Handout 10. Juni

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Prof. Dr. Jörn Müller
Vorlesung: „Die Philosophie des Aristoteles“
Sommersemester 2015
Sitzung am 10. Juni:
Politik: Liberalismus vs. Perfektionismus?
1. Ethik und Politik: Politischer Eudaimonismus
Grundidee: Individuelles Glück realisiert sich nie gegen, sondern stets nur in einer Gemeinschaft → Ethik als Teil der Politik
- Die Natur des Menschen:
„Hieraus erhellt also, dass der Staat zu den von Natur bestehenden Dingen gehört und der
Mensch von Natur aus ein staatliches Lebewesen (physei politikon zôon) ist. (...) Die Natur
macht, wie wir sagen, nichts vergeblich. Nun ist aber der Mensch unter allen Lebewesen das
einzige mit Sprache (zôon logon echon) begabte. (...) Das Wort aber oder die Sprache ist dafür
da, das Nützliche und das Schädliche und so denn auch das Gerechte und das Ungerechte
anzuzeigen. Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, dass sie Sinn
haben für gut und böse, für gerecht und ungerecht und was dem ähnlich ist. Die
Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat.“
(Aristoteles, Politik I 2, 1253a 1ff.)
 zwei Grundformeln der abendländischen Anthropologie:
Mensch als (i) animal rationale und als (ii) animal sociale
- Die Bestimmung des Staates:
„Endlich ist die aus mehreren Dorfgemeinden gebildete vollkommene Gesellschaft der Staat,
eine Gemeinschaft, die gleichsam das Ziel vollendeter Selbstgenügsamkeit erreicht hat, die
um des Lebens willen entstanden ist und um des vollkommenen Lebens willen besteht.“
(Politik I 2, 1252b 27-30)
„Dass nun diejenige Staatsverfassung notwendig die beste ist, deren Einrichtung zufolge jeder
sich wohl befindet und glücklich lebt, liegt auf der Hand.“ (Politik VII 2, 1324a 23-25)
 Glück als Staatsziel: Politischer Eudaimonismus
Übergang von der Ethik zur Politik:
„Zuerst nun wollen wir, [1] wenn von den Vorgängern im Einzelnen etwas richtig gesagt wurde, versuchen,
dies zu erörtern, und sodann auf der Grundlage unserer Sammlung von Verfassungen zusehen, [2a] welche
Dinge die Staaten bzw. die jeweiligen Staatsverfassungen bewahren bzw. zerstören, und [2b] woran es liegt,
dass die einen Staaten gut, die anderen schlecht verwaltet werden. Wenn diese Dinge untersucht sind, werden
wir wohl auch eher umfassend sehen können, [3a] welche Verfassung (politeia) die beste ist, aber auch, [3b]
wie jede einzelne geordnet ist und welche Gesetze (nomos) und welche Sitten (êthos) sie verwendet.“
(NE X 10, 1181b 15-22)
 mehrstufiges PROGRAMM der arist. „Politica“: als empirische Verfassungsstudie
2. Die aristotelische Bestimmung der Polis
Polis = „Gemeinschaft von Gleichen zum Zweck des bestmöglichen Lebens“ (Pol. 1328a 3537): als „politische Gemeinschaft“ (politikê koinônia) der Bürger [ Sklaven u. Frauen]:
 Bürger: Recht, an Beratung und richterlicher Entscheidung teilzuhaben (Pol. III 1)
Zentrale Unterschiede zu Platons Politeia:
(1) Politik ohne Metaphysik: Ablehnung der Ideenlehre als Basis der Politik
 Ethik und Politik als „Philosophie der menschlichen Angelegenheiten“ (NE 1181b15)
(2) kein utopischer Idealstaat, sondern unter realistischen Bedingungen „bestmöglicher“ Staat:
 Platons Vorschläge sind realitätsfremd / „ganz und gar unmöglich“ (Pol. II 5, 1263b 29)
 politische Realisierbarkeit als Qualitätskriterium: Variabilität von Verfassungen
(3) Glück des einzelnen anstatt Glück des Staates (normativer Individualismus):
[kein geeigneter Anknüpfungspunkt für d. gegenwärtigen Kommunitarismus; cf. Rapp 1997]
 Kritik an dem der platonischen Politeia zugrundeliegenden ORGANIZISMUS:
„Ich meine, dass es nach Sokrates [i.e. in Platons Politeia] am besten sein soll, wenn der ganze Staat
möglichst einer ist; denn das nimmt er zur Voraussetzung. Es ist aber doch klar, dass der Staat je mit dem
Fortschritt zu größerer Einheit mehr und mehr aufhören muss, noch ein Staat zu sein. Er ist seiner Natur nach
eine Vielheit, sowie er aber mehr und mehr zur Einheit wird, muss er statt eines Staates ein Haus und statt
eines Hauses ein Individuum werden. (...) Der Staat besteht aber nicht bloß aus einer Mehrheit von
Menschen, dieselben sind auch der Art nach verschieden; aus ganz gleichen Menschen kann nie ein Staat
entstehen.“ (Politik II 2, 1261a 15ff.)
(4) Pluralismus statt Einheitsstaat: Individuum  Haushalt  Dorf  Polis
 weder die Individuen noch die vorherigen Sozialformen gehen restlos „im Staat“ auf
(5) Differenzierung verschiedener Herrschaftsverhältnisse:
„Die nun meinen, dass zwischen dem Leiter eines Freistaats oder eines Königreichs, einem Hausvater und
einem Herrn kein wesentlicher Unterschied bestehe, haben Unrecht. Sie glauben nämlich, diese
verschiedenen Inhaber bestimmter Gewalten unterschieden sich je nach der großen oder kleinen Zahl, aber
nicht der Art nach.“ (Politik I 1, 1252a 8-11)
 keine despotische, sondern politische Herrschaft unter freien und gleichen Bürgern
- Politeia nach Aristoteles: „Eine Verfassung ist die Ordnung für Staaten, (die festlegt),
[1] wie die Staatsämter verteilt sind,
[2] wer der Souverän der Verfassung ist und
[3] was das Ziel der Gemeinschaft ist.“ (Pol. IV 1, 1289a 15-18)
 Verschiedene Formen von Herrschaft / Regierung
[differenziert nach Herrschenden und Zielsetzungen]:
„Idealtyp“
Monarchie
Aristokratie
Politie
[daneben auch noch weitere „Mischformen“]
„Verfallsform“
Tyrannis
Oligarchie
Demokratie [ ≈ Ochlokratie]
- Ursache für Verfassungsumstürze und politische Veränderungen:
„Überall kommt es wegen Ungleichheit zu politischen Auseinandersetzungen.“ (Pol. V 1,
1301b 26): unterschiedliche Verständnisse von arithmetischer und geometrischer Gleichheit
 grundsätzliches Konfliktpotenzial
 wesentlicher Stabilitätsfaktor für jeden Staat ist Verankerung im ETHOS der Bürger:
besonderer Stellenwert der staatlichen Erziehung der Bürger zur aretê (v.a. Politik VIII)
- Trend in der jüngeren Forschung (z.B. Fred D. Miller jr.; Simon Weber):
Aristoteles als Vertreter einer Art „Naturrechtstheorie“, also der Vorstellung, dass es so
etwas wie metajuridische Rechte gibt, die aller Staatlichkeit vorausliegen:
Sklaven als „natürlich Unfreie“  Bürger als „natürlich Freie“: der natürlich Freie ist der
„Selbständige“, der nur um seiner selbst willen (hautou heneka: Metaph. 982b 25f.) und
nicht um eines anderen willen existiert
 „Instrumentalisierungsverbot“; Idee einer Würde, die in der voll ausgebildeten praktischen Vernunft und den damit einhergehenden politischen Fähigkeiten besteht
Polis als eine Gemeinschaft der „Gleichen“, aber auch der „Freien“ (Pol. III 6, 1279a 21)
 egalitaristische Aristoteles-Deutung
 Sicherung individueller politischer Rechte und Freiheiten als Staatsziel?
Probleme dieser Deutung:
(1) wirklich universaler Egalitarismus im menschenrechtlichen Sinne ist ausgeschlossen
(2) Theorierahmen ist immer noch der politische Eudaimonismus:
→ eher eine teleologische Theorie des Guten als eine deontologische Theorie des Rechten
 richtig ist, dass bei Aristoteles im Blick auf die freien und gleichen Bürger ein
NORMATIVER INDIVIDUALISMUS und auch Pluralismus vorliegt: die Natur des
Staates ist angemessen nur als eine Pluralität von Individuen zu begreifen, deren wohlverstandene Ansprüche auf ihr eigenes Glück zu schützen und nicht einfach gegeneinander zu
verrechnen sind
 FAZIT: Leo Strauss (1964, 21):
„Not Socrates or Plato but Aristotle is truly the founder of political science.”
Literatur zur praktischen Philosophie:
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