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SPEECH/02/600
Romano Prodi
Präsident der Europäischen Kommission
Europa zwischen Bangen und Hoffen
Fünftes europa-forum “Europa vor der Entscheidung
Erweiterung und globale Krisen”
Brüssel, den 3. Dezember 2002
– EU-
Meine Damen und Herren,
es ist mir eine große Ehre, dieses fünfte Europa-Forum eröffnen zu dürfen, das den
großen Themen gewidmet ist, die Europa in diesen Zeiten des Umbruchs
beschäftigen.
Es erfüllt mich mit Freude und Stolz zugleich, da die Europäische Union in
politischer und institutioneller Hinsicht ein in der Welt einzigartiges Gebilde ist,
das es in dieser Form bisher noch nicht gegeben hat.
Die Union hat Einiges erreicht: Binnenmarkt, Wegfall der Zollkontrollen an den
Grenzen und größtenteils eine einheitliche Währung.
Unsere größte Errungenschaft ist jedoch ohne jeden Zweifel, dass auf dem
europäischen Kontinent stabile Verhältnisse eingekehrt sind.
Noch vor einigen Jahrzehnten war Europa ein ständiger Unruheherd, jetzt ist es ein
Hort der Stabilität.
Viel zu oft nehmen wir dies als selbstverständlich hin und doch handelt es sich hier
um einen in der Geschichte unseres Kontinents und in der Weltgeschichte
einmaligen Vorgang.
Am Ende des europäischen Integrationsprozesses stand die Europäische Union,
die bald schon 25 und später sogar 27 oder mehr Mitglieder haben wird.
Nachdem sich der Eiserne Vorhang gehoben hat, wird die historische Einheit aller
Völker Europas wiederhergestellt. Wir können erneut unser gemeinsames
Schicksal in der Hand nehmen und gemeinsam unsere Zukunft gestalten .
Diese Zukunft basiert auf Grundwerten, die uns alle verbinden: Frieden,
Demokratie, Solidarität, Menschenrechte und Schutz der Minderheiten.
Es sind erst neun Jahre vergangen, seitdem die Union die ersten Schritte in
Richtung Erweiterung unternommen hat.
Der Europäische Rat von Kopenhagen hat denjenigen Ländern Mittel- und
Osteuropas eine Perspektive eröffnet, die nach Aufnahme in diese Gemeinschaft
strebten.
In Kopenhagen wurden die wirtschaftlichen und politischen Kriterien für den Beitritt
abgesteckt; sie bilden auch weiterhin die Grundlage für den gesamten
Erweiterungsprozess.
Die Kriterien haben den Beitrittsländern dabei geholfen, ihren Wunsch nach
Aufnahme in die Union in wohlstrukturierter Weise in die Tat umzusetzen.
In der Zwischenzeit haben die Beitrittsländer einen weiten Weg zurückgelegt. Bei
genauerem Hinsehen haben wir es mit einer echten Revolution zu tun.
Die Länder haben sich gewaltlos und zügig zu stabilen, partizipatorischen
Demokratien entwickelt.
Wir gehen davon aus, dass auf dem Gipfeltreffen nächste Woche - wiederum in
Kopenhagen - offiziell der Abschluss der Beitrittsverhandlungen mit acht mittelund osteuropäischen Ländern sowie mit Malta und Zypern verkündet wird.
Für Bulgarien und Rumänien werden wir die weitere Marschroute genau aufzeigen.
Der Europäische Rat wird auch entscheiden, welche Schritte im Hinblick auf die
Kandidatur der Türkei als nächstes folgen werden.
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Der Beitritt zur NATO trägt zur Sicherheit dieser Länder bei. Die Aussicht auf den
Beitritt zur Union verschafft ihnen politische und wirtschaftliche Perspektiven.
In erster Linie - und dies ist besonders wichtig - entstand dadurch jedoch Hoffnung.
Die Hoffnung ist ein sehr seltenes und kostbares politisches Gut. Die Erweiterung
nährt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in einer Gemeinschaft mit gleichen
Werten, auf Stabilität, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit.
Die Regierungen und Bürger der Beitrittsländer haben Reformen von ungeheuren
Ausmaßen vollzogen, die alle notwendig, aber gleichzeitig auch schmerzhaft waren.
Hier war es eben diese Hoffnung, die ihnen die Kraft dazu gab.
Die Errungenschaften der Union werden auch bei unseren neuen Nachbarn
Hoffnungen wecken. Unsere Pflicht ist es, ihren Erwartungen mit einer klaren
Antwort zu begegnen.
Zu allererst denke ich, dass wir den Balkanländern einen Beitritt in Aussicht
stellen müssen.
Ich stelle mir auch vor, dass wir ein neues Beziehungsgeflecht zwischen der
erweiterten Union und den uns umgebenden befreundeten Staaten - angefangen
von den Maghrebstaaten bis hin zu Russland - schaffen.
Es wird sicherlich nicht einfach sein, konkrete Strategien zu entwickeln, mit denen
sich diese Ziele in die Praxis umsetzen lassen. Vor allem müssen wir denjenigen
eine Antwort geben, die sich in den jetzigen Mitgliedstaaten langsam fragen, wo
dieses Europa denn eigentlich seine Grenzen hat.
Um es klar zu sagen: Mir liegt nichts ferner als der Gedanke, in Europa eine neue
Mauer aufzubauen, die die reichen von den armen Ländern trennt.
Wir wollen im Gegenteil die alten Gräben zuschütten, wir wollen integrieren und
nicht ausgrenzen.
Es steht aber auch außer Zweifel, dass die Erweiterung irgendwo seine Grenzen
haben muss. Wir können nicht alle Länder aufnehmen, die ein Beitrittsgesuch
stellen.
Wir müssen das innere Gleichgewicht und den inneren Zusammenhalt in der
Union wahren. Die Union ist eine supranationale Einrichtung, die sich ihre
Handlungsfähigkeit erhalten und sich auf gemeinsame Werte und
Zielsetzungen stützen muss.
Allerdings müssen wir mit diesen Ländern weitreichende nachbarschaftliche
Beziehungen besonderer Art unterhalten.
Wir sollten von einem breit angelegten Konzept der "Zugehörigkeit" ausgehen, das
darauf abzielt, die Sicherheit und Stabilität innerhalb und außerhalb unserer
Grenzen zu festigen.
Mit unseren Nachbarn müssen wir eine Kooperation aufbauen, die so weit gehen
kann, dass wir alles bis auf die Institutionen teilen. Die wirtschaftliche Grundlage
für dieses politische Vorhaben könnte ein allumfassender europäischer
Wirtschaftsraum bilden.
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Wie sollte dieser europäische Wirtschaftsraum aussehen? Unter welchen
Voraussetzungen sollen unsere Partner Teil dieses Raumes werden können?
Im Augenblick fehlt uns darauf noch die richtige Antwort. Es ist jedoch an der Zeit,
die Frage auf die Tagesordnung zu setzen und uns für eine entschlossene,
kohärente Politik zur Einbindung aller europäischen und an das Mittelmeer
angrenzenden Länder stark zu machen.
Wie ich schon gesagt habe, erfreut sich 'Europa heute einer großen Stabilität. Wir
sollten diese Stabilität nutzen und unseren Blick hinaus in die Welt richten.
Wie uns allen leider nur zu gut bewusst ist, bedarf die Welt dringend einer Friedensund Stabilitätskraft wie der unseren.
Der Nahe Osten bleibt eine offene Wunde. Der internationale Terrorismus hat
eine besorgniserregende neue Qualität erreicht, die neue Antworten der
internationalen Gemeinschaft erfordert.
Die Europäische Union muss ihrer Verantwortung gerecht werden.
Aber verfügen wir über die Instrumente für eine globale Führungsrolle? Sind wir
uneingeschränkt bereit, die neuen Herausforderungen Seite an Seite mit den
Vereinigten Staaten anzugehen?
Lassen Sie es mich offen aussprechen: Wir können uns nicht länger damit
begnügen, wirtschaftlich ein Riese zu sein, politisch aber ein Zwerg. Wir müssen
mehr Einfluss auf das internationale Geschehen nehmen.
Wir müssen mit Wort und Tat für unsere Werte eintreten.
Wir müssen in vielen Bereichen fester auftreten: Menschenrechte, Nord-SüdGefälle, nachhaltige Entwicklung, Welthandel, Energie (insbesondere erneuerbare
Energien), Kyoto-Protokoll und internationaler Strafgerichtshof.
Wenn wir stärker werden, können wir viel für die Welt erreichen. Wie wir wissen,
macht aber nur Einigkeit stark, und so müssen wir Europäer mit einer Stimme
sprechen.
Wir brauchen eine einheitliche Außen- und Sicherheitspolitik.
Positive Antworten auf diese und andere Fragen zu finden ist die Aufgabe des
Konvents.
Ursprünglich sollte er nur Reformen vorschlagen, damit die Union auch nach der
Erweiterung arbeitsfähig bleibt.
Im Laufe der Zeit aber haben sich seine Aufgaben erweitert. Inzwischen debattiert
der Konvent das Gesamtbild der künftigen Europäischen Union.
Ich begrüße diese durchaus vorhersehbare Entwicklung. Die nationalen Parlamente
und Regierungen haben von Anfang ihr Vertrauen in den Konvent gesetzt und
hochrangige Vertreter in ihn entsandt.
Zu meiner großen Freude bietet der Konvent unseren Bürgern und der gesamten
Welt eine allumfassende Debatte über unsere Vorstellungen von und Erwartungen
an Europa.
Vor allem aber bin ich glücklich, dass diese in aller Offenheit stattfindet. Wenn wir
vor der Geburt eines neuen geeinten Europas stehen, so können wir mit Stolz
sagen, dass diese absolut transparent und demokratisch vonstatten ging.
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Meine Damen und Herren,
Welches sind unsere gemeinsamen Interessen?
Und wie können wir der Europäischen Union die Organe, die Politik und die Macht
an die Hand geben, diese Interessen zu identifizieren und wahrzunehmen?
Die Zeit ist reif für eine europäische Verfassung.
In zwei Tagen wird die Kommission ihr zweites Positionspapier an den Konvent
vorlegen, in dem es um die künftige institutionelle Architektur der Union gehen wird.
Ich möchte Ihnen gerne heute darlegen, was ich mir persönlich vom Konvent
erwarte.
Erstens eine einfachere und flexiblere Struktur für die Union.
Die rechtliche Struktur der Union ist zu kompliziert. Viele Bürger verstehen nicht,
wie die Union funktioniert und was sie wirklich tut.
Zweitens eine noch demokratischere Union.
Das Europäische Parlament muss eine stärkere Rolle sowohl als
Gesetzgebungsorgan als auch bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten
spielen.
Drittens eine effizientere Union.
Die Bürger verstehen nicht, warum wir das internationale Verbrechen nicht
wirksamer gemeinsam bekämpfen, unsere Wirtschaftspolitik nicht besser
koordinieren und international stärker auftreten können.
Dies sind in erster Linie die Dinge, die wir von Europa erwarten.
Meine Damen und Herren,
Ich möchte an dieser Stelle dem Westdeutschen Rundfunk ganz herzlich für die
Ausrichtung des Fünften Europa-Forums danken.
Die Menschen, die dieses Forum am Radio oder Bildschirm verfolgen, erwarten
klare und mutige Antworten auf die Fragen, die ich heute angeschnitten habe,
weil sie unsere Hoffnungen teilen.
Ich hoffe, dass wir ihren Erwartungen voll gerecht werden, und freue mich auf zwei
Tage mit hoffentlich intensiven und anregenden Debatten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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