Jeffrey A - Ummafrapp

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Jeffrey A. Fisher
Krankmacher Antibiotika
Warum die Seuchen wiederkommen
DTV 30489 (1995) (Ausschnitte Kapitel 1, 5, 6, 7 und 8)
Der Auftakt zum Desaster
Fall eins: Eines Abends steigt ein fünfzigjähriger Kaufmann
in eine Linienmaschine von New York nach Boston
- dringende Geschäftstermine warten dort auf
ihn. Noch beim Abflug fühlt er sich kerngesund, doch
kurz nach seiner Ankunft im Hotel machen sich eine
verstopfte Nase und ein rauher Hals unangenehm
bemerkbar. Zunächst glaubt er an eine leichte Erkältung,
aber sein Zustand verschlimmert sich. Das Fieber
steigt in der Nacht auf 39 °Celsius, er leidet unter
Schüttelfrost und trockenem Husten, alles Symptome
einer starken Grippe. Er kapituliert, sagt alle Termine
ab und fliegt zurück nach New York. Drei Tage später
stirbt er im Krankenhaus an einer Lungenentzündung
- trotz hoch dosierter Gabe eines CephalosporinAntibiotikums.
Fall zwei: Ein achtundzwanzigjähriger Basketballspieler
muß sich wegen des Abschlusses einer hohen
Lebensversicherung einer Blutuntersuchung unterziehen.
In der darauffolgenden Woche teilt ihm sein Arzt
mit, er sei HIV-positiv. Allerdings versichert er ihm
auch, daß alle anderen Werte normal seien. Man könne
sogar sagen, er befinde sich bei guter Gesundheit, die
Krankheit sei noch nicht ausgebrochen, und es spreche
nichts dagegen, weiterhin Basketball zu spielen. Einen
Monat später - er ist mit seinem Team unterwegs fühlt er sich matt und schlaff. Er kramt in seiner Sporttasche
nach den Antibiotika, die er zur Vorsorge immer bei sich hat
und auf ärztliche Anordnung gegen Erkältungen und andere
leichte Infekte einnimmt. Im Handumdrehen fühlt er sich wieder
besser. Drei Monate später bricht Aids aus. Ein Jahr danach
ist er tot.
Fall drei: Einer jungen Mutter fällt auf, daß ihre dreijährige
Tochter fiebrig und unruhig ist. Ständig zupft
sie sich am rechten Ohr. Der Kinderarzt diagnostiziert
eine Mittelohrentzündung und verschreibt das Antibiotikum
Amoxycillin. Er verspricht, die Infektion werde dadurch innerhalb
weniger Tage abklingen. Der Zustand des Kindes verschlechtert
sich jedoch stündlich. Das Fieber steigt unablässig, das Mädchen
erbricht und bekommt einen steifen Hals. Noch in der
Nacht wird das Kind in die Notaufnahme des Krankenhauses
gebracht, wo nach einer Liquorpunktion, der Entnahme von Rückenmarkflüssigkeit eine akute bakterielle Hirnhautentzündung (Meningitis)
festgestellt wird. Trotz intravenöser Antibiotikagabe stirbt
das Mädchen am nächsten Morgen.
Fall vier: Eine vierundvierzigjährige Ärztin leidet an
immer wiederkehrenden Blaseninfekten, sie verspürt
ein Brennen beim Wasserlassen stellt zudem Blut im
Urin fest, hat hohes Fieber und stechende Schmerzen
in der rechten Körperhälfte. Ihre zutreffende Selbstdiagnose
lautet: Nierenbeckenentzündung. Sie ruft ihren Freund an,
einen Nierenspezialisten, der ihr bestätigt, was sie schon
befürchtet hatte: Zur intravenösen Verabreichung von Antibiotika
muß sie in eine Klinik - sie hat Angst.
Warum sollten sich Ärzte, für die der Anblick, die
Geräusche und der Geruch eines Krankenhauses zum
täglichen Leben gehören, davor fürchten, selbst als
Patienten eingeliefert zu werden?
Die Antwort ist einfach: Sie sind sich weit mehr als
sonst irgendjemand der Gefahren bewußt, die in den
Hospitälern lauern. Nur zu gut wissen sie, daß in diesen
strahlenden High-Tech-Tempeln, in denen täglich
medizinische Wunder vollbracht werden, die Geister
vergangener Zeiten umgehen. Wir wähnten sie schon
längst vergessen. Doch die Ärzte wissen, daß der typische
Krankenhauspatient der neunziger Jahre zwar mit
organischen Erkrankungen wie Krebs, Herzleiden,
Schlaganfall oder Begleiterscheinungen des Diabetes
eingeliefert wird und auf Hilfe hofft. Sie sind sich aber
auch dessen bewußt, daß den Patienten anderes Unheil
droht, daß wir uns - eigentlich unvorstellbar - klinisch
längst wieder auf dem Stand der dreißiger Jahre befinden.
Die Ärzte ahnen angesichts der bestehenden Gefahr,
daß das Personal in den Krankenhäusern kaum behandelbaren
Infektionskrankheiten wie Lungenentzündung
(Pneumonie), Tuberkulose, Meningitis, Typhus
und Ruhr (Dysenterie) machtlos gegenübersteht.
Blicken wir sechzig Jahre zurück: Damals stellten
nicht die organischen Erkrankungen, sondern die
Infektionskrankheiten die Hauptursache für Schmerz
und Tod dar. Wir hatten ihnen nur wenig entgegenzusetzen.
Das war vor der Entdeckung antibiotischer Medikamente.
Heute stehen dem Arzt unzählige verschiedene
Antibiotika zur Auswahl: In den Vereinigten
Staaten befanden sich 1992 weit über vierhundert
antibakterielle Mittel auf dem Markt."
" In Deutschland werden 1995 in der Roten Liste einhundertfünfundfünfzig
antibakteriell wirksame Substanzen( Antibiotika,
Chemotherapeutika, Antimykotika, Virustatika, ohne Desinfektionsmittel)
aufgeführt. Da jedoch viele dieser Substanzen nicht
mehr patentgeschützt sind und von den Generikaherstellern unter
verschiedenen Namen gleichzeitig angeboten werden, kann zur
Anzahl der Handelspräparate keine Angabe gemacht werden, die
nicht schon einen Monat später überholt wäre.
Trotz dieses beeindruckenden Rüstzeugs sterben in
den Hospitälern Tag für Tag Patienten an unheilbaren
Infektionen, ob in New York, London, Paris, Tokio
oder Barcelona. Der erschreckende Fall von Jim Henson,
dem Erfinder der Muppets, der vor einigen Jahren
in einem New Yorker Krankenhaus plötzlich an
schwerster Lungenentzündung starb, war nicht anormal,
sondern ein alltäglicher Vorbote der Katastrophe.
Wir haben die Gefahren der Infektionskrankheiten
nicht überwunden, wir sind ihnen - mehr denn je und
vor allem .n den USA - offensichtlich hilflos ausgeliefert.
Denn den heute in unseren Krankenhäusern vermehrt
auftretenden Infektionen können die meisten
Antibiotika nichts mehr anhaben. Bislang vertrauten
wir der Wirkung der Antibiotika blind. Doch nun stehen
die Ärzte dem Geschehen neuerlich machtlos
gegenüber. Wie in den Zeiten vor der Entwicklung der
Antibiotika können sie nur zusehen, die Angehörigen
trösten und auf ein Wunder hoffen. Der Fall liegt
heute jedoch ein wenig anders: Vor der Entwicklung
der Antibiotika boten sich noch keine therapeutischen
Möglichkeiten an, heute, so glauben viele Fachleute,
haben wir diese nahezu ausgeschöpft.
Nicht nur in den Kliniken lauert die Gefahr. Bakterien,
die neuen Epidemien antibiotikaresistenter Lungenentzündung,
Meningitis und eine Unzahl anderer Infektionen auslösen können,
sind durch zufälligen Kontakt, beispielsweise im Einkaufszentrum oder
im Kino, übertragbar. Die Todesfälle durch verschiedene
infektiöse Erkrankungen häufen sich überall auf der
Welt in alarmierender Weise. Alles Anzeichen einer
drohenden Katastrophe, die innerhalb der kommenden
zehn Jahre - vielleicht sogar früher - Millionen
von Menschen treffen wird. Wir stehen am Rande des
Abgrunds. Wenn wir jetzt nichts dagegen unternehmen,
werden wir eine verheerendere Epidemie von
Infektionskrankheiten erleben als je zuvor.
Den Auslöser dieser Krise bilden paradoxerweise
die Antibiotika selbst. Tatsächlich wurde der Gedanke,
daß die Behandlung infektiöser Erkrankungen ein
zweischneidiges Schwert sein kann, schon vor fast
hundert Jahren geäußert. Der deutsche Nobelpreisträger
für Medizin Dr. Paul Ehrlich, Vater der Immunologie
und der spezifischen Therapie von Infektionskrankheiten,
bemerkte, daß Syphiliserreger gegen das
von ihm entwickelte Arsenderivat eine Resistenz entwickeln
konnten. Salvarsan, so der Name dieses Mittels,
war zwar kein Antibiotikum, auch wußte Ehrlich
nicht genau, wie sich diese Resistenz herausbildete,
doch die biomechanischen Vorgänge ähnelten den später
bei Antibiotika nachgewiesenen Prozessen.
Deutsche und englische Wissenschaftler entdeckten
schon im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten
Jahrhundert Schimmelpilze mit antibakteriellen
Eigenschaften. Der Beginn des modernen Zeitalters
der Antibiotika wird aber nur mit einem Namen in
Verbindung gebracht: 1928 entdeckte Sir Alexander
Fleming durch einen glücklichen Zufall die antibakteriellen
Eigenschaften des Brotschimmelextrakts Penicillin.
Aber als Bakteriologe zog Fleming die therapeutische
Bedeutung seiner Erkenntnisse nicht in Betracht.
Es vergingen nahezu fünfzehn Jahre, ehe
Howard Florey und Ernst B. Chain, zwei Wissenschaftler
aus Oxford, die Wirkung des Penicillins für
den Menschen erprobten und nachweisen konnten.
Nur wenige Jahre später folgte die Massenproduktion
des Medikaments. Zusammen mit den Entdeckungen
der Sulfonamide durch den deutschen Mediziner und
Bakteriologen Gerhard Domagk in den dreißiger Jahren,
von Streptomycin durch den Mikrobiologen Selman Waksman
an der Rutgers-Universität von New Jersey und den Cephalosporinen
durch Giuseppe Brotzu Mitte der vierziger Jahre, leitete dies die Ära
der Antibiotika ein und revolutionierte so die medizinische
Praxis.
Es war eine aufregende Zeit für Ärzte. Endlich hatten
sie eine Waffe in der Hand, mit der sie - ähnlich
wie der heilige Georg den Drachen - Bakterien zur
Strecke bringen konnten. Jene Geißel der Menschheit,
die im Laufe der Jahrhunderte mehrmals fast ganze
Völker ausgelöscht hatte. Die neuen Mittel, die »Wunderwaffen“,
die Ehrlich gesucht, doch nie gefunden hatte, wurden gegen
beinahe alles verordnet und fast immer mit Erfolg. Die Überlebensrate
bei der bis dahin so gefürchteten Lungenentzündung, die der
weltberühmte Mediziner Sir William Osler 1901 als
»Kapitän des Todes« bezeichnet hatte, stieg sprunghaft
an: von weniger als zwanzig Prozent im Jahre
1937 auf fünfundachtzig Prozent im Jahre 1964. Walsh
McDermott beschrieb dies 1982 in einem Artikel der
medizinischen Fachzeitschrift Johns Hopkins Medical
Journal: Die Einführung der Antibiotika in die medizinische
Praxis» läutete den Beginn einer neuen Ära
ein, in der buchstäblich Millionen von Menschen dem Tod geweihte oder zu Invalidität. verurteilte Kinder,
Erwachsene und Ältere - verschont wurden. „Der
Hausarzt wurde zum Helden“.
Die Entdeckung der Antibiotika gilt auch heute
noch als eine der bedeutendsten medizinischen Errungenschaften
des zwanzigsten Jahrhunderts, und es
werden auf diesem Gebiet immer noch neue wirksame
Einsatzmöglichkeiten entwickelt. Erst 1992 wies man
beispielsweise nach, daß einige Arten von Magengeschwüren,
die man jahrzehntelang für eine Folge übermäßiger
Magensäureproduktion hielt, statt dessen von
einem weitverbreiteten Bakterium, dem Heliobacter,
hervorgerufen und mit Antibiotika geheilt werden
können.
In den dreißiger und vierziger Jahren wurden zwar
noch andere erstaunliche medizinische Fortschritte
erzielt, aber gerade die antibakterielle Therapie stellte
ein wirklich schweres Geschütz dar, mit dem einige
Infektionen verhindert, andere geheilt und die Übertragung
und Ausbreitung von Krankheiten eingedämmt
werden konnten.
Es ist also völlig verständlich, daß niemand erste
Anzeichen der Gefahr beachten wollte, als bereits vereinzelt
darauf hingewiesen wurde. In einer Abhandlung
in der Fachzeitschrift The British Journal o[
Experimental Pathology aus dem Jahre 1929 führte
Fleming aus, daß Penicillin im Labor zwar außergewöhnlich
wirksam das Wachstum von Staphylokokken
hemmt, bei anderen Bakterienformen, den sogenannten
Kolibakterien (heute als Escherichia coli oder
kurz E.coli bezeichnet) allerdings keinerlei Wirkung
zeigt. Elf Jahre später isolierten Ernst B. Chain und
dessen Kollege Edward P. Abraham ein Enzym aus
Kolibakterien, das Penicillin zerstören konnte, und
lieferten so den biochemischen Beweis für Flemings
Beobachtung.
Aufgrund dieser Laborbefunde wurden schon einmal
leise Warnungen ausgesprochen. 1942, noch vor
der kommerziellen Vermarktung von Penicillin, machte
Fleming den medizinischen Berufsstand darauf aufmerksam,
daß Staphylokokken ebensolche Widerstandsfähigkeit
gegen Penicillin entwickeln konnten, wie er sie bei Kolibakterien
beobachtet hatte. Zwei Jahre später, kurz nach der Einführung
von Penicillin auf dem US-amerikanischen Markt, verdammte Florey
öffentlich den Mißbrauch des Medikaments. Ein
Mißbrauch, der in Großbritannien bereits absurde
Formen angenommen hatte: Penicillin wurde wie
Bonbons verteilt, das Angebot konnte mit der Nachfrage
nicht Schritt halten.
Florey stellte fest, daß bei einer Penicillinbehandlung
die Anzahl der resistenten E.coli und anderer
Bakterien, deren krankheitserregendes Potential unbekannt
war, sogar anstieg. Am beunruhigendsten war,
daß Florey Fälle vorweisen konnte, bei denen die
Wirksamkeit dieses neu eingeführten Wundermittels
sogar schon abnahm. Er führte klinische Beispiele an,
bei denen zur Eindämmung der Infektion das Achtfache
der normalen Anfangsdosis benötigt wurde.
Aber die Warnungen Floreys, Flemings und anderer
Wissenschaftler mit klarem Kopf verhallten in der
Euphorie des Augenblicks ungehört. Niemand wollte
schlechte Neuigkeiten hören. Medizinische Kassandrarufe
hatten keinen Platz im Zeitalter der Wundermittel.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis diese Kassandrarufe
Wirklichkeit wurden. Erste Berichte über den
Ausbruch von Infektionen, die aufgrund antibiotikaresistenter
Bakterien nur schwer: oder gar nicht zu
behandeln waren, erschienen schon in den vierziger
Jahren in medizinischen Fachzeitschriften.
Die Antibiotikaresistenz steht also nicht erst seit
kurzem auf der Tagesordnung der Mediziner. Sie hat
sich in mehr als fünfzig Jahren direkt vor unserer Nase
weiterentwickelt, und wir haben praktisch nichts
gegen diesen kontinuierlich fortschreitenden Prozeß
unternommen. Zwar diskutieren Mikrobiologen und
Infektiologen seit Jahrzehnten dieses Problem, jedoch
nur auf medizinischen Tagungen oder in rein wissenschaftlichen
Abhandlungen - und damit hinter verschlossene Türen.
Nur für kurze Zeit drang die Diskussion nach
außerhalb des akademischen Elfenbeinturms: Im
Dezember 1984 leitete der heutige Vizepräsident der
Vereinigten Staaten, Al Gore, gegen Ende seiner
Amtszeit als Mitglied des Repräsentantenhauses eine
zweitägige Anhörung vor dem Kongreß. Zahlreiche
Experten brachten aufschlußreiche und verblüffende
Aussagen zu Gehör. Aussagen, die die mannigfachen
Ursachen und äußerst greifbaren und unerfreulichen
Folgen der Antibiotikaresistenz unterstrichen. Unternommen
wurde jedoch nichts. Man muß sich sogar die
Frage stellen, wie viele Mediziner überhaupt von dieser
Anhörung erfuhren und wie viele später von den
Ergebnissen wußten? Es mutet dann auch etwas seltsam
an, daß das Thema heimlich, still und leise ad acta
gelegt wurde. Vielleicht lag es nur daran, daß Gore in
den Senat, damit in andere Aufgabenbereiche wechselte
und niemand die Sache weiterführte. Vielleicht gibt
es aber auch andere Gründe? Der Stab des Vizepräsidenten
war mir gegenüber bei der Beschaffung von
Informationen und Material zu den Anhörungen von
1984 äußerst hilfsbereit, aber der Frage, warum das
Thema nicht weiterverfolgt wurde, wich jeder
geschickt aus.
Das Problem der Antibiotikaresistenz scheint die
wenigsten praktischen Ärzte zu kümmern - oder es
scheint ihnen nicht bewußt zu sein. Ich erinnere mich
noch an die Mikrobiologievorlesungen während meines
Medizinstudiums. Zum ersten Mal hörte ich dort,
daß Bakterien unempfindlich gegen Antibiotika werden
können. Doch dies wurde dort nur am Rande
bemerkt, in einem beiläufig hingeworfenen Nebensatz.
Niemand rührte das Thema je wieder an, nicht
während meines pädiatrischen Praktikums, als ich täglich
Antibiotika einsetzte, und auch nicht später, in
meiner Zeit als praktizierender Pathologe, als ich ein
mikrobiologisches Labor leitete und den Vorsitz der
Ausschüsse zur Infektionsbekämpfung in mehreren
Gemeindekrankenhäusern innehatte. Ich nahm an
Nationalen Fachtagungen in den USA teil, um meinen
Pflichten besser nachkommen zu können, doch die
Überwachung der Antibiotikaresistenz und deren
Einschränkung kamen nicht ein einziges Mal zur Sprache.
Die meisten jungen Mediziner - ich schließe mich
dabei selbst ein - legten das Thema geistig zu den
Akten, zusammen mit den biochemischen Zwischenprodukten
des zellulären Glukosestoffwechsels und den komplizierten
Lebenszyklen unbekannter tropischer Parasiten, mit denen wir
in der Praxis doch nie konfrontiert werden würden - so zumindest dachten
wir. so blind wir waren, wird durch die folgende,
keineswegs vollständige Chronologie deutlich.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs traten bei den
amerikanischen Streitkräften mehrere ernst zu nehmende
Pneumonie-Epidemien auf, ausgelöst durch
Betahämolysierende Streptokokken. Diese Mikroorganismen
waren völlig unempfindlich gegen das Sulfonamid
Sulfadiazin, das einzig erhältliche antibakterielle Mittel,
von dessen universeller Wirksamkeit gegen
Streptokokken man bis dahin überzeugt war. Bemerkenswerterweise
war nur kurz zuvor Sulfadiazin im Rahmen prophylaktischer Maßnahmen
bei den Truppen eingesetzt worden. Man wollte solchen Epidemien
gerade vorbeugen.
Mitte der vierziger Jahre traf Flemings Vorhersage
ein, als die ersten Spielarten penicillinresistenter Staphylokokken
beschrieben wurden. Heute sind weltweit mehr als fünfundneunzig
Prozent aller Staphylokokken gegen Penicillin resistent.
1955 erkrankte eine Japanerin nach einer Hongkongreise
an einem hartnäckigen Fall von Bakterienruhr.
Der betreffende Krankheitserreger wurde isoliert und
als ein typischer Erreger der Bakterienruhr namens
Shigella identifiziert. Aber es handelte sich keinesfalls
um ein gewöhnliches Shigellabakterium. Die isolierten
Shigellen reagierten unempfindlich auf vier verschiedene
Arten von Antibiotika: Sulfonamide, Streptomycin,
Chloramphenicol und Tetracycline. Obwohl dieses Geschehen
damals nur von einigen scharfsinnigen japanischen Wissenschaftlern
erkannt wurde, bedeutete es eine Warnung vor den Gefahren der
folgenden Jahrzehnte. Erstmals zeigte sich ein Erreger mehrfachresistent
gegenüber verschiedenen Antibiotika. In den darauffolgenden Jahren häuften
sich in Japan Fälle mit mehrfachresistenten Shigellen, und es kam zu einer
Reihe von schwer eindämmbaren Ruhrepidemien.
1963 tauchten erste Berichte über einige tetracyclinresistente
Abarten von Pneumokokken auf, den damals
häufigsten Erregern der Lungenentzündung, die zu
falschen Diagnosen und in der Folge zu mehreren
Todesfällen führten. Kurz darauf trat in New York und
in einigen englischen Städten nahezu gleichzeitig eine
Pneumokokkenart auf, die auf die Antibiotika Erythromycin
und Lincomycin unempfindlich reagierte.
1967 vermeldete man erstmals in Australien das
Auftreten penicillinresistenter Pneumokokken. Vier
Jahre später erschien eine kurze Nachricht im New
England Journal of Medicine, daß die Empfindlichkeit
auf Penicillin in Neuguinea bei Trägern des Keims und
bei Patienten mit von ihm verursachter Lungenentzündung
abgenommen habe. Da Penicillin in einer Gegend Neuguineas
vorbeugend gegen Lungenentzündung verabreicht worden war,
zeigte man sich besorgt. Man vermutete, daß dies für die stark verringerte
Empfindlichkeit der isolierten Pneumokokken verantwortlich sei.
Im Iran entstand innerhalb von nur zehn Jahren eine seuchenverursachende Salmonellenart: 1963 reagierten
fast alle Vertreter dieser Bakterienart noch sensitiv
auf Antibiotika. 1973 zeigten nahezu hundert Prozent eine Resistenz.
Fast alle Erreger des Trippers (Gonorrhoe), die
Neisseria gonorrhoeae, reagierten auf Penicillin empfindlich,
bis 1975 auf den Philippinen einige Fälle mit
resistenten Gonorrhoe-Erregern beobachtet wurden.
Heute reagieren mehr als neunzig Prozent aller Gonokokken
auf den Philippinen und in Thailand sowie
fast die Hälfte in Indien, Afrika, Japan, Westeuropa
und den USA unempfindlich auf Penicillin.
Die Resistenz von Haemophilus influenzae, dem
häufigsten Erreger schwerer Ohrenentzündungen
(Otitis) und Meningitis bei Kindern unter fünf Jahren,
gegen das. Antibiotikum Ampicillin zeigte sich erstmals
1974. Damals wurde die Resistenz in den USA
nur bei etwa vier Prozent der Blut- und Liquortests
nachgewiesen. 1982 war diese Zahl auf achtundvierzig
Prozent angestiegen.
1977 wurden in einem Hospital in Durban, Südafrika,
drei Meningitisfälle und zwei Fälle von Blutvergiftung
(Sepsis) durch Pneumokokken hervorgerufen,
die sowohl gegen Penicillin als auch Chloramphenicol
resistent waren. Alle drei Meningitispatienten starben.
1978 wurde dieselbe Pneumokokkenart bei
Patienten in Johannesburg festgestellt die Erreger hatten
zwischenzeitlich noch Widerstandskraft gegen
Erythromycin, Tetracycline und Cephalosporine entwickelt
und vierzehn Menschen starben. Kurz darauf
tauchte dieselbe resistente Bakterienart in Colorado
und Minnesota auf. Und – diese Krankheitserreger aus
Südafrika zeigten sogar noch stärkere Resistenz gegen
Penicillin als ihre früheren Verwandten aus Australien
und Neuguinea. Obendrein handelte es sich dabei um
den ersten Fall von mehrfachresistenten Pneumokokken.
»Nach und nach erleben wir eine Erosion des stärksten
Bollwerks gegen schwere bakterielle Infekte im
modernen Zeitalter der Antibiotika«, schrieb 1978
Dr. Maxwell Finland von der »Harvard Medical
School« in einem begleitenden Leitartikel zu seinem
Bericht im New Englandjournal o[ Medicine. Finnland,
eine weltweit anerkannte Autorität auf dem Gebiet
der Infektionskrankheiten, war der Ansicht, daß wir
unaufhaltsam auf eine Katastrophe zusteuern, wenn
nicht bestimmte Maßnahmen getroffen werden.
Zwei Jahre später äußerte Dr. Lewis Thomas
Bedenken, ein bekannter Arzt und Philosoph. Er
schrieb: »Ich bin besorgt über die weitere Zukunft der
Antibiotika, wenn wir nicht dem entsetzlichen Problem
der Antibiotikaresistenz unserer häufigsten
Krankheitserreger durch weitere Forschungen begegnen.«
Die Warnungen dieser beiden weitblickenden Männer
wurden größtenteils ignoriert, wie zuvor schon die
Einwände von Fleming und Florey.
1989 ergab eine in mehreren griechischen Krankenhäusern
durchgeführte Studie eine äußerst hohe Häufigkeit
antibiotikaresistenter Bakterien, in einigen Fällen
bis zu hundert Prozent, je nach Bakterienart und
Antibiotikum.
In Finnland stieg zwischen 1988 und 1990 der Prozentsatz
der isolierten Streptokokken mit Resistenz
gegen Erythromycin sprunghaft von vier auf über
vierundzwanzig Prozent an.
Dies sind nur einige Beispiele aus Hunderten von in
den letzten fünfzig Jahren bekanntgewordenen Fällen
bakterieller Antibiotikaresistenz. Die meisten führten
zu Behandlungsfehlern, viele verliefen deshalb tödlich.
Einzeln betrachtet, scheinbar ohne jeden Zusammenhang,
geben diese Ereignisse keinen Anlaß zu größerer
Beunruhigung. Sieht man jedoch gen au er hin, wird ein besorgnisErregender Zusammenhang deutlich. Diese Ereignisse
sind das Ergebnis eines heimtückischen Prozesses,
einer Bakterienseuche, entstanden aus einer ununterbrochenen,
weltumspannenden Kette von Ereignissen,
die bis in die Gegenwart reicht.
Sir Mac Farlane-Burnet, der australische Immunologe
und Nobelpreisträger, dessen Forschungen wegbereitend
für Organtransplantationen waren, schrieb
noch 1962, daß das ausgehende zwanzigste Jahrhundert
die eigentliche Ausschaltung von Infektionskrankheiten
als wesentlichen Faktor des sozialen Lebens« erleben wird.
Über Infektionskrankheiten zu schreiben, sei »fast so, wie über einen Teil der
Geschichte zu schreiben«. Diese Ansicht wurde sieben
Jahre später vom US-amerikanischen Gesundheitsminister
William Stewart bekräftigt, als dieser 1969 vor
dem Kongreß äußerte, es sei an der Zeit, »das Kapitel
der infektiösen Krankheiten zu beschließen«. Praktisch
zur selben Zeit wurden diese Worte durch die
Szenarien in den pharmazeutischen Labors aller Welt
widerlegt. Die Krise, die bereits 1969 ihren Anfang
nahm, wird in den letzten Jahren dieses Jahrtausends
ihren schrecklichen Höhepunkt erreichen. Doch
selbst jetzt ist der Öffentlichkeit diese Gefahr nicht
bewußt, trotz eindringlicher Appelle einiger anerkannter
Forscher.
»Die pharmazeutische Industrie in den Vereinigten
Staaten, in Japan, Großbritannien, Frankreich und
Deutschland war in den letzten dreißig Jahren in der
Entwicklung neuer Antibiotika so erfolgreich, daß
Gesellschaft und Wissenschaft das Problem der potentiellen
Bakterienresistenz selbstgefällig beiseite schieben
«, meint Dr. Harold Neu, Facharzt für Infektionskrankheiten
und Antibiotika an der medizinischen Fakultät der ColumbiaUniversität. Und gerade diese Selbstgefälligkeit hat uns seiner
Meinung nach an den Rand der Katastrophe geführt.
Neu steht mit seiner Ansicht nicht allein. Dr. Richard Krause,
leitender wissenschaftlicher Berater der amerikanischen
Gesundheitsinstitute (» National Institutes of Health«)
und ehemaliger Direktor des amerikanischen
Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten
(»National Institute of Allergy and Infectuous
Diseases«), warnte, die sich häufenden Fälle therapieresistenter
Lungenentzündung, Ruhr, Malaria, Streptokokkeninfekte
und anderer Krankheiten ließen einzig und allein folgenden
erschreckenden Schluß zu:
»Wir erleben eine Epidemie resistenter Mikroben.«
Am pessimistischsten beurteilt die Lage Dr. Michael
Cohen, Facharzt für Infektionskrankheiten und Epidemiologie
am Zentrum für Krankheitsbekämpfung und -vorbeugung in
Atlanta (»Center for Disease Control and Prevention«). Er prägte
einen erschreckenden Begriff, der vielleicht bald unseren Alltag
beschreiben wird: »Wenn wir die Wirksamkeit der
verfügbaren antibakteriellen Mittel nicht erhalten
können und die Übertragung arzneiresistenter Mikroorganismen
nicht eindämmen, nähern wir uns rasant
dem >post-antibakteriellen Zeitalter<, in dem unheilbare
Infektionen wieder an der Tagesordnung sein werden.«
Wie haben wir uns in eine so mißliche Lage
manövriert? Diese Frage ist äußerst vielschichtig und
nur schwer zu beantworten. Die Ursachen muß man
auf jeden Fall bei den wissenschaftlichen Grundlagen
suchen, oder besser gesagt, bei deren Mißachtung. Um
das Problem in seiner Komplexität zu begreifen und
dessen mögliche Lösung zu erkennen, werden wir
daher im restlichen Teil dieses Kapitels auf diese
Grundlagen eingehen müssen - auf die antibiotische
Wirkungsweise und die Mechanismen der Resistenzentwicklung
bei Bakterien.
Alle Antibiotika treten entweder mit der Struktur
oder mit dem Stoffwechsel der Bakterienzelle in
Wechselwirkung und treffen sie so in ihrer Lebens- und
Vermehrungsfähigkeit. Grundvoraussetzung der
therapeutischen Brauchbarkeit eines Antibiotikums
ist, daß die physiologischen Abläufe des Mikroorganismus,
in die es eingreift, sich so weit wie möglich
von unseren eigenen Lebensvorgängen unterscheiden.
Ein ähnliches Problem stellt sich in der Krebsforschung
bei dem Versuch, unbedenkliche, aber wirkungsvolle
Chemotherapien zu entwickeln, die lediglich
Tumorzellen angreifen, gesundes Gewebe jedoch
unversehrt lassen. Bisher war die Aufgabe für die
Onkologie (Tumormedizin) schwieriger als für die
Antibiotikaforschung. Es stehen nicht nur weitaus
weniger Antikrebsmittel zur Auswahl, es ist auch
komplizierter, grundlegende Unterschiede zwischen
normalen Körperzellen und Krebszellen festzustellen
als zwischen menschlichen Zellen und Bakterien.
Daher mußte man bei der Chemotherapie von
Krebserkrankungen toxische Nebenwirkungen in
Kauf nehmen. Im Kampf gegen Mikroorganismen
hingegen war man in der Lage, aus einer reichen Auswahl
antibakterieller Stoffe zu schöpfen und daher
selektiver vorzugehen. Aus Tausenden von bislang
bekannten antimikrobiellen Mitteln, ob natürlichen
Ursprungs oder synthetisch im Labor hergestellt,
konnte man einige hundert der wirkungsvollsten
Antibiotika mit den geringsten Begleiterscheinungen
aussuchen. Zwar können manche dieser Medikamente
immer noch ernste Nebenwirkungen hervorrufen, im
großen und ganzen zählen sie aber, was diesen Punkt
betrifft, in der Regel zu den unbedenklichen Arzneimitteln.
Wie wir noch sehen werden, war dies sowohl
ein Segen als auch ein Fluch.
Klinisch einsetzbare Antibiotika lassen sich nach
der Art, wie sie in den Stoffwechsel der Bakterien eingreifen,
klassifizieren. Eine große Gruppe verhindert
die zur Zellteilung erforderliche Verdopplung der
Bakteriengene und die Bildung der lebensnotwendigen
Zellproteine. Das zur Tuberkulosetherapie verwendete Rifampicin hemmt ein bestimmtes Enzym,
das für die Verdopplung der Bakterien-DNA, des Trägers
der Erbsubstanz, verantwortlich ist. Eine neue
Antibiotikaklasse, zu der auch Ciprofloxacin (Handeisname
Ciprobay) zählt, wirkt ganz ähnlich an dem
Enzym DNA-Gyrase. Zwar besitzen unsere eigenen
" Zellen auch ein derartiges Enzym, doch es unterscheidet
sich so grundlegend, daß eine Verwechslung mit
dem Bakterienenzym ausgeschlossen werden kann.
Eine andere Antibiotikagruppe, deren bekannteste
Beispiele Streptomycin, Kanamycin, Gentamicin und
Tobramycin sind, greifen ebenfalls auf genetischer
Ebene ein, jedoch auf eine andere Art. Sie stören den
Proteinaufbau der Bakterien in den Eiweißfabriken
der Zelle, den Ribosomen. Tetracycline, Chloramphenicol,
Erythromycin und einige ihrer später entwickelten
Verwandten gehören zwar ihrer chemischen
Struktur nach einer unterschiedlichen Klasse an,
stören aber ebenfalls die Proteinsynthese. Leider können
die meisten dieser die Eiweißbildung hemmenden
Antibiotika nicht hundertprozentig zwischen bakteriellen
und menschlichen Zellen unterscheiden so. daß
bei dieser Gruppe die meisten toxischen Nebenwirkungen
auftreten. So wird Streptomycin heute kaum
noch verordnet, da es in einigen Fällen bleibende Hörschäden
verursachte. Chloramphenicol wird weltweit
zwar noch immer gegen Typhus eingesetzt, in den
USA aber kaum noch verwendet, da es relativ häufig
zu Knochenmarksdepression führen und so die Bildung
von Blutzellen beeinträchtigen kann. Erythromycin
schließlich verursacht Magenverstimmung,
keine ernsthafte, aber doch eine lästige Nebenwirkung,
die zudem die Aufnahme des Medikaments beeinträchtigt.
Neben den eben erwähnten Antibiotika, die die
Genfunktionen oder die genetisch gesteuerte Proteinsynthese
behindern, gibt es noch antibakterielle Mittel,
die die Bakterienenzyme angreifen. Die bekanntesten
darunter sind die Sulfonamide, synthetisch hergestellte
chemische Verbindungen, die erstmals in den
dreißiger Jahren zum Einsatz kamen. Sulfonamide
wirken, indem sie spezifisch die Bildung der essentiellen
Folsä~e in Bakterienzellen hemmen, die menschlichen
Zellen jedoch nicht beeinträchtigen.
Die wohl am besten erforschte Antibiotikagruppe
wirkt durch Zerstörung der Zellwandstruktur. Dazu
zählen Penicillin und Cephalosporine. Da menschliche
Zellen keine Zellwände besitzen, sind diese Antibiotika
völlig unbedenklich – abgesehen von selten
auftretenden Allergien gegen diese Mittel.
Penicillin hemmt die Enzyme, ohne die das Bakterium
keine Querverbindungen zwischen den Proteinen
der Zellwand aufbauen kann. Ohne diese Querverbindungen
werden die Bakterien instabil und lösen
sich auf. Penicillin wirkt zwar nicht auf alte Bakterien,
deren Zellwände sich bereits gebildet haben, es
greift aber auf andere Weise ein: Erst die Bakterienvermehrung
ist die Ursache der meisten schweren Infektionen
und ihr kann mit Penicillin entgegengewirkt werden.
Seit dem ersten erfolgreichen Einsatz von Penicillin
im März 1941, der schon historisch zu nennen ist,
wurde eine breite Palette von Penicillinen und penicillinverwandten
Verbindungen eingeführt. Hauptanreiz für die Entwicklung solcher Derivate
und Verbesserungen war die klinische Beobachtung zu Beginn der
fünfziger Jahre, daß Staphylokokken schwerste und
oft tödliche Fälle von Lungenentzündung hervorriefen.
Gegen jene war Penicillin anfänglich äußerst
wirksam. Doch sie entwickelten rasch Widerstand
gegen das Medikament. Ganz so, wie Fleming vorhergesagt
hatte, bildeten Staphylokokken jenes Enzym,
das Abraham und Chain 1940 in anderen Bakterien
identifiziert hatten. Man entdeckte, daß dieses Enzym
einen bestimmten Abschnitt des Penicillinmoleküls,
den sogenannten Betalactam-Ring lahmlegt. Anfang
der sechziger Jahre wurden neue Penicilline sowie die
verwandten Cephalosporine entwickelt. Diese Verbindungen~
stabilisierten den Beta-lactam-Ring des Antibiotikums,
schützten ihn vor bakteriellen Angriffen und verhinderten somit
die Resistenzbildung.
Man nahm an, daß mit der Einführung dieser neuen
Penicilline das kurze Kapitel der bakteriellen Antibiotikaresistenz
Abgeschlossen sei. Die Vorstellung, daß
Staphylokokken durch einen seltsamen biochemischen
Zufall Resistenzgegen Penicillin entwickelt hatten
und dieses Problem durch Stabilisierung des BetalactamRings ein für allemal gelöst schien, war beruhigend.
Praktisch die gesamte pharmazeutische Industrie beglückwünschtes
sich zu ihrem Erfindungsreichtum.
Wieder einmal hatte die Wissenschaft über die Mikroorganismen
triumphiert und diesmal vermeintlich für immer.
Doch der Sieg erwies sich als trügerisch, da äußerst
kurzlebig. Die Fähigkeit der Staphylokokken, dem
Penicillin enzymatisch die Wirkung zu nehmen, war
kein vereinzeltes Phänomen, sondern vielmehr das
erste Beispiel einer weitverbreiteten und beunruhigenden
Entwicklung. Unsere Auseinandersetzung mit
resistenten Bakterien sollte noch nicht zu Ende sein.
Im Gegenteil, dies war erst der Anfang. Voller Nervosität
wurden Wissenschaftler zur Entwicklung weiterer
Antibiotika zurück in die Labors geschickt, um
den ständig neu auftretenden Fällen von Antibiotikaresistenz
etwas entgegenzusetzen. Seither sind sie mit
dieser Sisyphusarbeit beschäftigt. Bakterien fanden
nicht nur eine Möglichkeit, Widerstand gegen Cephalosporine
und die neuen Penicilline zu entwickeln,
sondern allmählich auch gegen praktisch alle anderen
Antibiotika, ob alt oder neu. In den letzten dreißig
Jahren lieferten wir uns ein Wettrennen mit einem
scheinbar völlig unterlegenen Gegner: einzelligen
Organismen, die entwicklungsgeschichtlich kaum
gegensätzlicher sein können. Aber in dieser Gegenüberstellung
erwiesen sich unsere spezialisierten Organe und unser komplizierter
genetischer Code deutlich als Nachteil. Ebenso wie sich kleine
Wirtschaftsunternehmen oftmals neuen Produktentwicklungen
leichter anpassen können als die Verwaltungsapparate
großer Konzerne, sind auch Bakterien weitaus
wendiger als unser komplexes System. Bakterien
brauchen kein Gehirn und keine Leber. Sie benötigen
lediglich die biochemischen Voraussetzungen zum
Widerstand gegen Antibiotika: optimale Genmaschinen
- und wie drückte es Dr. David Perlman, ein anerkannter
Mikrobiologe der Universität von Wisconsin,
so treffend aus: »Mikroorganismen können alles.
Mikroorganismen sind schlauer als Chemiker.«
In unserer menschlichen Selbstüberschätzung
haben wir übersehen, daß wir den Bakterien nie mehr
als einen Schritt voraus waren, und wir laufen jetzt
auch noch Gefahr, diesen hauchdünnen Vorsprung zu
verlieren.
Eigentlich hätten wir uns nicht überraschen lassen
dürfen. Bakterien hatten unendlich viel Zeit, ihre
molekulare Struktur anzupassen, so daß sie wesentlich
besser für den Kampf gegen Antibiotika gerüstet sind
als wir für deren Entwicklung und Herstellung. Antibiotika
werden erst seit sechzig Jahren klinisch eingesetzt, Bakterien
dagegen existieren seit fast vier Milliarden
Jahren. Und sie hielten keinen Dornröschenschlaf,
sie haben sich vermehrt und angepaßt und sie
haben das, genetisch gesehen, stets mit atemberaubender
Geschwindigkeit getan. Bei Menschen zählt man
etwa- alle zwanzig Jahre eine neue Generation, Bakterien
jedoch bringen alle zwanzig Minuten eine neue
Nachkommenschaft hervor. Fünfhunderttausendmal
so schnell wie wir. Evolutionär gesehen, ist ein Bakterium
aus der Zeit vor Einführung der Antibiotika mit
einem heute isolierten Erreger so verwandt wie der
Dryopidlecus, unser vor dreißig Millionen Jahren
lebender Vorfahr, den Menschen von heute.
In all der Zeit des Versuchs und Irrtums haben die
Bakterien drei biochemische Verteidigungsstrategien
gegen die Antibiotika entwickelt - diese sind ebenso
elegant wie simpel. Welche Möglichkeit davon zum
Einsatz kommt, hängt von der Art des Bakteriums
und des Antibiotikums ab. Oft wirken gleichzeitig
mehrere Abwehrmechanismen auf ein Antibiotikum.
1. Inaktivierung
Die Inaktivierung ist die verbreitetste Resistenzmethode
gegen Penicillin, Ampicillin, Amoxycillin und
die meisten Cephalosporine. Wenn Sie in den letzten
fünf Jahren an einem Infekt litten, insbesondere der
Harn- oder Atemwege, wurde Ihnen wahrscheinlich
ein Cephalosporin-Präparat verschrieben. Diese Antibiotika
greifen das zellwandstabilisierende Enzym an,
ohne das der Erreger nicht lebensfähig ist. Um diesem
Angriff auszuweichen, lernen Bakterien, ein anderes
Enzym namens Betalactamase zu bilden, dessen einzige Funktion in der Ausschaltung des Antibiotikums
besteht.
Die Biochemiker gingen mit einer neuentwickelten
Substanzklasse, den Betalactamasehemmern, zum
Gegenangriff über. Diese Stoffe, das Sulbactam (Combactamin
Unacid), Tazobactam (in Tazobac) und die
Clavulansäure (in Augmentan) werden mit Penicillinen
und Cephalosporinen kombiniert und schützen
die Antibiotika vor den bakteriellen Enzymen, die sie
sonst inaktivieren würden. Aber niemand glaubt, daß
wir diesen Vorsprung halten können. Es wird wohl
nicht lange dauern, bis eine neue Bakteriengeneration
mit einem weiteren Enzym entsteht, das die Betalactamasehemmer außer Gefecht gesetzt.Noch ein Beispiel: Streptomycin
wird, wie die meistenjüngeren Mycine, zum Beispiel Tobramycin,
Gentamicin und Kanamycin, ebenfalls durch bakterielle
Enzyme inaktiviert.
2. Strukturänderung
Anstatt ein Enzym zu bilden, das den Angreifer ausschaltet,
lassen Bakterien in manchen Fällen das Antibiotikum
unverändert und nehmen stattdessen meist durch Mutation,
selbst eine andere Struktur an. Die Erreger verändern ihren Aufbau
so, daß sich Antibiotika nicht mehr an sie binden können.
Die Bakterien »verstecken« sich praktisch vor ihren Angreifern, eine
weitere Methode, die Wirksamkeit von Penicillinen
und Cephalosporinen auszuschalten.
3. Umwege im Stollwechselsystem
Neben der Ausschaltung von Antibiotika oder dem
eben beschriebenen Versteckspiel umgehen manche
Bakterien einfach die Antibiotikawirkung. Beispielsweise
blockieren Sulfonamide ein zur Herstellung von
Folsäure benötigtes Enzym. Resistenten Erregern
gelang es jedoch, ein völlig neues Enzym für die Folsäureproduktion
zu bilden und so die Wirkung der Antibiotika zu unterlaufen.*
Mit Ausnahme weniger Fälle, bei denen die Ursachen
der Resistenzentwicklung noch nicht genau ermittelt
werden konnten, beruhten fast alle klinischen Fälle
von Antibiotikaresistenz, die seit Einführung des
Penicillins weltweit von Japan bis Griechenland von
Finnland bIs Amerika, m den letzten fünfzig Jahren
auftraten, auf einem oder mehreren der oben erwähnten
drei Anpassungsprinzipien.
Dies ist ein außerordentliches Beispiel für Flexibilität und
Anpassungsfähigkeit eines Organismus,
doch noch erstaunlicher ist die Weitergabe dieser Resistenzmöglichkeiten an andere Bakterien: Erreger einer Spezies
können ihre biochemischen Errungenschaften auf
Vertreter einer anderen Spezies übertragen.
Die bakteriellen Schutzmechanismen gegen Antibiotika
werden genetisch codiert und gesteuert. Struktur
und Sitz der bakteriellen Gene sind denen des
Menschen erstaunlich ähnlich. Wie auch bei uns bestehen
sie aus einem DNA-Doppelstrang und sind meist
in Chromosomen angeordnet. Natürlich besitzen
Bakterien nur einen kleinen Bruchteil unserer Genanzahl,
aber ihre Gene bestimmen dennoch all ihre
Eigenschafteen, einschließlich der Antibiotikaresistenz.
Bakteriengene sind gelegentlich Veränderungen
oder Mutationen unterworfen - eine weitere Parallele
zu den Genen des Menschen. Eine Mutation, die dem
Bakterium bessere Überlebenschancen sichert, bleibt
erhalten und wird von Generation zu Generation weitervererbt.
Doch Bakterien können nicht nur mutieren, sie
haben zudem ein weiteres genetisches Verfahren der
Resistenzbildung entwickelt, das die Möglichkeiten
menschlicher Zellen sogar übersteigt. Diese Methode
ist die Hauptursache für die weite Verbreitung der
Antibiotikaresistenz, die uns an den Rand der Katastrophe
gebracht hat. Denn mit ihrer Hilfe lassen sich
einmal erworbene Resistenzeigenschaften rasch auch
auf andere Bakterienstämme übertragen.
Zwar ist der Großteil des Bakterienerbguts auf
Chromosomen angeordnet, einige Gene finden sich
aber außerhalb des Bakterienchromosoms auf ringförmigen
DNA-Einheiten, den sogenannten Plasmiden.
Die meisten Resistenzgene sitzen nun auf diesen Plasmiden.
Ein Bakterium kann mehrere Plasmide besitzen;
enthalten diese Resistenzgene, werden sie R-Plasmide
oder R-Faktoren genannt. Plasmide können
unabhängig vom Bakterium existieren; sie stellen insofern
einen eigenen Organismus innerhalb des Mikroorganismus
dar und besitzen ein Eigenleben. Sie können
sich unabhängig vom Erreger, der sie beherbergt,
teilen und - was noch wesentlicher ist - sie sind leicht
auf andere Bakterien übertragbar.
Eine Transfermöglichkeit ist der Austausch von
Plasmiden im direkten Kontakt zweier Bakterien- ein
Parasexueller Vorgang, der auch Konjugation genannt
wird. Nur spezialisierte Plasmide können durch Konjugation
ausgetauscht werden. Befinden sich die Resistenzgene
bereits auf spezialisierten Plasmiden, können
sie folglich ohne weiteres übertragen werden. Ist
dies nicht der Fall, wenden Bakterien ein anderes, einzigartiges,
molekulares Hilfsmittel an. Wie ein genetischer
Floh setzen sich winzige Materie-Einheiten, die
Transposone, an den R-Faktoren fest und »hüpfen«
mit ihnen von einem nicht übertragbaren Plasmid zu
einem übertragbaren. Dieser zusätzliche Schritt
ermöglicht praktisch den Austausch aller R-Faktoren
durch Konjugation, so daß Resistenzgene äußerst
effektiv weitergegeben werden können.
Einige Erreger sind allerdings nicht zur Konjugation
fähig. Ersatzweise kommen ihnen bestimmte
Viren, die Bakteriophagen, zu Hilfe. Diese klinken
sich in die R-Faktoren ein, teilen sich dann und wechseln
von einem Wirtsbakterium zum anderen. Somit
übertragen sie die Resistenzgene.
Bei den meisten Erregern sitzen die Resistenzgene
auf Plasmiden und nicht. auf Chromosomen, was die
Chancen der Bakterien zu unseren Ungunsten erhöht.
Das Phänomen der Antibiotikaresistenz entwickelte
sich von einer klinischen Rarität aus den Anfangstagen
der Antibiotikatherapie zur Alltagswirklichkeit von
heute, mit all ihren schrecklichen Auswirkungen. Die
Resistenzeigenschaften werden nicht nur vertikal von
Mutter- auf Tochterzellen übertragen, wie das der Fall
ist, wenn Resistenzgene auf Chromosomen sitzen. R-Faktoren
können von einem Bakterium auch auf alle
anderen Bakterien übertragen werden, mit denen sie in
Kontakt kommen. Da jeder der fast sechs Milliarden
Menschen mehr Bakterien als Körperzellen besitzt
und Bakterien vor keinen Grenzen haltmachen fällt es
nicht schwer, sich vorzustellen, wie Bakterien ständig
mit neuen Empfängern ihres genetischen Materials
zusammentreffen. So ist es möglich, daß eine neue
Antibiotikaresistenz an einem Ort und kurz darauf, ja
beinahe zur gleichen Zeit, auch am anderen Ende der
Welt beobachtet wird.
Plasmide und ihre leichte Übertragbarkeit sind
noch für ein weiteres, parallel auftretendes Problem
verantwortlich, welches Experten für die Herausforderung
unserer Zeit halten: die Mehrfachresistenz.
Betrachten wir einige der bereits erwähnten Fallbeispiele
Etwas eingehender Am bemerkenswertesten ist
wohl der nun schon vierzig Jahre zurückliegende Fall
der Japanerin mit Bakterienruhr, hervorgerufen durch
eine vierfach antibiotikaresistente Shigellenart. Diesem
Phänomen folgten mehrere Epidemien. Als sich
Herausstellte daß andere aus dem Darm isolierte Bakterien
infizierter Patienten, wie das normalerweise
harmlose E.coli, auf dieselben vier Medikamente
unempfindlich reagierten, folgerte Tomoichiro Akiba
von der Universität Tokio, daß die Resistenzend urch
Konjugation zwischen Shigellen und E.coli im Verdauungstrakt
der Patienten übertragen worden waren.
Der Befund mehrfach resistenter Plasmide bei normalerweise
Unschädlichen Darmbakterien konnte nur bedeuten, daß die Plasmide
»Huckepack« mit Leichtigkeit überallhin gelangen konnten. Vor ein paar Jahren
führten Dr.. Stuart Levy und seine Kollegen von
der Tufts-Universität eine Studie durch und fanden
dabei heraus, daß fast zwei Drittel der von den Einwohnern Bostons willkürlich genommenen Stuhlproben
Bakterien mit mindestens einer Antibiotikaresistenz
enthielten. Dies ist heute kein ungewöhnliches
Ergebnis mehr.
Bakterielle Antibiotikaresistenz ist unvermeidbar.
Dies ist eine zwingende molekulare Folgeerscheinung
des Antibiotika-Einsatzes, es wird aber auch niemand
zum völligen Verzicht auf diese Medikamente raten.
Wir haben es allerdings versäumt, Vor- und Nachteile
im Gleichgewicht zu halten und einen Mittelweg zu
finden, bei dem der Nutzen des sinnvollen Antibiotikaeinsatzes
die Gefahren ihres Missbrauchs überwiegt.
Zur Zeit liegt aber das Übergewicht eindeutig bei den
Gefahren. Ärzten fehlte bislang der nötige Überblick
über die physiologischen und biochemischen Bakterieneigenschaften
sowie deren Auswirkungen. Doch
dies ist nur ein Teil des Dilemmas. Das eigentliche
Problem liegt in der Wissenschaft und ihrer Nähe zum
Pharmamarkt begründet.
* Ein vierter Mechanismus der Antibiotikaresistenz wurde erst
1993 beschrieben und ist im amerikanischen Original daher noch
nicht berücksichtigt. Der gramnegative Keim Pseudomona aequinosa
ist in der Lage, Antibiotika durch aktiven, energiefordernden"
Ausstoß (Efflux) wieder aus der Zelle zu entfernen. Dieser
Mechanismus ist in seiner Bedeutung für den Infizierten deshalb
so gefährlich, weil er weitgehend unspezifisch ist, das heißt
strukturell völlig unterschiedliche Antibiotika betrifft. Pseudomonas
ist in der Lage, Tetracycline, Chloramphenicol und Fluorchinolone
ebenso nach außen zu pumpen wie Penicilline und Cephalosporine.
Aufgrund dieser" multidrug-resistance« gehört Pseudomonas
zu den gefürchteten Problemkeimen bei Patienten mit
cystischer Fibrose oder Zytostatikabehandlung und auf Intensivstationen.
Nachtrag zur Aids-Hypothese
In einem weiteren Gespräch mit Root-Bernstein
erfuhr ich, daß ein noch direkterer, nicht minder interessanter
Zusammenhang zwischen Antibiotika und
Aids besteht, der keinen Widerspruch zu Montagniers
Ausführungen darstellt, sondern sie vielmehr ergänzt.
Dr. Luc Montagniers Forschungen deuten auf eine
Beschleunigende Wirkung der Antibiotika bei der Entwicklung
von Aids hin. Dr. Robert Root-Bernstein
behauptet, der Einsatz antibiotischer Medikamente
könne einen unmittelbaren Einfluß haben. Der Unterschied
dieser beiden Standpunkte liegt in der Gewichtung.
Die Art jedoch, in der sich beide Anschauungen
überschneiden, stützt die Behauptung, es bestehe ein
Zusammenhang zwischen Antibiotika und Aids.
Montagnier, der Entdecker des HIV, hat seine Ansicht
nicht geändert, die Anwesenheit des Virus sei eine notwendige
Voraussetzung für Aids. Im Juli 1992, auf der
achten Internationalen Aids-Konferenz in Amsterdam,
verdeutlichte er seinen Standpunkt: "Ich denke,
wir sollten den Co-Faktoren das gleiche Gewicht beimessen
wie HIV. « Er glaubt nicht länger an HIV als
alleinige Aids-Ursache, doch hält er die Anwesenheit
des Virus mit Einschränkungen nach wie vor für eine
notwendige Bedingung.
Root-Bernstein hingegen entschied sich völlig
gegen die herkömmliche Ansicht über HIV und Aids.
Er gehört einer in San Franciscon gebildeten Gruppe
namens »Rethinking Aids« an. Diese Gruppe setzt
sich aus anerkannten Wissenschaftlern zusammen, die
sich unter der Leitung von Dr. Charles Thomas um
eine Neubewertung der gängigen H ypothese von HIV
als Aids-Verursacher bemühen. Sie entwickeln eine
Gegenhypothese, in der HIV unter Umständen keine
Rolle mehr spielt.
Root-Bernstein hält HIV lediglich noch für einen
immunschwächenden Co-Faktor unter vielen. Zu
Beginn unseres zweiten Treffens erklärte er mir,
warum er den Co-Faktoren so große Bedeutung im
Zusammenhang mit Aids beimißt. Ursprünglich
gelangte er wie Montagnier und Duesberg zu dieser
Ansicht, weil er erkannte, daß ein einziger Virus mit
Affinität zu T-Lymphozyten unmöglich alle unterschiedlichen
Komponenten des Immunsystems - T-Zellen, natürliche Killerzellen,
B-Lymphozyten und Makrophagen - gleichzeitig betreffen kann. Dies ist
bei Aids-Patienten aber in der Regel der Fall. Deshalb
und wegen der steigenden Zahl von HIV-negativen
Aids-Fällen, wuchs bei Root-Bernstein der Verdacht,
etwas anderes als HIV müsse beteiligt sein.
Die jüngsten epidemiologischen Daten geben ihm
recht. Studien an homosexuellen Männern und Fixern
zeigen, daß die durchschnittliche Inkubationszeit
zehn Jahre beträgt. Wäre Aids ausschließlich durch
HIV gesteuert, müßte die Krankheit 1993 bei etwa der
Hälfte aller HIV-Infizierten des Jahres 1983 zum Ausbruch
gekommen sein. Für die infizierten Bluter, eine
klar abgrenzbare und daher leicht zu erfassende Gruppe,
trifft dies freilich nicht zu. In den USA infizierten
sich zwischen 1981 und 1984 fünfzehntausend Bluter
mit HIV. Somit wäre zu erwarten, daß heute etwa die
Hälfte von ihnen an Aids erkrankt ist. Bisher wurden
jedoch nur eintausendfünfhundert Aids-Fälle bei Blutern
registriert, dies entspricht nur zehn Prozent der
Infektionen.), Wenn es einen Beweis dafür gibt, daß
HIV nicht allein für die Entwicklung von Aids verantwortlich
ist, dann diesen«, meint Root-Bernstein.
Was spielt sonst noch eine Rolle? Root-Bernstein:
"Bevor wir HIV als alleinigen Verursacher der
Immunschwäche annehmen können, müssen wir
sicher sein, daß die Daten nicht auch anders gedeutet
werden können. « Mit anderen Worten: Es muß festgestellt werden, daß dIe HIV-Theorie eine notwendige
und hinreichende Erklärung für Aids liefert und dies
auf keine andere Theorie zutrifft. In diesem Zusammenhang
muß man eine Frage stellen: Wurden bei Aids-Patienten außer HIV
noch andere immunschwächende Faktoren nachgewiesen?
Die Antwort lautet, so Root-Bernstein, eindeutig ja.
Bei allen Aids-Patienten sind vor, gemeinsam mit,
nach und manchmal auch ohne HIV-Infektion mehrere
Ursachen für die verminderte Immunstärke zu
beobachten. «Bei den immunschwächenden Faktoren
lassen sich sieben Grundtypen unterscheiden chronische
und wiederkehrende Infektionskrankheiten, hervorgerufen
durch immunschwächende Organismen
(wie Mykoplasmen), stimulierende Suchtdrogen,
Anästhetika (Schmerzmittel), Sperma, Blut (durch
intravenösen Drogenmißbrauch oder Transfusionen),
Unterernährung und Antibiotika. Zwar kommen nur
bei wenigen Aids-Patienten alle Faktoren zusammen,
Root-Bernsteins Forschungen ergaben jedoch, daß bei
allen Patienten mindestens einer und mit großer Wahrscheinlichkeit
mehrere dieser Faktoren zutreffen.
Insbesondere die Immunschwächung durch Antibiotikamißbrauch
wurde als Aids-Risikofaktor übersehen,
meint Root-Bernstein. Die traurige Ironie dabei
ist, daß Antibiotika, im Gegensatz zu allen anderen
Co-Faktoren, als krankheitsvorbeugend gelten. Allem
Anschein nach ist gerade das Gegenteil der Fall.
Antibiotikamißbrauch ist besonders bei den beiden
größten Aids-Risikogruppen, homosexuellen Männern
und Fixern, sehr verbreitet. Homosexuelle waren
sich ihrer erhöhten Krankheitsanfälligkeit bewußt,
lange bevor das Aids-Problem entstand. Viele von
ihnen nahmen in den siebziger Jahren freiwillig an
Experimenten teil, bei denen Hepatitis-Impfstoffe
getestet wurden. Viele wurden zu Dauerkonsumenten
antibiotischer Medikamente, entweder zur Vorbeuge
oder zur Behandlung wiederkehrender Geschlechtskrankheiten
und anderer Beschwerden. Meist wurden
Antibiotika eigenmächtig eingenommen und durch
geschickte Überredungsmanöver von arglosen Ärzten
oder Apothekern beschafft.
1987 veröffentlichte das Southern Medical Journal
eine statistische Untersuchung über den Antibiotikakonsum
bei homosexuellen Männern. Dr. Linda Pifer
und ihre Mitarbeiter von der medizinischen Fakultät
der Universität von Tennessee führten unter den regelmäßigen
Besuchern von Schwulenbars in Memphis
eine umfangreiche Studie durch. Sie stellten fest, daß
vierzig Prozent der Männer sich regelmäßig selbst mit
verschreibungspflichtigen Antibiotika behandelten.
Dazu kam der Mißbrauch von Drogen, unter anderem
von Nitriten.
Viele Fixer wissen um das erhöhte Infektionsrisiko,
dem sie sich aussetzen, und treffen daher Vorbeugemaßnahmen
zu ihrem vermeintlichen Schutz. In einem
Leserbrief an das Journal o[ the American Medical
Association berichteten die Internisten Dr. Scott R.
und Dr. Sydria K. Schaffer von ihrer dreimonatigen
Tätigkeit in den Notaufnahmen der Universitätskliniken
der Temple- und der Hahnemann-Universität.
Sechzig Prozent der Drogenabhängigen, die sie dort
behandelten, nahmen regelmäßig Antibiotika ein. Sie
hofften, damit einer eitrigen Entzündung des Unterhautgewebes,
Venenentzündungen (Phlebitis) und der
Bildung von Abszessen vorzubeugen. Diese Infekte
treten bei Fixem häufig auf. Die Einnahme von Antibiotika
wurde von den Befragten anfangs verschwiegen,
wohl deshalb, damit sie nicht preisgeben mußten,
auf welchem Weg sie sich diese Medikamente beschafft
hatten. Nahezu jeder Fixer gab schließlich zu, daß sein
Drogendealer auch mit Antibiotika handelte.
Illegaler Drogen- und Antibiotikamißbrauch sind
mittlerweile untrennbar miteinander verbunden. Über
Monate oder sogar Jahre hinweg wird tagtäglich beides
gleichzeitig konsumiert.
» Ironischerweise machen sich die Menschen durch
den Schutz vor alltäglichen Erregern anfällig für exotischere
und tödliche Infekte«, so Root-Bernstein. Viele
dieser Infekte, wie zum Beispiel die PneumocystisLungenentzündung zählen zu den fast dreißig Krankheitserscheinungen,
die bei Aids beobachtet werden.
Drogenkranken zufolge, die Antibiotikamißbrauch
zugaben, ist das am häufigsten erhältliche antibiotische
Präparat das Cephalosporin Cefalexin. Dies ist ein
Breitspektrumantibiotikum, das nicht nur die Resistenzbildung fördert, sondern außerdem starke immunschwächende
Eigenschaften aufweist. Daraus ergibt sich nicht nur ein theoretisches Risiko:
Diese Wirkung wurde in klinischen Untersuchungen nachgewiesen.
Dr. P. H. Chandrasekar und seine Kollegen
von der medizinischen Fakultät der » Warne State
University« in Detroit äußerten 1990, Antibiotikamißbrauch
zähle, neben anhaltendem intravenösem
Drogenmißbrauch, häufig wechselnden Geschlechtspartnern
und Unterernährung zu den Hauptfaktoren,
die mit der Entwicklung von Aids in engen Zusammenhang
gebracht werden müssen - in vielen Fällen
völlig unabhängig von einer HIV-Infektion.
Die immunsuppressiven, das heißt immunschwächenden
Eigenschaften von Antibiotika sind seit geraumer
Zeit bekannt. Bereits in den fünfziger Jahren, noch zu
Beginn der Antibiotika-Ära, erschienen etliche
Berichte, denen zufolge die Behandlung mit Penicillinen
häufig zu begleitenden Infektionen mit Pilzen, vor
allem Hefen wie dem Soorpilz Candida albicans führte.
Dabei spielt die Zerstörung der natürlichen Feinde
der Hefepilze, apathogener Bakterien im Körper, eine
Rolle. Außerdem beeinträchtigen Antibiotika das
Immunsystem, dessen Aufgabe es ist, einem übermäßigen\
Wachstum dieser allgegenwärtigen Organismen
Entgegenzuwirken Das Spektrum der Hefepilzerkrankungen
reicht vom lästigen, aber relativ harmlosen
Befall der Vagina bis hin zu tödlichen Infektionen
mit Candida-Sepsis, die immer häufiger bei Krebs und
Aids-Patienten zu verzeichnen sind.
Diese Beeinträchtigung des körpereigenen Abwehrsystems
ergibt sich aus einer Reihe unterschiedlicher
biochemischer Mechanismen und je nach Art der
eingenommenen Mittel. Das Antibiotikum Chloramphenicol
wird als immunsuppressiv bezeichnet, da es
erwiesenermaßen verschiedene Funktionen des Immunsystems
stört. Bei Männern, die durch Schutzimpfung
gegen Wundstarrkrampf (Tetanus) immunisiert
worden waren und vor der Auffrischungsimpfung
zehn bis vierzehn Tage lang mit Chloramphenicol
behandelt wurden, fiel die normalerweise sehr
heftige Antikörper-Reaktion nach der Auffrischung
nur schwach aus. Im Tierversuch ist es sogar gelungen,
die Abstoßung von Hauttransplantaten nicht
verwandter Tiere durch vorherige Behandlung des
Empfängertiers mit Chloramphenicol hinauszuzögern.
Dies war allerdings keine begrüßenswerte Entdeckung
in Hinblick auf die Behandlungsmöglichkeiten
in der Humanmedizin, sondern vielmehr ein deutlicher Beweis für die weitreichende Beeinträchtigung
des Immunsystems durch dieses Antibiotikum. Nach
allgemeiner Expertenansicht ist diese starke Immunsuppression
auf die schwerwiegende Hemmung der
Proteinsynthese zurückzuführen: Die Bildung jener
Proteine wird gestört, die für die verschiedenen Funktionen
des Immunsystems wichtig sind.
Hätte lediglich Chloramphenicol diese Auswirkung,
wäre die Gefahr, an Aids zu erkranken, für
Homosexuelle, Fixer und andere Risikogruppen
geringer. Chloramphenicol bildet jedoch nur den Prototyp
einer breiten Palette von Antibiotika, die ebenfalls
die Proteinsynthese stören und somit die Immunabwehr
in mehrfacher Hinsicht beeinträchtigen. Die
biochemischen Abläufe sind je nach Medikament
leicht unterschiedlich, wirken sich letztlich jedoch
stets ähnlich aus. Aus dieser Antibiotikagruppe ist vor
allem das Tetracyclin hervorzuheben, jenes Mittel, das
Dr. Luc Montagnier auf seiner Suche nach weiteren
Aids-Faktoren für die Resistenz der Mykoplasmen
verantwortlich machte. Tetracyclin wird von Homosexuellen
zur Krankheitsprophylaxe bevorzugt eingenommen.
Andere Antibiotika, die den Folsäurestoffwechsel
stören, können das Immunsystem ebenfalls schädigen.
Zu dieser Gruppe zählen die Sulfonamide sowie Trimethoprim
und Pyrimethamin. Die Hemmung der Folsäuresynthese ist in gewisser
Weise von Vorteil, da Bakterien dieses Vitamin zu ihrer Vermehrung benötigen.
Wird das Medikament jedoch über einen längeren
Zeitraum oder hoch dosiert eingenommen, geht die
Wirkung über die Hemmung der Mikroben hinaus
und beeinträchtigt die Immunabwehr.
Viele der neueren Antibiotika, wie zum Beispiel die
jüngst entwickelten Cephalosporine, Amikacin und
Piperacillin - die jeder der in Philadelphia befragten
Fixer einnahm- , werden als Immunmodulatoren eingestuft,
da sie nur ganz bestimmte Funktionen des
Immunsystems betreffen. Dadurch wirken sie vermutlich
weniger verheerend. In Bezug auf Aids trifft dies
allerdings nicht zu. Eine Komponente des Immunsystems,
auf die sie sich auswirken, sind die bei Aids
besonders betroffenen T -Zellen.
Es hat sich gezeigt, daß diese Antibiotikagruppe
Essentielle Mineralien und Spurenelemente, besonders
Zink, aber auch Kalzium und Selen, binden oder sie auf
andere Weise dem Körper entziehen. T-Zellen benötigen
einen oder mehrere dieser Stoffe zur Teilung und
Klonierung. Sind diese wichtigen Funktionen für die
Immunreaktion gegen einen fremden Mikroorganismus
gestört, wird der Körper rasch anfällig für die
Aids-typischen, opportunistischen Infektionen. 1992
Entdeckten Wissenschaftler der medizinischen Fakultät
der Vanderbilt-Universität, daß jene T-Zellen-Subpopulationen
Zink am nötigsten zum Wachstum brauchen,
die den CD4-Rezeptor tragen, der im Zusammenhang
mit Aids bereits zu einem gängigen Begriff
geworden ist. Laut Definition ist der Ausbruch von
Aids ohne eine Reduzierung der CD4-T-Zellen unter
einem Wert von dreihundert nicht möglich.
Selbst ohne die Einnahme von Antibiotika haben
homosexuelle Männer und Drogenkranke im Vergleich
zu lesbischen Frauen und Heterosexuellen
ungewöhnlich niedrige Zink- und Selenspiegel im
Blut. Der Grund dafür wurde bisher noch nicht eindeutig
ermittelt. Einige Wissenschaftler meinen
jedoch, es handele sich dabei entweder um eine Folge
von Mangelernährung, um eine Häufung von Infektionen
oder eine Verquickung von beidem. Jene geringen
Werte wurden bereits bei Personen ohne erkennbare
Krankheitssymptome festgestellt. Durch die Einnahme
von Antibiotika werden zusätzlich zu den
bereits bestehenden Mängeln dem Immunsystem Spurenelemente
entzogen, so daß es schließlich seine Funktion nicht mehr erfüllen kann.
Auch Antibiotika, die speziell gegen parasitäre
Infektionen eingesetzt werden, haben eine Reihe von
Immunschwächenden Nebenwirkungen, daher könnten
vor allem Afrikaner von diesen Medikamenten
betroffen sein, denn sie sind sowohl für Malaria und
Schistosomiasis, eine durch Würmer hervorgerufene
Krankheit, als auch für Aids anfällig. Chloroquin
(Resochin), das am häufigsten zur Behandlung von
und Vorbeugung gegen Malaria verwendete Antibiotikum,
wurde eingehend auf seine immunsuppressiven
Eigenschaften untersucht. In Labortests war die Vermehrung
von T-Zellen sowie ihre Fähigkeit, fremde
Organismen zu vernichten, nach der Behandlung mit
Chloroquin von hundert auf fünfundzwanzig Prozent
reduziert. Dieses Mittel ist ein so effektives Immunsuppressivum,
daß es sogar zur Behandlung schwerer
rheumatoider Arthritis eingesetzt wird. Diese Erkrankung,
die durch Überaktivität des Immunsystems hervorgerufen
wird, ist in vielerlei Hinsicht geradezu das
Gegenteil von Aids. Nach Root-Bernsteins Ansicht
wurden bisher keine hinreichenden klinischen Studien
über die immunschwächende Wirkung parasitentötender
Antibiotika durchgeführt. Er habe allerdings den
Eindruck gewonnen, daß diese Antibiotika für die
hohe Aids-Rate in Afrika mitverantwortlich seien.
Auch homosexuelle Männer verwenden sehr häufig
Antiparasitika. Zwischen zwanzig und fünfzig Prozent
der Homosexuelleni n den amerikanischen Großstädten
leiden wiederholt an einer Reihe gleichzeitig
auftretender parasitärer Darminfektionen. Aus diesem
Grund wenden sie regelmäßig Antiparasitika an Auch vorbeugend in Selbstmedikation oder nach ärztlicher
Anordnung.
Natürlich gibt es noch weitere Möglichkeiten, wie
Antibiotika Aids begünstigen können,
sowohl über das Immunsystem als auch durch andere
Mechanismen. Das antimykotische Medikament
Ketoconazol, das häufig bei homosexuellen Aids-Risikopatienten
zur Behandlung von Infektionen verordnet
wird, hemmt die Produktion des Hormons Cortisol
in der Nebennierenrinde. Die Folgen sind Appetitlosigkeit,
Gewichtsverlust, Störung der Kalium- und
Natriumspiegel sowie niedriger Blutdruck. Cortisolmangel
ist äußerst gefährlich für alle, die großem Streß
ausgesetzt sind, insbesondere vor chirurgischen Eingriffen.
Rifampicin beschleunigt den Abbau von Cortisol.
Das Antibiotikum Trimethoprim/Sulfamethoxazol,
das vielfach von Homosexuellen und Drogenkranken
eingenommen wird, wurde mit einer akuten Entzündung
der Bauchspeicheldrüse in Zusammenhang
gebracht. Diese Erkrankung wird bei der Hälfte aller
Autopsien von homosexuellen Männern festgestellt.
Das Medikament stört auch den Folsäurestoffwechsel.
Nitrite sind keine Antibiotika, sie können aber
zusammen mit diesen verheerende Schäden anrichten.
Inhalate wie Amylnitrit und Butylnitrit gehören schon
zum Alltag homosexueller Männer. Dieselbe Studie,
die Antibiotikamißbrauch bei Homosexuellen in
Memphis feststellte, ergab auch, daß achtzig Prozent
der untersuchten Männer zumindest gelegentlich
Nitrite verwendeten, dreißig Prozent davon öfter als
einmal wöchentlich. In Metropolen wie Washington,
San Francisco, Los Angeles und New York geben etwa
fünfundneunzig Prozent der Homosexuellen die
Anwendung von Nitriten zu, viele von ihnen nehmen
sie sogar regelmäßig. Dieser Mißbrauch beruht auf der
erweiternden Wirkung hinsichtlich der glatten Eingeweidemuskeln,
was den Analverkehr erleichtert und
aufgrund der erweiterten Blutgefäße im Gehirn offenbar
auch das sexuelle Lustempfinden steigert.
Nitrite wirken immunschwächend, und noch am
Anfang der Aids-Krise erwog die CDC - bevor der
HIV-Virus entdeckt wurde - ernsthaft die Möglichkeit,
daß Nitritmißbrauch die Aids-Ursache sein
könnte. Besonders beängstigend sind die Auswirkungen,
wenn Antibiotika und Nitrite gemeinsam zum
Einsatz kommen, und die gleichzeitige Einnahme ist
sehr wahrscheinlich, da der Mißbrauch beider Medikamente
gerade in bestimmten Gruppen sehr verbreitet
ist. In Labortests und Tierversuchen zeigte sich,
daß Nitrite die meisten Antibiotika in Karzinogene,
krebs erregende Stoffe, verwandeln können. Zwar ist
es noch nicht erwiesen, man nimmt jedoch an, dass dieselbe
chemische Reaktion auch bei Homosexuellen
abläuft. Sollte diese Vermutung zutreffen, wäre dies
eine Erklärung für die große Häufigkeit von KaposiSarkom und malignem Lymphom, dem Lymphknotenkrebs,
die bei dieser Risikogruppe fast durchwegs
zu beobachten sind.
Welche Schlüsse können wir nun aus all diesen
Daten ziehen? Ganz gleich, was wir bisher geglaubt
haben, wir müssen die Rolle des HIV für die Entwicklung
von Aids neu bewerten. Da wir uns so sehr daran
gewöhnt haben, HIV als »das Aids-Virus« zu bezeichnen,
oder sogar die HIV-Infektion mit der Erkrankung
Aids gleichsetzten, wird das Umdenken schwerfallen.
Aber es ist höchste Zeit, unser Interesse den
Co-Faktoren zuzuwenden, insbesondere den Antibiotika.
Zu umfangreich sind die wissenschaftlichen Veröffentlichungen
zur immunschwächenden Wirkung von Antibiotika, als daß
wir sie ignorieren könnten.
Dieses Wissen muß allen gefährdeten Personen vermittelt
werden.
Gefährliche Importe aus der
Dritten Welt
Als Marshall McLuhan die Welt als »global village«,
als ein großes Dorf bezeichnete, beschrieb er das
Ergebnis der elektronischen Revolution. Dieser
Begriff kann jetzt auch in Bezug auf die Antibiotikaresistenz
verwendet werden. Das »global village«
wurde nämlich zum Reagenzglas für die Züchtung
einer Vielzahl antibiotikaresistenter Bakterienstämme.
Die Vereinigten Staaten und die übrige industrialisierte
Welt haben im Umgang mit diesem Problem versagt.
Doch selbst mit einem wohldurchdachten und
perfekt umgesetzten Plan wären wir noch in Schwierigkeiten.
Die Anzahl resistenter Erreger, die sich in
den entwickelten Ländern bilden, ist ein Rinnsal verglichen
mit dem reißenden Strom, der in der Dritten
Welt entfesselt wurde.
Die sich daraus ergebenden Folgen sind nicht nur
hypothetische Gedankengebäude, über die sich die
Wissenschaftler in der medizinischen Fachliteratur
Auslassen sollten. Es handelt sich vielmehr um ein ernstes
Problem, das uns ebenso direkt betreffen kann,
wie jede andere Krise im Ausland, die wir vor dem
Fernseher oder in den Zeitungen mitverfolgen. Allerdings
macht dieses Dilemma weder vor geographischen
noch vor politischen Grenzen halt.
Ebenso wie tödliche Bakterien in unseren Krankenhäusern
zunehmen und sich von dort ausgehend in der
Bevölkerung verbreiten, bereichern auch die durch
Selektion gestärkten resistenten Mikroorganismen aus
Nigeria, Chile oder Thailand das beständig anwachsende
globale Reservoir resistenter Krankheitserreger.
Und diese können sich schließlich über die ganze Welt
verbreiten. Schutzlos werden wir dann jenen Bakterien
ausgeliefert sein, die zu einem ebenso gewöhnlichen
und zugleich gefährlichen Import aus den Entwicklungsländern
geworden sind, wie Kokain und Heroin,
deren Einfuhr wir ja auch nicht verhindern können.
Durch die Zunahme der Fernreisen ist die Verbindung
zur Antibiotikaresistenz in der Dritten Welt hergestellt.
Bakterien, die sich dort bilden, hängen sich
Einfach an Reisende oder Exportartikel an und lassen
sich wie Anhalter über Ozeane und Kontinente hinweg
mitnehmen. Die Dritte Welt bildet aus vielen
Gründen eine ideale Brutstätte für resistente Bakterien.
Einige sind kultureller, andere wirtschaftlicher
Natur. Aber letztlich lassen sich zwei Hauptfaktoren
feststellen: ungeeignete Antibiotikawahl und falsche
Dosierung. Dies stellt auch in den Industrieländern
das Kernproblem dar, in den Entwicklungsländern
aber hat es wahrlich bizarre Formen angenommen.
Dr. Sjaak van der Geest, ein medizinischer Anthropologe
aus Holland, beschreibt ein Erlebnis, das er am
Hauptbahnhof von Kumasi in Ghana hatte. Kurz nach
seiner Ankunft wurde er auf einen Jungen aufmerksam,
der Kapseln aus einer Plastiktüte verhökerte. Dr.
van der Geest fragte, wofür diese Kapseln gut seien.
»Gegen Hämorrhoiden«, antwortete der Junge mit
Fachmännischem Selbstbewußtsein.
Auf dem Bahnhof verfolgte van der Geest einige
Zeit den regen Handel mit dem Medikament. Später
beobachtete er, wie der Junge dieselben Kapseln als
Mittel gegen Impotenz verkaufte. Seine Neugier
wuchs, van der Geest kaufte dieses Wunderheilmittel
schließlich selbst. Wieder daheim in Holland, ließ er
das Medikament analysieren: Es handelte sich um
zweihundertfünfzig Milligramm eines Antibiotikums
namens Penbritin.':.
Dieses Mittel wirkt zwar gegen bakterielle Infektionen,
zur Behandlung von Hämorrhoiden, Impotenz
und all der anderen Beschwerden, gegen die es der
geschäftstüchtige Junge anbot, ist es aber denkbar
ungeeignet.
Auf den Marktplätzen in Nairobi und den meisten
anderen Städten Afrikas wird eine stattliche Anzahl
unterschiedlicher Antibiotikakapseln auf riesigen
Tabletts angeboten- zusammen mit einer ebenso bunten
Auswahl an Bonbons und Süßigkeiten. Tagtäglich
kann man lange Schlangen von Menschen beobachten,
die anstehen um eine einzige Kapsel Chloramphenicol,
Tetracyclin oder Penicillin zu erstehen. Sie behandeln
damit Kopf- oder Bauchschmerzen oder versprechen
sich davon einen Rundumschutz gegen
Geschlechtskrankheiten. Die Einnahme einer Kapsel
würde keinen großen Schaden anrichten, doch für
Hunderttausendein der Dritten Welt ist es ganz normal,
regelmäßig Antibiotika bei Straßenhändlern zu
kaufen.
Dies sind ideale Bedingungen für eine gefährliche
Entwicklung. Bei jeder dieser unkontrollierten AntibiotikaEinnahmen findet die Selektion resistenter
Krankheitserreger- falls vorhanden- oder apathogener
Bakterienstämme, die immer im Körper existieren,
statt. Daher ist zum Beispiel die Ampicillinresistenz in
der indischen Stadt Vellore wesentlich verbreiteter als
etwa in Edinburgh. Aus diesem Grund waren E.coliBakterien, die aus Stuhlproben in einer Kinderkrankenstation
in Kenia isoliert wurden, gegen Streptomycin,
Tetracyclin und Ampicillin resistent, und deshalb
sind in Bangladesch über achtzig Prozent der Shigella
gegen Ampicillin und Trimethoprim, also die Mittel
der ersten Wahl zur Behandlung von Ruhr, widerstandsfähig.
In einer anderen Studie wurden die Darmbakterien
vollkommen gesunder Kinder und Kleinkinder aus
Boston, Caracas, Venezuela und Quin Pu in China
verglichen. Dabei wurde speziell untersucht, wie resistent
die Darmbakterien von Kindern waren, die noch
nie Antibiotika eingenommen hatten. Daß es an all
diesen Orten schwierig war, überhaupt Kinder im
Alter unter fünf Jahren zu finden, die noch nie antibiotisch
behandelt worden waren, ist bereits ein weiteres
Anzeichen für die unmäßige Anwendung dieser
Medikamente weltweit. Die E.coli-Bakterien der
Bostoner Kinder waren wenig resistent gegen die acht
Getesteten Antibiotika, die bei Kindern aus China und
Venezuela isolierten E.coli dagegen zeigten starke
Resistenz.
Eine weitere Studie stellte fest, daß Gonokokken,
die Erreger der Gonorrhoe, in Ländern, in denen
keine Rezeptpflicht für Antibiotika besteht, zu fünfundsiebzig
Prozent resistenter sind als anderswo, in
Ländern mit strengen Arzneimittelverordnungen
dagegen nur zu zwanzig Prozent. Eine Untersuchung
der Universität von Texas demonstrierte nicht nur, daß
antibiotikaresistente Bakterien in der Dritten Welt
sehr viel verbreiteter sind, sondern auch, wie leicht
diese Erreger in industrialisierte Länder eingeschleppt werden
können. Bei US-Amerikanern, die in Mexiko
studiert hatten, fanden sich nach ihrer Rückkehr in die
Vereinigten Staaten in ihren Darmbakterien Resistenzplasmide
gegen Trimethoprim. Gegen dieses Antibiotikum
waren sie vor ihrem Mexikoaufenthalt noch
nicht resistent gewesen, zumal die Resistenz gegen
Trimethoprim bis vor kurzem in den Vereinigten Staaten
äußerst selten war.
Diese Art der gefährlichen subtherapeutischen oder
untherapeutischen Dosierung ist ein Problem, das
nicht nur von den Straßenverkäufern der Dritten Welt
ausgeht. In Entwicklungsländern ist es gang und gäbe,
im Krankheitsfall einen Heiler aufzusuchen, wie zum
Beispiel den Medizinmann eines Stammes in Afrika
oder einen »Spritzendoktor« in Südostasien, besonders
in Laos. Diese Heiler verwenden traditionell
Kräuter oder andere in der westlichen Welt unübliche
Heilmittel, doch diese werden immer unbeliebter. Der
Glaube, westliche Medikamente besäßen magische
Heilkräfte sowie vorbeugende Wirkung, macht sich
seit geraumer Zeit in den Entwicklungsländern breit.
Aus diesem Grund übernehmen viele traditionelle
Heiler westliches Marketing und geben nun ihren
Patienten, was sie verlangen. Sie beziehen westliche
Medikamente, vor allem Antibiotika, in ihre Behandlungsmethoden
ein. Auch wenn sie sicherlich in besserer
Absicht als die Straßenverkäufer handeln, sind die
Folgen doch meist dieselben wie bei jenen. Die Heiler
sind für den richtigen Umgang mit diesen Pharmazeutika
kaum oder überhaupt nicht ausgebildet, und sie
verordnen Antibiotika fast immer in therapeutisch
sinnlosen Dosen oder gegen Erkrankungen, die gar
keine antibakterielle Behandlung erfordern.
Selbst in Ländern, die eine gewisse Kontrolle über
die Abgabe von Medikamenten ausüben und in denen
man daher einen fachgerechteren Umgang mit diesen
Medikamenten erwarten könnte, ist die Lage kaum
besser. Hauptsächlich aufgrund des in Entwicklungsländern
herrschenden Ärztemangels, hat der Gesetzgeber
dort Apotheker mit der Rezeptierung und
Abgabe von Medikamenten, einschließlich der Antibiotika,
betraut. Während in den Industriestaaten statistisch
gesehene ein Arzt auf fünfhundertzwanzig Einwohner
kommt, ist das Verhältnis in den meisten Entwicklungsländern
etwa 1: 2700, in einigen Fällen sogar
nur 1: 17000. Und die meisten Apotheker dort gehen
ebenso leichtfertig mit gefährlichen Arzneimitteln um
wie die Straßenverkäufer.
Ich erinnerem ich in diesem Zusammenhang an ein
persönliches Erlebnis. Während meines Urlaubs in
Rio de Janeiro 1983 litt ich an Halsschmerzen und
erhöhter Temperatur. Ich vermutete keinen Streptokokkeninfekt,
lediglich eine leichte virale Erkältung.
Da ich - im Gegensatz zu den Ansichten vieler KollegenFestgestellt hatte, dass erhöhte Vitamin-C-Zufuhr
und Zinkpastillen fast immer meine Symptome linderten,
ging ich in die große Apotheke, die meinem Hotel
gegenüberlag. Glücklicherweise verstand der Apotheker
etwas Englisch. Nachdem ich ihm erklärt hatte,
was ich wollte, händigte er mir gleich das Vitamin C
aus. Da er keine Zinkpastillen hatte, bot er mir einen
in seinen Augen wesentlich besseren Ersatz dafür an:
Ampicillin, in der praktischen Packung mit fünf Kapseln.
Mir wurde schnell klar, daß er Ampicillin oder
auch andere Antibiotika gegen alle möglichen
Beschwerden zu verkaufen pflegte. Soweit ich weiß,
wird dies immer noch so gehandhabt.
Dr. Diana Melrose aus Oxfam in Großbritannien,
die sich mit dem Problem des Medikamentenmißbrauchs
in Entwicklungsländern eingehend
beschäftigt hat, berichtet von einem ähnlichen Erlebnis im Nordjemen, wo ein angeblich ausgebildeter
Apotheker ihr kurzerhand ein Antibiotikum namens
»Rivomycin Strepto« gegen ihre Diarrhoe empfahl,
und zwar für eine äußerst kurz bemessene Einnahmedauer.
Vor einigen Jahren führte in Thailand Visanu Thamlikitkul
von der Abteilung für Infektionskrankheiten
am »Siriraj Hospital« in Bangkok eine Studie über die
Abgabe pharmazeutischer Produkte in der Dritten
Welt durch. Die Untersuchung war ausschlaggebend
für den Versuch, die Apotheken behördlich zu kontrollieren
... dies jedoch blieb ohne Erfolg. Die Apotheken,
besser Drogerien, in Thailand werden in zwei
Klassen unterteilt. In Läden der ersten Klasse, von
denen es in Bangkok etwa 1800 gibt, muß ständig ein
amtlich zugelassener Apotheker Dienst tun. Dieser
allein ist gesetzlich berechtigt, antibakterielle Medikamente
ohne ärztliche Verschreibung abzugeben.
Vierzig Medizinstudenten im achten Semester spielten
für diese Studie Patienten, die in die Drogerien
erster Klasse ausschwärmen und den dort beschäftigten
Apothekern unterschiedliche Beschwerden schildern
sollten, die sie an sich selbst oder ihren Kindern
feststellten: zum Beispiel Ausfluß aus dem Penis, eine
Wunde bei einem Vierjährigen, wäßriger Durchfall bei
einem sechs Monate alten Baby, Fieber und Halsschmerzen
bei Kindern und Erwachsenen sowie Schnupfen und Husten
bei einem zwei Monate alten Säugling.
Die Ergebnisse waren erstaunlich. Die Studenten
hätten sich ebenso gut an Straßenhändler wenden können.
Nur vier der Apotheker weigerten sich, Medikamente
für den zwei Monate alten Säugling zu verkaufen,
und nur einer für das Baby von sechs Monaten. In
allen anderen Fällen wurden bereitwillig Antibiotika
abgegeben. Sowohl die Art der Antibiotika als auch
die Dosierungsanweisungen variierten beträchtlich,
ohne erkennbaren Sinn und Zweck. Und was die
Sache noch verschlimmerte: In keinem der Fälle wurde
eine ausreichende therapeutische Dosis verordnet. Die
Abgabemengen reichten von einer einzelnen Dosis bis
hin zu Mehrfachgaben, die für weniger als vier Tage
reichten, durchschnittlich für nur zwei Tage. Wären
die Mittel gegen tatsächlich bestehende Beschwerden
verordnet worden, hätte es sich um therapeutisch zu
geringe Dosierungen gehandelt und somit zur Selektion
resistenter Bakterienstämme geführt.
Neben ber mangelnden Kenntnis, wie und wogegen
Antibiotika überhaupt wirken, ist in der Dritten Welt
die Armut ein weiterer Grund für den Mißbrauch.
Viele Menschen können es sich einfach nicht leisten,
Antibiotika über einen längeren Zeitraum einzunehmen.
In der Dominikanischen Republik und anderen
Ländern kostet die Tagesdosis eines Medikaments oft
einen ganzen Tageslohn eines Arbeiters. Eine zehntägige
Medikation würde bedeuten, daß die Familie für
längere Zeit nichts zu essen hätte. Damit ist die Entscheidung
klar. Die Apotheken in den Entwicklungsländern
stimmen die Packungsgrößen zweifellos auf
diese wirtschaftlichen Verhältnisse ab. Bieten sie Antibiotika
nur in Zehn-Tage-Packungen an, verkaufen sie
keine. Aus Sicht des Geschäftsinhabers ist es natürlich
besser, wenn wenigstens ein paar Kapseln über den
Ladentisch gehen als gar keine.
Die Armut wirft natürlich auch noch andere Probleme
auf. Kommt es in den Vereinigten Staaten,
Europa und Japan zu Resistenzbildung gegen ein
Medikament wie Penicillin oder Tetracyclin, sind bald
neuere Mittel erhältlich, die möglicherweise aus dem
einfachen rund besser wirken, weil sie noch nicht so
lange auf dem Markt sind und weil sich daher noch
keine so große Widerstandsfähigkeit gegen sie aufgebaut hat. Aber diese neueren Mittel sind auch teurer.
Die meisten Entwicklungsländer können es sich nicht
leisten, sie zu importieren. Daraus ergibt sich ein Teufelskreis:
Durch mangelnde Kontrolle und früheren
Mißbrauch sind die in Entwicklungsländern vorherrschenden
Krankheitserreger weitgehend resistent
gegen die verfügbaren Antibiotika. Dennoch werden
sie weiterhin eingesetzt. Folglich setzt sich die Resistenz
immer mehr durch, wird auf immer mehr Plasmide
übertragen und findet schließlich ihren Weg in
die Industrieländer. Die Ärzte der Dritten Welt könnten versuchen eine
andere Lösung anzustreben, zum Beispiel indem sie
ihre Regierungen dazu drängen, strengere Kontrollen
zu veranlassen oder zumindest eine begrenzte Menge
neuerer Antibiotika zu erwerben. Aber ganze Horden
von Pharmavertretern, von denen die Ärzte ihre Medikamenteninformationen
beziehen, arbeiten ständig hiergegen. Selbst Ärzten in den Industrienationen fällt
es schwer, über die jüngsten Entwicklungen der Pharmazie
auf dem laufenden zu bleiben, auch sie verlassen
sich weitgehend auf die Vertreter der Pharmafirmen.
In den USA bestehen für die Arzneimittelindustrie
strenge Vorschriften, bei deren Überschreitung schwere
Strafen drohen. Aber in der Dritten Welt gibt es
keine Organisation, die mit der amerikanischen
Gesundheitsbehörde »Food and Drug Administration
«, kurz FDA, die auch für die Zulassung von
Medikamenten zuständig ist, vergleichbar wäre. Die
Pharmaunternehmen können praktisch über ihr Produkt
verbreiten, was sie wollen. Und sie tun dies auch.
Diese Situation hat sich in den letzten Jahren allerdings
Wesentlich gebessert. Unter dem Druck der Forschungsergebnisse
von Dr. Phillip R. Lee und Dr. Milton
Silverman von der Universität von Kalifornien in
San Francisco, die bereits in den siebziger Jahren viele
Unzulässige Vermarktungspraktiken der Pharmaindustrie
aufdeckten, veröffentlichte der Internationale
Verband der pharmazeutischen Industrie (»International
Federation of Pharmaceutical Manufacturers ~ Associations«, IFPMA) 1981 einen Kodex mit
Wettbewerbsregeln für die pharmazeutische Industrie
(Code for Pharmaceutical Marketing Practices) Mitgliedsunternehmen sind dazu aufgerufen, all ihre '"
Geschäfte in »völliger Offenheit« zu führen und ihre ~~
Behauptungen auf wissenschaftlich belegbare Fakten ':"
zu beschränken. Wie Dr. Lee Ende der achtziger Jahre
in einer. Nachfolgestudie feststellte, hielten sich die
meisten der großen internationalen Konzerne auch an
diese Vorschriften.
Ergänzend zum IFPMA-Kodex kamen gesetzliche Regelungen
und die Informationsarbeit verschiedener Verbraucherschutzgruppen
hinzu, wie z.B. „Health Action Interntional“ kurz HAI, eine Organisation
mit Büros in Südamerika, Asien und Amsterdam, die Internationale
Verbraucherschutzorganisation „Interntional Organisation of Consumer
Unions (IOCU) mit Sitz in London, die sich seit Januar 1995 »Consumers
International« nennt, sowie die englische Organisation
»Social Audit« und die jüngst gegründete» Medical Lobby for
Appropriate Marketing“ Dieser Organisation ist es zu verdanken,
dass einige wirkungslose oder potentiell schädliche Medikamente
vom Markt geworden wurden, insbesondere gefährliche und sinnlose
Arzneimittelkombination, wie sie in der Dritten Welt häufig angeboten
werden. Auch einige irreführende Werbebehauptungen wurden abgeändert.
Leider ist das Resultat immer noch nicht völlig befriedigend.
Es bestehen Diskrepanzen, da viele der kleineren Pharmaunternehmen
mit Sitz in Entwicklungsländern ihre unlauteren Wettbewerbsmethoden
beibehalten, so daß Antibiotika
immer noch gegen die falschen Krankheitserscheinungen
eingesetzt werden. Hier ist kein Ende abzusehen.
Wieviel Schaden wird nun durch diesen beklagenswerten
Antibiotikamißbrauch in der Dritten Welt tatsächlich
angerichtet? Man weiß um das Problem schon seit
1969, als eine dramatische Ruhrpandemie in Guatemala
ausbrach und sich in sechs mittelamerikanische Länder
und nach Südmexiko ausbreitete, bis sie schließlich
im darauffolgenden Jahr abebbte. Eine halbe Million
Menschen war von dieser gewaltigen Epidemie betroff~
n, Tausende starben daran. Ausgelöst wurde die verheerende
Seuche von einem Erregerstamm mit einem
R-Plasmid, das für die Resistenz gegen Sulfonamide,
Streptomycin, Tetracyclin und Chloramphenicol sorgte.
Dann, 1972, brach in Mexiko-Stadt eine Typhusepidemie
aus, mehr als 10000 Menschen erkrankten. Später,
in den siebziger und achtziger Jahren brachen
weltweit in Entwicklungsländern ähnliche Infektionskrankheiten
mit mehrfacher Antibiotikaresistenz aus,
von Mexiko bis Bangladesch, Indien, Burma, Sri
Lanka und Zaire.
Ebenfalls in den siebziger Jahren wütete in Afrika
eine verheerende Cholerapandemie, ausgelöst durch
das sogenannte EI-Tor-Bakterium. Heute sind in
großen Teilen Afrikas mehr als fünfzig Prozent derartiger
Bakterien resistent gegen Tetracyclin, und trotz
dieser weitverbreiteten Resistenz wird Tetracyclin in
geradezu erstaunlichem Ausmaß weiter verabreicht.
Es hat sich nichts geändert, seit Dr. Stuart Levy von
der Tufts-Universität, ein weltweit anerkannter
Experte auf dem Gebiet des Antibiotikamißbrauchs,
1981 bei seinem Besuch in einem Labor in Jakarta,
Indonesien, folgendes erlebte:
100000 indonesische Muslime wollten sich mit
einer Pilgerfahrt nach Mekka einen Lebenswunsch
erfüllen. Das indonesische Ministerium für Religion
war allerdings besorgt über die Verbreitung von
Krankheiten auf einer so langen Reise, mit so vielen,
dicht zusammengedrängten Menschen. Vor allem die
Verbreitung von Cholera war zu befürchten. Als Vorsichtsmaßnahme
wurden von sämtlichen in den Flugzeugen
und Zügen gereichten Mahlzeiten Bakterienkulturen
angelegt und alle 100000 Pilger wurden
vorbeugend mit Tetracyclin behandelt. Diese prophylaktische
Anwendung war nicht nur unangebracht,
das Probllem wurde durch die Antibiotikagaben noch
verschärft, da die Bakterien bereits gegen Tetracyclin
resistent waren. Doch der Regierung stand nur dieses
Medikament zur Verfügung, und man wußte nicht,
wie man der drohenden Gefahr sonst begegnen sollte.
Nicht lange, nachdem die Epidemien in der Dritten
Welt ihren Höhepunkt erreicht hatten, fand man heraus,
dass Resistenzgene übertragbar sind. In vielen Fällen
steckten sich ausländische Reisende in diesen Ländern
mit denselben mehrfachresistenten Infektionserregern
an oder wurden auf andere Weise zu Trägern
der Antibiotikaresistenzplasmide und brachten diese
mit nach Hause.
Dieses Phänomen der Übertragung von Antibiotikaresistenz
gab es auch schon unter weniger katastrophalen
Umständen, häufig sogar völlig unbemerkt, es
bereitet uns aber heute immense Schwierigkeiten.
Bevor die amerikanischen Streitkräfte nach Vietnam
gingen, reagierten die Gonorrhoebakterien der westlichen
Welt einheitlich empfindlich auf Penicillin. Als
dann aber Amerikaner die Bordelle in Saigon besuchten,
zogen sie sich einen ungewöhnlichen GonorrhoeErreger zu, der fast völlig resistent war. Den Prostituierten
dieser Bordelle war seit geraumer Zeit regelmäßig
Penicillin verabreicht worden, um sie vor dieser
Geschlechtskrankheit zu schützen. Diese wohl gutgemeinte,
aber letztlich schlechte Maßnahme bewirkte
gerade das Gegenteil. Denn so fand schließlich die
Selektion der seltenen penicillinresistenten Gonokokken
statt, die auf die amerikanischen Soldaten übertragen
wurden und die mit ihnen in die Vereinigten Staaten
gelangten. Heute findet man kaum noch penicillinsensitive
Gonokokken in Amerika oder Europa.
In der heutigen Zeit, nach dem Fall des Eisernen
Vorhangs müssen wir mit antibiotikaresistenten Bakterienstämmen
Beispielsweise aus Ungarn, wo mehr als fünfzig Prozent der Erreger
der Lungenentzündung bereits penicillinresistent sind, und anderen Ländern
rechnen, in die nun viele Touristen aus westlichen
Ländern reisen. Das alles muß nicht sein. Eine Untersuchung
über den Einsatz von Antibiotika in medizinischen
Grundversorgungseinrichtungen in Harare,
Simbabwe, machte deutlich, daß es durchaus möglich
ist, das medizinische Hilfspersonal im fachgerechten
Umgang mit Antibiotika zu schulen. Die Versorgung
in diesen Kliniken war ebenso gut wie sie in den meisten
amerikanischen Krankenhäusern ist. Und kürzlich
meldeten sich sowohl in Nigeria als auch Costa
Rica Wissenschaftler zu Wort, die die Verantwortlichen
der Gesundheitspolitik dazu bewegen wollen,
auf den gefährlichen Einsatz alter Antibiotika zu verzichten.
Statt dessen soll für einen gezielten Einsatz
wirksamerer Mittel gesorgt werden. Wird mit diesen
neueren Medikamenten allerdings nicht vernünftig
umgegangen wiederholt sich derselbe Kreislauf.
Größere Tiere, höhere Resistenz
Vor einigen Jahren nahm ich an einem Wissenschaftlerkongreß
der Universität von Kalifornien in Berkeley
teil. Das gesellschaftliche Rahmenprogramm sah
für den Samstagabend einen Ball auf einem gecharterten
Schiff vor. An diesem Abend wurden meine Frau
und ich Dr. Thomas Jukes vorgestellt. Jukes, emeritierter
Biologieprofessor an der Universität in Berkeley
und mittlerweile Mitte achtzig, hatte als
Ernährungswissenschaftler Berühmtheit erlangt. Er
hatte in den vierziger und fünfziger Jahren grundlegende
Forschungsarbeit über das Vitamin B12 geleistet.
Aber ich sollte noch etwas anderes über Dr. Thomas
Jukes erfahren. Ich stand dem Mann gegenüber, dessen
Arbeit vielleicht mehr als die irgend eines anderen zum
verbreiteten Einsatz antibiotischer Mittel in den USA
beigetragen hatte.
1948 suchte Jukes, damals noch ein junger Forscher
in den Laboratorien des amerikanischen Pharmaherstellers
Lederle, zusammen mit seinem Kollegen
Robert Stokstad nach Methoden zur Wachstumssteigerung
bei Küken. Die Forscher waren vor allem an
der Gewinnung von Vitamin B12 als Zusatz zum
Geflügelfutter interessiert, das hauptsächlich aus Sojabohnenmehl
hergestellt wurde und daher kein Vitamin
B12 enthielt. Dieses Vitamin wird nicht von Pflanzen
produziert. Eine Reihe glücklicher Zufälle ließ sie
nicht nur finden, was sie gesucht hatten, sondern noch
weit mehr.
Nur ein Jahr zuvor hatte ein anderer Wissenschaftler der Lederle-Laboratorien, Benjamin Duggar, aus
Bodenbakterien das erste Tetracyclinantibiotikum isoliert:
Chlortetracyclin, auch als Aureomycin bezeichnet.
Diese Entdeckung wurde als bedeutender Durchbruch
gefeiert, und die Produktion von Chlortetracyclin
aus Tonnen von Bodenbakterien lief in großem
Maßstab an. Nach der Gewinnung des Antibiotikums
blieb in den Behältern ein Bakterienrückstand, für den
bei Lederle zunächst niemand Verwendung hatte.
Daher beanspruchten ihn Jukes und Stokstad, in dem
Wissen, daß Bakterien Vitamin B12 produzieren können.
Wie für sie gemacht, bot sich ihnen eine billige
und leicht erhältliche Quelle dieses Vitamins.
Als Jukes und Stokstad diese Masse dem Futter junger
Küken beimengten, übertraf deren Wachstum alle
Erwartungen. Nach nur fünfundzwanzig Tagen waren
die mit der Bakterienmasse gefütterten Küken dreimal
so groß wie andere Küken, deren Futter reines Vitamin
B12 zugesetzt worden war. Die Wissenschaftler
trauten ihren Augen kaum. Solch rasches Wachstum
war beispiellos, es mußte außer an der Vitaminwirkung
noch an etwas anderem liegen. Um sicherzugehen,
daß es sich bei ihrer Entdeckung um keinen Einzelfall
handelte, führten Jukes und Stokstad jenes
Experiment wieder und wieder durch und variierten
dabei die Versuchsbedingungen in jeder erdenklichen
Weise. »Nur wenige Experimente wurden so oft wiederholt
wie dieses«, erzählte mir Jukes. Jedesmal bewirkte der
Bakterienrückstand beachtliche Wachstumserfolge,
obgleich sie nicht ganz so dramatisch
ausfielen wie im ursprünglichen Versuch. Rundum
begeistert von ihrer Entdeckung, bezeichneten sie diesen
bisher noch unbekannten Stoff als neuen
ernährungstechnischen Wachstumsfaktor.
Dieser Wachstumsfaktor bestand aus Spuren des
Antibiotikums Chlortetracyclin, die nach der Extraktion in den Fermentationsbehältern zurückblieben.
Später wurde entdeckt, daß Tetracyclin nicht nur bei
Küken eine enorme Wachstumsförderung bewirkte,
sondern auch bei Rindern und Schweinen.
Als Jukes 1950 auf dem jährlichen Treffen der
»American Chemical Society« von seinen Erkenntnissen
berichtete, wurden diese von der Presse lauthals
verkündet. Der Daily Telegraph brachte die Schlagzeile
»Arzneimittel beschleunigt Wachstum bei Tieren
um fünfzig Prozent« und berichtete weiter, »die
American Chemical Society meldete in Philadelphia,
daß Auromycin, bisher bekannt für seine antibakteriellen
Eigenschaften, einer der bedeutendsten wachstumsfördernden
Stoffe sei, die je entdeckt wurden.«
Innerhalb kürzester Zeit wurde diese Entdeckung
zum größten Geschenk für die Vieh- und Geflügelzucht
und machte aus dieser in den frühen fünfziger
Jahren noch kleinen Branche die Multi-MilliardenDollar- Industrie von heute.
Da Jukes herausfand, daß schon winzige Mengen
Tetracyclin, etwa 5 ppm (parts per million, entspricht
fünf Milligramm pro Kilogramm), das Wachstum
ebenso wirksam anregten wie höhere Dosierungen,
waren die zusätzlichen Kosten für Bauern und Viehzüchter
minimal. Da die zuständige Aufsichtsbehörde
Antibiotikazusätze in Tierfutter als Nahrungsergänzung
einstufte, und nicht als therapeutische Gabe,
konnten die Antibiotika rezeptfrei verkauft werden.
Antibiotikazusätze in Tierfutter stießen auf so einhellige
Zustimmung, daß man den Bauern gar keine Entscheidungsmöglichkeit mehr ließ. Häufig wurden die
Medikamente bereits während der Futterherstellung
beigemischt, zusammen mit Vitaminen und Mineralstoffen.
Als Jukes den wachstumsbeschleunigenden Erfolg
mit einem anderen verfügbaren Antibiotikum, Penicillin, zu wiederholen versuchte, gelang ihm das. Auch
bei anderen antibakteriellen Mitteln ließ sich danach
ein wachstumsfördernder Effekt nachweisen- jedoch
werden Tetracycline und Penicillin in der Viehzucht
am häufigsten eingesetzt.
Und nun zum Haken an der Geschichte. Antibiotika
werden nun schon seit vierzig Jahren zur Wachstumsbeschleunigung
verwendet, und wir wissen immer noch nicht, welche
Wirkungsmechanismen Dabei ablaufen. Jukes erzählte mir, seiner Ansicht nach
hätten alle sogenannten normalen Jungtiere leichte
bakterielle Infekte. Diese könnten das Wachstum
hemmen. Die Bakterien könnten mit dem Wirtstier
direkt um das begrenzte Nährstoffangebot konkurrieren,
oder aber mit den nicht krankmachenden Bakterien
des Verdauungstrakts, die für die Versorgung mit
manchen Nährstoffen, wie zum Beispiel Vitamin B12,
zuständig sind. In beiden Fällen werde durch Antibiotikagaben
eine größere Nährstoffmenge für das Tier
und dessen Wachstum gesichert. Zwar haben andere
Forscher Antibiotika einen verborgenen, bisher
unentdeckten Nährwert beigemessen, aber Jukes
widerspricht dieser Meinung. Unter völlig sterilen
Laborbedingungen, in keimfreier Umgebung aufgezogene
Versuchstiere erlangen durch Antibiotikagaben
keinen Vorteil, sie wachsen dadurch nicht schneller.
Dies legt den Verdacht nahe, daß die Wachstumsförderung
auf die antibakterielle Wirkung der Antibiotika
zurückzuführen ist. Tiere scheiden Antibiotika völlig
unverändert wieder aus. Hätten die Mittel irgendeinen
Nährwert, sollte man logischerweise annehmen, daß
sie beim Stoffwechsel in irgendeiner Weise verändert
werden.
Warum sind in all der Zeit jene mysteriösen Bakterien,
die für die Erkrankungen der Jungtiere verantwortlich
sein sollen, nicht identifiziert worden? Jukes
meint dazu, daß sich im Verdauungssystem warmblütiger
Wirbeltiere etwa einundzwanzig Billionen
Bakterien befinden, wovon viele Arten bisher noch
nicht isoliert sind.
Die Einführung der Antibiotika brachte zunächst
eine ganze Reihe von Vorteilen. Auch heute sind die
hygienischen Bedingungen auf den Bauernhöfen und
in den Zuchtbetrieben nicht ideal, doch vor vierzig
Jahren war es darum wesentlich schlimmer bestellt.
Vor der Verwendung von Antibiotika waren die Ställe
zur Aufzucht der Jungtiere oft ein Hort von Parasiten,
die Erkrankungen hervorriefen. Ferkel gingen an blutiger
Diarrhoe ein, Tausende Küken erstickten an
Atemwegserkrankungen, und neugeborene Kälber
verendeten an einer Art Ruhr. Diese Probleme konnten
durch Antibiotika behoben werden.
Aber fraglos wurde der Einsatz von Antibiotika
aufgrund ihrer wachstumsfördernden Wirkung zur
Regel. In den Vereinigten Staaten werden jährlich etwa
Sechs Milliarden Tiere für den menschlichen Verzehr
gezüchtet, hauptsächlich Rinder, Schweine und Geflügel,
dreißigmal so viel wie das Land Einwohner zählt,
von der Zahl her sogar mehr als die gesamte Weltbevölkerung.
Die meisten dieser Tiere erhalten täglich
mit ihrem Futter Antibiotika, von ihrer Entwöhnung
bis zur Schlachtung Das ergibt einen jährlichen Antibiotikaverbrauch
von knapp zehn Millionen Kilogramm,
doppelt so viel wie der Verbrauch in der
Humanmedizin. Doch diese Art des Antibiotika-Einsatzes
wäre beinahe auch auf den Menschen angewandt
worden. Die Erfolge in der Viehzucht waren so
enorm, dass Jukes und andere Wissenschaftler sich mit
dem Thema der routinemäßigen Verabreichung antibiotischer
Medikamente an Kinder beschäftigten. Sie
befürworteten die Idee, in der Annahme, daß alle
Kleinkinder an ähnlichen Infekten litten wie Kälber.
Selbst heute noch hält Jukes die routinemäßige Gabe
von Antibiotika an Kinder für eine gute Idee. Er
meint, wenn ein wirtschaftliches Interesse daran
bestünde, Kinder ebenso schnell heranwachsen zu lassen
wie Tiere, würde diese Methode zweifellos Anwendung
finden.
Es ist nicht verwunderlich, daß diese Art des AntibiotikaEinsatzes ein gewaltiges Problem heraufbeschwor.
Was für die Fleisch- und Geflügelindustrie ein
Segen war, erwies sich weltweit als Unheil für die
Gesundheit.
Die Verabreichung subtherapeutischer Antibiotikadosen
an Tiere kann genauso wie beim Menschen zur
Selektion resistenter Bakterienstämme führen - und
die zur Wachstumsförderung eingesetzten geringen
Antibiotikamengen sind subtherapeutisch, obwohl sie
über längere Zeiträume gegeben werden. Das Problem
wird durch die fortgesetzte Gabe dieser Dosen sogar
noch erschwert. Sollte ein Mikrobiologe im Laborversuch
die Selektion möglichst vieler resistenter Bakterien
erreichen wollen, könnte er kein besseres Verfahren
erfinden als diese tagtäglich in der Viehzucht praktizierte
Methode.
Die Anwesenheit dieser durch jene unverantwortlichen
Praktiken gezüchteten resistenten Bakterien bleiben
nun nicht auf die Tiere begrenzt, in deren Körpern
sie sich entwickelten. Es gibt keine Kuhbakterien«
oder »Schweine-« oder »Hühnerbakterien«. Im mikrobiologischen
Sinn gehören wir Menschen zusammen
mit dem übrigen Tierreich zu einem einzigen riesigen
Ökosystem. Die gleichen resistenten Bakterien,
die im Verdauungstrakt einer Kuh oder eines Schweines
wachsen, können und werden schließlich in unsere
Körper gelangen.
1965 traten in England gehäuft Lebensmittelvergiftungen
und Diarrhoe auf, hervorgerufen durch Salmonellen.
Solche Salmonelleninfektionen nehmen normalerweise
einen vergleichsweise leichten Verlauf, in
schwereren Fällen, die eine antibiotische Behandlung
erfordern, spricht der Patient im allgemeinen schnell
auf die Therapie an. Diesmal allerdings waren viele der
Erreger gegen mehrere Antibiotika resistent, so daß
die Infektion in sechs Fällen sogar tödlich verlief.
Gleichzeitig mit dieser Epidemie trat eine Welle von
Salmonellenvergiftungen bei Kälbern auf. Untersuchungen
ergaben, daß fast fünfundzwanzig Prozent
der bei Menschen identifizierten Salmonellenstämme
das gleiche Resistenzmuster aufwiesen wie die Salmonellen
der Kälber.
Aufgrund dieser Seuchen wurde eine Gruppe von
Mikrobiologen und Ärzten, das sogenannte SwannKomitee, mit intensiven Nachforschungen betraut.
1969 veröffentlichte das Swann-Komitee einen Bericht,
in dem gefolgert wurde, daß langfristige subtherapeutische
Antibiotikagaben an Tiere eine starke Selektion resistenter
Bakterien in der Darmflora herbeiführen
und diese Bakterien eine potentielle Gefährdung
für den Menschen darstellen. Das Komitee empfahl
das Verbot der routinemäßigen Anwendung solcher
Antibiotika bei der Viehzucht, die häufig in der
Humanmedizin eingesetzt werden. Außerdem wurde
geraten, Antibiotika als Futterzusatz nur auf Rezept
eines Veterinärmediziners zuzulassen. Die Empfehlungen
wurden 1970 angenommen. Seitdem sind in
Großbritannien im Tierfutter nur solche Antibiotikazusätze
Gesetzlich zugelassen, die von einem Tierarzt
verordnet wurden und nicht bei der Behandlung von
Menschen angewandt werden. Diese Regelung wurde
Schon bald von einigen anderen europäischen L ändern
übernommen, zum Beispiel von Holland, ganz Skandinavien
und Deutschland, Kanada schloß sich ebenfalls
an.
Bald nachdem das Verbot in jenen Ländern in Kraft
getreten war, wurden vielfach auch in den USA gesetzliche
Maßnahmen gefordert. Im April 1977 trug das
FDA den Vorschlag vor, auf den Zusatz von Penicillin
und Tetracyclinen im Tierfutter zu verzichten und nur
noch nach tierärztlicher Verordnung »für die kürzeste
zur Erzielung der beabsichtigten Wirkung nötige
Dauer« zuzulassen. Die theoretische Möglichkeit,
daß resistente Pathogene aus dem antibiotisch erzeugten
Selektionsdruck hervorgehen, ist zu einer echten
Bedrohung geworden«, so das FDA. »Wesentlich ist
dabei, dass bekanntermaßen Übertragungswege bestehen,
was die Gefahr des Antibiotika-Einsatzes bei Tieren
noch erhöht.«
Der amerikanische Kongreß hat dieses Antibiotikaverbot
jedoch nie verabschiedet. Ob die Viehzüchterlobby
hinter den Kulissen ihren Einfluß geltend machte
oder nicht, der Kongreß verlangte jedenfalls mehr
Beweise für einen Zusammenhang zwischen antibiotikaresistenten
Krankheitserregern beim Menschen und
der Verwendung von Penicillin und Tetracyclinen als
Mittel zur Wachstumsförderung bei Tieren.
Schon vor 1977, ja sogar bevor in Großbritannien
1970 jenes Gesetz in Kraft trat, war die Wissenschaft
über die Frage, welche Maßnahmen zu treffen seien, in
zwei Lager gespalten. Und obwohl viele der von der
FDA 1977 geforderten Nachweise bereits erbracht
worden waren, bestand und besteht noch heute Uneinigkeit.
Es überrascht nicht, daß Jukes immer noch zu den
eisernen Befürwortern des Antibiotikazusatzes zum
Tierfutter zählt. Er faßte für mich die Argumente einiger
Einflussreicher Wissenschaftler zusammen, die seinen
Standpunkt teilen. Seiner Meinung nach wird die
positive Auswirkung auf das Wachstum nun schon seit
dreißig Jahren, zum Beispiel an der »Washington State
University«, der »American Cyanamid Corporation«
(Lederle) und der Universität von Wisconsin, beobachtet.
Der Effekt bestehe trotz der Resistenzbildung
weiter. Er ist der Ansicht, es gebe selbst heute keinerlei
Anzeichen für einen Anstieg der Erkrankungshäufigkeit
bei den Tieren, der auf resistente Stämme
zurückgeführt werden könne.
Einmal abgesehen von den unterschiedlichen Auswirkungen
auf Tiere, ist bei diesem Thema der springende
Punkt die Auswirkung auf die menschliche
Gesundheit. Unddaran scheiden sich die Geister erst
recht. Jbkes ist gemeinsam mit einigen anderen Wissenschaftlern
der Ansicht, es gebe keine überzeugenden
Beweise für einen Zusammenhang zwischen antibiotikaresistenten
Krankheitserregern beim Menschen
und der Verwendung von Penicillin und Tetracyclinen
zur Wachstumsförderung bei Tieren. Genau darin liegt
die Schwierigkeit. Wir sind hier mit einem Problem
konfrontiert, für das sich vielleicht nie endgültige
Beweise finden lassen werden.
Zur Behandlung von Mensch und Tier werden die
gleichen Antibiotika eingesetzt, so daß sich schwer
herausfinden läßt, welche Verwendung zu welcher
Resistenzbildung führt. Dr. Calvin Kunin, Leiter der
Abteilung für Infektionskrankheiten an der Universität
von Ohio, meint, daß die übermäßige Antibiotikamedikation
in der Humanmedizin Probleme aufwirft,
nicht aber die subtherapeutische Dosierung im
Tierfutter. Er weist darauf hin, daß die Resistenzbildung
Gegen die neuesten Antibiotika, zum Beispiel die
Cephalosporine der dritten Generation oder Chinolone,
auf unsachgemäße humanmedizinische Einsätze
zurückzuführen sei und mit Tieren nichts zu tun habe.
Was immer man für richtig halten mag, fest steht,
daß es für dieses Problem keine Patentlösung gibt. Im
Dezember 1984 leitete der damalige Kongreßabgeordnete Al Gore die Anhörung eines Unterausschusses
über Antibiotikaresistenz. Der gesamte erste Tag
wurde der Anwendung von Antibiotika in der Tierzucht
gewidmet. Einer der Sachverständigen, Dr . Leon
Sabath Professor der Medizin und Infektiologie an der
Universität von Minnesota, verwies darauf, daß Antibiotika
auf vier unterschiedliche Arten zum Einsatz
kommen, die alle zur Selektion und Vermehrung resistenter
Bakterienstämme beitragen: subtherapeutische
Mengen zur Wachstumsförderung in der Viehzucht,
therapeutische Dosierung zur Behandlung von Krankheiten
in der Tiermedizin, zur Krankheitsvorbeugung
und zur Behandlung in der Humanmedizin. Nur in
einem dieser Anwendungsbereiche Beschränkungen
zu veranlassen, würde seiner Meinung nach zu keiner
Lösung führen. Selbst bei völligem Verzicht auf Antibiotikazusätze
im Tierfutter hätten wir doch immer
noch mit der unsachgerechten veterinärmedizinischen
Anwendung zu kämpfen. Tierärzte hätten das Recht,
nach eigenem Ermessen weiterhin Antibiotika zu verschreiben.
Weiterhin unterstrich Sabath: Seit 1970 in
Großbritannien das Verbot subtherapeutischer Antibiotikagaben
in der Viehzucht in Kraft getreten sei,
habe sich weder die Antibiotikaresistenz noch der
Antibiotikaverbrauch verringert. Allgemein wird die
Ursache darin gesehen, daß die Bauern nicht bereit
sind, längere Wachstumsperioden und damit höhere
Futterkosten in Kauf zu nehmen. Sie bitten daher einfach
den Tierarzt jeweils um ein Rezept, offensichtlich
mit Erfolg. Sabath meinte, da das gesetzliche Verbot
subtherapeutischer Antibiotikagaben in Großbritannien
erwiesenermaßen keinen Einfluß auf den
Gesamtverbrauch hatte, wäre es sinnlos, ähnliche
Gesetzliche Regelungen in den USA zu erwägen.
Bakterielle Resistenzgene können auf verschiedene
Weise vom Tier auf den Menschen übertragen werden.
Der direkteste Weg ist der Verzehr von rohem oder
nicht ganz durchgebratenem Fleisch. Doch es bestehen
auch indirekte Übertragungsmöglichkeiten. Dr.
Stuart Levy von der Tufts-Universität, einer der
Bedeutendsten Forscher auf dem Gebiet des Antibiotikamißbrauchs,
schätzt, daß eine Kuh im Vergleich
zum Menschen täglich das Hundertfache an Exkrementen
produziert. Dabei werden resistente Bakterien,
die sich im Verdauungstrakt des Tiers gebildet
haben, ausgeschieden, die meisten davon sind für sich
überlebensfähig. Größtenteils werden diese Exkremente
als Dünger auf Äcker ausgebracht, entweder
direkt oder in aufbereiteter Form. In beiden Fällen
gelangen die resistenten Bakterien in den Boden und
werden von Pflanzen während des Wachstums aufgenommen.
In den letzten Jahren verstärkte sich die Besorgnis
über Pestizidrückstände in landwirtschaftlichen Produkten,
aber diese Giftstoffe lassen sich wenigstens
durch geeignete Behandlung in der Küche entfernen.
Resistente Bakterien kann man allerdings nicht vollständig
abwaschen, im Gegenteil, beim Waschen
gelangen die Mikroorganismen noch tiefer in bestehende
kleine Risse. Das bedeutet, dass Vegetarier, auch
wenn sie sich nur von biologisch angebauten Erzeugnissen
ernähren, ebenso Antibiotikaresistenzgenen
ausgesetzt sind.
Selbst wenn die tierischen Exkremente nicht zur
Düngung verwendet werden, können resistente Bakterien
noch auf andere Weise verbreitet werden, vor
allem durch Vögel, Insekten - Fliegen sind besonders
geeignet für die Übertragung von Bakterien über weite
Entfernungen ~ und andere Tiere, über die die resistenten
Mikroorganismen schließlich zum Menschen
gelangen.
In der Landwirtschaft beschäftigte Personen können besonders
leicht mit den Antibiotikaresistenzgenen
von Tieren in Kontakt kommen. Ganz gleich, wie
vorsichtig man auch sein mag, Bakterien sind allgegenwärtig.
Sie können geschluckt oder über die Atemwege
oder die Haut aufgenommen werden. Vor über
fünfzehn Jahren untersuchte Dr. Stuart Levys Forschungsgruppe
an der medizinischen Fakultät der Tufts-Universität,
was geschieht, wenn subtherapeutische
Dosen von Tetracyclin - die gleichen Mengen wie
sie normalerweise zur Wachstumsförderung verwendet
werden - in einem landwirtschaftlichen Betrieb
eingesetzt. werden. Sie verteilten dreihundert neu
geschlüpfte Küken auf sechs verschiedene Käfige. Vier
Käfige wurden in einem Stall aufgestellt, zwei im Freien..
Bei der Hälfte der Küken wurde dem Futter
Tetracyclin zugesetzt, bei der anderen Hälfte nicht.
Während der nächsten neun Monate untersuchten die
Forscher die Exkremente aller Hühner, sowie aller
Landarbeiter und von deren Familien.
Sie entdeckten, daß innerhalb von knapp zwei
Tagen nach Beginn der Fütterung die Mehrzahl der
E.coli-Bakterien der mit Tetracyclin behandelten
Küken antibiotikaresistent waren. In den folgenden
drei Monaten entwickelten die Bakterien auch Resistenz
gegen Ampicillin und Streptomycin sowie gegen
Sulfonamide, obwohl weder den Küken noch sonst
jemanden auf dem Bauernhof diese Antibiotika verabreicht
worden waren.
Ebenso beunruhigend war, daß sich nach etwa sechs
Monaten das gleiche Resistenzmuster auch bei den
Landarbeitern und deren Familien zeigte, wobei sich
zunächst Widerstandsfähigkeit gegen Tetracyclin bildete
und danach auch gegen die anderen genannten
Medikamente. Keine dieser Personen nahm irgendwelche
Antibiotika ein, und auch die Versuchshühner
wurden nicht verzehrt. Kunin von der »Ohio-StateUniversity« tat die Befürchtung, der Zusatz eines
Antibiotikums zum Tierfutter könne zu mehrfacher
Antibiotikaresistenz führen, die wiederum auf den
Menschen übertragbar sei, als rein theoretisch ab.
Levys Studie macht jedoch deutlich, daß es sich hier
um weit mehr als nur eine Hypothese handelt.
Und dies ist nicht die einzige Untersuchung, die uns
diese gefährlichen Zusammenhänge vor Augen führt.
In den späten achtziger Jahren wurden in Schweinezuchtbetrieben
der damaligen DDR Studien durchgeführt.
Das Resultat zeigte, daß die Übertragung von
Mehrfachresistenzgenen sogar noch weiter ging. Sechs
Monate, nachdem das Antibiotikum Streptothricin
zur Wachstumsförderung dem Schweinefutter beigemengt
worden war, stellte man ein Resistenzgen in den
Darmbakterien der Tiere fest. Zwei Jahre später wurde
das gleiche Resistenzgen nicht nur aus den Stuhlproben
vieler Landarbeiter isoliert, sondern auch aus Proben
von Personen, die gar nicht auf diesem Hof, sondern
nur in der Umgebung wohnten.
Zwar führen diese von Tieren stammenden antibiotikaresistenten
Bakterien nicht notwendigerweise zu
Erkrankungen, im Krankheitsfall wird allerdings die
Behandlung aufgrund der mehrfachen Antibiotikaresistenz
äußerst erschwert und manchmal sogar
unmöglich.
Keines der wissenschaftlichen Gremien in den USA
hat einen Gesetzesvorschlag für ein Verbot von Antibiotikazusätzen
in Tierfutter eingebracht, der Trend
geht jedoch in diese Richtung. In den letzten Jahren
unternahm beispielsweise der amerikanische Verband
der Rinderzüchter einen beispiellosen Schritt, indem
er seinen Mitgliedern empfahl, auf den routinemäßigen
Einsatz herkömmlicher Antibiotika zur Wachstumsförderung
zu verzichten, statt dessen dem britischen
Beispiel zu folgen und nur mehr solche Antibiotika zu
verwenden, die nicht in der Humanmedizin
zur Anwendung kommen. Offensichtlich beherzigen
viele Viehzüchter diesen Rat und verwenden seither
das Mittel Monensin. Auch andere Chemikalien zur
Wachstumsförderung werden nun auf den Markt
gebracht. Die Geflügelindustrie schlägt möglicherweise
auch diesen alternativen Weg ein, aber in der
Schweinezucht werden immer noch Tetracycline und
Penicillin verwendet.
Vor allem Organisationen wie das »National
Resources Defense Council« und der »Food Animal
Concerns Trust« (FACT) machen diese Gefahren
einer breiten Öffentlichkeit bewußt, so daß nun die
Verbraucher eine Viehzucht ohne Antibiotika fordern.
Der Druck, der über die Nachfrage ausgeübt wird, ist
am deutlichsten spürbar. Folglich richten sich die
Anbieter zunehmend danach. FACT brachte die sogenannten
»nest eggs« auf den Markt, Eier aus Landwirtschaftsbetrieben
in New Jersey und Illinois, von
Hühnern in Bodenhaltung. Diese Hühner erhalten
keine Antibiotikazusätze und können frei umherlaufen
und scharren, im Gegensatz zu der herkömmlichen
dichtgedrängten Käfighaltung. Die Eier von diesen
freilaufenden Hühnern werden immer häufiger
auch in Supermärkten und gehobenen Restaurants
angeboten. Was als Randbewegung einiger Gesundheitsapostel
begann, findet nun wissenschaftliche
Unterstützung; Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt,
wird sich ein bedeutender Wandel in diesem
Bereich der Antibiotikaverwendung vollziehen. Dies
wäre ein gewaltiger Schritt zur Verbesserung der allgemeinen
Gesundheit.
Doch während sich im Bereich der Viehzucht einige
Lösungen anbieten, müssen wir uns auf anderen
Gebieten neuen Herausforderungen stellen. Zum Beispiel
beim Ackerbau. Antibiotika gelangen nicht nur
durch die Düngung in unser Obst und Gemüse, in
einigen Fällen werden die Pflanzen direkt mit diesen
Mitteln behandelt. Diese Methode ist vor allem auf
Obstplantagen weit verbreitet. Ebenso wie der
Mensch sind auch Pflanzen anfällig für eine Reihe
bakterieller Infektionen. Viele Anbauer setzen zur
Verhütung solcher Krankheiten zu einem besonders
kritischen Zeitpunkt im Wachstumszyklus der Pflanze
Antibiotika ein. Manchmal werden Antibiotika direkt
in den Stamm injiziert, häufiger allerdings werden sie
versprüht, entweder mit riesigen Sprühanlagen oder
Flugzeugen. Bei diesem Verfahren werden die Antibiotika
zwar besser von den Pflanzen aufgenommen,
sie werden auf diese Weise aber auch auf benachbarte
Pflanzen verbreitet. Dadurch wird eine starke Resistenz
gebildet, die wiederum auf den Menschen übertragbar
ist. Zwar rufen Bakterien, die Pflanzen befallen,
selten Erkrankungen beim Menschen hervor, doch
die Resistenzgene finden ihren Weg in den menschlichen
Verdauungstrakt und können dann an andere
Pathogene Bakterien weitergegeben werden.
Auch in der Fischindustrie kommen immer mehr
Antibiotika zum Einsatz. Mit wachsendem Gesundheitsbewußtsein
ist die Nachfrage nach Fisch gestiegen,
so daß überall in den Vereinigten Staaten neue
Fischzuchtbetriebe eröffnet werden. Sie züchten Seewolf,
Forelle oder Lachs und übernehmen Methoden,
die in Japan oder Skandinavien, wo die Mehrheit der
konsumierten Fische gezüchtet und nicht gefangen
wird, schon seit Jahren praktiziert werden. In fast allen
Ländern werden dem Fischfutter Antibiotika zugesetzt.
Es gibt kaum Anzeichen dafür, daß damit auch
bei Fischen eine Wachstumsförderung erzielt wird,
doch viele Fischarten sind anfällig für bakterielle
Erkrankungen, so daß häufig Antibiotika verwendet
werden. Laut Gesetz muß in den USA die Medikation
mehrere Wochen vor dem Verkauf der Fische abgesetzt
werden. Dadurch wird sichergestellt, daß sich
keine Antibiotikarückstände im Fisch befinden - die
Fische werden in regelmäßigen Kontrolluntersuchungen
nach solchen Rückständen untersucht- , doch
diese Maßnahme schützt nicht vor antibiotikaresistenten
Bakterien, nach denen bei den Kontrollen nicht
gesucht wird.
Außerdem werden auch unseren Haustieren wahllos
Antibiotika verabreicht, entweder durch den Tierarzt
oder manchmal auch durch die Besitzer selbst. In
nahezu jeder amerikanischen Zoohandlung werden
rezeptfreie Antibiotika angeboten. Diese sind hauptsächlich
für Aquarienfische bestimmt, doch häufig
werden die Medikamente auch Hunden und Katzen
gegeben und manchmal sogar von den Tierhaltern
selbst eingenommen. Dies ist keine Bagatelle. Allein in
den Vereinigten Staaten werden einhundertfünfzig
Millionen Hunde und Katzen gehalten, sowie zahllose
Fische und Vögel. Deren wahllose Behandlung mit
Antibiotika aber kann zu einer bedeutenden Zunahme
der resistenten Bakterien beitragen: Daher ist es unerläßlich,
das Problem des Antibiotikamißbrauchs in all
diesen Berreichen ebenso ernsthaft anzugehen, wie dies
in der Viehzucht geschehen ist.
* Penbritin ist ein Ampicillin, in Deutschland unter anderem als
Binotal im Handel. Die Dosierung von zweihundertfünfzig Milligrammi
ist für Erwachsene therapeutisch gesehen zu gering, zumal
Ampicillin nur zu etwa fünfzig Prozent aus dem Darm resorbiert
wird. Dadurch steht nur die halbe Dosis für die Wirkung zur Verfügung,
der Rest verursacht im Darm durch Schädigung der natürlichen
Darmflora Nebenwirkungen und trägt zur Bildung von
Resistenzen bei. In Deutschland wird dem Ampicillin meist
Amoxicillin vorgezogen, das bei gleichem Wirkungsspektrum eine
weitaus bessere Verfügbarkeit für den Körper hat und zu etwa
neunzig Prozent resorbiert wird.
Das Schlimmste verhindern
Aufgrund der drohenden Gefahren muß der unangemessenen
Antibiotika-Anwendung Einhalt geboten
werden. Dazu benötigen wir ein Programm. Wie ein
solches Programm aussehen kann, können Sie auf den
nächsten Seiten in Thesen lesen. Das Gute daran ist:
Wir alle können uns an diesem Programm beteiligen,
indem wir selbst tätig werden oder manchmal auch
nur unbequem nachfragen und fordern. Schließlich
können wir vor diesem Problem nicht länger die
Augen verschließen. Es steht zu viel auf dem Spiel.
Medizinstudenten und junge Assistenzärzte müssen
Angemessen über Antibiotika instruiert werden.
Dr. Donald Kollisch ist ein praktischer Arzt, der
schon auf beiden Seiten gestanden hat: als praktizierender
Arzt in seiner Privatpraxis und nun als Dozent
des Ausbildungsprogramms für praktische Ärzte der
Universität von North Carolina. Bei einem Interview
für dieses Buch gab er an, daß es erschreckend sei, w ie
wenig die Teilnehmer seiner Kurse, seine Kollegen,
Studenten und Assistenzärzte über die klinische
Anwendung von Antibiotika wissen. »Es ist. an der
Zeit, die Studierenden im Fach Mikrobiologie nicht
länger listenweise Keime auswendig lernen zu lassen,
sondern stattdessen den klinischen Aspekt stärker in
den Unterricht zu integrieren. Nur so können wir sie
auf den Umgang mit Patienten vorbereiten.«
Kollisch schlägt vor, die ersten beiden Jahre des
Medizinstudiums, die vorklinische Ausbildung, in der
die Studenten die meiste Zeit in Vorlesungssälen und
Labors zubringen, praxisorientierter zu gestalten. Ist
das Thema der Vorlesung zum Beispiel die Struktur
und Physiologie von Streptococcus pneumoniae, sollte
ein Patient mit einer durch diese Bakterien hervorgerufenen
Lungenentzündung von den Studenten
Untersucht werden. Vor Ort sollte besprochen werden,
welches Antibiotikum aus welchem Grund zur
Anwendung kommen solle. Dabei muß eindringlich
vor unsachgemäßem Antibiotika-Einsatz und der
Resistenbildung gewarnt werden. Nur dann wird
diese praxisorientierte Methode auch ihren Sinn erfüllen.
Wenn dieser Plan auch auf die Ausbildung der
Assistenzärzte ausgeweitet wird, gelingt es uns vielleicht,
Ärzte heranzubilden, die besser mit dem Resistenzproblem
umgehen werden«, meint Kollisch.
Die ärztliche Approbation sollte nur nach regelmäßig
durchgeführten Auffrischungsexamina), an denen die
Antibiotikakenntnisse überprüft werden, verlängert
werden.
Das wachsende Angebot medizinischer Fortbildungsprogramme
ist bereits ein Anfang. Doch das ist bei
weitem nicht ausreichend. Zunächst sollte für jeden
Arzt, der mit Antibiotika umzugehen hat (von dieser
Regelung könnten zum Beispiel Psychiater, Radiologen
und Physiotherapeuten, Fachärzte der physikalischen
Medizin und der Rehabilitationsmedizin ausgenommen
werden), die Teilnahme an jährlichen Fortbildungskursen
über Antibiotika und Infektionskrankheiten
zur Pflicht erhoben werden. Wobei das
Hauptaugenmerk auf die Vermeidung neuer Resistenzbildung bei Bakterien gelegt werden sollte. Zweitens
sollte alle paar Jahre dieses Wissen in einem
Examen geprüft werden, nicht nur damit sich der Arzt
mit seinem Fachverband gut stellt, sondern damit er
eine Verlängerung der ärztlichen Zulassung erhält.
Diese Prüfungen könnten und sollten auch andere
Medizinische Wissensgebiete abdecken, doch Antibiotika
sind eben ein wesentlicher Bestandteil der Medikation
in allen Fachbereichen.
In dieser Hinsicht gibt es schon Positives zu vermelden.
Der amerikanische Fachverband für praktische
Medizin »American Board of Family Practice«
hat bereits mit der Einführung solcher Examen für
seine Mitglieder begonnen, und beim amerikanischen
Fachverband für innere Medizin sind sie bereits im
Gespräch. Wir stehen nun vor der Aufgabe, diese Praxis
auch auf Chirurgen, Gynäkologen und Kinderärzte
auszuweiten und sicherzustellen, daß der später zu
prüfende Lehrstoff auch die richtigen Informationen
über Antibiotika enthält, und diese Examina als
Bedingung an die Verlängerung der Approbation
geknüpft werden.
Den Krankenhausapothekern sollte ein Vetorecht
Gegen ärztliche Rezeptierungen eingeräumt werden.
Da so viele der antibiotikaresistenten Bakterien in
Krankenhäusern gezüchtet werden, muß sich ein
Großteil unserer Anstrengungen auf diesen Bereich
konzentrieren. Dem exzessiven Antibiotikaeinsatz in
Krankenhäusern muß Einhalt geboten werden.
Einige kleinere Maßnahmen in dieser Richtung sind
bereits getroffen worden. Dr. Calvin Kunin, Leiter der
infektiologischen Abteilung an der »Ohio State Uniersity« und Verantwortlicher für die Einführung des
Überprüfungsprogramms der Antibiotikaverschreibung
in den meisten amerikanischen Krankenhäusern,
sowie Dr. Harry Gallies, Infektiologe an der »Duke
University Medical School«, verweisen beide auf eine
deutlich feststellbare Verhaltensänderung der Ärzte
bei der prophylaktischen Antibiotikagabe in der Chirurgie.
Die kurze Behandlungsdauer setzt sich allmählich
durch. Da etwa die Hälfte der im Krankenhaus
verabreichten Antibiotika zur Prophylaxe eingesetzt
wird, muß weiterhin mit Nachdruck für die Reduzierung
dieser prophylaktischen Anwendung vor dem
chirurgischen Eingriff gekämpft werden.
Die Einhaltung dieser Empfehlung sowie die Verbesserungen
der Antibiotikabehandlung in anderen
Krankenhausabteilungen läßt sich sicherstellen, indem
den Ärzten Beschränkungen bei der Wahl der Antibiotika
auferlegt werden. Dabei ist dem Krankenhausapotheker
eher als dem Arzt eine vernünftige
Entscheidung über den Einsatz von Antibiotika zuzutrauen.
Der Leiter der Klinikapotheke hat eine einflußreiche
Stellung in der Arzneimittelkommission
eines größeren amerikanischen Krankenhauses. Er
entscheidet über die geeignete Antibiotikamedikation
bei unterschiedlichen Krankheitsbildern. Der leitende
Apotheker trifft seine Entscheidungen nicht allein,
sondern im allgemeinen zusammen mit lnfektiologen,
Hygienefachkräften und der Klinikverwaltung, doch
die Verantwortung, die ärztlichen Verschreibungenz u
beurteilen und sich gegebenenfalls dagegen zu entscheiden,
liegt bei ihm. Die Unvoreingenommenheit
der Ausschussmitglieder wird durch den Kostendruck
auf das Gesundheitswesen zusätzlich gewährleistet:
Die Kosten der Gesundheitsversorgung sollen möglichst
gering gehalten werden, so daß größerer Wert
auf den Einsatz preisgünstiger Antibiotika gelegt
wird. Außerdem soll stärker darauf geachtet werden,
daß eine antibiotische Behandlung nur in wirklich
notwendigen Fällen eingeleitet wird und nicht länger
als erforderlich andauert. Auch so kann die Bildung
neuer resistenter Bakterienstämme eingedämmt w erden.
In einigen Krankenhäusern wurden solche Vorgehensmaßnahmen er
probt. Dr. Stephen Barrier ist Leiter
der Klinikapotheke am » UCLA Medical Center«
und Vorsitzender der dortigen Arzneimittelkommission.
Er konnte mir von positiven Erfahrungen berichten.
Wiederholte Prüfungen hätten eine übermäßige
Antibiotika-Anwendung nachgewiesen, so daß der
Verabreichung einiger der neueren und teureren Antibiotika
- unter anderem Ciprofloxacin, Imipenem und
dem Kombinationspräparat Ampicillin/Sulbactam Beschränkungen auferlegt wurden. An dieser Klinik
muß bei jeder Rezeptierung eines dieser Medikamente,
eine »Pflichtberatung« durch die pharmazeutische
Abteilung des Hauses erfolgen. Dann erst wird entschieden,
ob die Anordnung gerechtfertigt ist oder
nicht. Hält der Krankenhausapotheker eine bestimmte
Antibiotikatherapie für nicht angebracht, ist er
ermächtigt, das Rezept des Arztes abzulehnen und um
Verschreibung eines anderen antibiotischen Präparats
zu bitten: Barrieres Ausführungen zufolge sträubten
sich die Arzte zunächst, sahen sie doch ihre Autorität
in Frage gestellt, doch allmählich bemerkten sie, daß
ihre Verschreibungen ja durchgingen, sobald sie
gelernt hatten, die Medikamente nur bei der jeweiligen
Indikation anzuordnen.
Doch Barrier und andere Ausschussmitglieder stellten
ebenso fest, daß die Kontrollen nicht gelockert
werden dürfen. Ähnliche Erfahrungen machte Dr.
Cheryl Himmelberg vom Klinikum der Universität
von North Carolina: Während der Testphase des
Pflichtberatungsprogramms seien der Antibiotikamißbrauch
und die bakterielle Resistenz zurückgegangen.
Doch die anschließende Aufhebung der
Beschränkungen hatte sintflutartige Auswirkungen:
Die Zahl der Rezepte der vormals mit Auflagen versehenen
Antibiotika erhöhte sich um hundertachtundfünfzig
Prozent. Computerprogramme zur ärztlichen Fortbildung müssen
zum Einsatz kommen.
Dr. Jerry Avorn, Professor der Sozialmedizin und
Gesundheitspolitik an der »Harvard Medical
School«, leistete Pionierarbeit bei der Verbesserung
der ärztlichen Verschreibungspraktiken. Und er ist
zwar nicht generell gegen das Vetorecht des Klinikapothekers
eingestellt, meint aber, Ärzte würden
auch auf einen weniger autoritären Ansatz reagieren.
Er appelliert eher an den Lerneifer der Mediziner.
:" Die Situation der Krankenhauspharmazie in Deutschland
unterscheidet sich grundlegend von der in den USA. Während in
den USA selbst kleine Krankenhäuser über eine eigene Apotheke
mit teilweise imponierender Personalstärke verfügen, werden in
Deutschland die meisten Kliniken mit unter vierhundert Betten
von öffentlichen Apotheken versorgt. Auch in größeren Häusern
sind den Apothekern hierzulande in ihrem Handeln durch die sehr
knappe Ausstattung mit qualifiziertem Personal enge Grenzen
gesetzt. Die Teilnahme des Apothekers an der klinischen Visite, in
den USA eine Selbstverständlichkeit wird in Deutschland erst
zögernd eingeführt, und auch dies meist nur in Universitätskliniken
und anderen großen Häusern der Maximalversorgung.
Allerdings ist auch in Deutschland der Krankenhausapotheker
ein wichtiger Faktor in der Verbrauchssteuerung auf dem Arzneimittelsektor.
Die meisten Kliniken haben eine Arzneimittelliste.
Nicht in dieser Liste enthaltene Arzneimittel- zum Beispiel teure
Antibiotika – müssen über eine Sonderanforderung bestellt werden,
die immer einem Apotheker vorgelegt wird. So kann im Einzelfall
eine gezielte Beratung ermöglicht werden, ohne daß, wie in
den USA üblich, die ständige Anwesenheit des Apothekers auf. der
Station notwendig ist. Da sich die Beratung jedoch auf den Einzelfall
beschränkt, stellt dieses System sicher nur die zweitbeste
Lösung dar.
Und in größeren Kliniken mit Arzneimittelkommissionen
könnten beide Methoden gleichzeitig erprobt
werden.
Ein Vorschlag Avorns ist die Absprache der Ärzte
mit einem Infektiologen statt mit dem Apotheker.
Diese Beratung sollte ebenfalls zur Pflicht werden,
allerdings ohne ein damit verbundenes Einspruchsrecht
gegen das Rezept. Anstelle der Beschränkungen
für die Medikation eines bestimmten Antibiotikums
würde der Facharzt für Infektionskrankheiten seinen
Kollegen darüber aufklären, warum das Präparat X in
Hinsicht aftf die Resistenzbildung eine bessere Wahl
wäre als das Medikament Y. Avorn ist zuversichtlich,
daß die meisten Ärzte unter solchen Umständen die
richtige Entscheidung treffen werden und keine
Restriktionen erforderlich sind. Diese Methode
wurde bisher jedoch nur in begrenztem Umfang
erprobt, und ein so wenig autoritärer Ansatz muß
sicherlich längere Zeit getestet werden. Auch bei diesem
Ansatz sollte die Möglichkeit des Einspruchs
gegen eine Verschreibung zumindest als Notmaßnahme
bestehen.
Avorn entwickelte außerdem noch einen neuartigen
Lehransatz, gestützt auf dasselbe Prinzip, daß Ärzte
die geeignete Wahl treffen, wenn sie zur richtigen Zeit
mit den korrekten Informationen versorgt werden. Zu
diesem Zweck erdachte er spezielle Rezeptformulare
für Antibiotika, die gleichzeitig die Funktion eines
»Lernprogramms« erfüllen. Um dieser Methode zum
Erfolg zu verhelfen, muß die Klinikleitung dafür Sorge
tragen, daß alle Antibiotikarezeptierungen auf speziellen
Formularen erfolgen. Diese Formblätter, für jedes
Antibiotikum ein anderes, enthalten wichtige Informationen
und anschauliche Hinweise für die richtige
Anwendung des jeweiligen Medikaments. Und zwar
nicht nur, welche Infektionen damit therapiert werden
sollen, sondern auch die empfohlene Dosierung und
Dauer der Anwendung.
Avorn hat diese Formulare bereits 1988 entwickelt,
und im kleinen Maßstab erprobt, wobei sie sich recht
positiv auf die Rezeptierungspraktiken der Ärzte auswirkten.
Teilweise gingen die Verordnungen gerade
bei den teuersten und meist auch neuesten Antibiotika,
bei denen es ja besonders auf den Erhalt ihrer
Wirksamkeit ankommt, drastisch um über siebzig
Prozent zurück.
Avorn arbeitet bereits an der Entwicklung eines
entsprechenden Computerprogramms, da gegen
Ende der neunziger Jahre die meisten Antibiotikarezepte
ohnehin per Computer ausgestellt werden
dürften: »Damit eröffnen sich noch weitere Lernmöglichkeiten
für das ärztliche Krankenhauspersonal
«, meint Avorn. Bei der von ihm entwickelten
Software können Veränderungen der jeweiligen Sensitivitätsmuster
eingegeben und bei der Bestellung
eines Antibiotikums wieder abgerufen werden.
Außerdem wird es sich um ein interaktives Computerprogramm
handeln. So bietet der Computer immer
dann individuelle Lernprogramme an, wenn vom
Arzt das Rezept eines Medikaments in den Computer
Eingegeben wird - also genau zu dem Zeitpunkt, an
dem der Arzt für diese Art der Information am aufgeschlossensten ist,
denn er kann diese Information ja zur Beratung nutzen.
Zudem läßt sich ein Computerprogramm leicht verbreiten.
Von den über achttausend Krankenhäusern
der Vereinigten Staaten sind mehr als die Hälfte
Gemeindehospitäler mit weniger als hundert Betten.
Kaum eines dieser Krankenhäuser verfügt über das
Personal für eine gut und kompetent besetzte Arzneimittelkommission.
Aber alle benutzen Computer. Die
Einführung einer Software wäre vergleichbar mit einer
persönlichen Expertenberatung bei jeder einzelnen
Antibiotikaverschreibung. Es muß ein Gegengewicht zu den Werbefeldzügen der
pharmazeutischen Industrie geschaffen werden.
Auch gegen unangemessene Antibiotikaverschreibungen
der niedergelassenen Ärzte muß etwas unter-.
nommen werden; größtenteils ergibt sich dieses Problem
daraus, daß sich die Ärzte zu sehr auf die Aussagen
der Pharmavertreter verlassen. Avorn hat auch
hierfür einen Lösungsansatz erdacht: »Laßt die Vertreter
ruhig kommen und ihr Bestes versuchen, gleichzeitig müssen
wir aber mit geeigneten Mechanismen gegensteuern«.
Hauptsächlich scheint es für die Einsetzung dieser
Mechanismen finanzielle Anreize zu geben, doch bei
richtiger Anwendung bringen sie ebenso Vorteile im
Kampf gegen die Antibiotikaresistenz. Viele der
großen und einflußreichen US- Konzerne bieten ihren
Angestellten ein betriebseigenes Gesundheitsversorgungssystem
an und haben in diesem Zusammenhang
festgestellt, dass Antibiotikarezepte häufig nur unnötige
Ausgaben verursachen. Um diesem Problem zu
begegnen, stellen einige dieser Unternehmen nun
Pharmazeuten ein, deren einzige Aufgabe darin
besteht, Ärzte aufzusuchen und der Beeinflussung seitens
der Arzneimittelhersteller entgegenzuwirken.
Diese Methode wurde als Gegeninformationsarbeit
bezeichnet. Avorn bevorzugt den Begriff "akademische
Informationsarbeit«.Auch in den Arztpraxen soll es zum Einsatz
von Computerprogrammen zur Unterstützung einer vernünftigen
Antibiotikamedikation kommen.
Zur Verstärkung der akademischen Informationsarbeit
sollte auch bei niedergelassenen Ärzten ein Instrument
herangezogen werden, das bereits für den
Einsatz im Krankenhaus empfohlen wurde: ein Computerprogramm,
das dem Arzt die nötigen Begleitinformationen
liefert, wann er ein Antibiotikum verschreiben
soll. Im Gegensatz zu den Kliniken sollte
die Einführung solcher Programme für Arztpraxen
allerdings nicht zur Vorschrift werden. Der Wunsch
nach qualifizierter Information und der Druck regelmäßiger
Überprüfungen der Antibiotikaverschreibungen
durch staatliche oder örtliche medizinische Behörden
würde einen Anreiz zur Verwendung solcher Software
bieten.
Ein Computerprogramm dieser Art ist in den USA
bereits auf dem Markt, es heißt Antibiotica PC: lnfectious Disease Analytical Software und wird von
einem kleinen Unternehmen namens »MacroMed« in
Whittier vertrieben.
* Eine ähnliche Strategie wurde in Deutschland von einigen
Krankenkassen verfolgt. Dabei ließ man praktischen Ärzten, die
mit ihren Verordnungen über dem Durchschnitt lagen, eine
Zwangsberatung durch von der Kasse angestellte Apotheker angedeihen.
Sogenannte Verhaltensrezepte sollen ausgestellt werden.
Einigen Umfragen zufolge kennen die meisten Leute
immer noch nicht den Unterschied zwischen Virus und
Bakterieninfektionen und wissen nicht, daß Antibiotika
nur gegen letztere wirken. Aufgrund dieser
Wissenslücke bestehen viele Patienten auf einem Antibiotikarezept
gegen eine Erkältung oder andere virale
Infekte. Da die Ausstellung eines Rezepts in vielen
Augen heutzutage zu einem wesentlichen Bestandteil
des Arztbesuchs geworden ist, ist der Arzt oft auch in
Fällen, die keine antibiotische Behandlung erfordern,
gezwungen, die Verschreibung nicht rundweg abzulehnen.
Avorn hat auch hierzu eine Idee, die dem Ausstellen
eines Rezepts eine positive Seite abgewinnt.
Sein Vorschlag ist, dem Patienten eine Verschreibung
zu überreichen, die wie ein herkömmliches
Rezept aussieht, aber nicht für ein Antibiotikum
gedacht ist, sondern als »Verhaltensrezept« bezeichnet
werden kann. Auf ihm wird erklärt, worin sich virale
von bakteriellen Infekten unterscheiden, warum Antibiotika
keine Viren abtöten, und was der Patient statt
dessen gegen seine Erkrankung unternehmen kann.
»Ein Rezept ist ein sehr wirksames soziologisches
Werkzeug«, meint Avorn, »und diese Verhaltensrezepte
verleihen dem Verzicht auf Medikamente die gleiche
Schlagkraft wie deren Anwendung.«
* Nach unseren Recherchen ist eine deutschsprachige Version
eines solchen Computerprogramms nicht erhältlich.
Solche Verhaltensrezepte sind auch auf andere
Weise nützlich. Da viele Patienten eine indizierte
Antibiotikatherapie vorzeitig abbrechen und damit die
Entwicklung resistenter Bakterien fördern, könnte der
Arzt zusammen mit dem Antibiotikarezept auch ein
Verhaltensrezept asusstellen, auf dem erklärt wird, wie
wichtig es ist, vor allem im Hinblick auf die Resistenzbildung, die gesamte Dosis des Medikaments einzunehmen.
Der Aufbau eines weltweiten Netzwerks zur Überwachung
fer bakteriellen Antibiotikaresistenz muß unterstützt werden.
Vizepräsident und Vorstandsmitglied der APUA, der
»Alliance for Prudent Use of Antibiotics« (Vereinigung
für eine angemessene Antibiotikatherapie), ist
Dr. Thomas O'Brien, der medizinische Leiter des
mikrobiologischen Labors in Brigham und der Frauenklinik
in Boston sowie außerordentlicher Professor
der Medizin an der »Harvard Medical School«.
O'Brien ist der Überzeugung, daß ein Schlüsselelement
zur Bekämpfung der Antibiotikaresistenz ihre
rechtzeitige Entdeckung ist, aufgrund deren die geeigneten
Kontrollmaßnahmen eingeleitet werden können.
Zum Beispiel können Bakterien in Malaysia Resistenzen
bilden, die dann auf schnellstem Wege nach
Minneapolis oder an irgendeinen anderen Ort der
Welt gelangen. Wenn wir von einer neuerlichen Resistenzbildung
wüßten, hätten wir im Umgang mit diesem
Problem eine wesentlich bessere Ausgangsposition.
»Ebenso wie die Bakterien ein globales Netzwerk
zur Verbreitung der Antibiotikaresistenz bilden,
müssen auch wir unser eigenes Netzwerk zur Resistenzbekämpfung
aufbauen«, meint O'Brien. Zu diesem Zweck entwickelte er gemeinsam mit seinem
Kollegen D r. John Stelling eine erstklassige Software, die
sich die Tatsache zunutze macht, daß fast in jedem
Krankenhaus der Welt, sogar in den Entwicklungsländern,
tagtäglich routinemäßig Antibiotikasensitivitätstests
durchgeführt werden. Als einzig nötiger weiterer
Schritt müßten die Untersuchungsresultate in
O'Briens Computerprogramm namens WHONET
eingespeist werden- die Weltgesundheitsorganisation,
WHO, hatte die Entwicklungskosten getragen. Vom
Zentralcomputer in Boston aus ließe sich dann täglich
weite Entwicklung der Resistenzmuster verfolgen.
Die Weltgesundheitsorganisation in Genf benötigt
allerdings erhebliche finanzielle Mittel, um WHONET
in allen Krankenhäusern der Welt zu installieren
- bislang sind nur siebzig Krankenhäuser an dem
Pilotversuch beteiligt.
Antibiotika müssen als wachstumsfördernde Mittel in
der Viehzucht verboten werden.
Bei diesem Thema scheiden sich die Geister der Verbraucherorganisationen und der Regierungsbehörden.
Dennoch gibt es Anzeichen dafür, daß sich die Dinge
endlich in die richtige Richtung entwickeln und der
Einsatz von Antibiotika in der Tierzucht ausgeschlossen
oder zumindest drastisch reduziert wird. Doch
dieses Ziel muß weiterhin mit Nachdruck verfolgt
werden, und zwar von mehreren Seiten. Nur der
Druck des Verbrauchers, auf solche Lebensmittel zu
verzichten, kann zu einer Verhaltensänderung der
Lebensmittelproduzenten führen.
Die diagnostischen Verfahren in Praxen und Krankenhäusern
Müssen verbessert werden.
Einer der Hauptgründe für den vielfachen Einsatz
von Breitbandantibiotika ist Unkenntnis: Welche
Bakterien haben die Infektion ausgelöst? Handelt
es sich überhaupt um einen bakteriellen Infekt?
Damit die Ärzte zur Wahl der geeigneten Schmalspektrumantibiotika
geführt werden können, muß zunächst eine rasche und genaue
Bestimmung der Mikroorganismen ermöglicht werden.
In dieser Hinsicht sind in den mikrobiologischen
Labors der Krankenhäuser in den letzten Jahren
Wesentliche Verbesserungen erreicht worden. Die meisten
Idetifizierungen und Sensibilitätstests werden
mit vollautomatischen Geräten durchgeführt. Doch es
sind noch weitere Verbesserungen möglich. Ärzte
können zum Beispiel einige der Bestimmungen selbst
durchführen. Mittlerweile ist eine erschwingliche
Testausrüstung für die Praxis erhältlich, mit der die
Bestimmung von Streptokokken aus einem Halsabstrich
oder aus einer Urinprobe in weniger als vierundzwanzig
Stunden möglich ist. In diesen Fällen
muß der Arzt nicht mehr nur versuchen, den Erreger
der Infektion zu erahnen.
Jene Testsets sind zwar bereits von großem Wert,
stellen aber nur eine Zwischenstufe bis zur Entwicklung
anderer Schnelldiagnosetechniken dar. Zum Beispiel
wird das DNA-Sondenverfahren immer preisgünstiger
und findet in den USA immer breitere Anwendung,
so daß es nicht nur in den großen Universitätskliniken,
sondern bald auch in kleineren
Gemeindekrankenhäusern zum Einsatz kommen kann
- und letztlich auch bei den niedergelassenen Ärzten.
Läßt sich der Krankheitserreger innerhalb weniger
Stunden ermitteln, kann der BreitspektrumantibiotikaEinsatz drastisch reduziert werden.
Die entwickelten Impfstoffe müssen besser genutzt
werden.
Je besser wir mit unseren körpereigenen Anlagen und
Fähigkeiten Fremdkeime bekämpfen können, um so
weniger Antibiotika werden benötigt. In dieser Hinsicht
sind vor allem Impfstoffe von größter Bedeutung,
besonders fü r ältere Personen und Kinder, zwei
Bevölkerungsgruppen, die ein weniger starkes Immunsystem
besitzen und die daher besonders anfällig
für Infektionen sind.
Dies gift: vor allem für die durch Pneumokokken
verursachte Lungenentzündung, eine nach wie vor
häufige Todesursache bei älteren Menschen. Wie Dr.
David Fedson von der Universität von Virginia
berichtet, werden in den USA jährlich bis zu 120000
Patienten im Alter von über fünfundsechzig Jahren
wegen einer solchen Erkrankung stationär behandelt
und mit Antibiotika voll gepumpt. Dennoch verläuft
die Krankheit bei 40000 von ihnen tödlich.
Das müßte nicht sein. Seit über zehn Jahren gibt es
Einen unbedenklichen und wirksamen Impfstoff gegen
Diese Art der Lungenentzündung, doch er wird kaum
verwendet. In den achtziger Jahren setzte der damalige
oberste Gesundheitsbeamte der Vereinigten Staaten,
C. Everett Koop, das Ziel, sechzig Prozent der
älteren Bevölkerung gegen Pneumokokken und Grippe
zu impfen. Nach der letzten Erhebung der jährlichen
Immunisationsrate durch die CDC im Jahr 1985,
erhielten jedoch nur zehn bis fünfzehn Prozent der
älteren und anderer hoch gefährdeter Personen eine
Pneumokokkenschutzimpfung. Laut Fedson ist es
unwahrscheinlich, daß sich diese Rate in den darauffolgenden
Jahren auf mehr als zwanzig bis fünfundzwanzig
Prozent erhöht hat.
Die Forschung nach neuen Impfstoffen und anderen
immunstärkenden Substanzen muß unterstützt werden.
Wenn Bakterien in unseren Körper eindringen, sondern
sie bestimmte Proteine ab, die sogenannten
Adhäsine. Impfstoffe, die die Produktion von Antikörpern
gegen diese Adhäsine anregen, können wirkungsvoll
die Immunisierung gegen eine große Anzahl
verschiedener Stämme einer Bakterienart herbeiführen.
Ein kleiner biotechnischer Betrieb namens
MicroCab behauptet, Zellrezeptoren und die entsprechenden
Adhäsine von über sechzig Mikroorganismen
identifiziert zu haben, und arbeitet nun an der Entwicklung
von Impfstoffen gegen verschiedene Bakterientypen
- Haemophilus influenzae, Streptococcus
pneuinoniae, Helicobacter pylori (Mitverursacher von
Magengeschwüren und Chlamydien.
Neben immunologischen Verfahren zur Stärkung
der Immunabwehr gegen bestimmte Bakterien besteht
außerdem die Möglichkeit, das Immunsystem ganz
allgemein zu unterstützen und somit die Widerstandskraft
gegen viele bakterielle Infektionen zu erhöhen.
Die unspezifische Stärkung des Immunsystems ist
keine neue Idee. Schon seit Anfang dieses Jahrhunderts
wurde in vielen Studien nachgewiesen, daß die
unspezifische Widerstandsfähigkeit gegen Infekte
durch die Verabreichung abgetöteter Mikroorganismen
erhöht werden kann. Später fand man heraus, daß
dies durch eine Induktion der Bildung verschiedener
immunstimulierender Proteine, der sogenannten
Zytokine, durch Zellen unseres Immunsystems
geschieht. Zu den Zytokinen zählen die Interferone,
Interleukine, und der Tumor-Nekrose-Faktor. Diese
Zytokine wiederum steigern die Fähigkeit der weißen
Blutkörperchen, fremde Eindringlinge zu fassen und
zu zerstören. Eine breite Palette ernster bakterieller
Infekte, hervorgerufen durch Pneumokokken, Staphylokokken,
Klebsielien und Pseudomonaden sprachen
auf die Behandlung mit Zytokinen als Iinmunmodulatoren
an. Diese Methode wird bisher allerdings
erst im Labor erprobt. Zwar steckt in den Zytokinen
ein enormes Potential, doch bisher weisen sie noch zu
starke Nebenwirkungen auf.
Neue Medikamente zur Infektionsbekämpfung und
Lösung des Resistenzproblems müssen entwickelt werden.
.
Zuerst die gute Nachricht:
In den späten achtziger Jahren fragte sich Dr.
Michael Zasloff, Professor für Pädiatrie und Leiter der
mikrobiologischen Abteilung der Universität von
Pennsylvania, warum sich der Afrikanische Krallenfrosch
so selten im verschmutzten Wasser der Vorratstanks
infizierte. Nach einigen Forschungsreihen fand
er die Antwort: In der Haut des Frosches entdeckte er
eine Reihe von proteinartigen Verbindungen, die Bakterien,
Protozoen und Pilze abtöteten, er nannte diese
Substanzen Magainine.
Nur wenige Jahre später, 1989 hörte Zasloff in
einem Vortrag, wie trächtige Riffhaie ihre Eileiter zur
Entfernung fetaler Stoffwechselprodukte mit Meerwasser
durchspülten. Und wiederum fragte er sich,
wie die Föten von dem unreinen Wasser geschützt
werden. Schließlich isolierte er zusammen mit seiner
Assistentin Karen Moore eine Substanz aus verschiedenen
Gewebeproben von Haien, die eine große
Anzahl verschiedener Mikroorganismen abtötet, eine
Steroidverbindung, der er die Bezeichnung Squalamin
gab. Er hält die antibakterielle Wirkung dieses Stoffs
für vergleichbar mit der von Ampicillin.
Zasloffs Einfallsreichtum ist nur ein Beispiel für die
Möglichkeiten zur Entwicklung antimikrobieller Mittel,
deren Wirkmechanismen sich von denen herkömmlicher
Antibiotika unterscheiden. Zasloffs Forschungsarbeit mit
Magainin führte bereits zur Gründung einer Arzneimittelfirma:
die »Magainin Pharmaceutical« - deren zweiter Verwaltungschef
Zasloff selbst ist. Das Unternehmen entwickelte die
Substanz MSI-78 und stellte 1993 bei der FDA den
Antrag auf Zulassung dieses Mittels für die lokale
Behandlung tropischer bakterieller Infektionen der
Haut. Zur Zeit arbeitet man an der Entwicklung einer
systemisch anwendbaren antibakteriellen Substanz aus
Squalamin.
Ein weiterer Ansatz ist die Suche nach Techniken
zur Ausschaltung der Resistenzplasmide in den Bakterienzellen
- beispielsweise durch die Einschleusung
eines R-Faktor-Analogons, das in der Lage ist, die
Expression von Resistenzgenen gegen eines oder mehrere
Antibiotika zu blockieren. Sprich, die Resistenzgene
bleiben zwar in der Bakterienzelle, diese wird
aber durch einen Eingriff in die Genexpression daran
gehindert, nach den auf dem Plasmid gespeicherten
Erbinformationen Betalactamasen oder andere für
Resistenzen verantwortliche Proteine zu synthetisieren.
Außerdem müssen die molekularen Grundlagen der
Resistenzmechanismen gegen Antibiotika weiter
erforscht werden. Der Durchbruch, der 1992 dem
Londoner »Hammersmith Hospital« mit dem Erkennen
der genauen Vorgänge bei der Resistenzbildung
von Tb-Bakterien gegen Isoniazid gelang, deutet darauf
hin, daß auf diesem Wege noch weitere wichtige
Ergebnisse erzielt werden können.
Am spannendsten sind die Fortschritte auf dem
Gebiet der sogenannten rationalen oder strukturorientierten Arzneimittelentwicklung. Alle infektiösen
Stoffe, Bakterien, Viren und Pilze besitzen ihre eigenen
lebenswichtigen Enzyme und DNA. Dies ist ein
möglicher Ansatzpunkt für die Bekämpfung dieser
Organismen. In den vergangenen fünfzehn Jahren
wurden die Möglichkeiten zur Produktion und Reinigung
dieser Proteine und Nukleinsäuren enorm verbessert,
sodaß die Wissenschaft heute in der Lage ist,
daraus Verfahren zur Entdeckung und Entwicklung
verschiedener Hemmstoffe abzuleiten. Nach Ansicht
Dr. Irwin Kuntz', eines Dozenten für pharmazeutische Chemie
an der' Universität von Kalifornien in San
Francisco, sind auch die Methoden zur Strukturanalyse
Verbessert worden, besonders was die Kristallographie
und die Kernspinresonanzspektroskopie angeht,
so dass nun auch ein bessere Verständnis für den dreidimensionalen
Aufbau der zu hemmenden bakteriellen
Stoffe ermöglicht wurde. Die so gewonnenen
Daten werden dann in der computergestützten Entwicklung
von Medikamenten genutzt. Dabei können
die Wissenschaftler die exakte Molekularstruktur der
benötigten Substanz auf dem Bildschirm nachbilden.
Die erste und wohl auch vielversprechendste Gelegenheit
zur Anwendung dieser Technik der strukturorientierten
Arzneimittelentwicklung könnte sich aus
einer 1993 an der» Harvard Medical. School« gemachten
Entdeckung ergeben, die die Wissenschaftler
In Aufregung versetzte. Es war bereits seit einiger Zeit
bekannt, daß es nicht möglich ist, vom Verhalten der
Bakterien »in vitro« auf ihr Verhalten »in vivo« zu
schließen: Allzuoft hatte sich schon gezeigt, daß ein
Mikroorganismus, der in Laborversuchen harmlos
erschien, bei Tier oder Mensch verheerende Krankheiten
hervorrufen konnte. Man vermutete, daß solche
Organismen sogenannte Virulenzgene besitzen, die
irgendwo versteckt oder inaktiv bleiben, bis die Bakterien in einen Wirtsorganismus gelangen, woraufhin die
Virulenzgene aktiviert werden und so den Mikroorganismus
in einen Krankheitserreger verwandeln, der
sich im Gewebe ausbreitet.
Dr. lohn Mekalanos und seinen Kollegen gelang es,
mit Hilfe der DNA-Rekombinationsmethode das
Geheimnis dieser Bakterien zu entschlüsseln und die
Virulenzgene zu entdecken. Dabei wurde die bakterielle
DNA in einzelne kleine Abschnitte zerlegt und in
bestimmtenS equenzenn eu kombiniert. Ursprünglich
wurde diese Methode bei einem Stamm von Typhusbakterie~
angewandt, die nur Mäuse befallen, doch
Mekalanos ist zuversichtlich, daß dieselbe Technik
auch auf fast alle den Menschen betreffende Bakterien
angewandt werden kann.
Das erste Resultat dieser Forschung könnte ein strukturorientiert
entwickeltes Medikament zur Blockierung
der Virulenzgene sein. Dieser Ansatz ist so weit
von allen herkömmlichen entfernt, daß es wirklich
nicht korrekt wäre, diese neuen Arzneimittel noch zu
den Antibiotika zu zählen; d ie Wissenschaft wird eine
neue Bezeichnung erdenken müssen - vielleicht Antivirulentia?
Da Virulenzgene, wie alle anderen Gene
auch, die Bildung von Proteinen steuern, die wiederum
deren Instruktionen ausführen, wäre es theoretisch
möglich, neue Impfstoffe zu entwickeln, die die Funktion
der Virulenzproteine blockieren.
Ein weiteres nützliches Ergebnis dieser Entdeckung
ist laut Dr. Staffan Normark von der Universität von
Washington in St. Louis, einem Experten für molekulare
Grundlagen bakterieller Erkrankungen, die Möglichkeit,
die Wirkung der Virulenz gene bei verschiedenen
Mäusegattungen zu beobachten. Die Befunde
könnten für die Humanmedizin interessant sein, da
damit vielleicht eine Antwort auf die bisher ungeklärte
Frage gefunden wird, warum einige Mikroorganis-en
bei manchen Menschen Krankheiten auslösen, bei
anderen dagegen nicht. Dies lediglich mit der unterschiedlichen
Stärke des Immunsystems zu erklären,
wäre zu simpel. Eine tiefere Einsicht, wie unser
Immunsystem mit den Virulenzgenen zusammenwirkt,
könnte eine Antwort liefern, die möglicherweise
weitere neue Wege zur Bekämpfung bakterieller
Infekte ohne Antibiotika aufzeigt.
Nun zu den schlechten Nachrichten:
Diese Forschungen erfahren nicht annähernd genug
Unterstützung, um solche Ideen zur Entwicklung von
Medikamenten umsetzen zu können. Die Beiträge der
erwähnten biotechnologischen Firmen sind nur ein
Tropfen auf den heißen Stein. Wir müssen die pharmazeutische
Industrie zu einem großangelegten Einsatz
bewegen. Momentan konzentrieren sich die meisten
Arzneimittelhersteller auf andere gewinnversprechende
Tätigkeitsfelder statt auf antibakterielle Substanzen.
1992 schätzte eine Arbeitsgruppe der »National Institutes
of Health« (NIH), der Nationalen Gesundheitsbehörden,
daß neunzig Prozent der US- Unternehmen
in der Pharmaindustrie antimikrobielle Forschungen
entweder reduziert oder sogar völlig von ihrem Forschungsplan
gestrichen haben. Der Grund dafür sei,
daß der Antibiotikamarkt als gesättigt gelte.
Sicherlich ist der Markt voll mit unnötigen antibiotischen
Präparaten, die gegenüber den schon früher
vorhandenen keine Vorteile bieten. Nun jedoch eröffnen
sich völlig neue, ja fantastische Möglichkeiten,
deren Entwicklung unbedingt gefördert werden muß,
auch wenn die Forschungs- und Entwicklungskosten
dabei sehr hoch sein werden.
An dieser Stelle müssen die Regierungen einspringen.
Ein Beispiel für sinnvolle Hilfe sind kooperative
Forschungs- und Entwicklungsverträge, wobei die
Arzneimittelhersteller mit Regierungsbehörden wie
den NIH zusammenarbeiten sollen. Für einen Großteil
der Grundlagenforschung wären dann die Nationalen
Gesundheitsbehörden verantwortlich. Der private
Sektor würde eine neue Entwicklung zur Marktreife
bringen: eine den jeweiligen Möglichkeiten
entsprechend ideale Aufgabenverteilung. Als zusätzliche
Anreize könnten die Pharmaproduzenten zur
Bildung von Konsortien angeregt, zusätzliche Steuervergünstigungen..
Angeboten sowie der Patentschutz verlängert werden.
Diesen Forderungen müssen wir uns stellen. Überall
auf der Welt entwickelt sich die bakterielle Resistenz
gegen Antibiotika täglich weiter fort, und die Anzahl
der Patienten mit unkontrollierbaren Infektionen
steigt. Dieser Prozeß hängt mit den molekularen
Gegebenheiten der Bakterien zusammen und läßt sich
daher nie völlig aufhalten. Doch wenn wir sofort
damit beginnen, für einen vernünftigen Umgang mit
Antibiotika zu sorgen, können wir diesen Prozeß
zumindest verlangsamen. Bemühen wir uns darum,
gewinnen wir damit Zeit für die intensive Entwicklung
und Einführung alternativer Methoden der Bakterienbekämpfung.
Tun wir das nicht, werden wir die schrecklichen Konsequenzen tragen müssen.
* Das Prinzip der gesonderten Formulare im Krankenhaus ist
. nur auf die in den USA übliche individuelle Verschreibung der
Medikation anwendbar, bei der für jeden Patienten einzeln ein
Rezept erstellt wird, das von dem Apotheker, der für die jeweilige
Station zuständig ist, patientenbezogen beliefert wird. In Deutschland
beliefert eine Krankenhausapothekke eine Patienten, sondern
Stationen, die über eigene umfangreiche Ärzneimittelvorräte verfügen.
Aus diesen Vorräten wird vom Pflegepersonal die Medikation
für den einzelnen Patienten zusammengestellt. Die Verordnung
des Arztes .liegt dabei nicht als Rezept vor, sondern lediglich
als Eintrag in die Krankenakte. Computerprogramme zur Unterstützung
der Arzneimittelverordnung stecken in Deutschland
noch in den Kinderschuhen. Bisher sind selbst in großen, modernen
Krankenhäusern nur wenige Stationen mit PCs ausgerüstet.
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