Bild … nun, mein Freund, ich habe es nie gesehen.“ Wenn sie so dicht bei mir stand, daß ich sie leicht hätte umfassen können - und sie an mich ziehen, wenn ich nur gedurft hätte oder gewußt, wie dies fuglich anzustellen, - und wenn sie mit den Fingern über meine Lippen tastete, die sie im Finsteren wohl nicht mehr sah, wenn sie so nahe bei mir war, daß ich den Atem ihrer Haut zu spüren meinte, dann setzte mich das in Schauer einer unaussprechlichen Köstlichkeit, dann meinte ich im Feuer der Ewigkeit angekommen zu sein. Ich betrachtete ihren Schatten vor mir. „Komm“, wisperte sie. „Ich weiß, wo wir hingehen können …“, und sie griff erneut nach meiner Hand. Ich ließ mich fast willenlos über den Kirchhof ziehen, die Treppe hinab zur Straße, und was ich im einzelnen fühlte, bin ich nicht in der Lage, hier zu beschreiben, ohne den Erzählfluß unbillig aufzuhalten. Wir kamen an die Holzstufen, die auf die Ulme hinaufführten, und sie zog mich hoch. Mehr tastete ich mich, als daß ich sah. Ich hörte den Klang unserer Schuhe auf dem Holz. Oben wandte sie sich, „komm“, sagte sie abermals und zog mich gegen das Holz des Geländers und wir blickten hinab. Vom Dorf drangen durch das kahle Wintergeäst vereinzelte Lichter zu uns. Im Westen über den Hügeln lag ein Rest feurigen Wiederscheins am Himmel. Vor dem ‚White Hart’, sah ich, waren wieder die zwei abendlichen Fackeln aufgesteckt. Man hörte einzelne Schritte, einzelne Stimmen aus entfernten Straßen heraufdringen, aber man sah niemanden. An diesem hohen Platze im Geäst, fast wie im Vogelflug, vermeinte ich, über der Welt zu schweben, und sie, Auberge, so dicht neben mir, daß ich sie fühlen konnte, ohne sie zu berühren. Unten, unter uns, hinter uns, nahm ich das granitene Dach von Alms House wahr, ohne es wirklich zu sehen, und rechts in der Nacht auch den Kirchturm, in dem die Glocke jetzt dünn die Stunde schlug. Es war erst fünf, aber stockfinster. „Dies ist der uralte Tanzbaum des Ortes“, sprach Auberge mit ihrer leisen Stimme zu mir und wies hinunter. „Er wird auch Cross Tree genannt. Ihn gab es schon im Mittelalter, und es wird ihn noch lange geben, wenn wir nicht mehr sind. – Hier oben ist der Platz für die Musikanten, unten tanzt man, aber für einen besonderen Obulus darf man auch hier herauf. Du solltest es im Sommer sehen, Dominic, wenn der Tag warm war und abends die Luft lau ist und der Baum belaubt und das späte Sonnenuntergangslicht rot durch das Blattwerk bricht und die Kapelle spielt und das Lachen und Gespräch der Leute die Straße erfüllt … oh ich habe es schon erlebt, wenn dann spät abends die Grillen zirpen … aber ich habe nicht getanzt, mein Freund, das nicht …“ Woher all die Trauer …? fragte ich mich. Ich wußte vom Wirt, daß dies der Tanzbaum oder Cross Tree war. Sie hatte mir nichts erzählt, das ich nicht gewußt, aber sie hatte es mich fühlen und erleben gemacht. Woher jedoch diese Trauer? „Hörst du die Musik?“ flüsterte sie. „Denke, daß es Sommer ist … eine Fiedel … eine Flöte … und die Trommel … kannst du es hören?“ Ich dachte daran, wie sie in der Nacht auf dem Dach die Flöte gespielt. 305 „Ja“, sagte ich, „ich kann es hören …“ „Hörst du die Musik?“ flüsterte sie, und sie klang glücklich, als ob sie lächelte. Sehen konnte ich ihr Gesicht nicht, aber ich sah, wie sie begann, sich leicht zu wiegen. Der Schatten vor mir kehrte sich vom Geländer weg, hin zu mir und bewegte sich sacht. „Komm …“. hörte ich ihr Flüstern. „Wenn du die Musik hörst, mein Freund, dann komm … nur einen kurzen Augenblick …“ „Ja …,“ flüsterte ich. Ich spüre noch heute meine eigene Bewegung, die meine und die ihre, wie wir zueinanderglitten, spüre unser Zusammenkommen, ich entsinne mich noch heute, wie ich vorsichtig ihre Schultern in der Mantille erfaßte und spüre meinerseits ihre Hände an meiner Seite, dann ihren Kopf an meiner Schulter. Und wie von allein schwebten wir davon, langsam, Schritt für Schritt, drehten uns, taumelten, schwebten über diese hölzerne Plattform, der Frost knackte im Gezweig, hoch oben über der Erde, langsam, langsam, denn es war gleichwohl ein trauriges Lied. Dann war die Musik zuende, und wir hielten inne, lösten uns voneinander und kehrten zu dem Geländer zurück, vorsichtig, um nicht im gefährlichen Dunkel abzustürzen. „Danke“, murmelte sie mir ins Ohr. Nun lehnte sie neben mir, still und nah und weit entfernt zugleich. Sie sprach. „Das Bild“, sagte sie zart. „Das Gemälde, sagtest du, und es macht dir wohl Sorgen. Das Bild ist also das Problem?“ Wir waren über die Tanzfläche in langsamer Bewegung geflogen. Dies sind Dinge, die man nur im Traum erlebt. Ihr Kopf hatte sich von meiner Schulter gelöst und ich hatte gefühlt, wie sie mir ins Gesicht zu blicken suchte, aber das Licht reichte dafür nicht aus. Die Fackeln am ‚White Hart’ waren zu weit entfernt. Da hatte sie den Kopf wieder angelehnt. „Welches Problem, mein Freund?“ flüsterte sie, nun am Geländer neben mir, wie zuvor. „ – Sag es mir … bist du eifersüchtig?“ „Eifersüchtig?“ gab ich überrascht zurück. „Nein, das, Auberge, ist wahrlich nicht die Kategorie. Eifersüchtig? Auf wen? Den Maler?“ Und dann erinnerte ich mich, daß ich zuzeiten durchaus eifersüchtig auf diesen schmutzigen Deutschen gewesen, und es verschlug mir für eine Weile die Stimme. Ja, sie hatte recht, und ich sagte es ihr. „Eifersucht, Auberge“, gab ich zu, „ja, gelegentlich mag auch Eifersucht dabeigewesen sein – obwohl ich keinerlei Rechte auf dich habe, das weiß ich sehr wohl, mißversteh mich nicht, welch ein unsinniger Gedanke! - und obwohl dich niemand mir versprochen hat oder versprechen können … gleichwohl: Eifersucht, jawohl, ich denke wohl, ja …“ „Aber das Bild?“ fragte sie leise, „was hast du denn da gesehen?“ „Was ich gesehen habe?“ fragte ich mit ebensolcher Stimme zurück, um sie nicht zu erschrecken. Sie stand so dicht neben mir, daß ich vermeinte, die Wärme ihres Leibes zu verspüren, was natürlich Possen waren, in der Kälte dieses frühen Winterabends. Sollte ich ihr das Bild erklären, das sie zwar vermeinte, nie gesehen zu haben, das man ihr nicht gezeigt, zu dem sie aber doch Modell gestanden haben mußte, in dem schmutzigen Kerker oder Atelier des Meisters Condonniere, dort weit im Westen, in Botallak, in dem Haus mit den Einhörnern, Modell gestanden haben mußte mit ihrem Zaubergesicht und ihrem köstlichen Leib? „Was ich gesehen habe?“ wiederholte ich. „Ich habe die sieben Geliebten des Zeus gesehen, nackt auf dem Gestein einer felsengischtigen griechischen Insel, manche ermordet, manche im Sterben begriffen, manche im Moment der Verzückung, vom Gott beglückt; ich glaube, 306 daß es ein unzüchtiges Bild war, Auberge. Ich habe dich als Io gesehen, nackt, wie der Gott dich erschaffen, hilflos in der Metamorphose und schon halb gewandelt zur schrecklichen Färse, mit einem Insekt, einem Insekt, das obszön auf deinen Bauchnabel eindrang, es war einfach fürchterlich …“ Ich brach ab, als ich spürte, mehr als daß ich es sah, daß sie im Dunkeln neben mir begütigend und verständnisvoll nickte. Ich spürte ihre Hand tastend auf meinem Arm. „Das Bild“, sagte sie leise, und es schien eine ganz simple Wahrheit in dem, was sie ausdrückte, „das Bild“, sprach sie sanft, „war doch nichts … denke ich … als die Laune einiger sehr weniger, sehr reicher Leute, mein Freund, Männer wie Frauen, es galt ein Spiel zu spielen, eine Wette zu gewinnen, es war ein Witz des Geistes und der Imagination.“ Ich schwieg verblüfft und für den Augenblick wie erstarrt. Wie konnte sie alles verleugnen, was Böses und Verwerfliches und abgrundtief Verfaultes um dieses Bild war, und es ausschließlich dergestalt sehen? Spürte sie nicht die Lästerung, die darin lag? „Was glaubst du?“ fragte sie nach einiger Zeit, in der ich keine Worte finden können, sehr verhalten, so daß ihre Stimme mir eine neue Gänsehaut über den Rücken sandte, und es war keinerlei Spott oder Hohn in ihrem Tone: „Was glaubst du, mein Freund, wie war es, als der Maler mich portraitiert, der mir, das will ich dir gerne gestehen, kein lieber Mensch gewesen? - Ich will es noch deutlicher und so klar und kurz wie möglich ausdrücken: Ich mag ihn nicht, und er mag mich nicht, und es mag müßig sein, darüber zu befinden, wer von uns beiden damit angefangen. So ist es nun einmal, so geschieht es, und so ist es. Aber glaubst du ernsthaft, es war ein riesiges metallisches Insekt im Raum, das auf mich eindrang, als er mich malte, glaubst du das? - Glaubst du“, fragte sie sanfter, „ich hätte ihm nackt gesessen? Weißt du nicht, wie das ist in der Malerei?“ Und ich spürte ihre fragende Hand zärtlich auf meinem Arm. „Aber die anderen“, rief ich mit halber Stimme aus. „Die anderen haben ihm nackt gesessen.“ „Oh, das ist sicher so“, sprach sie ruhig. „Ich weiß es, daß du recht hast. Die anderen haben ihm nackt gesessen. – Ich hatte nie die Gelegenheit“, fuhr sie fort, und ihre Stimme umwehte mich auf dieser unglaublichen Terrasse hoch in jenem Baume wie in einem fiebernden Traum, „ich hatte nie Gelegenheit, das fertige Werk zu sehen, Lieber – er hat es mir nicht gezeigt, - aber ich weiß, daß der Leib der einen, Metis, die zur Seite hingeschlachtet liegend abgebildet war, zweimal verwendet wurde.“ Virginia Sykes …, dachte ich erschüttert. „Zweimal verwendet?“ fragte ich zitternd, vor Kälte oder vor nervlicher Errregung, ich hätte es nicht zu unterscheiden vermocht, „Zweimal? - Was meinst du?“ „Dieses Mädchen mußte ihm zwiefach sitzen“, erzählte Auberge mit Zurückhaltung, „einmal für Metis, und einmal für mich … Io, wie du gesagt. Keiner kann es unterscheiden, meinte der Deutsche abfällig, da sie einmal liegt und einmal kniet – sie war ein Mädchen der Gosse, der Straße, aber mit Vorteilen des Herzens, glaube mir, kein schlechter Mensch“, sprach Auberge nachdenklich, „und auf dem Bilde ist es wohl zwar der Kopf, das Gesicht, das ich der Io geliehen, aber es ist dennoch ihr Leib. Sie hieß Virginia Sykes … ich erinnere mich wohl - ich kam gut mit ihr aus, obwohl sie eine solche war … ich kam gut mit ihr aus.“ Wir standen auf jener unwirklichen Terrasse hoch oben in der uralten Ulme, Cross Tree geheißen, in jenem fernen Dorfe im Westen, in jener mir völlig unwirklichen, angebrochenen Nacht im Leeren zwischen Kirchturm, den Gräbern des Kirchhofs und dem Dach von Alms House, nebeneinander in der Kälte, und sprachen über die sieben Geliebten des Zeus. Wir, dreißig Fuß über der Erde auf der Plattform der Musikanten, während unten oder für eine Ex307 tramünze auch hier oben der gefangene und verurteilte Franzos’ mit seiner Engländerin in einer lauen Sommernacht tanzte, mit flinkem Fuß und flatterndem Herzen. Aber unser Tanz von vorhin war vorbei. Ich hätte so sehr, so sehr gewünscht, sie jetzt einfach in den Arm nehmen und an mich drücken zu dürfen, ihr liebes, geliebtes, kleines Antlitz zu küssen, sie bei mir halten zu können in dieser aberwitzigen, romantischen, bitterkalten Nacht, in der auf magische Weise das Böse für den Augenblick zwar zu schweigen schien, aber mir war es klar wie der Sternenhimmel jenseits der Wolken, daß dies nur langgehegten Wünschen meiner selbst entsprach und nicht der gegebenen, wahren Situation. Was hatte ich erwartet? Sie kannte mich nicht. Sie konnte mir nicht ans Herz hinsinken, dem erstbesten, der daherkam, in einer Minute, einem Dominic Holland. Es mußte mir genügen, daß sie mir gut war und freundlich geneigt. Jedoch ich war noch lange nicht ehrlich gewesen, hatte ihr noch nichts gesagt, hatte auch – mochte der Wunsch wohl grausam und egoistisch sein – die meisten der mich bedrückenden Fragen nicht geklärt und ihre nicht beantwortet. Verzweiflung mochte mich angreifen. Wie sollte dies alles gehen? So hatte sie also, Auberge, dem schmutzigen Meister nicht gesessen, wie ich nun erfahren, nur für das Portrait ihres Gesichtes - aber es war mir dies sonderbarerweise keine Hilfe, keine Erleichterung. Im Gegenteil, spürte ich, es war ein durch und durch verfahrener Zustand. Und was wollte ich nur? Hatte sie ihm nicht gesessen, so, stellte ich verwundert fest, empfand ich dies insgeheim als eine Form von Betrug an dem Betrachter, ihr Leib und ihre junge Brust gestohlen von jemand anders -- hätte sie ihm dagegen gesessen gehabt, wie ich vorher geglaubt, so wäre es nur gemein gewesen und verderbt. -- So nicht, und so nicht, dachte ich verwirrt, und: Sie hatte ihm also nicht nackt gesessen – nun denn, gleichwohl, und wenn schon! Es gab so viel anderes, Io, Auberge, viel Schlimmeres, Rätselhaftes! „Aber die anderen“, flüsterte ich und fühlte sie teuer und begehrenswert und so dicht, so dicht im Dunkeln neben mir. „Die anderen, Auberge, die anderen haben ihm gesessen, und selbst das mag noch angehen. Aber ich habe mit vielen von ihnen gesprochen, mit den meisten. Sie wurden über Wochen und Monate in Kellern, Gewölben, Verliesen gefangen gehalten, und mir ist berichtet, du warst dabei, Auberge, du warst dabei. Und du sollst oft geweint haben, in Verzweiflung. Rosetta Manderlay hat mir das erzählt.“ „Oh ich weiß, wer das ist“, sprach Auberge leise und dennoch mit herzlichster Anteilnahme in ihrer Stimme. „Ich entsinne mich ihrer gern: Rosetta Manderlay. Sie erzählte, ihr Vater sei ein Wirt am Ufer der Themse, ein wackerer Mann – und sie ist in der Tat ein hübsches Mädchen, oh ja, ein so hübsches Mädchen, durchaus etwas für dich, Domenic Holland.“ Ich hörte, daß sie ein kleines Lachen ausstieß, bei dem mir inwendig ganz kalt wurde. „Sie mußte die Europa in dem Gemälde spielen, weißt du?“ teilte sie mir mit ihrer vorsichtigen, dunklen Stimme unbefangen mit, dort in der Finsternis am Geländer lehnend neben mir. „Und sie berichtete dir, ich hätte oft geweint? Ja, nun, dann ist es wohl wahr. Ja, es ist wohl wahr, mein Freund, ich weine oft. Lächerlich, aber das ist so bei mir. Es tut mir leid. Mein Los ist es, Tränen zu vergießen, seit ich ein Kind war. Ich habe sicher auch damals oft geweint, im Keller. Es tut mir leid, wenn es die anderen beunruhigt hat.“ Das Mädchen Auberge stand neben mir in Finsternis und Kälte, und ich mußte mich mühsam zurückhalten, nicht meine Arme um sie zu legen und sie an mich zu ziehen. „Ich mag Rosetta Manderlay sehr“, flüsterte Auberge verträumt, und ich konnte spüren, wie ihre Gedanken zurückfanden in diese Zeit. „Ich mochte auch eine andere besonders, nein, ich mochte sie nicht, ich liebe sie wie eine Schwester. Als ich sie verlassen mußte, habe ich ihr 308 meinen Ring geschenkt, den mit dem Herzen, weil sie mir auch ihr Herz geschenkt hat. Herz um Herz. Sie heißt Stella Floyd und ist nur ein Dienstmädchen, aber so reizend, so zart, wir nannten sie alle immer nur Gossamer, weißt du, weil sie so zart und zerbrechlich war.“ Ich mußte, das wußte ich, Auberge schonen, aber, fragte ich mich verzweifelt: wie? “Kennst Du Fiona de Cato?” erkundigte ich mich unterdrückt. Auberge, schien es, mußte sich nicht besinnen. Ich fühlte ihr Nicken in der Dunkelheit. „Ja, gewiß, ich kenne sie“, bestätigte sie einfach. „Sie ist eine reiche Dame - oder wohl so reich auch nicht, denn ich hörte … nun, wir alle hörten etwas von Geldsorgen. Jedenfalls war sie recht vornehm oder dünkte sich zumindest etwas Besseres als wir anderen. - Ich mochte sie, ehrlich gestanden, bei weitem nicht so wie Rosetta und Gossamer. Sie war mir … zu kalt … oder zu künstlich, falls du verstehst, was ich meine. Sie war im übrigen ebenfalls gewissermaßen zweimal in dem Bilde, denn sie mußte die Demeter und gleichzeitig auch deren Tochter Persephone spielen …“ Ich dachte flüchtig an die Nacht mit Rosetta Manderlay, und wie das unruhige Mondlicht die weiße Straße in Southwark hochgesegelt war und uns in Licht und Schatten getaucht – und wie sehr sich ihre Schilderung jetzt mit der von Auberge deckte. Jetzt stand ich mit Auberge auf dieser irrealen Terrasse, und die Nacht war ungleich schwärzer als jene damals daheim in London. Nur die seltenen Lichter des Ortes und der Laut vereinzelter Schritte oder Stimmen drangen gelegentlich zu uns hoch. „Und du mochtest Fiona de Cato nicht so sehr?“ vergewisserte ich mich. „Nein, nicht so sehr wie die anderen.“ „Nun, sagte ich, „sie hat dich wohl auch nicht sonderlich gemocht, denn sie erzählte höchst seltsame Dinge über dich. So zum Beispiel nannte sie dich: die kleine Wilde.“ Ich hörte, wie sie leise und verblüfft auflachte. Es war das erste Mal, daß ich wirklich so etwas wie ein Lachen von ihr vernahm. Es gab mir ein Gefühl, als ob mir der Hals eng wurde und ich mich in Wonne auflösen mußte. „Nun, jemanden, der keinen christlichen Namen hat … den kann man auch getrost einen Wilden nennen, findest Du nicht?“ fragte sie dann fast erheitert. „Sie hat behauptet, du seiest somnambul“, fuhr ich verzweifelt fort, „Du seiest in der Nacht auf das Dach des Hauses mit den Einhörnern gesprungen und hättest dort die Flöte gespielt.“ „Aber das tue ich, das tue ich … wenn mir danach ist“, versicherte sie in Ernsthaftigkeit, „das hast du doch selbst gesehen. … Nun,“ setzte sie nach einer kleinen Pause einschränkend hinzu, „es stimmt wohl, und es stimmt gleichzeitig nicht, denn mit Somnambulismus hat es wahrlich nichts zu tun.“ Sie schien zu überlegen, und sie griff zart nach meinem Arm, als sie versuchte, es zu erklären. „Es hat mit Musik zu tun, mein Freund, mit dem Mondlicht, mit der Natur ringsum, die ich dann vor mir sehen kann. Es bildet sich auf dem Dach und in der Nacht und in dem Mondlicht von ganz alleine eine Stimmung … eine Atmosphäre … von … vielleicht ist es Poesie … verstehst du? – Mit Somnambulismus hat das nichts zu tun, ich rufe es ja willentlich hervor.“ Sie schüttelte den Kopf, machte eine anmutige, kleine Geste mit den Händen, versuchte es mir zu erklären. „Ich rufe es hervor, und ich rufe es gleichzeitig nicht hervor, denn welche Macht hätte ich, es hervorzurufen …? -- Aber … ich gehe auf’s Dach, und dort funktioniert es … ich bin es gar nicht, die dort spielt, falls du verstehst, was ich meine, jedoch ich könnte so sonst gar nicht spielen, in einem Zimmer. -- Ich bin es nicht, die dort spielt … sondern … ja, es ist die Musik selbst, die zu mir kommt ... im Grunde weiß ich nicht wie … oder wieso … In einer Nacht 309 wie dieser, finster und schwarz, Domenic Holland, könnte ich nicht spielen. Ich locke sie nicht hervor, die Musik, sondern sie kommt von ganz alleine … und das ist das Wunderbare ... --- Nein“, wiederholte sie ein drittes Mal, und nun tief in Gedanken, „… ich bin es nicht, die dort spielt …“ Und ich mußte an jene Zeilen denken, die von ihr stammten und die sich vor langer Zeit heiß und bitter und köstlich in meinem Inneren eingebrannt: Dies bin nicht ich, die hier singt, Es sind die Blumen, die du gebrochen. Im Grunde hatte sie über das Lied der Flöte im Mondlicht, aus ihrer Position, nur das nämliche ausgedrückt, was ich von selber immer dabei empfunden … „Und sie hat gesagt, Fiona de Cato hat gesagt“, setzte ich nun leise, mit Schauern der Überwindung, hinzu, „du seiest nachts in den Schweinekoben gelaufen und hättest die Ferkel an deiner Brust saugen lassen.“ Nun war das Lachen gänzlich fort, die Nacht schien schwärzer, die Lichter des Ortes matter als zuvor. „Oh, mein Gott“, murmelte Auberge ratlos, „so etwas hat sie behauptet? --- Nun, ja, ja,“, stammelte sie nach einer Weile, „so ist es denn offenbar, daß sie mich nicht gemocht, nun gut … aber warum nur? … warum?“ Rechts über uns in der Nacht schlug die dünne Glocke zur halben Stunde. So lange befanden wir uns schon hier oben. „Und Eusebia Purcell?“ fragte ich, „kennst du sie, und Asunción Lozano, wie ist es mit der?“ Neben mir war eine Bewegung der Unsicherheit. „Oh, ich weiß wohl, daß es sieben waren insgesamt - Leto und Semele erschienen auch noch mit auf dem Gemälde - aber diese beiden Mädchen habe ich nicht selber kennengelernt. Sie wurden in einer anderen Gruppe … und wohl auch zu einer anderen Zeit gehalten.“ ‚Gehalten …’, dachte ich. ‚Was hielt man? –… Gefangene … Tiere …’ „Eusebia Purcell war kein Mädchen“, sagte ich, langsam und leise, „sie war eine Frau, sie war verheiratet, hatte fünf Kinder …“ „Oh, Fiona de Cato ist auch verheiratet, falls sie sich nicht von ihrem Gatten getrennt hat. Sie soll unglücklich liiert gewesen sein, habe ich gehört …“ Ihre wunderbare, dunkle Stimme, das Lied ihrer Worte an meiner Seite, das vollendet in der Dunkelheit der nächtlichen Terrasse aufging, geriet plötzlich ins Stocken, und nach einer längeren Pause, in der ich die Augen schloß und innerlich bebte, forschte sie leise: „Warum sagst du ‚war’ … über jene Frau, meine ich … und ‚hatte’, - sie ‚war’ verheiratet’, sie ‚hatte’ fünf Kinder …?“ „Hast du dir nichts dabei gedacht?“ fragte ich statt einer Antwort. „Du hast einen flinken Geist, Auberge, du bist so gebildet, - hast du dir nichts dabei gedacht, daß man Euch ‚hielt’, wie du selbst es nennst, daß man euch in Kellern monatelang gefangenhielt? – Ich erfahre von Dir, daß du und die anderen oft geweint habt. Ich weiß es aus eigener Untersuchung, daß man dich nicht nur in ‚Unicorn Mansions’ und ‚Morass Manor’ gefangen hielt, sondern auch im Bethlehem Royal Hospital. -- Ich habe dich mit eigenen Augen gesehen, im Middlesex, als die Kutsche mit dir davonraste, wie du in Panik zu mir nach hinten hin hinausgestarrt. Und ich habe dich gestern mit Furcht in den Augen in den Hof absteigen sehen, aus dem du gekommen. Wer hat dich da von unten hinabbefohlen? -- Warum ‚mußtest’ du, wie du mir sagtest, den Herzring Gossamer schenken, warum mußtest du das tun? Und warum klingt Deine Flötenmusik poetisch, oh ja, aber so unendlich traurig? Was soll ich unter all dem verstehen, Auberge, wie soll ich es mir reimen? Woher kommen die vielen, versteckten Zeichen der 310 Angst, die ich ständig bei dir sehe, woher, ja woher kommt ausgerechnet die Hingezogenheit zu St. Andrew, dem Heiligen der Gefolterten und körperlich Zerstückelten? Was fürchtest du, Auberge, wovor muß ich dich retten? Sag es mir, denn ich weiß es nicht und ich verstehe es nicht. Hilf mir! Erkläre es mir, denn allein bringe ich es nicht zusammen …!“ Sie stand neben mir, und ich spürte, wie sie erneut schauerte, aber womöglich war es nur die Kälte der Nacht. Erneut mußte ich all meine Kraft zusammenhalten, um sie nicht an mich zu reißen, nicht die Arme nach diesem kleinen, dunklen, zärtlichen Menschenkind auszustrecken und ihren Leib an dem meinem zu bergen. Das Geäst des uralten Tanzbaumes, in dem wir standen, schlängelte sich wie schwarzes Aderwerk rings in die Höhe, im Westen schien das Wetter aufreißen zu wollen, zumindest dünner zu werden, und ich glaubte eine Ahnung von Mondesschimmer dort wahrzunehmen. Unten vor dem ‚White Hart’ leuchteten die beiden Fackeln und wiesen traulich dem Heimkehrer den Weg. „Ich liebe dich, Auberge“, flüsterte ich, „liebe dich, das habe ich dir eingestanden, mit jeder Faser meines Herzens, meines Leibes, meiner Seele. Glaubst du nicht, daß du es mir schuldig bist, mir die ganze Wahrheit zu vertrauen, damit ich dir helfen kann - auch wenn du mich deinerseits nicht liebst. Ich habe so viele Fragen, Auberge, und allein bringe ich es nicht zusammen.“ Nun schauerte es mich auch. „Lieber …“, flüsterte sie, kehrte sich in der Finsternis gegen mich, und ich fühlte ihre Hand über meine Brust und meinen Hals hintasten, spürte ihre Finger zärtlich an meiner Wange, Finger, trotz der Kälte in Hitze, und erneut auf meinen Lippen. „Lieber …“, hörte ich sie flüstern. „Sei nicht verzagt. Liebe ich dich nicht? – Liebe ich dich nicht?“ Dies war eine ernsthafte Frage. „Nun -“, beantwortete sie sich selbst mit leiser, fliegender Stimme, „es ist gut, es mag so sein, vielleicht liebe ich dich nicht … wie soll ich das wissen nach solch kurzer Zeit, verstehst du? … aber ich fühle mich … ich fühle mich wohl in deiner Gegenwart, und dir soll Antwort auf alles werden, was du zu wissen begehrst, das verspreche ich … das verspreche ich dir …“ Ihre Finger auf meinen Lippen. Ich schloß die Augen … „Komm“, flüsterte sie, wie schon die Male zuvor, und wieder fühlte ich ihre Hand warm nach der meinen greifen, und diesmal führte sie mich von der Terrasse wieder hinab, wir stiegen die lange, kompliziert gewundene Treppe hinunter, und unten auf dem Erdboden angekommen, geleitete sie mich die wenigen Schritte hinunter zur Straße, aber hier nach links herum und zum Ortsausgang hin, dort, wo ich vor achtzehn Stunden von Exeter heraufgekommen, und wir gingen wie die Geschwister im Dunkeln im Wald nebeneinander, und mein Herz bebte. Und sie führte mich an der Hand, und wir schritten an der kreuzgangartigen Säulenpassage von Alms House vorbei, das heißt, nur zur Hälfte, denn dort war die Balustrade zwischen den Säulen unterbrochen für einen Durchlaß. Und wir stiegen zwei Stufen hoch aus der Finsternis der offenen Nacht in die tiefere Finsternis dieses Kreuzganges, und Auberge zog mich in der völligen Dunkelhheit mit sich und tappte voran, und dann hörte ich sie leise an eine Tür pochen, die ich nicht sah. „Was tust du?“ fragte ich bebend. „Wo sind wir. Wo gehen wir hin?“ Sie zog mich zu sich herunter und ich spürte ihren Mund an meinem Ohr. „Sorge dich nicht“, wisperte sie. „Ich kenne mich aus, ich bin, seit ich klein bin, auf tausend Reisen hin und her oft hier gewesen. Vielleicht kannst du ihnen nachher eine kleine Münze dalassen, falls du eine bei dir hast, denn sie sind arm. Aber ich muß dein Gesicht sehen können, Lieber, wenn ich dir das zu erklären versuche, was Du mich dort oben gefragt und was du wissen willst …“ 311 Und noch während sie so tuschelte und ihr Atem an meinem Ohre mich erregte, ward eine niedrige Türe vor uns aufgetan, das Licht einer Lampe fiel aus dem Hintergrunde, und in der Türöffnung stand eine Frau in den mittleren Jahren, ein kleines Kind am Schürzenzipfel, das erstaunt zu uns aufblickte. Die Frau strengte sich an, uns in der Dunkelheit zu sehen, und ich bemerkte, daß sie Auberge erkannte, denn ihr abgearbeitetes, verlebtes Gesicht glättete sich, und sie trat etwas zurück. „Das ist Mrs. Duprêt“, stellte Auberge sie mir vor. „Sie lebt mit ihrem Schwager und den Kindern hier. Ihr Mann muß noch für viele Jahre oben in Princetown im Zuchthaus eingesperrt bleiben. Aber ab und zu darf er heraus, und dann“, sie lächelte uns beide wechselseitig mit Sympathie an, „dann gibt es des späteren unweigerlich ein neues Kind. Guten Abend, Mrs. Duprêt, dies ist ein Freund von mir, Mr. Domenic Holland. Dürfen wir für eine Weile herein?“ „Guten Abend, Miss Auberge“, grüßte die verlebte Frau demütig, und gab uns den Weg in der Türe frei. Hier, wo plötzlich das Licht aus der Türe herausbrach, hatte ich Auberges Gesicht zum ersten Male seit der letzten Friedhofsdämmerung vorhin wiedergesehen, was mir eine unendlich lange Zeit geschienen. Und ich bemerkte mit leisem Erstaunen, daß es immer noch das feine, schöne, rätselhafte, mich verzaubernde Antlitz meiner Io war, das ich unterdessen fast vergessen, denn es war - ich weiß nicht, wie dies in Worte zu fassen – es war die ganze Zeit jemand anderes, jemand mir Näherer, mir Vertrauterer gewesen, der dort oben im Dunkel der Terrasse neben mir gestanden … „Komm“, flüsterte Auberge und griff nach meiner Hand. Ihre Augen leuchteten. „Drinnen ist es warm.“ So war es. Als wir eintraten, erblickte ich die bescheidene Stube der einfachen Bürgersleute im Lichte der Kerze, die auf dem Tische stand. Im Hintergrund bei der Türe in ein anderes Gelaß stand der Schwager der Frau und hielt, leicht gebeugt, mit seinen Händen vier allesamt noch recht kleine Kinder bei sich, die bei seinen Knien standen, und er musterte uns mit seinen dunklen, französischen Augen. „Guten Abend, Pierre“, sprach Auberge freundlich zu ihm hin. „Bon soir, Mademoiselle“, murmelte er zurück. Auberge drehte sich um, suchte die Augen der Frau. „Dürfen wir einen Augenblick in das hintere Zimmer, um uns zu unterhalten?“ bat sie sie. „Ja, gewiß“, murmelte Madame Duprêt, „was und wie immer Sie mögen, junges Fräulein. -Und der junge Herr? Können wir mit einem Imbiß dienen?“ Das war an mich gerichtet. „Oh nein“, sprach Auberge geschwinde ein, ehe ich antworten konnte, „keinen Imbiß, nur keine Umstände, Liebe, bitte. Aber wenn Du uns beiden ein Glas von deinem guten Wein bringen willst …?“ Ihr verschleierter Blick traf meine Augen. Ich verstand, suchte einen Moment in meiner Tasche und legte eine blitzende Münze auf den Tisch der Stube. „Oh ja, gewiß“, murmelte Mrs. Duprêt. „Es soll in einer Minute geschehen sein …“ Sie kam zum Tisch, und steckte an der brennenden Kerze ein neues Licht auf. Der Schwager öffnete die Tür in das hintere Zimmer. Die Kinder schauten aufmerksam und rückten an seinen Knien zusammen. Das größte von ihnen mochte sechs oder sieben Jahre zählen, das kleinste vielleicht zwei, als zunächst Mrs. Duprêt und dann wir, Auberge vorweg und ich als dritter, durch die niedere Tür in das Nachbarzimmer hindurchtraten, welches nach hinten hinaus lag und keinerlei Fenster besaß. Es war dies offensichtlich das Schlafzimmer der Familie, denn der größte Teil des Raumes war benötigt für ein sehr geräumiges Bett, jedoch waren 312 auch ein Tisch und zwei Stühle vorhanden. Mrs. Duprêt stellte die Kerze auf den Tisch und verbeugte sich. „Ich bringe sogleich den Wein“, sagte sie und zog sich zur Türe zurück. Auberge und ich standen, schauten uns an, dann setzte sie sich auf einen der Stühle nieder, und ich folgte ihrem Beispiel. Im anderen Zimmer flackerte der Kamin, dieses Zimmer dagegen besaß keine Heizung und war kühl, wenngleich längst nicht so kalt wie die Luft draußen. Ich öffnete am Hals etwas Mr. Hamlets Pelz. Auberge und ich schauten uns über die flackernde Kerzenflamme hinweg an, in Schweigen verloren, der Tisch zwischen uns. Dann brachte Mrs. Duprêt auf einem Tablett zwei Wassergläser und eine geöffnete Flasche Rotweines und goß uns davon ein. Sie stellte die Gläser auf dem blanken Holz des Tisches vor uns hin und die Flasche daneben. „Und wenn sonst noch etwas ist …?“ erkundigte sie sich, und ihr Blick wischte unstet, wie mir schien, zwischen uns hin und her. „Nein“, sagte Auberge leise, „vielen Dank, es ist gut …“ „Miss … Mister …“, murmelte die Frau zwischen den Lippen und zog sich dienernd zurück. Sie schloß leise die Tür hinter sich. Auberge und ich waren allein. Das riesige Bett, das beiseite stand, machte mich verlegen, aber Auberge schien dies nicht zu berühren. Sie betrachtete still mein Gesicht. Wir sahen uns an wie zuvor, über die Flamme der Kerze hinweg. Auch hier, bei diesem Licht, war die Farbe ihrer Augen schwer auszumachen, aber ich konnte erstmals wenigstens versuchen, sie zu erkennen. Sie waren dunkel wie ihr Haar, vielleicht braun, fast schwarz, vielleicht eine Spur von Grün. Sie trug die über der Brust geschnürte Mantille, darunter das weiße Gewand, sie zog das dunkle Tuch von ihrem Haar herunter, daß es sich entfaltete, legte das Tuch flüchtig zusammen und barg es auf dem Schoß. Sie hob ihr Glas vom Tisch, ich das meine. Sie murmelte „Santé …“, wir nickten uns zu, dann tranken wir beide einen Schluck. Ich bin gewiß kein Kenner von Weinen – aber dieser hier taugte wirklich nichts … doch es war mir völlig gleich. Wir setzten die Gläser zurück auf den Tisch. „Jetzt können wir reden und uns dabei ansehen“, flüsterte sie, „und du sollst alles hören, was du willst. Du sollst mir alles beantworten, und ich will dir alles beantworten. -- Frage mich wenn du mir nur nochmals vorher sagen kannst, daß du mich liebst …“ „Aber ich liebe dich“, flüsterte ich und verbrannte innerlich vor Sehnsuchtsschmerz nach ihr, dem Mädchen, das nur zwei Schritte entfernt saß. „Ja“, wisperte sie, „dann ist es gut. Jetzt frage.“ „Zwei Fragen“, tastete ich mich vor, „die sich auszuschließen scheinen … dein Aufenthalt in Unicorn Mansions“, sagte ich, „und der in Morass Manor, im Bedlam und im Middlesex, deine Reisen, jetzt hierher – warum bist du gefangen, Auberge, und wovor hast du Angst? … und warum bist du gleichzeitig frei genug, herauszukönnen und eine ganze Stunde mit mir zu verbringen?“ Ich hätte sie so viel fragen wollen: ob man sie nicht vermißte - wer sie hatte gehen lassen und vor allem, ob sie nicht auf der Stelle mit mir kommen wollte, wenn sie doch augenscheinlich an so langer Leine flatterte, den Moment ausnutzen und über die Berge gehen! … dazu allerdings, dachte ich im gleichen Moment, hätte ich tunlichst einen Weg organisiert haben müssen, sie sicher von hier fortzuführen, und das hatte ich bislang nicht … ich, mithin, dachte sehr, sehr viel, aber ich beließ es bei der einen Frage. Ich wiederholte sie: „Warum bist du gefangen?“ fragte ich. „Und wovor hast du Angst?“ 313 Auberge blickte mir gerade und offen in die Augen. „Aber ich bin nicht gefangen …“, sagte sie einfach und in leisem Ton, und mir war es, als sei der Boden unter mir gewichen. „Was?!“ – ich schrie es fast heraus, und Auberge blickte einen Moment nervös zur Tür, als ob dort jeden Moment jemand hereinkommen könnte. „Warum? Ich versteh nicht! Sag mir!“ Ich dämpfte, soweit ich es irgend vermochte, meine Stimme, versuchte, mich in der Gewalt zu halten. „Aber was heißt das, Auberge, was willst du mir sagen! Du bist nicht gefangen?! - Also bist du freiwillig da?! - Das Gemälde, die Entführungen, die Gefangenschaft im Bedlam, die Kutsche im Middlesex, das alles freiwillig?! Aber, wie?! wie? was willst du mir sagen?! Wie kann das sein?!“ Sie sah mich mit der größestmöglichen Ruhe an und sagte: „Gefangen? – nein, mein Freund … aber freiwillig da? … auch: nein. – Nein. - Und keine Angst? – Doch, große …“ Freiwillig da? … nein … hämmerte es in meinem Schädel, freiwillig da? – nein, und große Angst … „Aber wie?!“ rief ich, „aber wie?! - ich verstehe nicht!“ Mir war, als sei nebenan eine Tür ins Schloß gefallen, aber es war mir gleich, ich achtete nicht darauf. Auberge beugte sich über den Tisch, schob mir auf der Tischplatte ihre Hände entgegen, und ich beugte mich hastig vor, nahm sie in die meinen, sie waren zart, weich, köstlich warm, ich hielt einen Schatz bei mir geborgen. „Warum ich nicht womöglich gleich mit dir fortreise?“ fragte sie schwach. „Das ist es doch, was du wissen möchtest, nicht wahr?“ „Das auch, das auch“, gab ich zu, „aber all das andere …“ Sie nickte mir zu, und für einen Augenblick kehrte jenes Lächeln zurück, das sie mich ein-, zweimal zuvor bereits hatte sehen lassen, jenes Lächeln, das kaum ein Lächeln war, und nur ihr eigen, und wie ich es nie bei einem anderen Menschen gesehen. „Höre“, sprach sie sehr sanft. „Ich denke, ich bin nicht in Gefahr … aber frei zu gehen bin ich auch nicht … Du glaubtest - du deutetest so etwas an - ich hätte dem deutschen Meister nackt zum Modell gesessen, nicht wahr?“ „Ja“, flüsterte ich, verwirrt über ihren plötzlichen Themenwechsel, „aber du hast mir gesagt …“ „Wenn du mein Vater gewesen wärst“, unterbrach sie mich gleichermaßen leise wie dringlich, „Hättest du es mir erlaubt?“ „Nein“, rief ich empört, „natürlich nicht.“ „Nun, siehst du“, bedeutete sie mir, „genau so verhält es sich: Mein Vater hat es mir auch nicht erlaubt.“ Eine Sekunde war ich sprachlos. „Dein Vater, aber Du sagtest, du hättest keinen Vater“, stieß ich hervor. „Die beiden Menschen, die Deine Eltern waren, Du sagtest, sie wären …“ „Der reiche Engländer, der mich mitnahm“, erinnerte sie mich zart, „von La Roche Guyon in Frankreich, weil er dort gute Geschäfte gemacht hatte, ich erzählte es dir, du erinnerst dich? – Nein, er ist nicht mein Vater, gewiß nicht, aber er hat mich immerhin aufgezogen, Domenic Holland, mir alles gegeben, was ich heute bin … und deshalb nenne ich ihn so … Vater … nenne ihn so in Liebe und Dankbarkeit …“ Ich starrte sie an und fühlte, da war noch etwas, was kam … 314 „La Roche Guyon in Frankreich“, sagte Auberge so einfach, wie es ging, „ist für seine Zinnvorkommen berühmt. Deshalb war er dort. Der reiche Engländer … mein Vater … ist Sir Enid Luciter. Verstehst du nun …?“ Ich hörte von ferne das Glöcklein der Kirche von Meretonhamstead zur vollen Stunde schlagen - es war sechs - aber mir war es, als säße ich inmitten der größten Glocke von Westminster Cathedral. Es klang vor meinen Ohren wie der Weltuntergang, und einen Augenblick lang glaubte ich tatsächlich, mir schwänden die Sinne. Ich verstand nun. Oder zumindest verstand ich einen großen Teil … oder glaubte, viel zu verstehen. - Alles verstand ich nicht. - Ich verstand: Sir Enid Luciter. Ich verstand: Ich hatte ihn nie als Wohltäter der Menschheit ansehen mögen, aber er hatte, vermutlich aus einer seiner Launen heraus, sich immerhin in Frankreich während einer Reise heimlich eines elternlosen Kindes angenommen, er besaß ein Kind, von dem seit über zwanzig Jahren niemand in der Gesellschaft etwas wußte, das er aufzog, hegte und pflegte, für das er bezahlte und das er daher, wie es ganz den Anschein hatte, offensichtlich lieben mußte. Aber ich verstand nicht, daß er dieses Kind in seine unedlen Machenschaften hatte verstricken können und sich den schändlichen Spaß erlaubt, wenngleich es auch zu großen Teilen eine Fälschung sein mochte, dieses Kind als nackte Io in einem obszönen Gemälde abbilden zu lassen. Ich verstand: Ich sah ihn als Schurken, den Mäzen und Geschäftsmann, sah ihn als Auftraggeber bei dem Mord an Frank Purcell, den die Kutsche zu Tode geschleift, … und hatte doch längst von Noah Whelsmley zu meinem Erstaunen erfahren müssen, daß Frank Purcell mitnichten ermordet war, sondern aus taktischen Erwägungen der Sicherheit heraus unter dem Namen Bo Swensson eine neue Existenz begonnen. Hier zumindest war Enid Luciter eindeutig unschuldig … Ich verstand vor allem, warum Auberge nicht gefangen war und im gleichen Moment doch gefangen, ich verstand, was sie damit gemeint, und ich verstand, warum sie hier herauskonnte … und doch zurückkehren würde … dorthin … Konnte es sein …? dachte ich bestüzt, nein, es konnte nicht sein, daß Sir Enid nicht der Lump war, für den ich ihn hielt. Er hatte mich verflucht und bedroht und mir Angst eingejagt, in jenem Zimmer mit den schwülen Ampeln und dem vergifteten Rauch damals am Anfange aller Dinge in Morass Manor, mich zu Tode erschreckt, ich entsann mich, er habe eine Maschine, und was der grauenvollen Dinge mehr waren, in sonderlich kalkulierter Wut war er über mich hergefallen, und der Maler hatte dumm auf dem Sofa gelegen und gelacht. Ja, dachte ich, und ich verstand: Er hatte mich gefragt, um welches Mädchen auf dem Bild es denn ginge, aber er mußte geahnt haben, daß es um Auberge ging, er hatte es gefürchtet, und im Lichte dieser Tatsache und der, daß sie sein Ein und Alles und womöglich kostbarst gehüteter Aufgapfel war, verstand ich, bekamen seine unmäßigen und überzogenen Drohungen, seine sinnlose Wut fast einen Zug des Verständlichen … Ich schnappte verzweifelt nach Luft. Ich brauchte Zeit, um zu verstehen, zu begreifen … Was, fragte ich mich selbst, was hätte sie davon gehabt, wenn sie mit mir ging – immerhin lebte sie in einem mir fernen Lebenskreis und, was das betraf, materieller Sicherheit – und was hatte ihr demgegenüber eine Zukunft mit mir zu bieten?! Ärmliches Darben in Sicherheit, eine Kammer im Dach bei Mrs. Hamlet? Auberge saß mir gegenüber, in der schwarzen Mantille und dem weißen Gewand, dem dunklen Haar, den braungrünen Augen, den blassen Wangen, dem wunderbaren Mund, und ob der Tatsache, daß ich schwieg und nur schweigen konnte, wirkte sie hilflos und verzagt. „So bist du nicht gefangen, warst du nicht gefangen“, sagte ich fassungslos. „Aber das Gemälde ist eine Schlechtigkeit!“ rief ich dann, „und sie haben gelitten!“ - und meinte die anderen Frauen. „Und sie wurden gequält und gefoltert. Es wurde ihnen Gewalt angetan, Auberge. Eines der Mädchen wurde schändlich geschwängert. Und der Verantwortliche dafür ist der, 315 den du deinen Vater nennst. Du nennst ihn deinen Vater?!“ Ich spürte, wie mir die Stimme überschnappte. Sie saß mir gegenüber, und wirkte noch weißer als zuvor. Sie hatte ihre Hand zurückgezogen. „Ich weiß dies alles“, sagte sie, Körper und Antlitz völlig still, und sie blickte mir geradewegs in die Augen. „Deshalb, Domenic, war ich bei ihnen … und mit ihnen … in den Kerkern … ich hätte das nie gemußt, verstehst du? Deshalb habe ich dem armen, schwangeren Mädchen meinen Ring geschenkt: - Gossamer, die so rein war, wie das Quellwasser des Tyne. Deshalb muß ich von Zeit zu Zeit aufs Dach und die Flöte blasen, weil ich es sonst nicht ertragen könnte … – Er ist mein Vater … Domenic … mein Vater!“ „Mein Gott“, stöhnte ich, „es ist viel schlimmer als das. - Weißt Du, Auberge, daß Gossamer tot ist … wie drei andere von den Mädchen vor ihr, von denen du eine kennst und schätzt, nämlich Rosetta Manderlay. Ja, Auberge, die sieben Geliebten des Zeus … aber Stella Floyd ist tot und Rosetta Manderlay und Eusebia Purcell und Asunción Lozano, und sie sind alle ermordet, und ihnen allen wurde …“ - ich schluckte im allerletzten Moment hinunter, was ich schrecklicherweise hatte sagen wollen, denn ich sah sie da sitzen, und nun war sie weiß wie die Wand hinter ihr. Für einen langen Augenblick hielt sie ihre Augen geschlossen und ich sah, wie sie zitterte. Dann trafen mich die Augen wieder … wie die eines verwundeten Tiers. „Was hast du gesagt?“ fragte sie mit brüchiger Stimme, der Ton war ein Knistern, ein Rascheln wie von trockenem Herbstlaub, kein menschlicher Klang. „Ich habe gesagt“, begann ich vorsichtig, „… diese Frauen wurden …“, aber an dieser Stelle brach ich bereits wieder ab, weil ihre Hand, mit einer winzigen Geste auf der Tischfläche, mir Einhalt gebot. Ich sah eine Träne über ihr feines Gesicht rinnen. Ich hatte wieder den Eindruck, im Nebenzimmer eine Türe gehen zu hören, aber ich achtete nicht darauf „Ich habe gehört, was du gesagt“, flüsterte sie. „Und ich kann dies nicht glauben …“ Tränen rannen jetzt über ihr Gesicht, ohne daß sie zu weinen schien, eine Träne folgte der anderen, es war ein Strom einer unendlichen Flüssigkeit „… und ich muß es ja wohl doch glauben, wenn du es denn gesagt“, flüsterte sie. „– Aber ist es denn so, Domenic Holland, ist es tatsächlich so, wie du mir gesagt, daß du mich liebst? – Ich frage dich: Würdest du mir dergleichen über meinen Vater gesagt haben, wenn du mich liebst …“ „Auberge“, schluchzte ich auf, „wie sehr habe ich über lange Monate dieses Gespräch mit dir herbeigesehnt! Oh, Gott ist mein Zeuge! Glaubst du denn, daß ich mir vorgestellt, daß es dergestalt verlaufen würde? Vier Mädchen sind ermordet, und ich wollte nicht … oh Gott, ich habe so gefürchtet, daß du die nächste seiest. Ich habe mir nur innig gewünscht, dich rechtzeitig zu retten, dich fortzubringen von allem Bösen, in Sicherheit, habe geglaubt, dir von meiner Liebe sprechen zu dürfen, habe gewähnt, dich überzeugen zu können, gehofft, daß auch du mich …“ Weiter kam ich nicht - nicht einmal diesen einen so wichtigen Satz konnte ich zu Ende sprechen - denn die Tür flog mit einem entsetzlichen, immensen Krachen gewaltsam auf, nicht als ob sie geöffnet, eher, als ob sie gesprengt worden sei, so daß wir beide am Tische höllisch zusammenfuhren … und in der Öffnung stand, riesengroß, schlank, so daß er sich unter dem Türstock bücken mußte, grauhaarig und furchterregend, mit einem blitzenden Skalpell in der Hand, Dr. David Gideon Copeland. Er hielt sich seitlich an dem Durchgange fest, wie um sich selbst daran zu hindern, sofort hereinzustürzen und uns niederzumetzeln. Sein wilder, kalter Blick glitt flüchtig und höhnisch über das große Bett der Familie Duprêt auf der anderen Seite 316 des kleinen Zimmers hin, dann fiel er auf uns, die wir wie erstarrt am Tische saßen. Seine Hasenscharte zitterte mordlüstern wie die Lefzen eines kranken Tieres, es war der durchdringende Blick des Wissenschaftlers, der eine Protozoe unter dem Mikroskop betrachtet. „Sieh da, sieh da, wie traulich“, sagte er, aber seine Stimme war eher ein Röcheln als ein menschlicher Klang. Hinter ihm, durch die Tür, sah ich die noch offene Haustür, durch die er gekommen, und dort stand das größte der Kinder, angekleidet für den freien Himmel. So war die Sachlage einfach und klar – man hatte das Kind geschickt, ihn zu holen. Ich mußte daran denken, wie ich ihn erstmals gesehen, im Nachmittagslicht auf dem Rasen bei der Vernissage in Morass Manor, wie er sich zu mir umgedreht und ohne Grund so kalt und erbarmungslos gemustert hatte, als läge ich vor ihm auf dem Seziertisch. Schon damals hatte mich bei seinem Anblick gefroren. Und wie ich an ihm vorbeigestürzt war im Middlesex Hospital, als sei er der Gottseibeiuns. Aber hier, in all meiner Panik, blieb mir gar nichts zu tun, und als ich auf seine Äußerung hin eine unwillkürliche Bewegung vollführt haben mußte, die ich selbst nicht einmal bemerkte, fuhr er zu mir heran und hielt mir das Messer wenige Inches vor Augen. „Dies nur für den Fall, Mr. Holland, daß Sie irgendwelche Dummheiten planen sollten“, zischte er. „Die Schnitte mit diesem Instrument sind schnell und scharf wie die Hölle, Sie glauben es nicht … so scharf, daß Sie sie zuerst gar nicht sehen - so fein ist die Linie in dem verletzten Gewebe. Aber dann klafft die Haut auf wie eine Blume und das Blut schießt hervor. – Wagen Sie es“, sagte er, „wagen Sie nur sich zu rühren … es soll mir eine Freude sein …“ Er hielt mir das Skalpell, mit der scharfen Kante der Schneide auf mich gerichtet, vor die Augen – er rührte sich nicht, und ich hockte auf meinem Stuhle gebannt, bewegungslos wie ein Eiszapfen. Das blieb so einige Sekunden, dann irrte sein flackernder Blick zu Auberge hinüber, dann auf das Bett und dann zurück zu ihr. Seine Zunge erschien und leckte sich über die von Geburt zerstörten Lippen. Es war ein über die Maßen abstoßender Anblick. Mir fiel auf, daß er zum ersten Male zu mir gesprochen – aber welch eine Replik … „Guten Abend“, sagte er nun höhnisch zu Auberge, „oder wie es in dieser Umgebung vielleicht besser heißen sollte: Bonne soirée ...“ Ich sah, aus dem Augenwinkel, vorsichtig zu ihr hin. Die Tränen liefen über ihr weißes Gesicht und sie saß still wie eine Puppe. Mir wurde klar, daß sie ihn ja zwangsläufig kennen mußte … und seine animalische Unberechenbarkeit. „Guten Abend, Dr. Copeland“, erwiderte sie leise, ohne daß ihr Leib sich auch nur einen Deut rührte. „Ich muß Sie jetzt bitten, Miss Auberge“, sprach er höflich, aber so, als habe er einen unendlichen Widerwillen niederzuringen, so als würde jede einzelne Silbe, während er sprach, seinen Sprechwerkzeugen eine schier unmenschliche Anstrengung abverlangen, und vielleicht verhielt es sich ja gar so aufgrund seiner Verunstaltung, dachte ich … - „ich muß Sie jetzt bitten“, wiederholte er - und sein Blick fiel abermals lüstern auf das Bett – „Ihr trauliches Tête-à-tête hier abzubrechen und voraus nach draußen zu gehen. Dort erwartet Sie – dies nur, damit auch Sie nicht auf dumme Gedanken kommen, Mademoiselle – der Quaestor -- Sie kennen und schätzen ihn. Bitte gehen Sie, mein Fräulein.“ Ich hörte von Auberge einen unterdrückten, erstickten Laut und wußte, daß dies eine schlechte Nachricht war. Ich wagte es, meinen Kopf zu ihr zu drehen und zu beobachten, wie sie sich mit fashlem Gesicht nach einem Zögern erhob. Nun stand sie, in ihrem weißen Gewand, in der schwarzen Mantille, und sie sah ihn an, und dann mich. 317 Und dann geschah etwas Ungeheures, womit ich nicht gerechnet hatte. Ich hatte gedacht, sie würde letztlich einfach nur gehorchen und hinausgehen, still an mir und ihm vorbei, aber sie richtete sich kerzengerade auf mit ihrem wunderbaren Leib, mit einem plötzlichen, königlichen Stolz, unbeugsam, während der Strom der Tränen ungehindert über ihre Wangen floß. „Treten Sie von ihm zurück, Dr. Copeland - ich will mich von meinem Freund hier verabschieden können“, sagte sie mit einer heldenmütigen, eisklaren Härte in der Stimme, die ich ihr im Leben nicht zugetraut, und er, wohl gleichermaßen verblüfft wie erstarrt - verblüfft wie ich - zog sich in der Tat von mir zwei Schritte gegen die Türe zurück, wo er verharrte, das Skalpell sozusagen in abwartender Stellung. Sie aber, sie trat dieselben zwei Schritte auf mich zu und blickte von oben auf mich herab. „Ich weiß jetzt, woher ich deinen Namen kannte, Domenic Holland“, sprach sie leise. „Dieser Mann“, und dabei wies sie mit schräg ausgestrecktem Arm auf Dr. Copeland, fast berührte sie seinen Unterleib mit dem Finger, „dieser Mann und mein Vater – sie haben in London über dich gesprochen, und ich habe das zufällig gehört.“ Sie zog ihren Arm zurück, blickte mich an, mit ihren in Tränen schwimmenden Augen. „Ja“, flüsterte sie schwach, „ich weiß jetzt, mein Freund, daß du mich liebst, ich glaube dir … und möge es dir fürderhin immer gut ergehen. Lebe wohl …“ Sie stand dort über mir, und dann kam sie herab. Sie beugte sich über mich, und ihr Haar fiel plötzlich um mich her, ihr Gesicht war dicht an dem meinen, und ich fühlte, feucht und süß und tränensalzig, ihren Mund auf dem meinen, fühlte, wie ihre Zunge meine widerstandslosen Lippen zerteilte … es war … ich hatte so etwas nie zuvor erlebt, keine Frau geküßt … der Erdkreis stand still und die Sonne verbrannte in ihrem eigenen Licht, und ich kam nicht eher zu mir, als bis das Mädchen Auberge hinausgegangen war, sich in einer Sekunde von mir gelöst hatte und stolz an dem grauenvollen Arzt vorbei hinausgeschritten war, der trotz seiner Riesenhaftigkeit mir auf einmal wie ein häßlicher Zwerg in der Türe lehnte. Und sie war fort. Er funkelte mich an, mit unbändigem Haß. „Das“, sagte er rauh, „das hat Ihnen gefallen, Sie Ratte, das hat Ihnen gefallen, geben Sie es zu. Oh ja, mein Freund“, er bewegte das Messer läppisch, täppisch in seiner Hand in der Luft, „wir werden uns wiedersehen, Holland. Wir werden uns wiedersehen, mein Freund, aber wenn ich Ihnen vorab einen Rat geben darf … fürchten Sie … bei Gott … fürchten Sie diesen Tag.“ Und er richtete sich auf, und es war eine einzige, flinke Bewegung, mit der er sich aufrichtete, sich zurückzog und die Türe hinter sich schloß, und es geschah so plötzlich, daß ich allein in dem Zimmer mit dem großen Bett war - daß ich es in der ersten Sekunde gar nicht begriff. Dann, allerdings, war ich auf den Beinen, zitterte wie Espenlaub, griff mir stürmisch das Glas schlechten Weines, von dem ich nur einen Schluck getrunken und stürzte es auf einen Zug hinunter, nahm mir auch ihr Glas, nahm es – sie hatte daraus getrunken, dachte ich fieberhaft, sie hatte daraus getrunken – nahm es an meine Lippen und leerte auch dieses, ohne es ein einziges Mal abzusetzen. Dann kehrte ich mich und riß die Tür zum vorderen Zimmer auf. Die Familie verharrte in der Starre des Entsetzens, Schwager, Frau und Kinder, zusammengedrängt, irgendwo auf der Linken, die Türe nach draußen stand sperrangelweit offen, dahinter die Nacht. Auf dem Tisch lag noch das Goldstück, das ich ihnen hingelegt. Ich überlegte einen Augenblick, ob ich es mir wiedernehmen, stehlen sollte, für den feigen Verrat, den sie an Auberge und mir geübt. Dann nahm ich es nur auf und schleuderte es ihnen wutentbrannt vor die Füße, so daß es irgendwo hinkollerte. Ich stürzte zur Pforte und drehte mich dort letztmals um. „Bonne nuit“, stieß ich ruppig in der Bewegung hervor, und zog die Türe so mächtig hinter mir ins Schloß, daß ich dachte, sie müsse zersplittern. 318 Draußen lag die finstere Galerie. Ich bückte mich und hetzte zu dem Durchgang nach draußen, spähte um die Ecke, um Ballustrade und Säule herum, nach rechts, nach Westen, in Richtung auf die einzige große Kreuzung des Dorfes, dort, wo ich die Fackeln vor dem ‚White Hart’ flackern und brennen sah. Und richtig – da waren sie, da gingen sie. Ihre Schatten hüpften vor dem züngelnden Schein der Fackeln auf und ab. Drei – in der Mitte, an den Ellenbogen gestoßen und geführt: Auberge, ihr zur rechten, hager und aufgeschossen: Dr. Copeland, ihr zur Linken: die Silhouette eines anderen Mannes, den ich meinte, irgendwo schon gesehen zu haben. Enid Luciter war es nicht. Der Questor … Und noch während ich hinschaute, nur eine Sekunde später, bogen sie alle nach links um die Ecke und waren verschwunden. Ich setzte aus dem Kreuzgang hinaus und hetzte los, als gelte es mein Leben, an dem rechts liegenden Tanzbaum und den Kirchentreppen vorbei, voraus, hinunter, geradeaus, auf die Fackeln des ‚White Hart’ zu, zur Kreuzung. Und natürlich war ich viel schneller als sie, weil sie zwar geschwind ausgeschritten waren, aber ich war gerannt, was meine Beine und Lungen hergaben – gleichwohl, als ich an der Kreuzung anlangte und um die Ecke spähte, links hinunter, wohin sie sich gewandt - dies war die Richtung nach Newton Abbot - lag das Stückweit gerader Straße, das ich einsehen konnte, vor mir, dunkel und leer. Ich zögerte keine Sekunde und rannte dort hinunter, hundert Yards oder auch das Doppelte … Sie mußten sich in Luft aufgelöst haben. Ich blieb stehen, fuhr herum und starrte das Stück Straße hoch zurück, von wo ich gekommen und wo sie verschwunden waren. Ich war derart kurz nach ihnen an der Kreuzung angelangt und sie wesentlich langsamer gelaufen als ich – sie mußten in eines der Häuser gleich nach der Ecke entschwunden sein und zwar von mir aus gesehen auf der linken Seite, weil dies das Konglomerat aus Bauten, Mäuerchen und Höfen war, zu dem gleich als Eckhaus an der Kreuzung das ‚White Hart’ gehörte, Häuser auf der anderen Straßenseite, der rechten, kamen nicht in Frage, weil ich sie in der Nacht auf einem der Dächer beim ‚White Hart’ gesehen, nicht jenseits dieser Straße. Ich lief langsam zurück. Es konnte nicht das ‚White Hart’ selbst gewesen sein, wo hinein sie entwischt, denn das besaß zu dieser Straße keinen Ausgang, nur seine dicken, geweißten Mauern und kleine Fenster darin. Also mußte es, überlegte ich, das Nachbargrundstück oder bestenfalls das übernächste gewesen sein, denn mehr Zeit war nicht gewesen. Auberge wurde auf dem Nachbargrundstück zum ‚White Hart’ oder auf dem angrenzenden gehalten. Ich nahm die betreffenden Bauten in Augenschein. Beide lagen dunkel, wie unbewohnt, aber das war der Jahres- und Uhrzeit geschuldet. Es mußte nun etwas vor sieben sein. Das dem ‚White Hart’ nächstgelegene Haus stand etwas zurückgesetzt und besaß in der Fluchtlinie des ‚White Hart’ vorne an der Straße eine Mauer, ein Mäuerchen eher, allerdings mit einem ummauerten, acht Fuß hohen breiten Gittertor in der Mitte, so daß dahinter eine Art Vorhof gebildet ward. Das hohe, schmiedeeiserne, ummauerte Tor war lächerlich, da das Mäuerchen beiderseits niedrig genug war, daß ich bequem über seine Krone schauen und notfalls genauso leicht hinüberspringen konnte. An der schmiedeeisernen Pforte hing in der Mitte eine mächtiges Vorhängeschloß. Mir wollte nicht in den Kopf, daß die wenigen Sekunden, die sie meinen Augen unsichtbar gewesen, genügt haben sollten, ein Vorhängeschloß zu öffnen, zu dritt hindurchzutreten, wieder abzuschließen, über den Hof zu laufen und im Haus zu verschwinden. Oder sie waren über die Mauer gestiegen, so wie ich es für mich in Aussicht genommen – mit dem Mädchen in ihrer Mitte? – nein, ich entschied mich auch gegen dieses lächerliche Bild. Ich trat von dem Gitter zurück zur Mitte der Straße, um das links davon liegende Gebäude in Augenschein zu nehmen. Es war ein mächtiger Steinklotz, der kaum Fenster aufwies und nur eine einzige winzige Pforte zur Straße. Ich schaute mich um, zur Ecke. Konnten sie es von 319 dort in den wenigen Augenblicken, die ich sie nicht hatte sehen können, wirklich bis zu jener Pforte geschafft haben? – es schien mir zweifelhaft. Außerdem, beide Häuser besaßen etwas, das mir mißfiel - beziehungsweise besser, es fehlte ihnen etwas, das ich mir für die Fluchtburg eines Sir Enid Luciter unbedingt vorgestellt: Keines von ihnen besaß eine Ausfahrt für einen Wagen und Pferde. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, daß Sir Enid auf offener Straße eine Kutsche vorrollen lassen und diese dann in aller Ruhe bepacken würde, nein, dies würde verstohlen auf einem Grundstück geschehen und der Ausbruch dann sekundenschnell erfolgen, dessen war ich mir sicher. Nun gut, es konnte immerhin auch eine Torausfahrt zur anderen Seite des Häusergeviertes hin geben - nein, falsch, korrigierte ich mich, denn ich entsann mich, daß ich die beiden rückwärtigen Wege, als ich des Morgens einmal herumgegangen war, als viel zu eng für Kutschen und Pferde befunden. Ich schaute mich verblüfft um. Wo hatte Sir Enid seinen Wagen und die Pferde? Ein Stück hinab die Straße lag ein anderes, recht erhebliches Coaching Inn, das sich ‚The White Bear’ nannte – sehr lustig, ‚The White Hart’ – ‚The White Bear’, dort sah ich im Hintergrund Ställe liegen, aber das Coaching Inn, ich hatte dies schon des Morgens bemerkt, war insgesamt geschlossen. Wo also waren sie? Was also sollte ich tun? Und wer und was war „der Quaestor?“ Auberge hatte Furcht vor ihm gezeigt, das war klar, und Copeland hatte sich genüßlich ihre Angst vor diesem Menschen für seine Drohung zunutze gemacht: „Gehen Sie hinaus, Mademoiselle, draußen wartet der Quaestor.“ - Ich sah im Geiste wieder die drei hüpfenden Silhouetten vor mir die Straße hinuntereilen und um die Ecke verschwinden. Es war ein kleiner Mann gewesen, ein junger Mann, das sah man am Gang, fast dürr und kaum größer als Auberge, ein zierlicher Mensch, und mit einem sonderbar schmalen, schlanken Kopf. Sonderbar! Und das Verrückte daran: Das wußte ich! - ich hatte ihn irgendwann schon einmal gesehen … den Quaestor … Und wo zum Teufel waren sie in den paar Sekunden hin? Würde ich das endlich ermitteln?! Ich trat zweifelnd wieder an das hohe Gatter heran, fixierte das Mäuerchen, sollte ich hinübersteigen, was ein Leichtes gewesen wäre? – nun gut, und dann? Sollte ich durch den Hof gehen und an der Türe klopfen, dann konnte ich auch gleich den alten, eisernen Klingelzug am Tore betätigen. Und dann, was dann? Würde man mir auftun und sich höflich nach meinem Begehr erkundigen? Närrisch! Grotesk! Oder es war gar nicht das Haus, wo Luciter sich versteckte und eine ältere Frau schaute fassungslos heraus, und wie sollte ich ihr dann erklären, was ich von ihr wollte. -- Oder es war doch das Anwesen von Luciter, und trotzdem schaute eine ältere Frau heraus - weil er sie nämlich dafür bezahlte und sie hieß, mich zu täuschen und als harmlose Alte aus der Tür zu schauen, zu fragen, was ich wolle. Ich stand auf der Straße an das Mäuerchen gelehnt und stöhnte. Es war zum Verzweifeln! Vor allem besaß ich die entsetzliche Sicherheit, daß mit jeder Sekunde, die ich hier mit sinnlosem Herumtasten im Gewirr meiner Gedanken verbrachte, sich der Vorsprung vergrößerte, den sie vor mir hatten, daß jeden Moment Auberge von mir weiter entfernt wurde mit rasender Geschwindigkeit. Kostbare Minuten war es jetzt schon her, seit sie hier irgendwo verschwunden! Nein, dachte ich, hier zu klopfen hatte keinerlei Sinn, es mußte ein heimliches Eindringen sein, zweifellos, - heimlich, strategisch und schnell, aber dafür hinwiederum war diese Straßenseite des Anwesens absolut nicht die richtige Stelle, nur Mauern und verschlossene Türen, so weit ich sehen konnte, oder sollte ich irgendwie übers Dach klimmen? Aber ich sah keinen Schuppen, über den ich vielleicht hätte bis zur Traufe hinaufgelangen können, es gab keine Fenstergesimse für den geschickten Kletterer, keine Bäume mit hilfreichen Ästen in günstiger 320 Lage, und es war auch niemand so freundlich gewesen, eine Leiter abgestellt oder vergessen zu haben. Augenblick, dachte ich, wie auf’s Dach? Und dann war urplötzlich mein uralter Gedanke aus der letzten Nacht wieder da, jetzt hin in mein Zimmer, hinaus aus dem Fenster, und so befand ich mich ja bereits in Höhe der Dächer! Ich kehrte mich fort von der Mauer - mein Blick fiel wieder auf das geschlossene, dunkle Coaching Inn auf der anderen Seite ein Stück die Straße hinunter, hinter dem sich die Ställe befanden. Was war, wenn Sir Enid Pferde und Wagen doch nicht innerhalb dieses Häusergeviertes stehen hatte, wofür immerhin der Mangel an geeigneten Ausfahrten allenthalben sprach, und wenn er zwar nicht auf offener Straße vorfahren und zuladen und einsteigen würde - aber wenn die Pferde woanders standen und jetzt bereits signalisiert worden war, sie und den Wagen vorzubereiten? - Und während ich um die Ecke ins ‚White Hart’ und dort hinauf auf mein Zimmer lief, dort aus dem Fenster kletterte und lebensgefährlich über die Dächer lustwandelte, liefen unterdessen sie hier heraus und erreichten die Kutsche und waren auf und davon, ehe ich mich dessen versah! War es also besser, hier zu warten, bis sie wieder herauskommen würden? Nun, und dann, du Narr? fragte ich mich. Sie waren zu viert, zu fünf, zu sechst, Copeland, der Questor, was wußte ich denn, und bewaffnet natürlich, und ich allein. Nun denn? Sollte ich Hilfe holen? Woher? Wem konnte ich den kalten Wahnsinn dieser Geschichte in aller Kürze so glaubhaft verdeutlichen, daß er mir half - kannte ich doch niemanden hier? Abgesehen davon, es war das gleiche: Ich gab meinen Posten hier auf, um Hilfe zu holen, und in gerade dieser Zeit entwischten sie hier heraus. Mir liefen die Tränen des Zorns über das Gesicht. Himmel, hilf! Gab es denn keinen Ausweg?! Ich musterte verzweifelt aus der Entfernung die dunklen, stillen Ställe auf der anderen Seite. War es wahrscheinlich, daß Luciter Pferde und Kutsche unterstehen hatte bei dem geschlossenen Coaching Inn? - „Nein“, sprach ich laut, so daß jeder, wenn jemand dagewesen wäre, es hätte hören können, „nein, es ist nicht wahrscheinlich! Dort stehen Luciters Pferde nicht!“ Drei oder mehr Minuten waren um, seit Gideon Copeland und der andere mit meiner Auberge spurlos verschwunden. Augenblick, Augenblick, grübelte ich fieberhaft. Wo standen die Pferde, mit denen wir gekommen waren, ich meinte die Postpferde, die Postkutsche? War es nicht am realistischsten anzunehmen, daß dort auch Sir Enids Pferde standen. Natürlich! Das war der Weg! Endlich! Für einen winzigen Augenblick frohlockte ich. Ich brauchte bloß ins ‚White Hart’ zu laufen, unseren Kutscher seit Exeter ausfindig zu machen, zu fragen, wo seine Pferde standen … ja, genau … und diese Zeit … fiel mir wütend bei, würden sie hier nutzen herauszukommen und bequem die Flucht zu bewerkstelligen. Abermals: Sie wären auf und davon, ehe ich noch die rechte Adresse gefunden … Abgesehen, daß es auch ganz anders sein konnte - daß es doch irgendwo anders eine Ausfahrt gab - oder daß die Pferde nicht bei den Postpferden standen --- oder daß … es fiel mir jetzt erst ein … Ja, Herrgott, als sie um die Ecke verschwunden … konnte es da nicht sein, daß direkt dahinter die Kutsche bereits fluchtbereit gestanden und daß sie die Straße nach Newton Abbot in voller Fahrt hinuntergeprescht waren, eine Sekunde nachdem sie die Ecke passiert? Ich sah das Stück weit Straße hinunter bis zur nächsten leichten Biegung, hinter der sie hätten vielleicht untertauchen können – eine recht ordentliche Strecke, befand ich – wäre es wohl möglich gewesen, diese Distanz in vollem Galopp zu überwinden, bis ich die Ecke erreicht, es schien 321 mir an sich zu weit, aber war es unmöglich? Und ich, hätte die die Kutsche nicht wenigstens hören müssen, wenn sie unmittelbar hinter der Ecke abfuhr? Ich sah mich fast panisch um und wußte. Jede Sekunde, die ich vor meinem eigenen Geiste mit mir selbst weiter disputierte, machte die Frage, um die es ging, nur akademischer. Nun, ehrlich zu sagen, dachte ich, ich konnte nicht daran glauben, eine rollende Kutsche überhört zu haben, andererseits war ich in vollem Laufe gestürmt und hatte sicher scharf dabei geatmet … Einerlei, ich wußte es einfach nicht … was ich auch tat … hier zu bleiben, die ganze Nacht über, oder wegzugehen aus dem einen oder anderen Grund, nichts konnte mir helfen … und vier oder fünf Minuten seit dem Verschwinden der drei. Die Zeit, befand ich, war mir endgültig davongelaufen … Ich brach auf der dunklen Straße in Tränen aus, ein wütendes, brüllendes Schluchzen, und ich trat und schlug mit den Fäusten sinnlos gegen das Mäuerchen, bis ich mir den Fuß verstaucht hatte und meine Knöchel bluteten. Dann trottete ich zum ‚White Hart’ zurück. Vor dem Eingang, im Lichte der Fackeln, säuberte ich, so gut es ging, mein nasses Gesicht mit dem Ärmel. Ich hatte vor, mich in mein Zimmer zu stehlen und an der Schüssel gründlicher zu waschen, aber der Wirt sah mich, als ich hereinkam, und er erschrak bei meinem Anblick. „Um Gottes Willen, Sir?“ fragte er entsetzt und kam sorglich heran. „Was ist Ihnen geschehen? Hat man sie überfallen, Sie ausgeraubt?“ Ich wehrte ihn ab, wahrscheinlich nicht allzu freundlich, und behauptete, ich sei lediglich im Dunkeln auf der Treppe des Tanzbaumes gestürzt. „Mein Fehler“, stieß ich hervor, „um diese Zeit dort hochzugehen. Kümmern Sie sich nicht – es ist gut.“ Er teilte mir mit, daß das Essen bereitstünde, die anderen seien schon dabei, und er anempfahl es mir mit warmen Worten, aber ich bestand darauf, erst auf meine Kammer zu gehen und mich zu reinigen, ich wolle die anderen nicht beunruhigen. Ich stieg die Treppe hinauf und tat genau so, wie ich mir vorgenommen: Ich stellte mich so weit wie möglich wieder her. Die Wunden schmerzten zwar, waren aber unbedeutend, Hautabschürfungen, die nach kurzer Zeit kaum mehr bluteten, und die ich deshalb nicht verband, auch um nicht mit Verbänden an den Händen noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen als mit einigen harmlosen blutigen Schrammen, ebenso tat der Knöchel jetzt weher als zuvor, was mich etwas hinken machte, aber insgesamt ging es. Ich hatte wahrlich andere Probleme Erst später also kam ich herunter, und natürlich wurden meine Verletzungen sogleich bemerkt, vielleicht hatte auch der Wirt geplaudert. Ich blieb bei der Geschichte, daß ich von der Tanztreppe gestürzt sei, und im weiteren Verlauf führte das zu manch einer heiteren und auch spöttischen Anmerkung der anderen, als man vereint am knackenden, prasselnden Kaminfeuer saß und süßes Ale trank. Die Witwe, die zwei Schwestern, selbst der reisende Vikar – sie schienen den Tag mehr oder minder zusammen verbracht zu haben, ich hörte etwas von einer Fußwanderung bis fast hoch auf das Moor, von wo die Aussicht in Gottes weite Natur unübertroffen herrlich gewesen sei – auf irgendeine Art waren sie näher zueinander gekommen, und ich war aus diesem Zirkel ausgeschlossen. Mich scherte es nicht. Ich aß für mich allein, das Mahl war in der Tat sehr schmackhaft, aber offen gesprochen, ich habe nicht einmal in Erinnerung behalten, was es gewesen. Und während der ganzen Zeit spürten meine Gedanken wie unsichtbar bebende Tentakel hinaus, lauschten meine Ohren in eine ungewisse Ferne, wo ich vermeinte, das polternde Rollen einer Kutsche zu vernehmen, die davonstürmte, den Weg hoch aufs Moor nahm und weiter hinein in eine lautlose, mondlose, gefährliche Nacht … 322