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Im Reich der Dämmerung
Eine Analyse von Alfred Kubins Roman Die andere Seite
Magisterarbeit
Abgegeben den 12. November 2010
Vorgelegt von:
Robin van der Burgh
Leitung:
Prof. Dr. T. Naaijkens
Inhaltsangabe
4
1. Einleitung
1.1
Zum Künstler Alfred Kubin
4
1.2
Rezeption und Forschungsansatz
6
2. Die Andere Seite
13
3. Patera und der Amerikaner. Die Antithese vom Tod
15
und Leben
3.1
Patera: von altem Schulkameraden zum göttlichen
Herrscher
15
3.2
Herkules Bell: Der Pökelkönig
19
3.3
Patera und der Amerikaner, Vater und Sohn?
22
3.4
Der Demiurg ist ein Zwitter: der Schlüssel zur
Polaritätsdeutung
26
3.4.1
Patera der Todesgott
26
3.4.2
Die Klärung der Erkenntnis: Antithetische
3.4.3
Weltauffassung
30
Mainländer, Bahnsen und das Symbol
33
des Pendels
3.4.4
Fazit
46
4. Das Traumreich
48
4.1
Der Traumkünstler Alfred Kubin
48
4.2
Die schöpferische Verwandlung des Traums
52
4.2.1
Sigmund Freud und die Traumdeutung
52
4.2.2
Der Traum in der Dichtung der Romantik
55
4.3
Der Traum in der Anderen Seite
62
4.3.1
Der Erzähler
66
4.3.2
Die schöpferische Verwandlung des
Traums
69
4.3.2.1 Der Traum im Bild
71
2
4.3.2.2 Der Traum im Text
75
4.3.3. “Die Verwirrung des Traums”: Ein
Traum im Traum
79
4.3.3.1.1 Verdrängung: Sexualsymbolik im
“Traumprotokoll”
83
4.3.3.2.1 Literarische und bildkünstlerische 90
Vorlagen
des Traumprotokolls
4.4
Fazit
93
5. Schlussfolgerung
95
6. Anhang
100
7. Literaturverzeichnis
106
3
Dieses Leben in der Welt ist – mit allem, was es
enthält – ein Traum. Das Erwachen aus diesem
Traum ist der Tod.
Khalil Gibran, Sämtliche Werke
Wir haben Träume; ist nicht etwa das ganze Leben
ein
Traum?
Arthur Schopenhauer, Hauptwerke Band I - Die Welt
als Wille und Vorstellung
1.
Einführung
1.1 Zum Künstler Alfred Kubin
Alfred Kubin wurde am 10. April 1877 in Leitmeritz, einer kleinen Stadt NordBöhmens, geboren.1 Auf der anderen Seite der Elbe, Leitmeritz gegenüber, lag
Theresienstadt, wo mehr als ein Menschenalter später eine Welt wirklich wurde, die
schlimmer sein würde als seine schlimmsten Träume. Und der sensible Knabe Alfred
hatte schlimme Träume, von seiner Kindheit an. Von der Mutter, die vor ihrer Heirat
mit dem Vater Kubins am 4. Juli 1876 Pianistin gewesen war, habe er nach eigenen
Angaben seine Sensibilität geerbt.2
Alfred Kubin hat sich vor allem mit seiner visionären Kunst einen großen Namen
erworben. Die Welt, in der Kubin aufwuchs, war einem weit tragenden
technologischen und intellektuelen Wandel unterworfen. Kubins Kunst war geprägt
von einer Welt des Übergangs, die sich am Rande des Alten und dem Anfang des
Neuen befand; eine Welt, die auf die Stabilität der abendländischen Monarchien
zurückblicken konnte, die die Unstimmigkeiten und der Wandel, die die zwei großen
Kriege und die fortgeschrittene Technik bewirkt hatten, jedoch noch zu erwarten
hatte. In dieser Zeit tiefgreifenden Wandels befand sich Kubin, der, wie viele
zeitgenössischen Künstler, ein tiefes Bedürfnis hatte, seine Empfindungen auf den
1
Kubin, A. Aus meinem Leben. Hrsg. v. Ulrich Riemerschmidt. München 1974, 7
“Die nervöse Veranlagung zu dieser Krankheit hatte ich wohl von meiner Mutter geerbt […]”. Ebd.,
20
2
4
Grund zu gehen. Um zu einem richtigen Ausdruck seiner Empfindungen zu gelingen,
grub er sich tief in die eigene Psyche ein. Durch Experimente sowohl im Bereich des
Visuellen als in dem des Wortes anzustellen, versuchte er zu einer geeigneten
Ausdrucksform seiner Erkenntnisse zu kommen. In der Prosa und in den Zeichnungen
Alfred Kubins verbinden sich genaue Betrachtungen mit imaginären Verzerrungen;
auf einen technischen Höhepunkt vereinigt, veranschaulicht er die Grauzone zwischen
dem Bewussten und dem Unbewussten. Die Wahrheit aus dem Bereich des
Unterbewussten zu ziehen, sie dem bewussten Geist vor Augen zu stellen und sie
dann in die Kunst zu veranschaulichen: in dieser Absicht griff Kubin zu Feder und
Tusche, zeitweise ergänzt von Wasserfarben.
Die Visionen sexueller Angst- und Zwangsvorstellungen, von Folter, Qual,
Übermacht und Ausgeliefertsein, die das Frühwerk prägen, wirkten wie Einblicke in
die geheimen Triebe und Ängste der modernen Seele, die Sigmund Freud zur gleichen
Zeit in seiner Traumdeutung entdeckte.
Schon früh erlitt Kubin mehrere psychische Krisen. Als er zehn Jahre alt war, starb
seine Mutter.3 Der frühe Tod seiner Mutter, der schon vor langer Zeit angekündigt
wurde, verdüsterte den Horizont seiner Jugend: “Dieser Todeskampf hat sich mir fest
eingeprägt und wirkte stark auf mich, weiter stärker aber erschrak ich und bangte mir
vor der maßlosen Verzweiflung meines Vaters; er hob die lange Leiche der
abgezehrten Frau aus dem Bett und lief weinend damit wie um Hilfe rufend in der
ganzen Wohnung herum.”4 Nicht zuletzt die Zeugenschaft beim Todeskampf der
eigenen Mutter und die Furcht vor dem Vatter könnten Kubins Hinwendung zum
Abgründigen mitbedingt haben. In seinen autobiographischen Schriften hat Kubin
über verschiedene psychische Ausnahmezustände berichtet. Die traumatischen
Kindheitserlebnisse und die Enttäuschungen als Adoleszent stürzten ihn in eine
schwere Nervenkrise, die 1896 in einem Selbstmordversuch ihren Tiefpunkt fand.5
Ein Jahr später, kurz nachdem er in den Militärdienst eingetreten war, verfiel er
abermals in einen Zustand von deliröser Bewusstseinsveränderung: erst nach einer
dreimonatlichen Behandlung im Spital wurde der junge Kubin entlassen. Das
3
Ebd.,10
Ebd.
5
Es fehlte nicht viel, und Kubin hätte seine Geschichte nicht nacherzählen können. Den “billigen alten
Revolter”, den Kubin für den bezweckten Selbstmord zum Grab seiner Mutter mitgenommen hatte,
versagte. “Zum zweiten Abdrucken”, so Kubin in seinem Selbstgeständnis, “fehlte mir die seelische
Kraft.” Ebd., 18
4
5
Zeichnen, seine bevorzugte Freizeitbeschäftigung, und auch mehr Zuwendung
vonseiten seines autoritären Vaters verliehen ihm wieder Kraft und halfen ihm, mit
seinen seelischen Problemen fertigzuwerden und neuen Lebensmut zu fassen. Im
Frühjahr 1898 begab sich Kubin nach München, um an Privatschulen und auf der
Kunstakademie Graphik und Malerei zu studieren. Nicht das Studium, sondern seine
Besuche an die Münchner Pinakothek und besonders eine Ausstellung der
Radierungen Max Klingers, die Kubin als “Wunderrausch”6 erfahren haben soll,
übten den größten Einfluss auf den jungen Künstler aus und gaben ihm die
wichtigsten Anregungen für sein künstlerisches Schaffen.
Vom Jahre 1908, als auch der Vater inzwischen gestorben war, berichtet er über einen
neuen Zustand von unbestimmtem impulsivem Arbeitsdrang, der ihn auf dem
Rückweg einer Italienreise überfiel. In seinem Zwickledter Domizil zurückgekehrt,
war er trotz “zitternden Verlangens” nach zeichnerischer Gestaltung nicht imstande,
“zusammenhängende, sinnvolle Striche zu zeichnen […] Diesem neuen Phänomen
stand ich erschrocken gegenüber […] Um nur etwas zu tun und mich zu entlasten,
fing ich nun an, selbst eine abenteuerliche Geschichte auszudenken und
niederzuschreiben. Und nun strömten mir die Ideen in Überfülle zu, peitschten mich
Tag und Nacht zur Arbeit, so dass bereits in zwölf Wochen mein phantastischer
Roman Die andere Seite geschrieben war.”7
1.2 Rezeption und Forschungsansatz
Obwohl Kubin das Schreiben “jederzeit saurer” war als die ihm “natürlicher
scheinende Äußerung mit Stift und Pinsel” in seinem “eigentlichen Beruf als
Zeichner”, und er sich “weder [als] Philosoph noch [als] Schriftsteller, sonder so recht
mit Fleiß und Leidenschaft [als] Künstler”8 betrachtet, führte der Roman dennoch
einen Umbruch im Leben des Künstler herbei. Die Andere Seite steht, wie Kubin in
seiner Selbstbiographie sagte, im “Wendepunkt einer seelischen Entwicklung”, und
diese wiederum steht im Zentrum seines Werkes. Nicht nur etablierte der derzeit
6
Ebd., 28
Ebd., 40f.
8
Ebd., 58
7
6
Dreißigjährige seinen Namen als Illustrator9 (eine Tätigkeit, die er nie einstellen
würde), auch war der Roman eine Leistung ohnegleichen: die Überwindung seiner
selbst. Denn der Autor gelang im geistlichen wie im künstlerischen Sinne zur Reife.10
Der um 1909 entwickelte Stil ändert sich bis zu Kubins Lebensende nicht
wesentlich.11
Der Roman, Hermann Hesse bezeichnete ihn später als das “am meisten dichterischen
Werk der letzten Jahrzehnte” ist gleiches Ranges mit Kubins stärksten Zeichnungen
und gibt über diese hinaus Aufschluß über sein Wesen und Weltbild.
Nicht unberechtigt hat man das Werk als Schlüsselwerk der modernen Literatur
erkannt, zeugt Kubin doch von einer erstaunlichen Sehergabe, wenn er die
Menschheitskatastrophe voraussieht, die er selber noch später erleben sollte.
Zeit seines (langen!) Lebens hat Kubin (1877-1959) versucht den Punkt zu finden, wo
Phantasie und Realität einander im Grenzbereich treffen. Er hat ihn nie gefunden.
Wohl aber hat er entdeckt, dass die Unterschiede zwischen der Welt des Traums und
die des Bewusstseins falsch sind. Er hat sie entlarvt als Entwürfe von Logikern, die
sich entweder unfähig oder aber unwillig zeigten, alle menschlichen Erfahrungen als
gleichwertig anzuerkennen. Man wird nicht übersehen, dass die Andere Seite viel
Raum für Interpretationen in verschiedene Richtungen bietet. Psychoanalytischer
Erkenntnisse bedienen sich zum Beispiel Sachs12, Winkler13, Schmitz14, Müller-Suur15
“Viele Anerkennungen von ähnlich empfindenden Menschen erfreuten mich damals und bestärkten
mich noch in meinem illustrativen Schaffen, sodass ich lange Jahre hindurch neben meinen
Blätterfolgen die Werke mir geistig nahestender Dichter verschiedener Zeiten und Zonen mit Bildern
schmückte.” Ebd., 100
10
Paradoxerweise unterlag Kubins Zeichenstil von 1908 an nur wenige Veränderungen. Der Stil vom
Großteil seiner Zeichnungen blieb auffallend ungeändert; eine Konsistenz, die man allerdings auch für
eine seiner stärksten Qualitäten halten kann. Kubin erläutert die Entwicklung: “Meine Technik
entwickelte sich langsam aus all den sorgfältig abgetönten Arbeiten in Tusche mit Pinsel und etwas
Wasserfarben meiner ersten Schaffensjahre. Mit Klärung der innern Anschauung verlor sich die Lust
am Anfertigen solcher nebehlhaft verwaschener Blätter, und streng wie nach einem ökonomischen
System wurde die Vision in ein Liniengefüge umgesetzt.” Kubin, A. “Der Zeichner”. In: Alfred Kubin,
Weltgeflecht. Hrsg. v. Otto Breicha. München, 1978: 118 (in der Folge: Breicha)
11
Während das Frühwerk von einer Unruhe und Getriebenheit geprägt ist, Dramatik und Angst die
Darstellungen grundsätzlicher beherrschen, hellt sich in den später entstandenen Werken die Stimmung
unleugbar auf.
12
Sachs, H. “Die andere Seite”. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse für die
Geisteswissenschaften. Hrsg. v. Siegmund Freud. 1 (1912) 2: 197-204
13
Winkler, W. Psychologie der modernen Kunst. Tübingen, 1949: 246f.
14
Schmitz, O. A. H. “Die Beschwörung der Dämonen, oder Alfred Kubin der magische Mensch”. In:
ders.: Brevier für Einsame: Fingerzeige zu neuem Leben. München 1923: 29-152
15
Müller-Suur, H. “Zu Kubins autobiographischen Mitteilungen über psychische Ausnahmezustände.”
In: Arndt, K. [etc]: Alfred Kubin. Mappenwerke, Bücher, Einzelblätter aus der Sammlung Hedwig und
Helmut Goedeckemeyer. München, 1980: 18-23 (in der Folge: Arndt)
9
7
und Kraft16. Ihr Ergebnis, im Roman sei die biografische Verarbeitung des mühsamen
Verhältnises zwischen dem Vater und Sohn verarbeitet, hat die Forschung nachhaltig
bestimmt.17 Andere Autoren wiederum sehen im Roman eine narrative Parallelaktion
zum zeitgenössischen Diskurs der Psychoanalyse. Die Fahrt ins Traumreich wäre
ihnen zufolge eine Art “Expedition” ins Unbewusste, jenes “innere Afrika“ Sigmund
Freuds. Die Reise des Zeichners ließe sich dann, wie etwa Philip Rhein schließt, als
literarische Umsetzung des Einschlafens, Träumens und Erwachens fassen, bzw. als
Literarisierung
der
sogenannten
„Traumarbeit“.18
Noch
weiter
geht
die
psychoanalytische Deutung Walter Winklers, der behauptet, Kubin habe sich während
des Schreibens in einer Art “Trancezustand” befunden, “wo jede bewusste und
logische Überlegung ausgeschaltet ist. […] Die Bildvorstellungen […] enstammen
dem Weltgefühl des Schizophrenen.”19
Mehrmals ist die Andere Seite auch als eine “politische Allegorie”, das heißt als eine
Prophezeiung von den Geschehnissen des Ersten Weltkrieges fünf Jahr später,
gedeutet worden.20 Bereits Ernst Jünger, der berühmte Schriftsteller, mit dem Kubin
später eine rege Korrespondenz führte, bescheinigte den Roman des “Visionärs”
Kubin eine “Seismographen-Funktion.”21
Kraft, H. “Der Weg aus der Krise. Interdisziplinäre Aspekte der Stilentwicklung bei Alfred Kubin.”
In: Alfred Kubin 1877-1959. Ausstellungskatalog. Hrsg. v. Annegret Hoberg. München, 1990: 109-116
17
Allerdings wird den ersten Anreiz einer solchen Intepretation vom Autor selbst gegeben, empfiehlt er
doch denjenigen, die eine Erklärung seiner “rätselhaften Hellsichtigkeit” suchen, sich an “die Werke
unserer so geistvollen Seelenforscher” zu halten. 7
18
Rhein, P. 1989: 29ff.; vgl. auch Hewig 1967: 27 u.ff.; Geyer 1995: 104ff. Kubin schrieb am 22.12.1914
zur ersten psychoanalytischen Interpretation des Romans (in der Wiener ZeitschriftImago): „Sonst bin ich
wie gesagt der Ansicht daß Freud’s Entdeckung fabelhaft ist aber doch im materiellen stecken bleibt,
stecken bleiben muß, weil alle rationelle Wissenschaftlichkeit niemals mehr als Bausteine liefern kann.“
(Herzmanovsky-Orlando, F. Der Briefwechsel mit Alfred Kubin, 1903-1952. Herausg. u. komment. v.
Michael Klein. Salzburg: 1983: 98, vgl. 90).
19
Winkler, 1949: 246f. Zit. nach Brunn, C. Der Ausweg ins Unwirkliche: Fiktion und Weltmodell bei
Paul Scheerbart und Alfred Kubin. Oldenburg, 2010: 188
20
Vgl. Cersowksy 1983: 66ff.; Geyer, 1995: 93 u.ff.; Brunn 2001: 151, Gerhards, 1997 ; Neuhäuser,
1998.
21
Nach Jünger erkenne Kubin “[…] am Untergang der bürgerlichen Welt, an dem wir tätig und leidend
teilnehmen, die Zeichen der organischen Zerstörung, die feiner und gründlicher wirkt als die technischpolitischen Fakten, die auf der Oberfläche angreifen.” Jünger, E. “Die Staubdämonen” (1929) In: Alfred
Kubin. Eine Begegnung. 2. Aufl. Frankfurt a. M. […], 1975: 109-117 Jünger widmete der anderen
Seite 1929 eine Rezension in Ernst Niekischs Zeitschrift Widerstand und 1931 den Aufsatz “Alfred
Kubins Werk”, 1931 den Aufsatz "Alfred Kubins Werk", der später unter dem Titel “Die StaubDämonen” Eingang in die Essay-Sammlung “Blätter und Steine” fand. Ausgehend von diesem Aufsatz
entspann sich ein Briefwechsel zwischen beiden, der bis 1952 währte und (unvollständig) 1975
veröffentlicht wurde. Vgl. Jünger, E. Die andere Seite [Rezension]. In: Widerstand. Zeitschrift für
nationalrevolutionäre Politik. Dresden. 4. Jg., Heft 2, März 1929, S. 26-81. Jünger, E. “Alfred Kubins
Werk”. In: Hamburger Nachrichten. Hamburg. 140. Jg., Nr. 606 vom 30. 12. 1931, 1-2. Wiederabdruck
in: Widerstand. Zeitschrift für nationalrevolutionäre Politik. Berlin. 8. Jg., Heft 1, Januar 1933, 24-27.
16
8
Der Zusammenhang von zeichnerischem Schaffen und literarischem Werk erhellen
die Arbeiten von Lippuner22 und Brockhaus23. Sie weisen unter anderem auf die
künstlerische Anreize und Einflüße der von Kubin geschätzten Künstler hin und die
Aufnahme bildkünstlerischer Vorlagen und deren Umsetzung in sprachliche Bilder
und Motive. Immer wieder werden die Bezüge zu Vorgänger in der phantastischen
Literatur und in der Philosophie hervorgehoben.24 Die Bildwelt dieses “literarischen
Künstlers”25 war zum Teil schon vorgeprägt. Schon als Knabe und später nach der
Niederlassung in Zwickledt verschlang der leidenschaftliche Leser Kubin jede Menge
Bücher.26 Aus diesem Grund wird sich der Versuch, eine Analyse der Anderen Seite
aus dem Gesichtspunkt des Einflüsses vorzunehmen, das heißt, zu einer
Rekonstruktion auf der Grundlage der Vorlagen, eine unbefriedigende und nicht
zuletzt nahezu unmögliche Arbeit erweisen. Zum Schluss ist, und dies möchte ich
nachdrücklich hervorheben, die Andere Seite ein Werk, dessen Bedeutung am
ersichtlichsten wird, wenn man es im Kontext zu Kubins Leben und intellektuellem
Werdegang betrachtet. Die biographischen, philosophischen und ästhetischen Aspekte
seines Lebens gestalten zusammen den Roman, in seiner vordergründigen und
symbolischen Bedeutung greifen sie ineinander. Kubin steht “auf der fließenden
Grenze von Bildnertum und Dichtertum.”27 Der Zeichner Kubin ist vom Literaten
Kubin nicht zu trennen. Die Andere Seite kann weder als ein rein literarisches
Erzeugnis, noch nur von der Perspektive der Zeichnungen her betrachtet werden. Sie
ist beides; im Roman zeigt sich die Doppelgabe Alfred Kubins als Schrifsteller und
Künstler.28 Zuletzt sei hier noch die Studie Claudia Gerhards zu erwähnen, die das
Lippuner, H. Alfred Kubins Roman “Die andere Seite”. Bern/München 1977
Brockhaus, C. “Rezeptions- und Stilpluralismus. Zur Bildgestaltung in Alfred Kubins Roman “Die
andere Seite”. In: Pantheon. Zeitschrift für Kunst 32 (1974): 272-288
24
Außer Hoffmann nennt Lippuner noch Marco Polo, Nerval, Poe, Meyrink, im philosophischen
Bereich Blake, Schopenhauer, Bachofen, Bahnsen, Friedländer und im künstlerischen Bereich Bosch,
Callot, Füßli, Rembrandt, Goya, Redon, Guiguin, Klinger, Ensor, Munch und Brueghel als die von der
Forschung als mögliche Inspiratoren in Betracht gezogenen Namen.
25
Schmied, W. “Komplex und Voller Gegensätze: Grundsätzliches zu Kubin”. In: Breicha, 1978: 7-13
(9)
26
In seiner Bibliothek stand ihm eine umfangreiche Sammlung zeitgenössischer und früherer Literatur
zu Verfügung. Überdies war er selbst Kunstsammler “Ohne meine große Bibliothek und die
graphischen Sammlungen hätte ich die trüben Stunden […] kaum überstanden.” Kubin, 1974: 90. In
seinem Schloss im oberösterreichischen Zwicklett sammelten sich im Laufe der Jahre die Werke
verschiedenster Vorbilder und Zeitgenossen an. Mit Freunden wie Paul Klee, Egon Schiele oder James
Ensor tauschte er Blätter aus und holte sich Anregungen für sein eigenes Schaffen.
27
Preetorius, E. Vorwort zum Ausstellungskatalog der Gedächtnisausstellung Alfred Kubin 1877-1959.
München 1964: 11
28
Lippuner versucht eine Analyse der Andere Seite im Kontext von Kubins bildkünstlerischem
Umfeld. Während seiner Anliegen “Kubin auf eine sehr viel weitere Umwelt […] hineinzustellen”
(Lippuner, 1977: 24) beizustimmen ist, ist sein Vorwurf an die Kubin-Forschung, diese habe Kubin
22
23
9
Thema der Apokalypse im Kontext der Moderne stellt. Statt die Kubinsche
Apokalypse im narrative Form der Phantastik zu betrachten und der Roman innerhalb
der literarischen Form der Phantastik zu stellen, will sie das Phantastische als
Ausdruck von apokalyptisch ausgelegten Defizienz-Erfahrungen im Dienste einer
Apokalypse-Konzeption verstehen. Dieser Ausgangspunkt ist insoweit sinnvoll, als
Kubin in der Tat die Aspekte der Zerstörung in ihrer Fülle ausarbeitet und viele der im
Roman beschriebenen Ereignisse als Prophezeiungen der Katastrophen beider Kriege
anmuten. Gerhards beschränkt sich in was sie als eine Defizienz-Erfahrung betrachtet
aber nur auf eine Defienz der Gesellschaft: innerpersönliche Aspekte (Krisen der
Persönlichkeit und des Schaffens) werden leider außer Betracht gelassen. Die Andere
Seite ist nämlich auch als “dichterische selbstbildnishafte Manifestation Kubins zu
verstehen.”29 Verknüpft werden also Kubins Verhalten zur äußeren, gesellschaftlichen
mit einer innerlichen, traumvollen Welt. Die Zerstörung, die Kubin innerlich
empfunden hat, überträgt sich in eine äußere Welt, eine Dystopie, die jedoch wieder
der Phantasie und also der Innerlichkeit des Künstlers entspringt. Über den Text, aber
nicht weniger über das Bild erkundet Kubin das eigene Ich, entdeckt und bringt die
Abgründe moderner Subjektivität zum Ausdruck.
In der vorliegenden Arbeit soll eine möglichst umfassende Interpretation der Anderen
Seite angestrebt werden, wobei der Schwerpunkt auf den Begriff “Polarität” liegen
soll. Während in der bisherigen Forschung die Tendenz zu beobachten ist, den Roman
aus normativen Ansätzen zu deuten, das heißt, die Deutung in einem deutlichen
Rahmen einzufassen und auf jeweils einen Bereich zu beschränken (philosophische,
psychoanalytische, politische oder kunsthistorische Interpretationen) schlagen wir
bisher aus einem zu einseitigen Blickwinkel betrachtet, nicht stichhaltig. Weil “mit den
Interpretationsmethoden, wie sie aus psychologischer, philosophischer und werkimmanenter Sicht
angewendet wurden” in der Anderen Seite “nicht mehr beizukommen” sei (50), versucht Lippuner eine
Interpreation aus kunstgeschichtlicher Sicht, der aber ebensosehr Einsichtigkeit vorzuwerfen ist. Er will
Kubins Kreativität fast ausschließlich auf Variation und Nachahmung seiner Vorgänger verpflichten.
Doch Kubin bedurfte keiner fremden Welten und übernommener Bilder, um zu illustrieren. Peter Halm
hat das richtig gesehen, wenn er in einem Essay feststellte: “Was Kubin zum Illustrator prädestinierte,
war der unerschöpfliche Vorrat an eigenen Bild- und Erinnerungsvorstellungen. Ein Mensch seiner Art
sieht Anderes und erlebt anders als seine Mitwelt […] Weil er konkrete Lebenssituationen empfunden,
Menschentypen aller Art in sich aufgenommen hat, stellen sich die adäquaten Bilde rein, wenn der Text
eines Buches verwandte Szenerien heraufbeschwört.” (Halm, P, zit. nach Schmied, W. Der Zeichner
Alfred Kubin. Salzburg 1967, 30) Nun geht Kubins Schaffen in der Anderen Seite über die rein
illustrative Tätigkeit hinaus, er hat ihre Welt ja selbst erschaffen müssen. Inwieweit Kubin auf
historische Vorlagen zurückgegriffen hat, oder sich nicht vielmehr auf die eigene Originalität verlassen
hat, soll diese Arbeit noch erhellen.
29
Hewig, A. Phantastische Wirklichkeit: Kubins Andere “Die Andere Seite”. München 1967: 17
10
vielmehr eine umfassende Annäherung vor, indem versucht werden soll, die
Weltauffasung Kubins als eine eigenständige Philosophie transparent werden zu
lassen, jene Philosophie der Polaritäten. Obwohl diese für Kubin im Grunde ein
Maßstab für das Leben schlechthin war, möchten wir zwei antithetische Polen in den
Vordergrund rücken, die von der Philosophie Kubins ganz besonders geprägt sind: die
Pole des Leben und Todes und die des Wachens und Traums. Zwischen ihnen, auf die
andere Seite des Alltags, der Realität und des Bewusstseins, liegt das Traumreich, die
phantastische Schöpfung Pateras und im Grunde die Utopie des Traumkünstlers
Alfred Kubins. Der Traum, über den Kubin sein Protagonist in dieses Zwischenreich
geführt, entlarvt sich als der Traum des Autors; die Reihe phantastischer Vorfälle, die
diesem
widerfahren,
als
die
Auswüchse
einer
schöpferisch
verfahrenden
Einbildungskraft.
Die Anregungen, die Kubin zur Inspiration aus den verschiedensten Bereichen
schöpfte, findet man auch in der Anderen Seite ausgeprägt. Es soll mithin versucht
werden, die folgenden Darlegungen auf eine vergleichsweise breite Basis zu stellen.
Dem Text selbst sei dazu ebensoviel Aufmerksamkeit wie die zeitgenössische
Literatur, Philosophie und Psychologie, mit denen Kubin sich seinerzeit beschäftigte,
zuzuwenden.
Zwar wird unsere Arbeit erheblich von ihrem Interesse erschwert: Ort, Sprache, ja der
ganze Ablauf der Geschehnisse, alles ereignet sich im Traum, entspricht seiner Logik
und ist seinen Gesetzen unterworfen. Es ist unsere Aufgabe, diese zu entschlüsseln
und zu untersuchen.
Zunächst möchten wir uns, im zweiten Kapitel, mit den zwei wichtigsten Personen
des Romans beschäftigen, Patera und Herkules Bell. In einem nächsten Schritt gilt es,
ausgehend von der Gedankenwelt Alfred Kubins, die wichtigsten Thema der Anderen
Seite zu beleuchten. In jedem dieser Kapitel soll versucht werden, maßgebliche
Konzepte Kubins Denkens anhand signifikanter Textfragmente anschaulich zu
erläutern. Um einen anschaulichen Zugang zu der Gedankenwelt Alfred Kubins zu
ermöglichen, soll neben den Bildern aus dem Roman auch gelegentlich
außertextliches Bildmaterial herangezogen und im Kontext zum Roman behandelt
werden. Allerdings ist das Gesamtwerk zu umfangreich um es in allen Facetten zu
schildern. Doch nicht unhäufig sind die Motive, die Kubin in der Anderen Seite
verarbeitet hat, bereits im zeichnerischen Frühwerk vielfältig ausgeprägt. In der
11
Erinnerung noch latent greift er auf sie zurück und bringt sie in einem neuem Kontext
abermals zur Entfaltung.
Aber es gibt Inwiefern die Andere Seite im Zusammenhang mit dem kubinschen
Oeuvre zu betrachten ist, wird uns besonders interessieren. Zum Schluss möchten wir
noch rückblickend die Ergebnisse der Arbeit zusammenfassen um somit zu einer
Schlussfolgerung zu gelangen.
12
2. Die Andere Seite
Der Roman die Andere Seite erschien 1909 im Verlag Georg Müller & Sohn
München. Im Jahre 1928 erschien eine zweite Fassung, die von Kubin “durch die bis
auf die letzte Zeit erweiterte autobiographische Einleitung und durch viele neue
Zeichnungen” ergänzt wurde.30
Der Roman fängt mit einem Prolog des Erzählers an, in dem der Leser über den Inhalt
des Buches verständigt wird. Die Begebenheiten, die der Erzähler angeblich zu einem
Roman umgestaltet hat, folgen den Aufzeichnungen, die er in den Jahren seines
Aufenthalts im “Traumreich” gemacht hat.
Der Roman gliedert sich in drei Teile: 1. Der Ruf 2. Perle 3. Der Untergang des
Traumreichs. Der erste Teil hat zwei Unterkapitel, der zweite und dritte Teil haben je
fünf Unterkapitel. Diese Kapitel wiederum sind in namenlose Teilkapitel unterteilt
(Ausnahmen: Teil II, Kap. V.II und V.III). Zudem ist ein kurzer Epilog angefügt, der
den Erzähler zeigt, nachdem er aus dem Traumreich zurückgekehrt ist und sich in eine
Heilanstalt begeben musste.
Der Protagonist des Romans ist ein dreißigjähriger Zeichner, der eine Einladung von
einem früheren Schulfreund, Claus Patera, erhält. Dieser fragt ihn, ob sein ehemaliger
Klassenkamerad ihn in Perle, die Hauptstadt des “Traumreiches” besuchen möchte.
Dieser Staat, ein Geheimnis für die äußere Welt, von der er isoliert ist, ist auf
künstliche Weise gegründet von Patera, der zu diesem Zweck aus allen Ländern
Europas Gebäude transporiert hat. Die Gattin des Künstlers lässt sich nicht leicht
überzeugen und lehnt die Einladung zunächst ab. Doch späterhin, wohl von der
Begeisterung ihres Gattens angezündet, gibt sie nach: die Reise ins Traumreich kann
beginnen. Mit dem Zug fahren sie bis tief in Zentralasien, eine anstrengende Reise,
die der Künstler nicht ohne Mißvergnügen übersteht. Zu ihrer Überraschung sehen sie
eine Stadt, die in mancherlei Hinsicht krasse Übereinstimmungen mit der eigenen
Wohnstadt aufweist. Perle ist eine Stadt der Vergangenheit, in der die Zeit still steht:
alles, was man in ihr antrifft, ist älter als 1860, die äußerte Grenze der Modernität.
Glück und Unglück, Armut und Reichtum überstürzen sich, aber alles gleicht sich in
einer verborgenen Gerechtigkeit immer wieder aus. Die Traummenschen führen sie
30
Kubin, A. Die andere Seite. Phantastischer Roman. Mit einer Selbstbiographie des Künstlers, 59
Abbildungen und einem [gefalteten] Plan. München: 1928: 167.
13
auf ein geheimnisvoll waltendes Schicksal zurück, auf das sie in allen Schwankungen
felsenfest vertrauen: Patera. Er, der Meister, Urheber und Herrscher des Traumstaats,
bleibt auf mysteriöse Weise unnahbar, wenn der Erzähler und seine Frau versuchen,
den Grund einer Reihe von beunruhigenden Ereignissen zu erfassen. Im Laufe der
Geschichte gelangt der Künstler allmählich zur Erkenntnis, dass das Traumreich
unumgänglich dem Untergang verfallen ist. Es wird sowohl von innen als von außen
her bedroht. Ein Amerikaner, Herkules Bell, ist ins Traumreich verreist in der
Absicht, Patera vom Thron zu stoßen und das Reich nach amerikanischen Muster
umzugestalten. Er propagiert einen modernisierten Handel und Industrie. Wenn die
Spannungen zwischen den Kräften der Vergangenheit und jenen der Zukunft sich
verschärfen,
fallen
Stadt
und
Einwöhner
physisch
und
psychisch
einem
apokalyptischen Schicksal heim. Die Erzählung endet mit einer kosmischen
Katastrophe, die den Traumstaat vollkommen vernichtet. Patera stirbt und Bell
entkommt ins Ausland. Der Künstler überlebt als einziger die Zerstörung und schreibt
seine Erfahrungen nieder.
14
3. Patera und der Amerikaner. Die Antithese vom Tod und Leben
Der Begriff des Gegensätzlichen durchführte das Ganze Denken Kubins. Die
Grundlage seiner philosophischen Weltkonstruktion war die eines “Polaritätgesetzes”,
nach dem alles kosmische Geschehen von antithetischen Kräften bestimmt sei. Er
macht einen Unterschied zwischen zwei miteinander verbundenen grundlegenden
Prinzipien: dem “Chaos”, das Abgrund des stofflichen Seins und zugleich Grundlage
des Lebens, und dem “Selbst” als Träger des Bewusstseins, wobei aus dem Chaos das
Selbst als formendes Prinzip hervorgeht. Wie bereits erwähnt, maß Kubin dem
Bereich der Philosophie eine überaus wichtige Bedeutung zu. Die philosophische
Weltsicht, die Kubin sich aus der Lektüre von unter anderem Schopenhauer und
Nietzsche und nicht zuletzt deren Nachfolger gestaltete, spiegelt sich auch im
literarischen und bildkünstlerischen Werk.31 In Anekdoten, autobiographischen
Berichten, Tagebuchaufzeichnungen und auch im Werk spiegelt sich der Einfluss
zeitgenössischer Philosophie wie Psychologie und nicht zuletzt die Grundstimmung
des fin-de-siecle, eine Neigung zur Dekadenz und Todestrieb.
3.1
Patera: von altem Schulkameraden zum göttlichen Herrscher
Unter meinen Jugendbekannten war ein sonderbarer Mensch, dessen Geschichte wohl
wert ist, der Vergessenheit entrissen zu werden. Ich habe mein Möglichstes getan, um
wenigsten einen Teil der seltsamen Vorkomnisse, die sich an den Namen Claus
Patera knüpfen, wahrheitsgetreu, wie es sich für einen Augenzeugen gehört, zu
schildern. (7)32
“Ich kenne neben Kant kein anderes Werk von so ungeheuerlichem Wert und solcher Problematik
wie das Friedrich Nietzsches”. “Selbstbiographie” (1911). In: AmL, 52. In der Tat hat Kubin auch das
Werk Kants geschätzt, wiewohl kantsche Einflüsse in der Anderen Seite nicht unmittelbar
nachzuweisen sind. “Noch erfüllt mich jenes stille schauervolle Erlebnis eines Abends in Friedenau,
das sich an den Namen Kant knüpft. […] Von wesentlicherer Bedeutung sind hingegen Kants
Nachfolger, die an späterer Stelle noch ausführlich behandelt werden sollen. Kubin führt weiter: “Seine
Nachfolger, für mich die Reihe Schopenhauer, Mainländer, Bahnsen, verwalten das große Erbe je nach
der Stärke des Talentes, und mein Denken stand den größten Teil meiner jungen Jahre unter den
Einflüssen dieser Lehren. Alfred Kubin zit. nach Schröder, E. Ludwig Klages, die Geschichte seines
Lebens. Bonn, 1972. 2. Bd., 1: 498.
32
Die den Zitaten nachfolgenden eingeklammerten Ziffern korrespondieren mit den Seitenzahlen von
der 2. Auflage der “Anderen Seite” aus 1973, erschienen im Verlag Nymphenburger.
31
15
Mit diesen Worten, aus denen das Anliegen des Autors, eine gemeinsame Geschichte
darzustellen, offenkundig spricht, fängt der Roman an. Der Erzähler berichtet, dass er
Patera als seinen Schulfreund, der sich von den Altersgenossen nicht wesentlich
unterscheidet, aus der Zeit am Salzburger Gymnasium kennt.33 Auch der Besuch des
Boten Franz Gautsch, der dem Erzähler die Einladung Pateras überreicht, erfolgt
bereits im ersten Kapitel. Es stellt sich heraus, dass Patera ein Mann im Besitze von
für europäische Begriffe unerhörten Reichtümern ist. Zunächst hegt der Erzähler noch
Argwohn und hält die Geschichte Pateras für einen Schwindel. In einem kleinen Etui,
das ihm Gautsch überreicht, steckt eine kleine Miniature. Dieses “auffallend
charakteristische Brustbild eines junges Mannes”, dessen “braune Locken” “ein
Anlitz merkwürdig antiker Prägung [umringelten]” (12), ruft in ihn die bildhafte
Erinnerung an seinen ehemaligen Schulkameraden wach. Wenig später findet er im
selbigen Etui einen Kartonblatt mit den Worten “Wenn du willst, so komme!” Der
Erzähler berichtet, dass ihn “abermals […] ganz leise und traumhaft ein Bild aus
längst entschwundener Vergangenheit [durchzuckt]:
Ein seltsames Unbehagen erfasste mich jetzt – eiskalt starrte dieses schöne Gesicht
mich an. In diesen Augen konnte man sich verfangen, es war etwas Katzenhaftes
darin – Meine vorherige Lustigkeit war dahin, fremd und unklar war mit zumute. (14)
Nichtsdestotrotz gibt der Erzähler endgültig nach. Der Einsicht ergeben, dass “im
Grunde […] kein Mensch über sein Temperament hinweg [kann]” und es “immer
seine Lebensäußerungen bestimmen” (15) wird, entschließt er, nachdem auch seine
Frau überzeugt ist, zur Abreise ins Traumreich.
Patera, so lernt der Leser früh, “hegt einen außerordentlich tiefen Widerwillen gegen
alles Fortschrittliche im allgemeinen […] namentlich auf wissenschaftlichem Gebiet”.
(9) Aus diesem Grund hat er den Traumstaat gegründet, den Zufluchtsort derjenigen,
die mit der modernen Kultur unzufrieden sind. Nach seienr Ankunft fühlt der Erzähler
sich zunächst noch recht wohl. Auch wenn er gelegentlich gegen die namenlose
Schlamperei und Unordnung protestiert, so “fühlte [man] doch eine starke Hand”.
(62)
“Ich lernte Patera vor sechzig Jahren in Salzburg kennen, als wir beide in das dortige Gymnasium
eintraten.” (7) Allerdings ist es ausgeschlossen, dass diese Zeitspanne auf eine Wirklichkeit beruht.
Kubin besuchte das Gymnasium zwischen 1888 und 1890, also zwischen seinem elften und dreizehnten
Lebensjahr. Zur Zeit der Abfassung der Anderen Seite war Kubin erst 31 Jahre alt.
33
16
Nicht ohne Grund hat Kubin den prägnanten Namen Patera gewählt. Führt man ihn
auf das Griechische bzw. das Lateinische zurück, so fällt unmittelbar das Gleichnis zu
pater ins Auge. Er ist der Vater und Schöpfer der Welt, “das unerschöpflich
schöpfende Gefäß, aus dessen bodenloser Tiefe alle Formen und Gestalten
hervorgehen.”34 Dass die Identität des Jugendkameraden Claus Patera dem des
Herrschers des Traumreichs entspricht, erweist sich aus zwei untrüglichen Merkmale
des letzeren, die dem Erzähler schon an dem Schüler auffielen: “der schöngelockte
Kopf antiken Zuschnitts” und “die etwas vorstehenden übergroßen Augen von
hellgrauer Farbe.” (7) Ist Patera als Schüler noch ein Bursche durchschnittlichen
Gepräges, der sich nur von den anderen Schülern durch einen steifen Filzhut
unterscheidet, so genießt er im Traumreich ein nahezu religiöses Ansehen. In einem
Brief an seinen Freund Fritz35 (74-78) macht er sich lustig über ein eigenartiges
Phänomen des Traumlandes, nämlich den “großen Uhrbann”. Die Pflicht aller
Einwöhner, “Tag für Tag” den Turm zu besuchen, ist die einzige und wahre Religion
des Traumreichs. Im Phänomen des Uhrbanns zeigt sich die religiöse Haltung der
Traumländer Patera gegenüber. Wer in den Turm, der mit “rätselhaften Zeichnungen,
wohl Symbolen” bedeckt ist, eintritt, spricht kein Gebet aus, sondern den Formel
“Hier stehe ich vor Dir!” (77). Neben der “Traumreligion” (82) verblassen die
anderen Konfessionen. Zwar haben “alle großen Religionen der alten Welt […] im
Traumland mehr oder weniger Vertreter”, doch diese sind alle “bloß äußerlich, ein
aufgepappter Flitter.” (79) Hewig ist der Ansicht, dass diese Bindung in der
Uhrbannsformel zum Ausdruck kommt: “der Schwache [steht] vor dem Starken, der
Abhängige vor dem Mächtigen, der Untertan vor dem Herrscher, das Geschöpf vor
dem Schöpfer.” Nicht weniger gilt dies für den Erzähler. Er spürt eine “schrankenlose
Macht, die er jedoch nicht zu erklären imstande ist: “Pateras Art blieb unergründlich,
ebenso unverständlich die Macht, die uns im Traumlande zu Marionetten machte.
(144). Der Besuch im Palast, der allerheiligsten Domäne des Traumlandes, wo der
“Herzschlag des Traumlandes” pocht, ändert dies. Obwohl der Erzähler zunächst
meint, der Palast sei verlassen, beweist ihm einen für das Traumland typischen
Geruch den Gegenteil. (119) Der Erzähler erkennt das “Haupt von ungewöhnlicher
34
Lama Anagarika Govinda zufolge sei der Name als eine Anspielung auf das lateinische Wort für
“Opferschale” zu deuten. Govinda, L. A. Psychologische Richtlinien. Versuch einer Deutung der
“Anderen Seite”. In: Die Einsicht. Vierteljahresschr. für Buddhismus 4, 1951: 14. Zit. nach Hewig,
1967: 74f.
35
I.e. der Schriftsteller und Zeichner Fritz Fritz von Herzmanovsky-Orlando (1877-1954), der
lebenslange Freund Alfred Kubins.
17
Größe” (120) und stellt fest, dass er seinen Freund Patera vor sich hat. Zugleich aber
soll er nie wieder den Zusatz “mein Freund” in Bezug auf Patera benutzen: 36 allzusehr
ist er ergriffen von der Schönheit Pateras; die Demut, die er Patera anfangs
entgegenbracht, hat sich geradezu in Anbetung überstiegen: “Mit seiner breiten,
niedern Stirn und der mächtigen Nasenwurzel glich er eher einem griechischen Gott
als einem lebenden Menschen.” (120) Von diesem Bild völlig aus der Fassung
gebracht geht in ihm nur noch einen Gedanken herum: “Das ist der Herr! Das ist der
Herr!” (120) Die von innerem Betroffensein zeugende Ergriffenheit steigert sich
während der Zeit des Aufenthalts im Traumreich bis zur restlosen Erschütterung.
Parallel dazu sublimiert sich das Bestaunen in ein Anbeten. In einer “tiefen, religiösen
Wallung” bezeugt der Erzähler Patera sein Respekt, indem er angesichts der letzten
(unmittelbaren) Begegnung in die Knie beugt und die Hände faltet. (266) Auch hier
klingt die Signatur des Göttlichen nach: es ergibt sich, dass Pateras Haare im Sterben
weiß geworden sind. (270) Das Motiv des antiken Gottes wiederholt sich noch ein
letztes Mal, wenn es heißt, Pateras Gesicht sei “marmorn, kalt, gleich einem
Götterbildnis der antiken Welt.” (270)
Bereits zu Beginn des Romans wird Patera mit dem Übermenschlichen in Beziehung
gesetzt. So berichtet Gautsch dem Erzähler, dass er für einen “Höheren” (8) handelt.
Obwohl die Bewohner zwar wenig Zusammenhörigkeitsgefühl zeigen, benehmen sie
sich doch schüchtern, wenn ihr Herrscher zur Sprache kommt. Vor aller weltlichen
Autorität verehren sie in ihm eine über das Menschliche hinausreichende
transzendente Macht. Sie ist eine “schrankenlose Macht, voll furchtbarer Neugier, ein
Auge, das in jede Ritze drang […] überall gegenwärtig; nichts entging ihr willig, denn
“im Glauben daran war der Traummensch ernst, alles übrige war vergänglich.” (62)
Es wundert also nicht, dass das Eintreffen des Amerikaners, auf den wir im folgenden
Kapitel zu sprechen kommen, zunächst auf heftige Kritik stoßt. Seinen Ausspruch,
“ich spucke auf euren Patera” empfinden die Traumländer als “Blasphemie”(161).
Während der Erzähler im ersten Teil des Buches vom Bann Pateras verschont bleibt
(sämtliche Traumländer hingegen unterliegen ihm vollständig), kann er sich ihm im
zweiten Teil, der den vielsagenden Namen “Im Bann” trägt, nicht entziehen. Die enge
Beziehung zwischen Patera und seinen Untertanen kommt im negativen Sinne im
Klaps zum Ausdruck. Es stellt sich heraus, dass Patera Epileptiker ist. Erleidet er
36
Der Erzähler hat Patera vormals an mehreren Stellen als “meinen Freund” bezeichnet.
18
einen Angriff, so muss sie auch die gesamte Einwohnerschaft mitempfinden. In der
Konfrontation mit Patera merkt der Erzähler, dass er sich nicht abwenden kann, “eine
magische Kraft hielt mich wie festgeschraubt.” (121). Ebenso ergeht es im während
der nächsten Konfrontation: “Ich fuhr erschrocken zusammen, im nächsten Moment
starrte ich in die glanzlosen Augen – ich war im Bann” und “Es war ein Befehl zum
Sprechen in mir.”(199)
Der Erzähler macht die Beobachtung, dass den Kindern, die im Traumreich geboren
werden, das Nagelglied des linken Daumens mangelt. (111). Auch Patera, so soll er
später feststellen, weist dieses Merkmal auf. (198)
Zum Schluss ist der letzte Satz des Buches, “Der Demiurg ist ein Zwitter”, das
gleichsam als Leitmotiv schräg gedruckt die Erzählung abschließt, auf Patera
zurückzuführen: ein “Doppelwesen”, das eine Welt geschaffen und wiederum zerstört
hat.
Kubin hat die zeichnerische Darstellungen Pateras bis auf ein Bild beschränkt. Nur
unten auf der letzten Seite ist in Kleinformate eine vergleichsweise einfache
Zeichnung vom Antlitz abgebildet. (Bild 1) Die Darstellung entspricht den
Beschreibungen Pateras: gezeigt wird ein junger Mann mit schönem Profil,
halblangen Haaren und edelen Zügen. Mag die Zeichnung auf den ersten Blick wenig
besonders anmuten, eine nähere Betrachtung des Bildes zeigt Kubin jedoch als
geschickter Zeichner: Pateras Augen können entweder als geschlossen oder aber als
“geöffnet” betrachtet werden. Im ersten Fall ist er der schlafende Herrscher des
Traumreiches, im zweiten entspricht die Darstellung (es fehlen dann die Pupillen) der
Beschreibung von Pateras unwesentlichen Augen als “zwei blanken, hellen
Metallscheiben, die glänzten wie kleine Monde.”
3.2 Herkules Bell: Der Pökelkönig
Herkules Bell macht sein Entree im dritten Teil des Romans, der den Titel “Der
Untergang” trägt. Wie Patera ist er ein Milliardär, der “keineswegs mit seinem
Reichtum [geizt].” (157). Im Gegensatz zu Patera wird der Amerikaner als hässlicher
Mensch beschrieben: “ein betontes Kinn, eine hohe, schmale, sehr kantige Stirn gab
dem Kopf etwas schief verwegenes.” (159) Das den Text begleitende Bild bestätigt
diese Schilderung (Bild 2). Wenn der Erzähler den Amerikaner zum ersten Mal aus
19
nächster Nähe mustern kann, beobachtet er ein “scharfes, diabolisches Profil.” (161).
Schon früh stellt sich heraus, dass er der geschworene Feind Pateras ist. Er beginnt
sein Wirken im Traumstaat mit der Gründung eines Vereins, dem er den Namen des
gegen Gottes Allmacht empörten, zum Anführer der Teufel gewordenen Engels
Luzifer gibt. Der Erzähler bemerkt, dass auch die Zeit ein anderes Tempo
angenommen zu haben scheint. (164) Um in die Gunst der Traumländer zu gelangen,
verteilt der Amerikaner dicke “Propagandazigarren”, durch deren bloße Annahme
man ihm schon verfallen ist. Er, der Patera verhöhnt, will “mit großen Summen” die
Zeitungen kaufen und selbst herausgeben. (165). Er reizt die Traumleute zur
Gründung politischer Vereine auf. Auch der Kosmos beteiligt sich an der allgemeinen
Aufklärung: der stets dicht bewölkte Himmel von Perle beginnt fahles Leuchten
durchzulassen. Patera verweigert sich einer Koorporation mit Bell, der daraufhin
Proklamationen gegen ihn erlässt und die Einwohnerschaft zum Abschütteln des
Bannes ermahnt. “Werdet alle Söhne Luzifers!” (168), so lautet die Parole des
Amerikaners. Es schart sich eine Bande fanatischen Anhänger um ihn, mit der der
Bell gewaltsame Rundgänge durch die Stadt macht. Er schürt “Hass und Zwietracht
und verspottete alles”. Wenn dann auch die Uhrbann vergessen wird, ist es für den
Erzähler klar, “dass das Ende des Traumreiches unwiderruflich näher kam.” (189)
Mit dem Enstehen zweier Parteien beginnt ein Bürgerkrieg. Mit den Erfolgen des
Amerikaners steigert sich die Zerstörung des Traumreichs. Die Bürger verfallen der
Sittenlosigkeit, die Häuser der Zerbröckelung. Während des zweiten Besuches des
Erzählers an Patera gelangt er zur Einsicht, dass Patera ein Doppelwesen ist: jener
entlarvt sich unvermittelt als der Amerikaner. Trotz seines anfänglichen Entsetzens,
schließt diese Erkenntnis die “Abgründe” seiner “Zweifel und Ängste”. (200) Wenn
der Traumstaat untergeht, entkommt Bell in einer Lokomotive. Verschiedene
Großmächte hat er dann bereits über die Situation und topographische Lage des
Traumlandes in Kenntnis gebracht. Während das Phänomen Patera ungelöst bleibt, so
der Erzähler, lebt der Amerikaner “heute noch, und ihn kennt alle Welt.” (273)
Dass sich die Bedeutung des Amerikaners nicht in seiner Rolle als Vertreter der
zivilisierten Kulturwelt erschöpft, dafür gibt die Diskrepanz zwischen seiner
Daseinsweise im Traumreich und der in den Visionen des Zeichners einen wichtigen
Fingerzweig. Zwischen beiden liegt derselbe unüberbrückbare Graben wie zwischen
Claus Patera und Patera. Auf der einen Seite ist der Amerikaner Mensch, der
verachtet, trotzt, hasst, bewundert und in Lebensgefahr gerat. Auf der anderen Seite
20
ist er durch einen qualitativen Sprung ins Göttliche bzw. Unfassbare gerückt. Dort
wird sein Schöpfertum offenbar, während er hier bloß Geschöpf ist, im Grunde sein
eigenes. Hewig weist darauf hin, dass “Bell” nach dem “Lärm einer Alarmglocke”37
klingt, sein immanentes Wesen, dagegen weist der Name “Herkules auf seine
transzendente Göttlichkeit, “soll doch der griechische Gott Herakles, dem der
Amerikaner durch seine athletische Figur, seine ‘breiten Hünenschultern’ und seine
unbeugsame Kraft äußerlich gleicht, einst kurze Zeit das ganze Himmelsgewölbe
getragen haben.” Allerdings bleibt er der Widersacher Pateras, der mit der ‘Sonne’ der
Vernunft, des Fortschritts, der Wissenschaft, der Politik reformieren will und “die
große organische Einheit und Allverbundenheit”38 des Traumreichs zerstört.
Eine Notiz von wesentlicher Bedeutung, die nämlich Aufschluss über den Ursprung
der Figur Herkules Bell geben könnte, hat die Forschung bisher unberücksichtigt
gelassen. In Kubins autobiographischer Schrift “Aus halbvergessenem Lande” findet
man eine Stelle, an der sich Kubin eine Begebenheit aus seiner ersten Münchener Zeit
(1898-1904) ins Gedächntnis ruft. Er schreibt, wie er einmal spat abends ein kleines
Café betrat und sich zu einem zeitungslesenden Mann setzte:
Auf einmal fiel mir dessen großer, nach hinten stark ausgebuchteter Schädel, die
schmale, hohe Stirn, die seltsam nahe beisammen stehenden Augen auf: Ich sagte
mir: das ist kein harmloser Mensch, das ist die Verkörperung des Bösen, das ist Satan
selbst […] Nun versuchte ich tagelang das diabolische Antlitz mit dem Stift zu
umreißen. Meine Skizzen gelangen aber schlecht; bald entglitten mir die
Hauptverhältnisse des Kopfes, bald der suggestive Ausdruck des Mundes oder der
Nasenlöcher.39
Die Körpermerkmale des Herrn im Café weisen eine geradezu erstaunliche
Ähnlichkeit zu Herkules Bell auf. Nicht nur hat Bell eine “hohe, schmale, sehr kantige
Stirn”, sondern wenig später beschreibt der Erzähler auch, wie er aus nächster Nähe
sein “diabolisches Profil” beobachten kann. Die Vermutung lässt sich weitherhin
durch die Feststellung Kubins belegen, dass er “die schier unübersehbare Fülle
zeichnerischer Motive […] auf eine verhältnismäßig geringe Anzahl jugendlicher
37
Govinda, 1951: 15. Zit. Nach Hewig, 109
Ebd., 17, Zit. Nach ders.
39
“Aus halb vergessenem Lande” (1926), in: Aus meiner Werkstatt. Hrsg. v. Ulrich Riemerschmidt.
München, 1976: 24 (in der Folge: AmW)
38
21
Eindrücke zurückgeht, die immer wieder nach Gestaltung drängen.”40 Kubin verfasste
diese Schrift 1926; die Erinnerung geht auf die Zeit seines ersten Aufenthalts in
München zurück, die zwischen den Jahren 1898-1904 liegt, also etliche Jahre bevor er
die Andere Seite verfasste. Es drängt sich mithin die Vermutung auf, dass Kubin für
die Darstellung des Amerikaners auf eben diese Erinnerung zurückgegriffen hat; wo
seine ersten Versuche, die Figur zeichnerisch zu bannen, sich als vergeblich erwiesen,
ist es ihm diesmal gelungen. In Bezug auf die bildliche Gestaltung bekennt Kubin,
dass “im untergegangen Einst Geschauten” sich die “Bruchstücke des vielleicht erst
gestern Erlebten”41 mischen. Offenbar bedarf es der schöpferischen Phantasie Kubins
zuzeiten der Zwischenzeit, ein Bild aus der Erinnerung zur Reife zu bringen.
3.3 Patera und der Amerikaner, Vater und Sohn?
In der bisherigen Forschung ist über Kubins Vaterbindung viel spekuliert worden.
Schon Kubins guter Freund Oscar A.H. Schmitz betonte in einem dem Künstler
gewidmeten Essay “Die Beschwörung der Dämonen oder Alfred Kubin, der magische
Mensch” (1923) das persönliche Verhältnis zwischen Vater und Sohn Kubin. Für
Schmitz steht es außer Zweifel, dass die Figur Patera nach dem Vorbild des Vaters
gestaltet ist.42 Allerdings könnte das philosophisches System, in das Kubin in seinen
Jugendjahren das Prinzip des Vaters mit dem des Sohnes verknüpfte und die ganze
Weltschöpfung von dem Vater-Sohnproblem aus betrachtet, als möglichen Anlass zu
dieser Vermutung gelten. Kubin stellte sich vor,
[…] dass ein an sich außerzeitliches, ewig seiendes Prinzip – ich nannte es ‘den
Vater’ – aus einer unergründlichen Ursuche das Selbstbewusstein – ‘den Sohn’ – mit
der zu ihm unscheidbar gehörigen Welt schuf. Hier war natürlich ich selbst, ‘der
Ebd. Übrigens regt Kubin im Text “Der Zeichner” (1922) Künstler explizit an, seine Motive zu
wiederholen: “Ich empfehle den Zeichner, seine Motive abdwandelnd zu wiederholen […]” Kubin, A.
AmL: 58
41
“Aus halb vergessenem Lande”, in: AmW: 24
42
Schmitz bemerkt, dass Kubins Vater wegen seiner exotischen Erzählungen der Spitzname “der
Kaiser von Hinterindien” gegeben wurde. Schmitz, der in Patera den Vater Kubins sehen will, bemerkt,
dass Patera “zunächst durchaus ‘Kaiser von Hinterindien’ ist”, damit anspielend auf den Spitznamen
des alten Kubins. Zwar hat der pater sein Reich in Asien gegründet, doch die topographische Lage des
Traumreichs ist von der südostasiatischen Halbinsel weit entfernt: nach Angaben des Erzählers soll sie
in der Nähe Samarkands liegen, wo die Reise mit dem Zug endet und die letzte Strecke in der
Karawane in zwei Tagen zurückgelegt werden kann. (36)
40
22
Sohn’, der sich selbst, solange es dem eigentlichen, riesenhaften, ihn ja
spiegelreflexartig frei schaffenden Vater genehm ist, narrt, peinigt und hetzt. Es kann
also ein derartiger Sohn jeden Augenblick mit seiner Welt verschwinden und in die
Überexistenz des Vaters aufgehoben werden. Es gibt immer nur einen Sohn, und von
dessen erkennendem Gesichtspunkt aus konnte man vergleichsweise allegorisch
sagen, dass dieser ganze äffende und qualvolle Weltprozess geschieht, damit an
dieser Verwirrtheit der Vater erst Seine allmächtige Klarheit und Endlosigkeit merkt
– misst.43
Aus der Perspektive des Vater-Sohnverhältnisses ist Patera “der weltschöpferische
Vater, der in dessen widerspruchsvolle Welt geratene Traummensch ist der Sohn, der
nicht zum Vater finden kann, obwohl er ihm doch so nahe ist.”44 Schmitz zufolge ist
der Erzähler identisch mit dem Bild des Sohnes: “Zwar [ist] das Traumreich der
Traum Pateras […], aber doch nur innerhalb des Traums des Erzählers, der sich selbst
im Traum mit dem Sohn identifiziert; aber ist er denn nicht als Träumer identisch mit
dem Vater? Beide sind doch von ihm geträumt”.45 Auch Müller-Thalheim ist der
Ansicht, dass “der Herrscher des Traumreichs […] niemand anderer sein [kann] als
der Vater, wie er sich im Geist des Kindes darstellt.”46 Schon der österreichische
Psychoanalyst Hanns Sachs, hatte in einer frühen Rezension in der Zeitschrift Imago
darauf hingewiesen, dass Patera auf den Vater verweist, dem freilich weibliche Züge
nicht fehlen.47 Es liegt auf der Hand, die Schönheit Pateras auf einer ersten
Deutungsebene auf den Vater zu beziehen, den Kubin in seiner Autobiographie um
seine Schönheit preist. Die Bemerkung in einer seiner biographischen Notizen, dass
ihm seinen Vater als “Urbild […] männlicher Kraft und Schönheit”48 erschien, würde
“Selbstbiographie” (1911), in: AmL, 24f.
Schmitz, 1923: 126. Schmitz deutet auf die Unerreichbarkeit Pateras hin, der sich im Palast
verborgen halt. Er erkennt in das Vater-Sohnverhältnis die oberste Schichte des Roman: “Dreierlei ist
das Traumreich in Kubins Roman: in tiefster Schicht eine großartige Kosmogenie von der
Ursprünglichkeit des Mythos, in mittlerer eine gestaltensreiche Künstlervision, in der obersten Schicht,
der die Freudschule allein Realität zuschreiben würde, ein Spiegel des persönlichen Verhältnisses
zwischen Sohn und Vater Kubin.” Hewig darauf hin, dass Kubins Anlass zu dieser Namensgebung auf
eine Jugenderinnerung zurückgehen mag: “einer seiner Klassenkameraden, dessen Erscheinung er auch
bildlich eingefangen hat, trug den Namen “Patera”. Sie macht darauf Aufmerksam, dass im Besitz des
Hamburger Kubin-Archivs es eine Zeichnung aus dem Jahre 1896 gibt, die “eine gedrungene,
muskulöse Gestalt, die zwar nicht an Patera als den Herrscher des Traumreiches, wohl aber an Patera
als den Schüler erinnert.” Ebd.,75
45
Ebd., 127
46
Müller-Thalheim, W. K. Erotik und Dämonie im Werk Alfred Kubins. Eine psychopathologische
Studie. Wiesbaden: 1970: 38
47
Vgl. Sachs, 1912
48
Kubin, A. “Selbstbiographie” (I). In: AmL, 10
43
44
23
diese Annahme bestätigen. Immer wieder wird auch Patera als besonders schön oder
geradezu von griechischer Schönheit beschrieben. Andere Paralellen zum Vater
erkennt Müller-Thalheim in der Gegebenheit, dass der Erzähler Patera in Salzburg
kennengelernt hat, wo auch Kubins erste bewusste Begegnung mit dem Vater
erfolgte.49 Der Beruf des Vaters - er war Landmesser war - entspräche Pateras
Entwurf des Traumreichs. Zuletzt stellt die Autorin mit dem Alter des Vaters (geboren
1848) einen weiteren Bezug zum Traumland her, wo kein Gegenstand oder Haus vor
1860 enstanden sein darf. Im von den Einwohnern im regelmäßigen Rhythmus
besuchten Uhrturm erkennt sei Müller-Thalheim den Ausdruck einer nötigenden
‘Erziehung
zur
Reinlichkeit’,
und
“tiefenpsychologisch
formuliert:
anale
Fixierungen.” Unterwerfung an den Vater.50 Im Schluss des Romans soll Kubin die
vermeintliche Auseinandersetzung mit dem Vaterproblem und dem Geschlechtlichen
beschlossen haben:
“auf folgende, für ihn sehr charakterische Weise: ‘Das Phänomen Patera [Vater]
bleibt ungelöst. Der Amerikaner, [der ‘Sohnesanteil’, mit dem er sich zu
identifizieren wünscht, in mehrfacher Hinsicht sein Wunschbild] lebt heute noch und
ihn kennt alle Welt.”51
Auch Hank führt die phantastischen Elemente in der Anderen Seite auf die die
unbewusst erlebte Frühgeschichte des Autors zurück. Perle verweise, “bekanntlich das
Kleinod einer Muschel” auf “den Vorgang einer (Neu-)Geburt, Andeutung eines
uteralen Geschehens.” Eine kolossale Muschel, die der Autor im Traum beobachtet,
stelle der Wunsch nach symbiotischer Regression dar, “nach Eintauchen in die
Ununterscheidbarkeit der Nacht, in der jegliche Differenz – im gelatineartigen
Gewabbere – verschwunden ist.”52
Die Vater-Sohn-Problematik psychoanalytisch als wesentlichsten Gehalt der Anderen
Seite zu interpretieren, wie es etwa Sachs und Kraft53 versucht haben, greift sicher zu
kurz. Vielmehr ist Lippuner beizustimmen, der meint, Kubin habe “allerhöchstens in
einer ersten Verstehensschicht Vatergestalt und mit biographischen Gegebenheiten
49
Ebd., 7
Müller-Thalheim, 1970: 40
51
Ebd.
52
Hank, R. “Sanfte Apokalypse. Untergangsvisionen in der österreichischen Literatur der
Jahrhundertwende.” In: Literatur und Kritik 25 (Salzburg 1990), H. 241/242, S. 58-71 (66)
53
Kraft, 1990: 109-116
50
24
seines Autors verknüpft”. Ulrich Riemerschmiedt schreibt mit Recht, dass “das
Phänomen Kubin weder so losgelöst von Bindungen und so einfach aufzufassen, wie
die Neurologen das zu versuchen pflegen, noch zo kompliziert, wie es die
Psychopathologen […] für angezeigt halten.”54 Nicht zuletzt der Künstler selbst hatte
“bei allem Interesse für psychische Abläufe wenig […] für die so widerlichen
Psychoanalysierer [übrig]”55. In Anbetracht dessen muss man der Hinweis auf “die
Werke unserer so geistvollen Seelenforscher” (7) folgerichting als eine ironische
Anspielung auf Freud halten.
Zieht man aber Kubins eigene Aussagen in über Patera in Betracht, so stellen die
Ansprüche jener Autoren, deren Theorien auf psychoanalytischen Grundlagen fußen,
sich vor allem als eine Täuschung heraus:
[…] Patéra oder Pátera?? Ich spreche, für die andere Seite, so wie im Falle 1. aus –
das Urbild nannte sich wie Fall 2. ein Name der dem cechischen wohl entstammt –
während in der Zeitschrift Imago 1912
in der damals frühen Schule der
Psychoanalyse der Fall 1 herangezogen wird von einem Dr. Hans Sachs in seinem
Artikel wobei er meinte der Autor hätte ‘unbewußt’ das Vatersymbol schon im
Namen genannt – mir fiel damals, 1908, als ich’s schrieb aber nichts dabei ein - als
die Jugenderinnerung und ein gewisser Wohlklang des Namens wie ich diesen
aussprach –56
Zwar lässt sich das “Urbild” Pateras denn letztlich doch eindeutig auf den
Jugendfreund Claus Patera zurückführen, die Gemeinsamkeiten dürften aber somit
auch schon erschöpft sein. Geyer macht darauf Aufmerksam, das ein im KubinArchiv aufbewahrtes Aquarell mit dem Titel “Lothar Patera”57 kein “breitschultriger
Bursche” (7), sondern ein “eher schmächtiger Jüngling in Wanderkleidung”
darstellt.58
Riemerdschmiedt, O. Nachtwort zu “Aus meinem Leben.” Kubin, A. 1974: 212
Müller-Thalheim, 1970: 47 In Anbetracht dessen muss man der Hinweis auf “die Werke unserer so
geistvollen Seelenforscher” (7) folgerichting als eine ironische Anspielung auf Freud halten
56
Kubin an Carl Lange am 25.8.1941. Xerokopie im Kubin-Archiv. Zit. Nach Geyer, A. Alfred Kubin.
Träumer auf Lebenszeit. Wien, Köln, Weimar, 1995: 144
57
Abgeb. Bei Hoberg, 1990: 215.
58
Geyer, 1995: 144
54
55
25
3.4
Der Demiurg ist ein Zwitter: der Schlüssel zur Polaritätsdeutung
3.4.1 Patera der Todesgott
[…] die Eine, Eine glänze Sonne, das Ich, das nicht mehr zerspaltene, die Einheit des
eigenen Wesens, das ist im Grunde das Ziel aller Sehnsucht.59
Patera ist eine äußert komplexe Figur. Zunächst einmal, weil Ambiguität ein
charakteristisches Merkmal seines Wesens ist. Ansätze aus psychologischer,
philosophischer oder auch werkimmanenter Sicht reichen nicht aus, um die
Vielschichtigkeit Pateras aufzudecken.60 Dass Kubin sich dessen auch selbst bewusst
war, geht wohl aus folgender Erläuterung hervor: “Meine Gestalten sind weder auf
irgendeinen ästhetischen Kanon festgelegt, noch sind sie Karikaturen, sie entgleiten
jeder Formulierung […].”61 Selbstverständlich sind die zahlreichen biblischen
Hinweise in der Anderen Seite der Kubin-Forschung nicht entgangen. So sieht Geyer
in der in Gedanken ausgesprochenen Aussage des Erzählers, “Das ist der Herr, das ist
der Herr!”, wenn dieser sich in Pateras Gegenwart befindet, eine “unverkennbare”
Anspielung auf Christus. Überzeugender ist aber die Tatsache, dass Kubin in den
Linzer Vorstudien den Eintrag “Patera 50 Jahre alt” streicht und durch “33”, dem
Alter des gekreuzigten Christus, ersetzt.62 Auch vom Handlungsverlauf lassen sich
leicht Beziehungen zum alten und neuen Testament legen. Im Unglück, das der Stadt
trifft (im Kapitel “Hölle”), wie etwa die Insektenplage oder der Einbruch der Tiere in
der Stadt, spiegeln sich die bildlichen Prophezeiungen aus den Offenbarungen
Johannis. Andererseits ähnelt der endgültige Untergang des Traumreichs dem
Babylons. Weder mangelt es den Hauptpersonen an biblische Anspielungen. Patera ist
59
Huch, R. Blütezeit der Romantik. Leizpig, 1916, 1: 216. Zit. Nach Hewig, 1967: 25
Einen einfallsreichen Einstieg in die Vielschichtigkeit Pateras, der wohl die wichtigste Figur des
Romans ist, haben Petriconi und Schroeder erschlossen, indem sie nach traditionellem Muster die
Entschlüsselung von Personen und Örtlichkeiten auf literarische Vorlagen (Petriconi: Christus,
Schroeder: Gustav Meyrinks Golem) abstützen. Vgl. Petriconi, H. Das Reich des Untergang.
Bemerkungen über ein mythologisches Thema. Hamburg, 1958; Schroeder, R. A. Alfred Kubin’s “Die
andere Seite”: A Study in the cross-fertilization of literature and the graphic arts. Masch. Diss. Indiana
University, 1970.
61
“Dämmerungwelten” (1933), in: AmW, 41
62
An anderer Stelle belegt Geyer seine Ansicht, Kubin habe in der Anderen Seite das Lebensgefühl
der Dékadenz ausgeprägt. Er betrachtet die Christus-Assoziation als “Tribut an die DécadenceLiteratur, die mit Vorliebe christusähnliche Gestalten auftreten lässt.” Unerhellt bleibt aber die Frage,
inwiefern Patera sich als Christusfigur gerade in einem dekadenten Rahmen stellen lässt. Geyer, 1995:
145
60
26
der “Herr” und “Meister” (176), Bell gründet der Verein Luzifer (160), reitet auf
einem schwarzen Hengst (161) - ein traditionell satanisches Attribut63 - und hat dazu
auch ein “diabolisches Profil” (Ebd.). An späterer Stelle heißt es, dass “seine wuchtig
in zwei Höckern sich wölbende Stirn dem Gesicht etwas Teuflisches” geben. (218)
Während Patera die Sphäre des Todes zugehört, wird der Widersacher Herkules Bell
in die Nähe des Teufels gerückt. Geyer weist zu Recht darauf hin, dass hier indirekt
der philosophische Einfluss Schopenhauers und seiner Epigonen anklingt, die
propagieren, dass der Tod dem Leben vorzuziehen sei.64
Andererseits weist Patera verschiedene prägende Merkmale des Griechischen
Todesgottes Thanatos auf65. In diesem Kontext vor allem aufschlussreich ist die
Begebenheit, dass Thanatos in der Antike der Gott gerade des sanften Todes war. Er
wurde darum häufig zusammen mit Hypnos, dem personifizierten Gott des Schlafes,
abgebildet.66 In der Person Pateras vereinigt sich das von Lessing und Herder
propagierte geschwisterliche Verhältnis von Schlaf und Tod.67 Aus der Gegebenheit,
dass der Künstler und seine Frau während ihrer Reise spüren, dass sich ihnen eine
“immer stärker werdende Müdigkeit” bemächtigt, lässt sich den wachsenden Einfluss
des Traumherrschers erschließen.
Geyer macht noch auf ein weiteres Indiz Aufmerksam, aus dem Pateras Rolle als
Todesgott unverkennbar hervorgeht. Er deutet auf eine Aussage vom Friseur des
Traumlandes hin, der als der Philosoph des Traumlandes gilt. Dieser äußert sich
folgendermaßen:
Sehen Sie, der Raum wirbt um die Zeit; der Vereinigungspunkt, die Gegenwart, ist
der Tod; oder, was sich genau dafür setzen läßt, die Gottheit. (67)
63
Vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. v. E. Hoffman-Krayer u. Mitarbeit
zahlreicher Fachgenossen v. Hans Bächtold-Stäubli. Berlin/Leipzig: 1930/31, Bd. 3, 1746
64
Vgl. Schopenhauer, A.: “Ueber den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens”
In: Die Welt als Wille und Vorstellung II. Zürcher Ausgabe, Bd. IV: 576. Zit. Nach Geyer, 1995: 147
65
Hans Hinterhäuser zufolge sei Patera “kein anderer als der griechische Todesgott Thanatos”.
Hinterhäuser, H. “Tote Städte”. In: Fin de siècle. Gestalten und Mythen. München, 1977: 66
66
Brockhaus Enzyklopädie. 19. Aufl. in 24 Bd. 22. Bd.: Tep-Ur. Mannheim: 1986: 62
67
Nach Lessings Schrift Wie die Alten den Tod gebildet (1769) ist der Tod der Zwillingsbruder des
Schlafes. Im Nachtrag zu Leßings Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet? (1774) nimmt Herder
verschiedene kunsthistorische Nuancierungen vor betont den Bezug zum Christentum. Vgl. Lessing,
G.E. Wie die Alten den Tod gebildet. In: Werke. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. VI. München 1970;
Herder, J.G. “Wie die Alten den Tod gebildet?” In: Herders sämtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard
Suphan. Bd. V/ Berlin 1881.
27
Nach Geyer lässt sich daraus folgerichtig die folgende Gleichheitsbeziehung ableiten:
Gegenwart = Tod = Die Gottheit: “Die Diagnose aus Nietzsches Zarathustra, dass
‘Gott todt ist’, wird so umgedeutet zu ‘Gott ist der Tod.”68
Patera, der seine Untertanen bisher über ihre Träume gebannt hielt, büßt mit dem
Erscheinen des Milliardärs Herkules Bell zusehends an Macht ein. Wenn der
Amerikaner eine Kampagne gegen Patera eröffnet, schließt er in seiner Proklamation
nicht unzufällig die Warnung “Hüte sich jeder vor dem Schlaf!” (167) ein. Wohl trifft
er den Kern des Geheimnisses um Pateras Machts, wenn er die Traumländer mit den
folgenden Worten verständigt:
Ihr seid einer Massenhypnose verfallen! Keiner gehorcht mehr seiner eigenen
Vernunft! Nein, die fremde Suggestion in seinem Schädel hält er für eigene
Gedanken! (166)
Indem Bell dem Herrscher bekämpft, versucht er die Einwohner gleichsam aus ihrem
Schlaf aufzurütteln. Dementsprechend stellt der Erzähler fest: “Der Amerikaner, der
hat das wahre Leben!” (197) Geyer bringt die Wirkung Herkules Bells, die sich aus
der dialektischen Grundkonstellation des Romans erklärt, auf den Punkt: “Im gleichen
Maße in dem Patera den Pol des Todes repräsentiert, verkörpert Herkules Bell den Pol
des Lebens.69
Dem entspricht auch die Darstellung Bells Amerikaner als eine Personifikation des
aufklärerischen Fortschrittglaubens. Denn Luzifer ist nicht nur der gefallene Engel
und Widersachers Gottes, sondern auch der “Lichtbringer”. So ist der Satz “Euch fehlt
die Sonne, ihr Narren” als eine Bejahung des Fortschritts zu deuten. Allerdingst ist
Lippuner wohl zuzustimmen, wenn er bemerkt, dass Patera als Christusfigur “die
Rolle eines Zerstörers seines Reiches versagt [bleibt].”70 Weder ist er aber mit dem
Teufel gleichzusetzen, denn dieser kann als die “Verkörperung von Vernichtung und
Untergang nicht schöpferisch tätig sein.” Es sind genau diese traditionellen
Auffassungen, so behauptet der Autor, die Kubin “verkehrt und in den Zeichnungen
den Vertreter des Bösen als Schöpfer, in der ‘Anderen Seite’ den Erschaffer als die
68
Geyer, 1995: 143
Geyer, 1995: 146
70
Lippuner, 1977: 53
69
28
vernichtende Kraft dargestellt”71 hat. Im Amerikaner offenbart sich die Polarität im
Wesen Pateras:
Der janusköpfige ‘Herr’ ist in seine antithetischen Pole auseinandergesprungen. Die
innere Zerissenheit, die zuvor nur verhüllt sichtbar wurde, hat mit dem Erscheinen
des Amerikaners sinnfällige Gestalt gewonnen: Nunmehr ist Patera nur noch Eines
und Herkules Bell ist das entgegengesetzte Andere.72
Die innerliche Zerissenheit führt zwängsläufig den Untergang des Traumreiches
herbei. Auf der diesseitigen Ebene durchaus der Inbegriff des rebellierenden
Zerstörers, versinnbildlicht der Amerikaner auf der überweltlichen Ebene jedoch die
bejahende Macht des Lebens, die dem negierenden Prinzip des Todes gleichberechtigt
entgegentritt. Hewig folgert richtig, dass sich “[…] der Wille, der nicht will, und der
Wille, der will, feindlich und ewig unversöhnbar gegenüber stehen.”73
Es sei in diesem Verband auf das Proteusmotiv anzumerken, das Kubin im letzten
Kapitel benutzt. In einem letzten Endkampf zwischen Patera und Bell, das der
Erzähler als eine apokalyptische Vision in einem Traum erlebt, sind beide
Widersacher riesengroß gewachsen:
Patera und der Amerikaner verkrallten sich zu einer unförmigen Masse, der
Amerikaner war gänzlich in Patera hineingewachsen. Ein ungeschlachter, nicht
übersehbarer Körper wälzte sich nach allen Seiten. Dieses gestaltlose Wesen besaß
eine Proteusnatur, Millionen kleiner, wechselnder Gesichter bildeten sich an seiner
Oberfläche, schwatzten, sangen und schrien durcheinander und zogen sich wieder
zurück. (263)
Dieses Motiv wird von Kubin nicht nur an dieser Stelle verwendet. Bereits während
der ersten Begegnung mit Patera erweist der Herrscher sich als Proteusnatur, indem er
sein Gesicht in verschiedensten Formen verwandeln kann. In einem “chamäleonartig”
wechselndes “Mienenspiel”, gleicht sein Antlitz
71
Ebd.
Hewig, 1967: 109
73
Ebd.
72
29
blitzschnell […] nacheinander einem Jüngling – einer Frau, einem Kind – und einem
Greis. Es wurde fett und hager, bekam Auswüchse wie ein Truthahn, schrumpfte
winzig klein zusammen – war im nächsten Augenblick hochmütig gebläht, dehnte,
streckte sich, drückte Hohn, Gutmüdigkeit, Schadenfreude, Has saus – voll Runzeln
wurde es und wieder glatt wie Stein. (121)
Das Motiv wird während dem zweiten Treffen mit Patera abgewandelt wiederholt,
indem er sich in den Amerikaner verwandelt.74 Allerdings handelt es sich weniger um
den Hetzer Herkules Bell, der ja zum Übernatürlichen wenig Bezüge aufweist, als
vielmehr um eine ins metaphysisch gesteigerte Form jener, der in die Hohlform Patera
Gestalt annimmt. Das wahre Ich Pateras, das sich bis zum namenlosen Es verfremdet,
ist nicht das Ich des Menschen. Ein solches Ich kann sich unmöglich in einer einzigen
Erscheinungsform kristallisieren. Als “janusköpfiger” Herr und Meister des
kubinschen Traumreiches”, so erklärt Hewig, “wendet dem Zeichner jeweils diejenige
seiner beiden Masken zu, denen in ihr sich manifestierende Macht im Traumland
dominiert.”75 Daraus lässt sich auch der Zweifel des Erzählers erklären, der sich das
zweite Mal, das er Patera gegenübertritt, fragt, ob Patera überhaupt ein lebendiges
Wesen oder nicht vielmehr ein Geschöpf der Einbildungskraft ist: “Seine Augen
glichen zwei leeren Spiegeln, welche die Undendlichkeit auffingen. Mir kam der
Gedanke, dass Patera gar nicht lebe.”
3.4.2 “Die Klärung der Erkenntnis”: antithetische Weltauffassung
Nicht ohne Grund betont der Erzähler in der Anderen Seite immer wieder die Eigenart
von Pateras Augen.76. Im fünten Kapitel des zweiten Teiles besucht der Erzähler einen
einheimischen Stamm, die “Ureinwohner” des Traumreiches in der Vorstadt. Von den
“Im grell strahlenden Raum stand an der Stelle Pateras der Amerikaner vor mir…” (199)
Hewig, 1967: 82, 84
76
Dass das Auge eine wesentliche Faszination auf den frühen Kubin ausgeübt haben muss, geht wohl
aus der häufigen Verwendung dessen im Frühwerkt hervor. So trägt ein Götze in einem Werk mit dem
Titel “Heidnisches Opfer” (+- 1900) drei Augenpaare: ein weit aufgerissenes, eines mit
zurücktretenden, verschwimmenden Pupillen und schließlich eines, das zwar geöffnet ist, wie deutlich
sichtbaren Wimpernreihen beweisen, zugleich aber “zwei leeren Spiegeln” gleichen. In “Weihnacht”
(1899), “Die Gesegnete” (1903/05) und in Schande (+- 1900) sind die Augen, die den Menschen aus
dem Dunkel heraus anstarren, dargestellt. Schließlicht ist in “Das Grausen” (1903) eine letzte
Möglichkeit, da das Auge, im riesenhaften Augapfel des Seeungeheuers, sich verselbständigt und zum
gräßlichen, bannenden Ding wird, gestaltet. Vgl. Lippuner, 1977: 47
74
75
30
meisten Traumländern völlig ignoriert, regen diese “Blauäugigen” die Fantasie des
Künstlers an, die er beschreibt als “hochgewachsene, sehnige Gestalten”, “von
deutlich mongolischem Typus77”, “in mattorangegelbte Tücher gehüllt”. (143)78 Ihre
“leicht schräggestellten Augen”, deren Farbe “von strahlendsten Blau” ist, hält der
Erzahler für das schönste an diesen Menschen. (144). Durch alle Stadien der
Begegnungen mit Patera hindurch (Erinnerung an Schulzeit, Medaillon, Wiedersehen)
lebt der Erzähler in der Bannkraft Pateras Augen, immer wieder wird ihre Gewalt
hervorgehoben. Wenn sie am Schluss sogar eine blaue Farbe bekommen, schaffen sie
“den direkten Zugang zu jener Welt der immateriellen Kräfte, die den ‘Blauäugigen
zu Gebote stehen’”79.
Der Versuch, die “Philosophie der Blauäugigen” dem Leser klarzulegen, beansprucht
ein eigenes Kapitel. Zunächst sei auf das Bild hingewiesen, das der Autor der
Beschreibung der Blauäugigen eingefügt hat. (Bild 3). Offenkundig handelt es sich
hier um den indischen Gott der Weisheit und Intelligenz, Ganesha (Bild 4), der
überdies für Beginn und Veränderung steht und mit Schutz und Gelassenheit
verbunden wird. Nach Petriconi wäre Ganesha mit dem Brahma, dem “Sein an sich”
in Beziehung zu bringen. Petriconi folgert, die Blauäugigen stünden so nicht nur von
der Erzählstruktur der Anderen Seite her, sondern auch im philosophischen
Bezugsfeld,
zwischen Patera und dem Amerikaner, womit dann Kubins
Weltanschauung und der Bedeutungskern des Romans sich auf die Vorstellungen von
der indischen Dreifältigkeit abstützen.80
77
Ulrich Mävers bemerkt, dass die Weltabkehr der Buddhisten den Künstler schon früh fasziniert hat.
Kubin schreibt in seiner Autobiographie, dass er 1917 während einer zehntägige Krise sehr intensiv im
Buddhismus aufgegangen sein soll. Er hat sie genau beschrieben und damals wie später als einen
entscheidenden Wendepunkt seines Lebens bezeichnet. Die Tagebücher bestätigen die intensive und
fortwährende Auseinandersetzung Kubins mit Werken der östlichen Philosophie. Schon am 10. 2. 1903
teilte er Hans von Müller mit: “[…] Bin auf dem Wege Buddhist zu werden.” In: Arndt, 1980: 135f. ;
Kubin an Hans von Müller, München, 10.2.03. Nach d. Orig.; Zitat. Nach Hewig, 1967: 87. Auf das
Interesse Kubins an östlichen Religionen hat man immer wieder hingewiesen; ihre Bedeutung in der
Anderen Seite wird von Hewig (Hewig, 1951) ausführlich behandelt und Govinda (Govinda, 1951;
Hewig, 1967) widmet sogar ihre ganze Arbeit diesem Thema.
78
An einer späteren Stelle, wenn das Traumreicht bereits untergegangen ist, beoabchtet der Erzählen
einen Blauäugigen, dessen “Eirund des Kopfes” “wie aus Porzellan geform” ist und dessen “dünnen
durchsichtigen Nasenflügeln, dem schmalen, etwas abgedrückten Kinn” ihm “wie ein überfeinerter
Mandschuprinz oder wie ein Engel au seiner buddhistischen Legende” vorkommt. Die tiefe Ehrfurcht,
die die Blauäugigen dem Erzähler einflösen, grenzt an eine kniefällige Verehrung: “Seine schlanken,
langen Gelenke sprachen von äußerster Entwicklung der Rasse. Alles Haar war abgeschabt, und
vollkommen glatt spannte sich seine Haut.” (255)
79
Lippuner, 1977: 49
80
Petriconi, 1958: 105. Zit. Nach Lippuner, 1977: 76
31
In zweiten Teil des fünften Kapitels gelängt der Künstler zu den folgenden wichtigen
Erkenntnissen. Er sieht ein, dass alle Sinnesempfindungen an und für sich
austauschbar sind. Die fundamentelle Rolle der Einbildungskraft, auf die wir später
noch ausgiebig eingehen werden, unterstützt diesen Befund. Dieser Zusammenhang
ist die erste Denkkette. Die zweite geht von der erschreckenden Beobachtung aus,
dass “das Ich” einer Person aus “unzähligen ‘Ichs’” sich zusammensetzt. “Immer
mehr fühlte ich das gemeinsame Band in allem”, schreibt der Erzähler (147), nunmehr
im Stande, jeden Gegenstand aus einer Vielfalt von Anschauungen zu betrachten.
Dem folgt die logische Folgerung, dass am Ende das “Nichts” steht, aus dem die
Einbildungskraft wieder die Welt zu erschaffen vermag. (146f). Der Aufenthalt bei
den Blauäugigen führt somit einen Wendepunkt im Denken des Erzählers herbei und
leistet einen wichtigen Vorschub zum Verständnis vom Wesen Pateras. Der Satz “[…]
die Welt ist Einbildungskraft, Einbildung – Kraft.” (147) erinnert zwar immer noch an
eine “Welt als Wille und Vorstellung” der Schopenhauerschen Weltsicht81, von einem
statischen Weltbild ist aber keinesfalls die Rede mehr. In der Art und Weise, wie der
Erzähler seine Vorstellung eines vielfältigen Ichs zu umreißen versucht, wird
unmittelbar die Philosophie Nietzsches ersichtlich: wie Kubin verwarf auch er die
Vorstellung eines einheitliches, souveränes, sich selbst durchsichtiges Ich. Vielmehr
sei der Mensch als eine Vielheit zu betrachten; das bewusste Ich unter Kontrolle von
einem dahinter liegenden, leiblichen Selbst beherrscht.
Durch die Annahme von Dualitäten erscheint ein dynamisch bewegte Welt, die sich
zwischen der Einbildung und dem Nichts befindet. Das Böse im Traumreich (und in
der Welt überhaupt) ist nur als polarer Gegensatz zum Guten zu verstehen, das Nichts
als Gegensatz zum Vorhandenen:
“Allgegenwärtig war der rhytmische Pulsschlag Pateras, er wollte, unersättlich in
seiner Einbildungskraft, immer alles zugleich, die Sache – und ihr Gegenteil, die Welt
– und das Nichts. Dadurch pendelten seine Geschöpfe so hin und her” (147f.)
In seinem Hauptwerk “Die Welt als Wille und Vorstellung” betrachtet Schopenhauer die
Wirklichkeit eine Gegebenheit, die nur als die vom Menschen vorgestellte existiert: “Die Welt ist
meine Vorstellung.” Dieser These gemäß sind für uns die Dinge nur Erscheinung: “Da die Vorstellung
eine Verbindung des Subjekts mit dem Objekt ist, die nichts anderes als Erkenntnis ist, ist “alles, was
für die Erkenntnis da ist, bloße die Vorstellung. Hinter dieser verbirgt sich nach Schopenhauer aber
eine unerkennbare Existenz, die treibende Kraft des Universums, die er in Anlehnung an Kants “Ding
an sich” als “Wille” bezeichnet. Fortführend auf diese Auffassung lautet seine zweite These “Die Welt
ist Wille.” Vgl. Schopenhauer, A. Die Welt als Wille und Vorstellung. Zürcher Ausg., Werk I. Zürich,
1977: 29, 41.
81
32
Das Motiv des Pendelns im Werk Alfred Kubins erfordert allerdings eine nähere
Betrachtung, der wir den folgenden Abschnitt widmen.
3.4.3 Das Motiv des Pendels
Bereits Schopenhauer benutzte das Bild des Pendels, um zu veranschaulichen, wie der
Mensch zwischen den “letzten Bestandtheilen” des Lebens, “dem Schmerz und der
Langeweile” pendelt.82 Am gründlichsten hat sich Hewig mit dem Pendelmotiv
beschäftigt. Ihre Theorie, dass das Pendel das ständige Wechselspiel von Tod und
Leben versinnbildlicht, bietet eine wichtige Einsicht in das Denksystem Alfred
Kubins, die auch der Anderen Seite zugrunde liegt. Zunächst sei einmal
hervorgehoben, dass Kubin das Pendel nicht nur in Bezug auf einen “Willen zum
Leben” und “Willen zum Nichtleben” angewendet hat. Zum ersten Mal taucht die
Allegorie in einem Kontext auf, in dem eine solche Deutung fehl am Platz erscheint.
Nach dem Tod seiner Frau, wenn er Aufenthalt im Hause des Arzten Lampenbogens
findet und dessen Frau verführen will, stellt sich der Erzähler die Frage: “Beherrscht
unsere Natur etwa eine Art von Pendelgesetz?” (132)
Vielmehr als auf die Pole von Leben und Tod scheint der Künstler sich hier auf den
Freudschen Geschlechtstrieb83 zu beziehen, dem der Seelenforscher den “Todestrieb”
oder Thanatos als Antagonisten zur Seite stellte. Der Freudschen Traumdeutung
vorausgehend entwarf er 1883 einen Zyklus Radierungen, in denen ein Handschuh
zum Gegestand eines Fetischismus wird. Wie oben bereits angeführt wurde,
resultierte Kubins stärkster Impuls, den Laufbahn eines Künstlers einzuschlagen, aus
seiner Begegnung mit den Radierungen Max Klingers in der Münchner Pinakothek.
Kubin mag das Pendeln der dargestellten Figuren in der “Handlung” (1881) wohl mit
dem Sexuellen verbunden haben:
Dieses Pendeln der Figuren kann als Ankündigung des Grundthemas der ganzen Serie
mit rein formalen Mitteln verstanden werden: Es geht um Ambivalenz, um ein
82
Schopenhauer, A. Lichtstrahlen aus seinen Werken. Mit einer Biographie und Charakteristik
Schopenhauer’s. Charleston, 2009: 72
83
Vgl. 4.2.2
33
Einerseits-andererseits, das Schwanken zwischen Hoffen und Bangen, zwischen
Begehren und Verzicht.84
Auch im frühen bildlichen Werk hat Kubin das Bild des Pendelns als Symbol
merhmals verwendet. In “Das Pendel” (1903) (Bild 5) hängt ein Mann am Schwanz
einer Riesenschlange über einem dunklem, unausmessbaren Abgrund. Monika Arndt
deutet das Bild als “eine übergroße tierische Macht, deren Kräfte und Willkür nicht zu
beherrschen sind.” Werden und Vergehen werden also nicht als Kreislauf, sondern als
Pendelgesetz zwischen den Polen einer dialektischen Spannung von kosmischen
Ausmaßen angesehen.85
Das Nichts ist der Schöpfung gleichberechtigt nebengeordnet: aus dem Nichts entsteht
die Einbildungskraft, die wiederum vom Nichts “aufgefrissen” wird, “und wieder
fängt es von vorne an. Der Erzähler sieht ein, dass “in der Einbildungskraft und dem
Nichts […] der Urgrund liegen [musste]; vielleicht waren sie eins.”(148) Es liegt hier
der Schlüssel zum Verständnis Pateras Wesens: Patera und Herkules Bell erscheinen
zwar als einander bekämpfende antithetische Mächte, sie sind im Grunde jedoch eins,
dieser ist nur die andere Seite der ersteren. Petriconi hat zu Recht im Stamm der
Blauäugigen – an allem Wahnsinn unbeteiligt und vom Untergang bewahrt – ein
drittes, neutrales Lager erkannt. Schroeder zieht den Befund weiter, indem er
behauptet, dass sie auch die Achse, den Ruhepunkt des für Kubin so entscheidende
Pendelgesetzes darstellen. Deutlich tritt diese Erkenntnis während der zweiten
Audienz des Erzählers hervor, an deren Ende Patera in den Amerikaner verwandelt.
Das Gerücht, der Herrscher des Traumreichs soll sich angeblich in der Öffentlichkeit
gezeigt haben, erweist sich als eine trügerische Täuschung: man hat einen
“Wachspuppenkopf” für Patera gehalten: “Der Meister eine Mystifikation – nichts
weiteres!” (251), schließt der Erzähler.86 Folgerichtig muss, wenn die antithetischen
Pole des Nichts und der Einbildungskraft in einem Körper wirken, “jenseits aller
empirischen Gesetze – Lebendiges als tod und gleichzeitig als lebendiges
84
Kraft, H. Serie: Max Klinger, Ein handschuh (2): Handlung. In: aerzteblatt.de, Ausgabe August
2007: 346 <http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?src=&id=56566&p=> Artikel abgerufen am
12. Juni 2010
85
Bisanz, H. Alfred Kubin. München, 1980: 35
86
Geyer macht darauf Aufmerksam, dass in den Linzer Vorstudien zur Anderen Seite Kubin seinen
Protagonisten gar beobachten lässt, wie Patera “gegen sich selbst kämpfte.” Skizzenbuch. Original im
Oberösterreichischen Landesmuseum Linz, Inv.-Nr.Ha 6381, Bl. 66r. Zit. Nach Geyer, 153
34
erscheinen.”87 Einbildungskraft und Nichts markieren zugleich die übergreifende
Polarität von Leben und Tod. Tod ist allgegenwärtig in Pateras Körper: sein Anlitz
wird als “wächsern” beschrieben, seine Augen als “ausdruckslos und ohne Leben.”
Wie zuvor angedeutet, unterscheidet sich das Ich Pateras von dem der Menschen:
schließlich ist er eine Gottheit, daher unsterblich, als Phänomen bleibt er durchwirken,
auch wenn sein Leben körperlich beendet ist. Zu berücksichtigen sei hier das vorletzte
Kapitel, das die Bestattung Pateras durch die Blauäugigen beschreibt. Der Künstler,
der diese Szene aus einiger Entfernung wahrnimmt, stellt eine bedeutende
Veränderung in Patera fest: “Er hatte wieder etwas menschliches […] Die wächserne
tote Farbe war verschwunden, er erinnerte wieder an den Menschen, den ich auf der
Schule gekannt.” (266) Seine Augen haben “die letzte Spur des Unheimlichen
verloren” und “leuchten nunmehr in einem feuchten, dunklen Blau.” (268f.) Die
entstellten Züge Pateras weichen “dem erhabensten Ausdruck der Ruhe”(270). Der
Erzähler erkennt Patera wieder “gleich einem Götterbildnis der antiken Welt” (Ebd.),
dessen Körper “von einer unbeschreiblichen Schönheit” ist. Die Metamorphose, die
sich an Patera vollzieht, trägt den Schleier des Transzendenten: einmal in die Sphäre
der erhabenen Blauäugigen gerückt, drängt sich folgerichtig die Vermutung auf, dass
Patera gar nicht tot ist. Selbst der Leiche, die “wie aus einem geheimen
Kräfteüberschuss” (270) zu wachsen beginnt, zeigt noch ein letzte Spur von Vitalität.
(270) Geyer ist beizustimmen, wenn dieser das Wachstum der Leiche “eindeutig dem
Bereich des Lebens” zuordnet.88 Ein wichtiger Beleg für diese Annahme ist die
Schilderung des Felsensaals. Es handelt sich hier um die Wiederaufnahme eines
Themas, das Kubin in einer Folge mit dem Titel “Die ewige Flamme” (1901/02)
bereits dargestellt hat. Zunächst sei auf eine überaus auffallende Ähnlichkeit
hingewiesen, die eines dieser Blätter (Bild 6a) mit dem im Roman gedruckten Bild
aufweist (Bild 6b). Was uns aber weitaus mehr interessiert ist die Bedeutung, die
Kubin dem Motiv beimisst. In allen diesen Bildern aus der Folge kehrt ein
flammender Kessel im Mittelpunkt der Komposition zurück. Brockhaus beleuchtet
das Thema in einem weiteren Blickwinkel, der die Position Kubins innerhalb der
Tradition verständlich macht und somit einen tiefgründigen Eingang zu seinem
Schaffen ermöglicht:
87
88
Hewig, 1967: 83
Geyer, 1995: 152
35
die ewige Flamme darf als ein Symbol für den ewigen Mythos verstanden werden,
dessen die Zeit überdauernder Größe sich das Leben unterordnet. Feuer und Kultraum
gehören zum bevorzugten Motivschatz des Symbolismus. Ihre Bedeutung wechselt
von Fall zu Fall und wird nur aus dem Zusammenhang heraus verständlich. Dies ist
nicht anders bei Alfred Kubin […]89
Ein für alle Mal bestätigt dies unseren Erfund, dass Patera sowohl das Lebens- wie
das Todesprinzip verkörpert. “Vielleicht waren die Bläuäugigen die wirklichen
Herren, die durch magische Kräfte eine leblose Paterapuppe galvanisierten und das
Traumreich nach gefallen und das Traumreich nach Gefallen schufen und vergehen
ließen”(273) schreibt der Künstler ganz am Ende der Erzählung; eine Vermutung,
deren Richtigkeit zu bestimmen dem Leser überlassen wird. Festzuhalten ist
allerdings, dass im Stamm der Blauäugigen – an allem Wahnsinn unbeteiligt und vom
Untergang bewahrt – ein drittes, neutrales Lager zu erkennen ist. Schroeder macht auf
die Tatsache Aufmerksam, dass die Blauäugigen auch die Achse, den Ruhepunkt des
Pendelgesetzes darstellen; jenes “Mitte”, “dem eifriger als jemand anderen Kubin
selbst nachspürte.” 90
3.4.3
“Die Philosophie der Erlösung”: Philipp Mainländer und die Polarität
von Tod und Leben
In Kubins Verständnis des Todeswillens ist der Einfluss Philosophie Mainländers,
dessen Philosophie den jungen Künstler tief beeindruckte, nicht zu übersehen. 91 In
seinem Hauptwerk “Die Philosophie der Erlösung” (1884)92, nach Theodor Lessing
“das radikalste System des Pessimismus, das die philosophische Literatur kennt”,
verkündet Mainländer, dass dem menschlichen Dasein kein höherer Sinn innewohne.
Der “von der Erkenntnis, daß Nichtsein besser ist als Sein entzündete Wille” sei das
“oberste Prinzip aller Moral”93. In Anlehnung an Schopenhauers stellt er die These,
89
Brockhaus, C. Alfred Kubin: Das zeichnerische Frühwerk bis 1904. Hrsg. v. Hans Albert Peters.
Baden-Baden, 1977: 198
90
Schroeder, 1970: 70. Zit. Nach Lippuner, 1977: 76
91
Vgl. dazu Geyer, 1995: 87ff.
92
Mainländer, P. Die Philosophie der Erlösung. Erster Band, mit einem Vorwort zur Neuausgabe von
Winfried H. Müller-Seyfarth, Hildesheim/Zürich/New York, 1996
93
36
“dass wir zwar immer in der Gegenwart sind, aber stets auf Kosten oder durch den
Tod der Gegenwart […]”94 Schopenhauers Verständnis der Welt als Wille und
Vorstellung entnimmt Mainländer den Begriff des “Willens”, den er in den
Mittelpunkt seiner Weltanschauung rückt. Während Schopenhauer aber die
Auffassung vertritt, dass der “innere Gehalt”, das “Wesentliche”95 der Welt der Wille
zum Leben ist und den Pessimismus überwinden will, so behauptet Mainländer Welt
und Mensch seien “im tiefsten Grunde Wille zum Tode”.96 Der Mensch selbst, so
Mainländer, sei “im tiefsten Grunde Wille zum Tode, weil die seinen Typus
konstituierenden und ihn, durch Ein- und Austritt erhaltenden Ideen den Tod
wollen.”97 Mainländer führt den Gedanken der Entwicklung ad absurdum, indem sie
nicht zu einem „besseren“ Sein, sondern zum Nichtsein führt. Er vertritt somit eine
negative Teleologie, die deutlich von klassischen Denkweisen abweicht.
Mainländers Kosmologie nimmt die Form einer Lehre vom “Zerfall” an:
Die Bewegung des Weltalls ist die Bewegung aus dem Übersein in das Nichtsein. Die
Welt aber ist der Zerfall in die Vielheit, d. h. in egoistische, gegeneinander gerichtete
Individualitäten. Nur in diesem Kampf von Wesen, die vorher eine einfache Einheit
waren, kann das ursprüngliche Wesen selbst zerstört werden.
Die Parallele zur Anderen Seite ist unverkennbar: zunächst haben wir eindeutig
feststellen können, dass Herkules Bell zwar auf der Erzählebene unumstritten die
94
Ebd., 13
Schopenhauer, 1977: 347
96
Nach Mainländer soll den Entschluss Gottes, nicht mehr zu sein, sich im (unbewussten) Impuls eines
jeden unorganischen Elements bzw. Organismus, sich selbst zu vernichten, fortsetzen. Diese
zielgerichtete Bewegung bestimmt Mainländer als Willen, und da sie letztlich im absoluten Tod enden
soll, wird sie des weiteren als Wille zum Tode gefasst. Vgl. Mainländer, 1996: 55
97
Mainländer, 1996: 55. Die Paralelle zu Mainländers Weltauffassung – seine Werke mitsamt den
Anstreichungen und Zusätzen sind in Kubins Bibliothek nachzuvollziehen – zur Andere Seite ist nicht
zu übersehen. Brunn unterstreicht die wichtige Rolle, die Kubins Rezeption Mainländers im
Zustandekommen der Anderen Seite gespielt hat. Nach Brunn habe die durch Mainländer geöffnete
Möglichkeit der Lebensverneinung, “durch systematische Ausschweifung” Kubin fasziniert. Kubin
begründete überdies seine “buddhistische Krise” mit Mainländers Philosophie. (1875 schrieb
Mainländer das “Buddha-Fragment”, das das ganze Leben Buddhas vermittelt. Vgl. Gerhard, M. “Der
flammende Osten der Zukunft. Phillip Mainländer, der Buddhismus und das späte 19. Jahrhundert.” In:
Was Philipp Mainländer ausmacht: Offenbacher Mainländer-Symposium 2001. Hrsg. v. W.H. MüllerSeyfahrt. Könighausen, 2001: 39-47). In einem Brief an Salomon Friedländer stellte Kubin 1916
„Buddha, Schopenhauer, Mainländer“ in eine systematische Reihe. Vgl. Bahnsen, J. Der Widerspruch
im Willen und Wesen der Welt. 2 Bde.Princip und Einzelbewährung der Realdialektik. 2 Bände. Berlin
1880 und Leipzig 1882. Leizpig 1882; Cf. Brunn, C. “Ja warum kam ich selbst nicht länger dahinter!”
Zur Mainländer-Rezeption Alfred Kubins. In: Müller-Seyfahrt, 2001: 89-111 (248ff.) Zur
buddhistischen Krise Alfred Kubins, vgl. Raabe, 1957: 41ff.
95
37
Rolle des Widersachers Pateras vertritt, auf einer höheren Deutungsebene aber als der
aus ihm entstandene Gegenpol zu erkennen ist. Nach Mainländer soll Gott sich bei
seiner Schöpfungstat erschöpft haben, und langsam bis in seine letzten Atome
zerbröckeln. Einen vergleichbaren Prozess wird dem Halbgott Patera, der Architekt
und “Demiurg” des Traumreichs, unterzogen. Nicht nur der Widerstand gegen ihn
verstärkt sich; während des zweiten Besuchs des Protagonisten im Palast, bestätigen
verschiedene Hinweise den Befund, der Herrscher habe schon an Macht eingebußt.98
Der vermeintliche Alleinherrscher des Traumreichs trägt in der Weltauffassung des
Künstlers bereits den Keim einer Polarität. Es liegt mithin im Schicksal beschlossen,
dass Patera (“in Vielheit zerfallen”) einst einem Pendant begegnen wird, der
zwangsläufig den Untergang des Traumreichs herbeiführt. Besonders dem Endkampf
zwischen Patera und dem Amerikaner weisen verschiedene bemerkenswerte
Ähnlichkeiten zum Mailänderschen Zitat auf. Aus ihrer Gespaltenheit fügen sie sich
wieder zu einem Wesen – nach der Apokalypse kehrt das “Weltall” wieder in seinen
ursprünglichen Zustand zurück.
Es ist kein Zufall, dass auch Mainländer in seiner “Philosophie der Erlösung” das
Thema “Zivisilation” behandelt. Der Philosoph ist der Auffassung, dass die
Zivilisation selbst den Tod bringt.99 In seinem Entwurf eines “idealen Staates”
entfaltet Mainländer eine negative Utopie, die eine offenkundige Paralelle mit Pateras
Traumreich aufweist: auch hier ist “Untergang […] Utopie, erlösende Vernichtung
das letzte Ziel, um dessentwillen Patera sein gesamtes Spektakel inszeniert hat.”100
Hier wäre die Armut endlich beseitigt, nur „schönen Seelen“ bevölkertes dieses
Reich, die ihre Individualität weiter „veredeln“ möchten: „Es verbleiben mithin nur
vier Übel, die durch keine menschliche Macht vom Leben getrennt werden können:
Wehen der Geburt, sowie Krankheit, Alter und Tod jedes Individuums.”101 Ein
weiterer Textausschnitt, der die Gemeinsamkeit zwischen der Anderen Seite und der
98
Wo zuerst nur der im Palast wehende kalte Luft (119) ein möglicher Verweis auf den Tod ist,
schließt die Beschreibung das zweite Mal unverkennbar auf einen Zustand des Verfalls: “In den
verödeten, unbewohnten Räumen lagen zerbrochene Möbel, und eine dumpfe, ausgesprochen modrige
Luft hemmte mir den Atem. […] Zerwühlte Betten, herabgerissene Draperien, zugemauerte Fenster,
verglühende prunkvolle Öfen, verhängte Gobelins.” (198)
99
“Wie gebleichte Gebeine die Wege durch die Wüste, so bezeichnen die Denkmäler zerfallener
Kulturreiche, den Tod von Millionen verkündend, die Bahn der Zivilisation” Mainländer, P. Vom
Verwesen der Welt und anderen Restposten. Eine Werkauswahl, herausg. u. eingel. von Ulrich
Horstmann, 2. Auflage, Waltrop und Leipzig: 2004, 69
100
Brunn, 2010: 196
101
Mainländer, 2004: 72
38
“Philosophie der Erlösung” besonders anschaulich offenlegt, beantwortet die Frage,
ob die Einwohner dieses Landes glücklich wären:
Sie wären es, wenn sie nicht eine entsetzliche Öde und Leere in sich empfänden. Sie
sind der Not entrissen, sie sind wirklich ohne Sorgen und Leid, aber dafür hat die
Langeweile sie erfasst. Sie haben das Paradies auf Erden, aber seine Luft ist
erstickend schwül.102
Tatsächlich sind alle Traumländer – den Blauäugigen ausgenommen – Emigranten:
ihnen gemeinsam ist eine Unzufriedenheit mit der Heimat und die Voraussicht, im
Traumreich ein idyllisches, ja ein “zeitloses” Traumleben zu führen. Das eben ein
solches sie erwartet – man lebt gleichsam in Träumen, von einer Zeit ist nahezu keine
Rede - übertrifft auch ihre Erwartungen. Es bedarf keiner Erörterung, dass dieses
Leben dazu verurteilt ist, bald zu Langeweile zu führen. Die Ankunft des
Amerikaners, der aus dieser Lage schlau seinen Nutzen zieht, entlarvt das “Paradies
auf Erden” als eine Diktatur, Patera als einen Tyrann. Als eine wirklich verblüffende
Gemeinsamkeit wirkt Mainländers Beschreibung einer “erstickend schwülen” Luft:
genau eine solche soll im Traumreich vorkommen, und zwar ohne jemals zu
verändern.
Überaus aufschlussreich ist weiterhin die Begebenheit, dass der Fatalist Mainländer
den Menschen im Idealstaat kein “happy end” vergönnt: “Die ursprüngliche
Bewegung der Menschheit kommt im idealen Staat nicht zum Stillstand, sondern sie
geht weiter bis das Ziel erreicht ist – und das Ziel ist das Nichtsein.”103 Auch Patera
vermag den Fortschritt trotz aller Maßnahmen nicht zu hemmen; jenen Fortschritt, der
im Grunde dem Ende des Zyklus zusteuert, zusteuern muss, zur Katastrophe und zum
endgültigen “Nichtsein”. Zwar bereitet der scheinbare Tod Pateras das Entschwinden
seiner sichtbaren Erscheinungsform, nicht aber der in ihr sich manifestierenden
göttlichen Funktion: “Als die über die Immanenz hinausreichende Urkraft, die sich
ihrer Verkörperung wie einer Hülle entzog, bleibt er bestehen und wirkt unsichtbar
weiter.”104 Dem magischen Zirkel des Untergangs, dem der Zeichner entronnen ist,
wirkt in der “unwiderstehlichen Anziehungskraft des Todes-“Gottes” weiter (277). Im
102
Ebd., 74
Smiljanic, D. “Mainländers Anleitung zum glücklichen Nichtsein.” In: Beiträge zur geistigen
Situation der Gegenwart Jg. 6 (2005), Heft 4 < http://www.philosophia-online.de/mafo/heft20054/Smiljanic_Mainl.htm> Artikel abegrufen am 23. Juni 2010
104
Hewig, 1967: 180
103
39
Vergleich zu den Erlebnissen im Traumreich erscheint ihm das Leben nunmehr
“eintönig”. Zu “gar nichts mehr tauglich” erquickt dem Künstler “nur noch der
Gedanke an das Hinschwenden, an den Tod” (276) - die Endstation der Reise ins
Traumreich und die implizite Ankündigung eines künftigen Selbstmords.105 Es
leuchtet ein, dass der Bezug auf Depression und Selbstmord nicht auf einem Zufall
beruht. Wiederum hat Kubin eine biographische Begebenheit in den Roman
verwoben, und zwar eine besonders bedeutsame. Der gescheiterte Selbstmordversuch
aus dem Jahre 1896 ist nur ein Beispiel der zahlreichen Krisen und Stimmungen von
Depressionen, denen Kubin von seiner Jugendzeit an zeitweise unterworfen war. Die
Affinität zum Selbstmord, auffällig häufig eher nonchalant als ernsthaft dargestellt,
durchzieht das ganze Frühwerk106 wie auch die privaten Äußerungen der Frühzeit.
Der Tod, der dem Selbstmord unmittelbar folgen würde, sah Kubin allerdings weniger
mit Angst als mit einer (manchmal geradezu inbrunstigen) Hoffnung entgegen: “Auf
jeden Fall”, schreibt Kubin in einem Brief an die Schwester Maria, “[sei] der Tod eine
Erlösung […], - den sich jeder Gebildete in jedem Moment geben könne.-107 Um das
Jahrhundertwende notiert er, dass das ganze Leben “die langsame aber unendlich
genaue und gründliche Vorbereitung für diese einzige nicht gräßliche Handlung
ist.”108
Hier klingt direkt der philosophische Einfluss Schopenhauers an, der
behauptete, dass der Mensch dem Tod “schon durch die Geburt anheimgefallen” und
das Leben dementsprechend “ein fortdauernd gehemmtes Sterben” sei.
Mag Mainländer heutzutage nahezu in der Vergessenheit geraten sein, so ist der
Einfluss, den der Philosoph auf Zeitgenossen ausgeübt hat, unverkennbar: der
Todestrieb des späteren Freuds, den er in “Jenseits des Lustprinzips” vertritt, ist der
Philsophie Mainländers entnommen. Wenn Freud die These anstellt “das Ziel alles
105
Für Kubin war der Gedanke an Selbstmord ein fester Bestandteil seines Lebens. In seinem
Tagebuch des Jahres 1930 schreibt er:“Ich bin zum Selbstmord prädestiniert. Der Gedanke an ihn war
von jeher meine größte Freude. Aus ihm schöpfe ich auch noch heute meine besten Wonnen. Ich bin
überzeugt, dass mein ganzes bewusstes Leben die langsame, aber unendliche genaue und gründliche
Vorbereitung für diese einzige, nicht widerrufliche Handlung ist.” (Kubin, A. Dämonen und
Nachtgesichte. Dresden, 1926: 44. Zit. Nach Müller-Thalheim, 45f.) Dann aber schlug das Pendel
wieder ins andere Exträme aus, und wollte er “Ach nur leben leben auch noch sterben leben.” Zit. Nach
Hewig, 1967: a.a.O., 203
106
Vgl. “Selbstmord (I)” (1900/01), “Selbstmord (II) (1900/01), Haus der Selbstmörder (1911).
107
Raabe, P. Alfred Kubin. Leben, Werk, Dichtung. Im Auftrag von Dr. Kurt Otte, zusammengestellt.
Hamburg, 1957: 24
108
Ebd.
40
Lebens sei der Tod”109, so klingt darin unverkennbar der Pessimismus Mainländers
durch. Winfried H. Müller-Seyfarth zufolge, liest die Andere Seite sich “wie eine
Apotheose der Mainländerschen Geschichtsphilosophie.”110 Nach Mainländer strebt
die Welt dem Nichtsein, “dem absoluten Nichts” entgegen. An Seine Schwester Maria
schreibt Kubin, dass er “den Tod, das Nichts” als “das Ziel der Welt erkennt.”111
Allerdings äußere sich der “Wille zum Tode” paradoxerweise als sich stets
widerstreitender “Wille zum Leben”. Mainländer versteht ihn als “eine Tautologie
und eine Erklärung”. Er erklärt: “denn das Leben ist vom Willen nicht zu trennen,
selbst nicht im abstraktesten Denken […] wo Wille ist, da ist Leben und wo Leben
Wille.”112 Zwar stellen gleichzeitige Verneinung und Bejahung des Lebens einen
Gegensatz dar, doch beides gilt Mainländer als Mittel zum Zweck – dem Nichtsein.
Da die Welt “das einzig mögliche Mittel zum Zwecke”113 sei, bleibt dem Menschen
folgerichtig nicht anderes übrig als sich bis zur Auflösung zu schwächen und endlich
sich selbst und den ursprünglichen Schöpfergott vom Dasein zu erlösen, am
konsequentesten durch Suizid.114
Wenn es aber einen Ausweg aus dem Nichts gebe, so führt dieser bei Mainländer über
die Schöpfung. Der Philosoph folgert aus der These Julius Bahnsens115, der Mensch
sei nur ein sich selbstbewusstes Nichts ist, dass dann der göttlicher Doppelgänger, der
Werkschaffende bzw. Autor, eine Art schöpferisches Nichts ist: „Der Weise [...]
blickt fest und freudig dem absoluten Nichts ins Auge.“116 Dieser Blick, so
Mainländer, setzen bei ihm geistige Kräfte frei. Das Ungeheure dieses Anblicks
stachelt seinen Schaffenstrieb an und für einen Augenblick scheint das universale
Gesetz, von dem Mainländer spricht, außer Kraft gesetzt zu sein. Wer dem Nichts ins
Auge geschaut hat, ohne vor Schreck zu erstarren, der sieht sich gerade zum Schaffen
„verurteilt“ und, da er nichts zu verlieren hat, wagt er sich auf den (kurzen) Pfad der
109
Freud, S. Jenseits des Lustprinzips. Leipzig/Wien/Zürich: 1920 Da: Das Ich und das Es, 147
“Vorwort des Herausgebers”, in: Müller-Seyfarth, 2001: 15
111
Kubin an Seine Schwester Maria, 20.2.1904. Raabe, 1957: 26
112
Mainländer, 1996I: 358
113
Ebd., 325
114
Im Alter von 34 Jahren erhing Mainländer sich in seiner Wohnung. Ein Stapel am Vortage
eingetroffenen, druckfrischen Belegexemplare der “Philosophie der Erlösung“ dient ihm als Podest.
Bigalke, D. Rezension zu “Vom Verwesen der Welt und anderen Restposten - Eine Werkauswahl”. In:
Webcritics.de, 22. Sept. 2007 <http://webcritics.de/page/book.php?id=1389> Website abgerufen am
23. Nov. 2010
115
Der deutsche Philosophe Julius Bahnsen (1830-1881) gilt als der Begründer der Charakterologie
sowie einer real-dialektischen Methode der philosophischen Reflexion, die er in seinen zweibändigen
„Beiträgen zur Charakterologie“ (1867) entwarf und in seinen folgenden Arbeiten, unter anderen
seinem Hauptwerk „Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt“ (1880/82), weiterentwickelte.
116
Mainländer, 1996I: 499
110
41
(Er-)Schöpfung, der vielleicht auch derjenige der Erlösung ist.” Nicht zufällig
überwindet der Protagonist der Anderen Seite über ein ähnliches Verfahren die des
Nichts. Es sei hier auf jenen Teils des Romans hingewiesen, der vom Tod der Frau
des Künstlers handelt. Ihr Sterben lässt ihm tatsächlich das Nichts ins Auge schauen.
Es bemächtigt sich seiner eine dumpfe Lebensunlust: “Ich hoffte, auch mich würde
der Tod holen.” Der Verlust hat ihm die Boden unter den Füßen weggezogen, die
Beerdigung erlebt er “in einer Art Halbttraum” (129). Der Erzähler deutet auf einen
künftigen Selbstmord hin, indem er schreibt “den Todesstoß wie ein Schlachtochse”
zu erwarten. (139). Nur der schöpferische Drang hält dem Erzähler von seinem
Unterfangen ab. Es überfällt ihm bald ein “Arbeitsdelirium”, durch das er “im
nächsten halben Jahre […] unter dem Drucke des Schmerzes” seine “beste Sachen
produzierte.” (140). In Einklang mit Mainländer feiert Kubin die Schöpfung, indem er
schreibt:
“Sein [der Mensch, RB] Sinngeben ist eigentlich sein Tun, und in allen Bildern, in
allen Dichtungen, in aller Musik zeigt sich dieses Tun noch um die Fähigkeit, ein
dunkles Gefühl klar und zusammenhängen nach außen zu stellen, vermehrt.”117
Im Bild des Lebens-und-Todespendels, das “Schöpfungsergebnis eines wollendnichtwollenden
Demiurgen.”118,
lassen
sich
zudem
die
unaufhörlichen
Gefühlsschwankungen Kubins, denen der Künstler sich immer wieder ausgesetzt
empfand, fassen. Der Gott des Todes, dem der Erzähler nach seiner Rückkehr
unterworfen ist, hat nur eine “Halbherrschaft”: “im größten und im Geringsten teilte
er mit einem Widersacher, der Leben wollte.” (277)
Erinnern wir uns nochmals daran, dass nach Mainländer der Sinn des Lebens nur im
Tod liegt, so entsteht an dieser Stelle einen Widerspruch. Hat Kubin seinen großen
Vorbild zugunsten einer gemäßigteren Auffassung abgeschworen?
Auf dem Vorblatt zum Epilog hat Kubin ein Zitat Julius Bahnsens übernommen: “Der
Mensch ist nur ein selbstbewusstes Nichts.” (275) Eine Aussage, die Kubin noch zwei
Jahrzehnte später wiederholen sollte, als er in “Fragment eines Weltbildes” (1931)
schrieb: “Das Selbst ist einsam und übernah, vor allem ist es der Träger des
117
118
“Fragment eines Weltbildes”. In: AmW, 36
Hewig, 1967: 186
42
Bewusstseins”.119 Auch der letzte Satz des Epilogs, “Der Demiurg ist ein Zwitter”
(277) ist Bahnsens Realdialektik entnommen.120 Anknüpfend an Hegel und
Schopenhauer
entwickelte
Bahnsen
eine
pessimistische
Metaphysik
der
Widersprüche, die er als Realdialektik bezeichnete. In seinem Hauptwerk “Der
Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt” (1880/82) diagonistiziert Bahnsen ein
“bleibendes Nebeneinander der realen Widersprüche”121. Der Mensch lebt in einer
Zwiespalt, der sich sowohl in innerer Zerissenheit, als auch in den unvereinigbaren
Gegensätzen der erlebten Umwelt manifestiert.122 Diesem Zustand legt Bahnsen seine
Realdialektik, die fundamentale Widersprüclichkeit der erlebten Realität, zugrunde.123
Vielmehr als die vorgefunden Widersprüche zu beseitigen, geht es der Realdialektik
darum, “dieselben in ihrer Unüberwindlichkeit zu erfassen.”124
Clemens Brunn folgert richtig:
Da seiner “Realdialektik” gemäß Tod und Leben genau gleichstark sein müssen, mit
der Macht des einen auch die des anderen wächst, bis es zum Umschlag kommt, und
der Wille, in sich widersprüchlich, immer Leben und Tod zugleich will, kann es
Erlösung nicht geben.125
Betrachtet man die Bahnsensche “Willensmetaphysik”, welche die Vereinigung eines
Wollens mit einem widersprechenden Nichtwollen glaubt erkannt zu haben, so ergibt
sich, dass diese Anschauung sich eng mit dem in sich gespaltenen Schöpfer des
kubinschen Kosmos berührt. Tod und Leben, Einbildungskraft und Nichts, untrennbar
und wesenhaft mit einander verbunden. Patera, die Verkörperung der antithetischen
“Fragment eines Weltbildes”. In: AmW, 35
Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die philosophischen Vorbilder Alfred Kubins und
ihren Einfluss auf die Andere Seite noch eingehend zu behandeln Wie Hewig feststellt, führt die Linie
kubinverwandter Weltauslegung von der indischen Philosophie über Kants “Ding an sich”, über
Schopenhauers “Wille” zu Bahnsen, dessen “Realdialektik”besonders den Kubin der Anderen Seite
stark beeinflusste: “Die Bahnsensche ‘Willensmetaphysik’, ‘welche die Vereinigung eines Wollens mit
einem widersprechenden Nichtwollen glaubt erkannt zu haben’ (Bahnsen, 1882, nach Hewig), berührt
sich eng mit dem in sich gespaltenen Schöpfer des kubinschen Kosmos. (Vgl. Hewig, 87f.) Cersowsky
(1983), Brunn (2001), Lippuner (1977) und andere haben gezeigt, dass der Roman als quasididaktische Allegorisierung der synkretistischen Kunst- und Lebensphilosophie Kubins zu Lesen ist.
Winfried H. Müller-Seyfarth zufolge, liest die Andere Seite sich “wie eine Apotheose der
Mainländerschen Geschichtsphilosophie.”
121
Bahnsen, 1882: 5
122
“derselbe Zwiespalt, welcher die Menschenbrust zerreist, auch das Ganze der Welt durchsetze.”
Ebd.
123
Teymourian-Pesch,
124
Bahnsen, 1882: 5
125
Brunn, 2001: 103
119
120
43
Weltauffassung, ist nach diesem Muster gestaltet und eine dementsprechende
Erfahrung macht letztlich der Protagonist, wenn Tod und Leben mit einander um die
Herrschaft ringen. Oder, wie Nietzsche die symbiotische Beziehung der Antagonisten
in der Geburt der Tragödie auf den Punkt bringt: “Apollo konnte nicht ohne Dionysos
leben!”126 “Der Pol des Nichts braucht den des Lebens und vice versa, das Pendel
schwint hin und her.
Brunn führt im Hinblick auf den widersprüchlichen Bezugnahme der beiden
Philosophen die folgende Annahme auf,
die Konzeption Perles als eine nach nach Anleitung Mainländers eingerichtete,
todgeweihte
“Versuchsstation
des
Weltuntergangs”
dürfteursprünglich
einen
Hauptanreiz für das Romanprojekt gebildet haben, was dem Leser in dieser Direktheit
jedoch nicht zugemutet werden sollte und daher nur in “absichtlich dunkel
gehaltene[r] Formulierung seinen Ausdruck fand.127
Die Argumentation scheint stichhaltig zu sein, zumal im Kapitel “Klärung der
Erkenntnis” der Erzähler während seines Aufenthalts bei den Blauäugigen seinen
Pessimismus überwindet und zur Einsicht gelangt. Es liegt also nahe, in dieser Szene
eine biographische Verarbeitung Kubins eigener Entwicklung zu sehen, das heißt eine
endgültige Absage an die Philosophie der Erlösung. Indem Perle letztlich der totalen
Zerstörung anheim fällt, erweist sich die negative Utopie im Sinne Mainländers als
gescheitert. Eines ist allerdings noch einzuwerfen, nämlich dass die beiden
Philosophen, die einander ja diametral entgegengesetzt sind, schwer zu vereinigen
sind. Doch Kubin geht hier nicht anders als im ganzen Roman vor, indem er die
Doktrin abweist und den fiktionelle Raum des Romans erkannt, der eine derartige
Nebenordnung durchaus zulässt.
Der Schlusssatz erlaubt aber auch eine andere Interpretation aus einer der obigen ganz
entliegenen Perspektive, wie sie zum Beispiel Müller-Hemmo vorschlägt128. Ohne
dieser ohne weiteres beizustimmen, sei sie im Folgenden trotzdem ausgeführt (schon
deshalb,
weil
sie
einleuchtend
die
Ingeniösität
des
Demiurgen-Prinzips
126
Nietzsche, F. Die Geburt der Tragödie. KSA, Bd.1. Hrsg. v. Colli, G. u. Montinari, M. München,
1988: 40
127
Brunn, 2010: 196f.
128
Müller-Suur, 1980: 23
44
veranschaulicht). Der Autor hätte dann zu Beginn das pragmatische Ich mit einem
fiktiven Ich vertauscht, würde selbst zum Zuschauer und soll schon bald erkannt
haben, dass dieses Ich wie ein Doppelgänger die Züge des realen Ichs träge. Auch
dieses Ich lebt wiederum in einer fiktiven Welt, jenem vom Patera gestaltenen
Traumreich. Der Untergang dessen führt den Tod seines Herstellers herbei, das Ich
hätte die Apokalypse überstanden. Nach der Rückkehr in der wirklichen Welt spürt es
aber, dass dieses Zurückkommen immer noch nicht die Verwandlung in ein reales Ich
bedeutet. Vielmehr wäre dies ein Verharren in einem zweideutigen Zustand, im dem
das fiktionale Ich (auch wenn es sich als solches negieren will) nicht durch seinen
angeblichen Tod zur Eindeutigkeit einer realen Existenz und zu pragmatischen Leben
gelangen könnte. Auch als ein aus dem fiktiven Sein hinausstrebendes Ich bliebe es
gegenüber der realen Welt ein Fremdling, wie es schon zuvor ein Fremder im
Traumreich wäre, und sich seines “Graus” – das Licht und die Finsternis in Einem nicht entledigen könnte.
Allerdings verzichtet Müller-Suur darauf, seine Betrachtungen auf den Punkt zu
bringen. Aus den Zusammenhängen lässt sich nämlich Folgerung aufstellen: auf einer
ersten Ebene verweist der Demiurg auf Patera, den wir bereits als ein Zwitterwesen
entlarvt haben. Auf einer zweiten Ebene verweist er auf den Erzähler, ein fiktionales
“Ich”, der das Traumreich samt seinem Herrscher getraumt hat. Auf einer letzten
Ebene aber verweist der Demiurg, und dies hat Müller-Suur richtig eingesehen, auf
den Autor selbst:
Das nicht aufhebbare Anders-sein-und-bleiben des Protagonisten weist zurück auf
den Demiurgen, der es hervorgebracht hat, den Autor, und zeigt ihm von seinem
Kunstwerk her das Dilemma seines Künstlerseins.129
Nach Müller-Suur besage der Schlusssatz dass “der Hersteller von Kunstwerken, die
in der fiktiven Welt der Kunst ihr eigenes Leben gewinnen”, “normal und nicht
normal zugleich ist”, “weil er Künstler ist”.130 Treffender aber als jene vage Begriffe
des “normalen” und “abnormalen”, scheint uns die Empfindung des Künstlers, sich im
Schaffen janusköpfig wirksam zu sehen: er befindet sich in einem Grenzbereich, der
129
130
Ebd.
Ebd
45
ebensoviel “Wirklichkeit” als “Überwirklichkeit” ist – zwei Begriffe, die im Schaffen
wiederum eine Synthese eingehen..
3.4.4 Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Leben von zwei antithetischen Kräften,
der des Todes und der des Lebens, beherrscht wird. Beide sind einander ebenbürtig.
Der Tod entspricht dem Nichts, während das Leben der Einbildungskraft entspricht,
die sich aus dem Nichts über die Schöpfung darzustellen versucht. Zwischen diesen
beiden Mächten pendelt nun der Mensch hin- und her. “Der Mensch ist ein
Abenteuerer der Unendlichkeit jener ihn bedingenden unbekannten Mächte”, soll
Kubin später schreiben.131 Das notwendige Verhalten vom “schöpferischen Geist” des
Künstlers dem Polaritätsgesetz gegenüber ist “stets die Mitte zwischen den beiden
Polen ein[zunehmen], aber nicht etwa ängstlich einen vorsichtigen mittleren Kurs
einschlagend, sondern auf einer höheren Ebene keinem der zwei Pole ausweichend
und beide beherrschend.”132
In Kubins Weltauffassung pendelt der Mensch ständig hin- und her zwischen den
antithetischen Gewalten, denen er als “bewusstes Nichts” ohnmächtig ausgeliefert ist;
das Bewusstsein kann es bestenfalls bis zum Zuschauer der Tragödie bringen, ohne
aber gegen sie etwas ausrichten zu können: “die wirkliche Hölle liegt darin, dass sich
dies widersprechende Doppelspiel in uns fortsetzt.” Wird man zunächst noch von
einem “Willen zu Tode” ergriffen, so schwingt das Pendel im nächsten Moment schon
zur anderen Extremität, die Sehnsucht verwandelt sich zur Angst. “Ich gewann
während ihrer Verfassung die gereifte Erkenntnis,” schreibt Kubin später in “Aus
meinem Leben”, “dass nicht nur in den bizarren, erhabenen und komischen
Augenblicken, des Daseins höchste Werte liegen, sondern dass das Peinliche,
Gleichgültige und Alltäglich-Nebensächliche dieselben Geheimnisse enthält.” Mit
einem Schlussatz gleichen Inhalts beendet der Erzähler die Geschichte: “Die Liebe
selbst hat einen Schwerpunkt ‘zwischen Kloaken und Latrinen’. Erhabene Situationen
können der Lächerlichkeit, dem Hohne, der Ironie verfallen.” Auch das Tragische ist
nie ohne Humor, denn in der Verlorenheit liegt der Kern einer künftigen Erlösung und
im Tod ist der Keim neues Lebens vorhanden. Wenngleich Kubin sich weiterhin zum
131
132
“Fragment eines Weltbildes” (1931). In: AmW, 35
Schmitz, 1923: 42
46
Fatalismus bekannt hat, ist das Schicksal keine monolithische Übermacht mehr,
sondern es ist in zwei gegensätzlichen Gewalten aufgespalten worden, denn “der
Demiurg ist ein Zwitter.”
47
4.
Das Traumreich
Während des letzten Teils der Reise lebt der Erzähler in einem Zwischenzustand
zwischen Traum und Wachen. In einem schläfrigen Monolog sinnt er über das Wesen
des Wanderns nach. Bis zum letzten Atemzug ist das Leben eine Wanderung, auch
dann, wenn einer des Wanderns nicht mehr fähig ist:
“Manche gibt es, die schon weit herumgekommen sind und nicht mehr wandern
mogen, oder krank im Bette liegen, oder sonst nicht wandern können, die reisen bei
sich selbst im Gehirn, in der Einbildung, auch diese kommen oft weit, weit…” (41)
Für die Deutung, der Erzähler habe den ganzen Aufenthalt im Traumreich nur in
einem Traum erleben können, liegt an dieser Stelle ein erstes Indiz. Es ist dann auch
nicht verwunderlich, dass manche Interpreten den Roman als eine im Traum erlebten
Reise gedeutet haben.133 Im folgenden Kapitel beschäftigen wir uns mit dem Thema
des Traums in der Anderen Seite. Bevor wir der Anderen Seite eine eingehende
Untersuchung hinsichtlich der schöpferischen Verarbeitung des Traums unterziehen,
scheint es mir angemessen, die Aufmerksamkeit zunächst dem Künstler selbst
zuzuwenden, der die Bedeutung des Traums als unentberhliches Bestandteil seines
Schaffens in Schriften, Briefen und Tagebuchaufzeichnungen unterstrichten hat.
Allerdings hat auch die Forschung Kubins Auffassung zum Traum aufgegriffen und
(mit mehr oder weniger Nachdruck) in die Interpretation der Anderen Seite
einbezogen.
4.1 Der Traumkünstler Alfred Kubin
Das Leben ist ein Traum! Nichts scheint mir zutreffender wie dieses altbekannte
Gleichnis! […] Die Durchdringung all meinen wachen Fühlens und daher aller
Govinda interpretiert das Traumreich als “andere Seite des Bewusstseins”. (Govinda, 1951: 14)
Schroeder zufolge spiegelt sich bereits in der Gliederung des Romans die Struktur eines Nachttraums:
“’Der Ruf’ (the journey through sleep to dream), ‘Perle’ (the dream itself), and ‘Untergang des
Traumreichs’ (the dreamers gradual awakening). (Schroeder, 1970: 107) Auch Rhein glaubt, dass die
verschiedenen Stadia der Reise den Stufen der Wachsamkeit und den des Schlafes entsprechen. (Rhein,
P. H. The verbal and visual arts of Alfred Kubin. Riverside/CA: 1988, 95) Cersowsky hingegen gibt zu
bedenken, dass im Text “kaum genügend Anhaltspunkte, die eine Deutung der gesamten
Binnenhandlung als Darstellung eines geschlossenen Traumes des Zeichners legitimieren würden”, zu
finden seien. (Cersowsky, P. Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Kafka,
Kubin, Meyrink. München, 1989: 68)
133
48
Einzelempfindungen mit dem Element des Traumhaften war mit von jeher stärkste
Lockung.
Immer wieder hat Alfred Kubin mit ähnlich lautenden Wendungen die Bedeutung des
Traums für sein künstlerisches Schaffen unterstrichen.134 Als “introspektiver
Beobachter” spürte Kubin seit je dem Wesen des Traumes nach.135 Auf das Thema
der Träume und deren Wichtigkeit für das Werk Alfred Kubins hat die Forschung seit
je hingewiesen. So erkannte der zeitgenössische Kritiker Ferdinand Avenarius schon
frühzeitig Kubins Hang zur “Traumbildnerei”136 Wolfgang Schneditz hält das
Traummotiv sogar als “Untergrund des gesamten Kubinschen Werkes.” 137 Für
Anneliese Hewig ist “der Begriff Traum […] in seinem vielschichtigen
Bedeutungsgehalt der dem Weltbild Kubins gemäßeste”138 und als das “Schlüsselwort
zum Verständnis der Kunst Alfred Kubins” bezeichnet Wieland Schmidt den Traum.
Ohne Zweifel war Alfred Kubin in seinem ganzen Wesen ein “Traumkünstler”: in
diesem Begriff amalgieren sich nach Brandstetter, “drei verschiedene Elemente des
großen Generalnenners “Traum”. Zunächst ist da die lebenslange persönliche
Faszination Kubins durch psychischen Sensationen seines vielgesichtigen, oft visionär
gesteigerten Traumerlebens: 139 Weiterhin zu erwähnen ist der bewusste Einsatz nicht
nur von Trauminhalten, sondern auch von Traumbildungsmechanismen bei der
künstlerischen Arbeit. Schließlich kommt in Kubin die allgemeine Tendenz seiner
Zeit
zum
Ausdruck,
sich
der
“Nachtseite”
des
rationalen
Bewusstseins
134
Wie tief Kubin von diesem Gedanken ergriffen war, bezeugen seine Tagebücher, die in
mannigfaltigen Variationen stets diese Grundempfindung spiegeln: “[…] das Leben: ein wirrer
Traum.” “Ich will diesen Künstlertraum träumen, ich weiß, dass es ein Lebenstraum ist, ein
wandelbares Gespenst mit Gefühlsausdrücken […]” “Der Traum trägt mich diesem Ziel der
Meisterschaft entgegen.” Zit. Nach Hedwig, 1967: 56
135
Hewig macht darauf Aufmerksam, dass Kubin zeitweise systematisch stichwortartig ein
Traumtagebuch führte, sich regelmäßig Träume in seinen Tagebuchheften schrieb, die ihm ihrer
besonderen Eigenart wegen merkwürdig erschienen oder ihn stark und nachhaltig beeindruckten.”
Hewig, 36
136
“Und dennoch: dieser junge maler ist eine so interessante Erscheinung, dass ohne Not verliert, wer
ihn nicht beachten mag. Denn vielleicht noch keiner hat so unbekümmert wie er versucht, traummäßig
zu gestalten.” Avenarius, F. Traumbildnerei (1903) In: Brockhaus, 1977: 38
137
Schneditz, W. Alfred Kubin. Wien, 1956: 13
138
Hewig, 1967: 93
139
In “Rhythmus und Konstruktion schreibt Kubin: “Es sind Gesichte, suggestive Vorstellungen,
welche von Kindheit an in meinem Leben die Hauptrolle spielten.” Kubin, A. In: AmW, 60. In einem
aufschlussreichen autobiographischen Aufsatz mit dem Titel “Über mein Traumerleben” hebt Kubin
die Bedeutung nächtlicher Visionen zur Inspiration für sein künstlerisches Schaffen immer wieder
hervor. Zum Thema Traum in der Andere Seite,vgl. auch Brandstetter, G. “Das Verhältnis von Traum
und Phantastik in Alfred Kubins Roman ‘Die andere Seite”. In: Phantastik in Literatur und Kunst.
Hrsg. v. Christian Thomsen u. Jens M. Fischer. Darmstadt, 1980
49
zuzuwenden140. Als er eines der frühesten im Kubin-Archiv erhaltenen Aquarelle
seiner Schwester Frederike mit den Worten “Das Leben ist ein Traum, / Träume
glücklich!” widmete, dürfte der 20-Jährige sich dessen noch nicht bewusst sein, dass
er damit die “Grundstimmung des ausgehenden Jahrhunderts”141 zum Ausdruck
brachte. Für Kubins Schaffen ist daran zu erinnern, dass auch im grafischen Werk
Traum und Schlaf einen bevorzugten Platz einnehmen. Die Reihe der Zeichnungen
beginnt bedeutungsvoll mit “Jede Nacht besucht uns ein Traum”, das Kubin um 1900
zeichnete. Das Bild zeigt ein in grotesker Verzerrung gezeichnetes Bein und einen auf
einer kraterartigen Erdkruste (die Ähnlichkeit mit einer Gehirnmasse ist
unverkennbar) gestelltes Fuß. Zu erwähnen sind weiterhin die Zeichnung “Schlaf”
(1906), die Serien “Traumland I” und “Traumland II” (1992) und die “Träumer” im
“Orbis Pictus”. Wie oben bereits angeführt wurde, resultierte Kubins stärkster Impuls,
den Laufbahn eines Künstlers einzuschlagen, seine Begegnung mit den Radierungen
Max Klingers in der Münchner Pinakothek. Den Radierungen Max Klingers,
besonders der “Paraphrase über den Fund eines Handschuhs”, entnahm er
Wesentliches für sein eigenes künstlerisches Schaffen. Von den zehn Blättern dieses
Zyklus gestalten deren zumindest acht Traumerlebnisse.142
Schnittpunkt der eklektizistischen Affinitäten Kubins bei der Auswahl seiner
philosophischen, literarischen und bildkünstlerischen Vorlieben ist der Traum – in
einer sehr weiten, alle unbewussten, abseitigen und zerstörischen, aber auch
produktiven psychischen Kräfte umfassenden Bedeutung. Geradezu programmatisch
stellt Kubin in einem Vorwort zum von ihm illustrierten Band Neue Träume von
Friedrich Huch die über physiologisch-kathartische Funktion hinausweisende
Bedeutung des Traumerlebens für eine sensitivere Wahrnehmung der scheinbar
verbürgten Realität des Wachbewusstseins vor:
Das Wachsein sei unser Maßstab für den Traum! Es für ein mehr erstarrtes, lichter
gewordenes Schlafen zu halten, fühle ich mich fast gezwungen. Der, wie es schein,
bodenlose Abgrund zwischen diesen Reichen unseres Seelenlebens muss der Urquell
140
Brandstetter, 1980: 255
Kommentar bei Hoberg, 1990: Kat.-Nr.4
142
Die Spannung zwischen der sichtbaren Alltagswelt und der phantasmagorischen Traumwelt
bestimmt auch das Werk von Francisco de Goya, von dem Kubin tief beeindruckt war. Beispiele
hinzugefügt werden, etwa mit den “Caprichos-Blättern Nr. 34 (“Las rinde el sueno”: Der Schlaf
überwältigt sie) und 43 (“El sueño de la razon produce monstruos”: Der Schlaf der Vernunft bringt
Ungeheuer hervor), die das Motiv der Schlafepidemie und der Heimsuchung durch Träume gestalten.
141
50
alles Geschehens sein. Ein ungeheueres Rätselwesen äußert sich hier schöpferisch.
Seine ewigen Tiefen zerreißen und zersprühen im Oberflächenglanz. Beim Traum
packt uns die verblüffende Wandlungsfähigkeit, verbunden mit dem üppigsten
Reichtum aller erdenklichen Empfindungs- und Gefühlsüberraschungen. In den
höchsten Augenblicken des Wacherlebnisses wieder werden wir erschüttert durch
maßlose, überschwengliche Wunder einer im ersten Hinblick so handfesten Welt, die
auch gemächlichster Nachprüfung standhält.143
Der Traum stellt ein unentbehrlicher Bestandteil Kubins Weltauffasung dar. Ihm eng
verwandt ist ein Bereich, den Kubin das Zwischenreich nennt: “Meine Räume,
Beleuchtungen, Proportionen und Perspektiven sind weder in der Natur noch im Kopf
vorhanden, und sind doch eben im Zwischenreich der Dämmerung .”144 Nicht zufällig
handelt gerade die Andere Seite von einem Zwischenreich - nur mit dem wesentlichen
Unterschied, dass Kubin es dem Publikum zugänglich gemacht, die Phantasie zu einer
(angeblichen) Wirklichkeit gemacht hat. Innerhalb der Schranken der Wirklichkeit
wären die meisten Geschehnisse einfach unmöglich — aber gerade die Idealität des
Traumreichs läßt eine solche Abwandlung zu.
Das Begriffspaar “Wachen” und “Traum” und seinen Zusammenhang im Bereich der
Phantasie beschreibt Kubin bereits in den Linzer Vorstudien zur Anderen Seite, wenn
es heißt, dass “das sogenannte Wahre und die sogenannten Träume […] schließlich in
eines zusammen[fließen].”145. Der Traum gibt seinen Inhalt auf eine visuelle Weise
preis und ist daher eine visuelle Erfahrung. Im bildkünstlerischen Schaffen setzte
Kubins sich das Ziel, das Bild des Traumes in der Zeichnung festzuhalten.146 Immer
wieder muss der Künstler aber enttäuscht feststellen, dass nach Erwachen die
Traumbilder größtenteils verschwommen sind. Der Tatsache bewusst, dass das
Residuum allein, die “Trümmer und Fetzen” des Traums noch keine neue Schöpfung
ergeben, übernimmt er die Rolle eines Komponisten, indem er “die zart
auftauchenden Fragmente so [zusammenfügt], dass sie ein ganzes ergaben.” Das
Kompromiss lässt ihn in das Wesen des Traumes eindringen, denn “die kaum
bestimmbaren Gesetze wurden nun meiner dem Tag abgewandten vertieften
Sinnlichkeit immer fühlbarer und fassbarer und endlich Mittel zur Darstellung.”
“Vorwort” zu Friedrich Huch, Neue Träume”, in: AmW: 172
“Dämmerungwelten”, in: AmW: 41
145
Skizzenbuch. Original im Oberösterreichischen Landesmuseum Linz, In.-Nr. Ha 6380, Bl. 28r.
Nach Geyer, 1995: 105
146
“Über mein Traumerleben.” In: AmW: 7
143
144
51
[Hervorhebung von mir].147 Zwar bezieht sich Kubin hier in erster Linie auf sein
bildkünstlerisches Schaffen, das Prinzip aber lässt sich entsprechend im literarischen
Bereich anwenden und so dürfte auch die Andere Seite als Ergebnis einer durch diese
Gesetze fruchtbar gemachten Phantasie betrachten werden; als eine Leistung der
“schöpferischen Einbildungskraft” schlechthin.
4.2
Traum und Literatur
Erst mit Hilfe des analytischen Verständnisses der Traumarbeit und der Erkenntnis
des Unbewußten ist es möglich, den parallelen Zusammenhang von Traum und
Dichtung in der Anderen Seite aufzudecken. Eine nähere Erläuterung der
psychologischen und literarischen Auffassung des Traums soll eine Einsicht in die
Mechanismen sowie in den Sinn und Gehalt der Traumbildungen verschaffen.
Außerdem soll sie ein besseres Erfassen des nahestehenden künstlerischen
Schöpfungsprozesses gestatten.
4.2.1
Sigmund Freund und die Traumdeutung
Der Mensch ist nicht Herr seiner selbst.
Nicht verwunderlich löste diese Bemerkung des österreichischen Seelesforschers
Sigmund Freud ein heftiges Kritik der zeitgenössischen Gesellschaft aus. Aus dem
vorigen Kapiteln ist hervorgegangen, dass auch Kubin das menschliche Gefühlsleben
abhängig von einer höheren Macht sah. Wie Kubin sein “Ich” aus mehreren “Ichs”
zusammengesetzt sah, so unterschied, auch der Begründer der Psychoanalyse das
“Ich” zwischen mehreren Instanzen unterschied (“Ich”, “Es”, “Über-Ich”). Die
Ursache extremer Gefühlsschwankungen, des Willens oder auch der Angst zum Tod,
suchte Kubin aber nicht in den Trieben des Unterbewusstseins, sondern er sah sie in
einem übermächtigen Pendelgesetz begründet. Mit dem Satz “beherrscht unsere Natur
etwa eine Art Pendelgesetz?” betonte Kubin in der Anderen Seite die Ohnmacht des
Individuen gegenüber die unberechenbare Natur der Pendelbewegung. Der Mensch
147
Ebd.
52
findet sich auf Lebenszeit ständig mit den antithetischen Kräften, namentlich denen
des Lebens und Todes, konfrontiert und immer schwingt das Pendel von einer
Extremität zum anderen. Viele Jahre später führte auch Freud den Todestrieb
(Thanatos) in die Psychoanalyse ein, die – wie bei Kubin – seinen Gegenpol in den
Lebenstrieben (Eros) findet.
Im Bereich des Geistlichen hatte Kubin mit dem Geistesforscher nicht nur die
Vorstellung unbeherrschbarer Mächte oder der Todestrieb gemeinsam. Im Jahr 1900 –
kurz vor Kubin die Andere Seite schrieb – erschien Freuds “Traumdeutung”. In
diesem epochalen Werk machte Freud den Traum zu einem wichtigen Bestandteil der
psychoanalytischen Theorie. Dort nämlich äußern sich Erfahrungen, Empfindungen,
Bedürfnisse, die der Mensch aus irgendeinem Grund den Zugang zum Bewusstsein
verwehrt. In der “Traumdeutung” vertritt Freud die These, der Traum sei eine
Befriedigung eines verdrängten Triebwunsches.148 Verdrängten und tabuisierten
Wünsche treten in in den Träumen treten in symbolisch verkleideter Form auf,
drängen ins Bewusstsein, werden von diesem zunächst abgewehrt und dann erfüllt.
Die Traumdeutung selbst ist eine psychologische Technik, mit Hilfe derer es möglich
ist Träume zu deuten. Bei Anwendung dieses Verfahrens stellt sich jeder Traum als
ein sinnvolles psychisches Gebilde heraus.
In der Psychoanalyse Freuds wird behauptet, dass Träume zwei Inhalte haben, den
manifesten Inhalt und den latenten Inhalt.149 Als manifester Trauminhalt wird in der
Traumdeutung das bezeichnet, was von einem Traum auch nach dem Erwachen in
Erinnerung bleibt. Der latente Inhalt besteht sind in der Regel aus unbewussten
Wünschen, die aus diesem oder jenem Grunde von der “Traumzensur” nicht zum
Bewusstsein zugelassen werden.150 Freud meinte, dass wir mit Hilfe der Träume die
Fähigkeit besitzen, das Unbewusstsein zu verstehen.
“Der Traum ist eine Wunscherfüllung.” Freud, S. Die Traumdeutung. Leipzig/Wien: 2005.
Faksimile d. Orig.Ausg. hrsg. von Deuticke, F. (1900) (85-92)
149
Ebd., 94
150
Freud schreibt: “Gerade die Wunscherfüllung hat uns bereits zu einer Schilderung der Träume in
zwei Gruppen verteilt. Wir haben Träume gefunden, die sich offen als Wunscherfüllung gaben; andere
deren Wunscherfüllung unkenntlich, often mit allen Mitteln versteckt war. In den letzten erkannten wir
die Leistungen der Traumcensur.” Ebd., 325
148
53
Nach Freud ist die Hauptfunktion des Traum die des “Hüters des Schlafes”. Da die
Benennung sich auf einen Vergleich stützt, handelt es sich im Grunde um eine
Metapher, die von Freud folgendermaßen erläutert wird:
Er [der Traum] verfährt dabei auch nur wie der gewissenhafte Nachtwächter, der
zunächst seine Pflicht tut, indem er Störungen zur Ruhe bringt, um die Bürgerschaft
nicht zu wecken, dann aber seine Pflicht damit fortsetzt, die Bürgschaft selbst zu
wecken, wenn ihm die Ursachen der Störung bedenklich scheinen und er mit ihnen
allein nicht fertig wird.151
Einerseits werden äußere Reize in den Traum so eingebaut, daß sie nicht zum
Erwachen führen. Andererseits erfüllt er diese Rolle durch die Erfüllung unbewußter
Wünsche. Er übersetzt die unbewussten, verdrängten Wünsche des latenten
Trauminhalts in das geträumte Bilderrätsel des bewusstseinsfähigen manifesten
Trauminhaltes. Erfährt der verdrängte bzw. unbewusste Wunsch des Traums eine
ungenügende Entstellung, so wird er zum Angstauslöser und führt folgerichtig zum
Aufwachen. Wird er aber verhüllt, so beinhaltet der Traum eine Wunscherfüllung, die
der Träumer als ein real erlebt. Freud merkt an:
Der Traum schafft eine Art von psychischer Erledigung für den unterdrückten oder
mit Hilfe des Verdrängten geformten Wunsch, indem er ihn als erfüllt hinstellt.152
Da der Traum des Schlafenden sich nunmehr erweitern und der Schlaf fortgesetzt
werden kann, erfüllt der Traum seine Funktion als “Hüter des Schlafes”.
Mithilfe des Studiums der Traumarbeit ist es möglich, alle Veränderungen des Es zu
beobachten, die aus der Aufdrängung von unbewusstem, ursprünglichem Es-Material
gegenüber dem Ich resultieren, wobei das Es vorbewusst und durch das Abwehren des
Ich eine Wandlung erfährt, die Freud als Traumentstellung bezeichnet.
Der Vorgang der Verwandlung vom (bereits existierenden) latenten zum (im Traum
erlebten) manifesten Trauminhalt bezeichnet Freud mit dem Begriff “Traumarbeit”.153
Damit der eigentliche Gehalt dem Bewusstsein des Träumers verschlüsselt bleibt,
Freud, S. „Über den Traum“. In: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hrsg. v. A. Freud
[…]. 7. Aufl. Frankfurt a. M.: 1987, Bd. 2/3: Die Traumdeutung/Über den Traum, 694
152
Ebd., 693
153
Ebd., 654
151
54
bedient der Traum sich bestimmten Mechanismen (Verdichtung, Verschiebung und
Symbolik) für die Traumarbeit.
Auf eine bildkünstlerische Ebene übertragen hieße dies, dass die Arbeit des Künstlers
sich der Traumarbeit anschließt. Den Traum als Ausgangspunkt künstlerischen
Schaffens zu benutzen wirft aber gewisse Probleme auf. Es besteht die Gefahr, dass
der Künstler seine Aufmerksamkeit dem latenten Trauminhalt zuwendet und durch
selbstanalytische Eingriffe, Ahnungen und Rationalisierungen das Traumbild
verfälscht.154 Andererseits gehört das künstlerische Schaffen viel mehr dem Bereich
der Intuition, als dem der Wissenschaft oder der Philosophie zu. In einer
idealistischen Auffassung - und die frühen Surrealisten können mit Recht als
Idealisten bezeichnet werden - sei die Intuition als eine völlige Ausschaltung der
Vernunft zu verstehen, das heißt, “als reine Subjektivität”. Betrachtet man aber das
Subjektive vom Standpunkt des Materialismus aus, so ist das Subjektive selbst
objektiv. Dementsprechend würde dann das Unterbewusstsein selbst einer
innewohnenden Logik folgen, die rational erfassbar ist.
Freud selbst hielt zunächst wenig von der Kunst des Surrealismus. In der Hoffnung
auf eine Annäherung an Freud reiste André Breton 1921 nach Wien ab. Da Freud aber
höchst konservative Vorstellung im Bereich der Kunst hegte, führte die Begegnung zu
einer bitteren Enttäuschung für Breton. Bei einem in London gelang es Salvador Dali
allerdings, Freud ansatzweise von der surrealistischen Malerei zu überzeugen. An
seinen Freund Stefan Zweig schrieb Freud, dass er bis den Besuch “geneigt [war], die
Surrealisten […] für absolute […] Narren zu halten.” “Der junge Spanier hingegen”
soll dem Skeptiker “eine andere Schätzung nahegelegt” haben. Er gesteht: “Es ware in
der Tat sehr interessant, die Entstehung eines solchen Bildes analytisch zu
erforschen.”155
4.2.2
Der Traum in der Dichtung der Romantik
Allerdings war Freud nicht der erste, der sich eingehend mit dem Wesen des Traums
befasste. Außer Freud kommt noch eine Vielzahl anderer Quellen in Betracht, aus
154
Vgl. Passeron, R. Phaidon Encyclopedia of Surrealism. Oxford/New York: 1978: 54
Brief von Freud an Stefan Zweig vom 20. Juli 1938. In: Zweig, S. Über Sigmund Freud. Porträt –
Briefwechsel – Gedenkworte. Frankfurt a. M, 1989: 183
155
55
denen Kubin seine Einfälle möglicherweise geschöpft haben könnte. Über den Traum
als geheime Wunscherfüllung finden sich schon einige Hinweise in Schopenhauers
Schrift “Transcendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichtkeit im
Schicksal des Einzelnen”.156 Ohnehin ist die Wirkung des “Philosophen des Willens”
auf Freud und den Bereich der Psychoanalyse unverkennbar.157 Tatsächlich nennt
Freud in einem Aufsatz “Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse” Schopenhauer als
Vorläufer der Psychoanalyse:
Es sind namhafte Vorläufer als Vorgänger anzuführen, vor allem der große Denker
Schopenhauer, dessen ‘unbewusster Wille’ den seelischen Trieben der Psychoanalyse
gleichzusetzen ist.158
Die größte Anregung für seine Theorie erhielt Freud aber von Friedrich Nietzsche,
der, wie oben bereits angemerkt, auch einen wesentlichen Einfluss auf den jungen
Kubin ausgeübt hat. In der Tat findet man, wie Thomas Mann in “Freud und die
Zukunft” (1936) richtig feststellte, “[…] bei Nietzsche überall Freud’sche Einsichten
vorweggenommen.”159 Nach Nietzsche sei der Mensch von Trieben, Leidenschaften,
Begierden, von der Sexualität und vom Leib bestimmt. Auch für Nietzsche war das
“Unbewusste” eine geläufige Vorstellung. Mit seiner Unterscheidung von
“dionysisch” und “apollinisch” nahm er im Grunde den psychoanalytischen
Dualismus vom “Es” und dem “Ich” kongenial vorweg. Den Begriff des “Es” hat
Freud später in bewusster Anlehnung an Nietzsche übernommen.160 Hervorzuheben
bleibt noch, dass in der Philosophie Nietzsches die menschliche Vernunft eine
untergeordnete Position zugewiesen bekommt. In der Auffassung, die an Stelle der
Vgl. Rank, O. “Schopenhauer über den Wahnsinn”. In: Zentralblatt für Psychoanalyse, 1. Jahrgang
1912, 69 ff. Zit. nach Gasser, R. Nietzsche und Freud. Berlin, New York: 1997: 68
157
Christian Godin zeigt Schopenhauers Einfluss auf Freud richtig auf: “Die Seiten, die Schopenhauer
der Sexualität als einer blinden Kraft widmet, die nur ihre Selbsterhaltung durch das Individuum und
durch den Raum sucht und die sich in den ätherischen Vorstellungen von Liebe manifestiert, sind von
einer derartigen Klarheit, dass man darin viele Gemeinsamkeiten mit der Lehre Freuds über das
Unterbewusstsein und über die Verdrängung und Subliemierung feststellen wird.” Godin, C. Die
Geschichte der Philosophie für Dummies. Weinheim, 2008: 422
158
Freud, S. “Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse”. In: Gesammelte Werke in 18 Bdn. Hrsg. v. Anna
Freud. Imago Publishing Co., Ltd., London, Fischer Verlag, 1948. Bd. XII., 12. zit. nach. Salin, 2008:
59
159
Mann, T. “Die Stellung Freuds in der mod. Geistesgeschichte”. In: Gesammelte Werke in zwölf Bd.
Frankfurt a. M., 1961. Bd. X, 277
160
“Der größte Theil unseres Wesens ist uns unbekannt […] Wir haben ein Phantom vom “Ich” im
Kopfe, das uns vielfach bestimmt. Nietzsche, F. Samtliche Werke in 15 Bden., hrsg. v. Colli, G.;
Montinari, M. KSA, 1964. W8. Herbst 1878 32 [8], 561. zit. nach Salin, S. Kryptologie des
Unbewussten: Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland. Würzburg 2008, 58
156
56
Vernunft den Trieb, die Begierde und Leidenschaften, kurz das “dionysische” oder
“traumhafte” als die Zentralinstanzen des Menschen sehen will, lässt sich mithin eine
Linie von Nietzsche, zu Freud und schließlich zu Kubin ziehen.
Eine weitgehende intuitive Vorwegnahme der psychoanalytischen Traumlehre ist der
mit
“Erleben
und
Erdichten”
überschriebenen
Abschnitt
aus
Nietzsches
“Morgenröte”, wo der Traum als Mittel der halluzinatorischen Triebbefriedigung
erkannt ist. Etliche Jahre vor Freuds Traumdeutung stößt Nietzsche auf die Konzepte
der Verdrängung, der Verschiebung von Affekten oder ihrer Sublimierung. Die
Begriffe, mit denen er sie benennt, sollen später von Freud zur psychoanalytischen
Terminologie umetikettiert wurden.161 Über die Beziehungen des Traumes zum
Wachleben schreibt er in “Jenseits von Gut und Böse” (1886):
Was wir im Traume erleben, vorausgesetzt, daß wir es oftmals erleben, gehört zuletzt
so gut zum Gesamthaushalt unserer Seele wie irgend etwas wirklich Erlebtes: wir
sind vermöge desselben reicher und ärmer, haben ein Bedürfnis mehr oder weniger
und werden schließlich am hellen lichten Tage und selbst in den heitersten
Augenblicken unseres wachen Geistes ein wenig von den Gewöhnungen unserer
Träume gegängelt.162
Dass Nietzsche nicht vor den Konsequenzen seiner Auffassung zurückschreckte, geht
wohl aus folgender Stelle aus der “Morgenröte” (1881) hervor:
In allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur nicht für eure Träume! Welche elende
Schwächlichkeit, welcher Mangel an folgerichtigem Mute! Nichts ist mehr euer
Eigen als eure Träume! Nichts mehr euer Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler,
Zuschauer — in diesen Komödien seid ihr alles ihr selber! Und hier gerade scheut
und schämt ihr euch vor euch, und schon Ödipus, der weise Ödipus, wußte sich Trost
aus dem Gedanken zu schöpfen, daß wir nichts für das können, was wir träumen. Ich
schließe daraus: dass die große Mehrzahl der Menschen sich abscheulicher Träume
161
In seinen Schriften deutet Nietzsche Träume gedeutet und analysiert Stimmungen, in denen der Leib
eigenwillige Absichten kundtut. Man darf sagen, dass manche von Nietzsches Begriffen des Bewussten
die Vorgeschichte der Psychoanalyse darstellen. Zum Einfluss Nietzsches auf die Freud vgl. Gasser, R.
Nietzsche und Freud. Berlin, New York: 1997; Assoun, P.L. Freud and Nietzsche. London/New York,
2000 ; Chapelle, D. Nietzsche and the Psychoanalysis. New York, 1993, Salin, S. Kryptologie des
Unbewussten: Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland. Würzburg, 2008.
162
Nietzsche, F. Jenseits von Gut und Böse. In: Werke in drei Bd. Hrsg. v. Karl Schlechta.
München/Wien, 1955: 651
57
bewusst sein muss. Wäre es anders: wie sehr würde man seine nächtliche Dichterei
für den Hochmut des Menschen ausgebeutet haben!163
Bereits die Romantiker wollten die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit
niederreißen. So schreibt Jean Paul in “Silvesternachtstraum” über den Schlaf, dass
dieser “auch den unterdrückten Elementen in der Menschennatur, ja der Natur
überhaupt, zu ihrem Rechte [verhilft]”,
[…] und wenn er sich an das Gesetz, das uns im wachen Zustand beherrscht, nicht
kehrt, wenn er unser gewöhnliches Maß und Gewicht zerbricht und alle unsere
Anschauungs- und Aneignungsformen durcheinander wirft, so geschieht das nur, weil
er selbst der Ausdruck eines viel höheren Gesetzes ist.
Hebbel erklärte die scheinbare Unverständlichkeit der Traumbilder daraus, dass uns
die Sprache des Traumes verschlüsselt bliebe und wies auf seine Zusammensetzung
aus einzelnen, den Buchstaben vergleichbaren Elementen hin:.
Wahnsinnige, verrückte Träume, die uns selbst im Traume doch
vernünftig vorkommen: die Seele setzt mit einem Alphabet, das sie noch nicht
versteht,unsinnige Figuren zusammen, wie ein Kind mit den 24 Buchstaben; es ist
aber gar nichtgesagt, daß dies Alphabet an und für sich unsinnig ist.164
Als weiteres Vorbild für Kubins Schaffens dürfte hier auch sein “Lieblingsdichter”165
E.T.A. Hoffmann erwähnt sein. Sein vermeintlicher “Ritter Gluck” (1814) schildert
ein Portal, hinter dem sich ein Reich der Träume verbirgt, das unschwer eine Paralelle
zu Pateras Traumreich zu erkennen gibt:
Durchs elfenbeinerne Tor kommt man ins Reich der Träume; wenige sehen das Tor
einmal, noch wenigere gehen durch! – Abententeuerlich sieht es hier aus. Tolle
163
Nietzsche, F. Morgenröte. In: Werke, Berlin: 1972. 2. Bd.: 98.
Hebbel, F. Tagebücher. 2. Bd. 1840-1844. Berlin, 1905: 208
165
Vgl. Kubin an R. u/ H. Koeppel a, 27. 6/ 1943. Die Wilde Rast. Alfred Kubin in Waldhäusern. Briefe
an Reinhol und Hanne Koeppel. Berarb. u. eingeleit. v. Walter Boll. München, 1972. auch: Über mich
selbst, (1943). In: AmL, 105.
164
58
Gestalten schweben hin und her, aber sie haben Charakter – eine mehr wie die
andere.166
Von einem Traumland spricht gelegentlich auch Edgar Allan Poe (wohl meistens aber
ein nicht geographisch, sondern psychisch gemeint). Der unermesslich reich
gewordene Ellison in Poes Erzählung “Das Gut zu Arnheim” (1847)167 ruft
unmittelbar die Gründung des Traumreich ins Gedächtnis, hat auch Patera ja erst
durch seine Erbschaft sein Vorhaben verwirklichen können. In einem anderen Werk
der Romantik, das Drama “Der Traum ein Leben” (1840)168, gestaltet Franz
Grillparzer
die
Austauschbarkeit
von
Traum
und
Realität
anhand
eines
Lebensentwurfs, der im Traum sozusage auf Probe realisiert wird. Novalis hat in
“Heinrich von Öfterdingen” (1800) Träume markant eingesetzt, indem er sie
gegeneinander vertauscht, die Welt als Traum, der Traum als Welt erscheinen lässt.
Die Blauäugigen pflegen in der Anderen Seite eine Form der Komtemplation und der
ruhigen Betrachtung der Natur, die der hektischen Nervosität der übrigen
Traumländer diametral entgegengesetzt ist. Die Farbe ihrer Augen steht in einem
auffallenden Kontrast zu den sonstigen Farben im Traumreich: das “strahlende Blau”
(144) ordnet sie dem Bereich des Transzendenten zu. Wenn Novalis den Traum von
der blauen Blume an den Anfang des Romans “Heinrich von Öfterdingen” setzt,
eröffnet der Traum dem Protagonisten von vornherein einen überpersönlichen,
transzendenten Zug. Die blaue Blume wurde daraufhin zum zentralen Symbol der
Romantik, der Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Zum Schluss sei noch
Schopenhauer erwähnt, der “die enge Verwandschaft zwischen Leben und Traum”
einräumt und sich letzlich “genöthigt [fühlt], den Dichtern zuzugeben, dass das Leben
ein langer Traum sei.169
Für
die
Autoren
der
frühen
Moderne
waren
Übergangsstationen
und
Zwischenbereiche, wie Traum und Traumzustände, ein beliebtes Thema. Im “Schleier
Hoffmann, E.T.A. “Ritter Glück. Eine Erinnerung aus dem Jahre 1809.” In: Fantasie-und
Nachtstücke. Darmstadt, 1962: 14-23 (21)
167
Poe, E.A. “The Domain of Arnheim, Or the Landscape Garden.” In: The Complete Tale and Poems
of Edgar Allan Poe. New York: 604-615
168
Grillparzer, F. Sämtliche Werke. Hrsg. u. m. Einl. u. erläuternden Anm. versehen v. Moritz Decker.
2. Bd. Leizpig, 1903.
169
Schopenhauer, A. Die Welt als Wille und Vorstellung I/1, Zürcher Ausg. Bd. 1: 46f. zit. nach Geyer,
1995: 105
166
59
der Beatrice” (1899) des Österreichischen Schrifstellers Arthur Schnitzlers170, der
ebenfalls Psychiater war, liest man:
Doch Träume sind Begierden ohne Mut, sind freche Wünsche,
die das Licht des Tags zurückgejagt in die Winkel unsrer Seele,
daraus sie erst bei Nacht zu kriechen wagen.171
In “Traumnovelle” (1926) behandelt Schnitzler die Spannung zwischen sexuellem
Begehren und den Konsequenzen des Triebverzichts. Einem Ehepaar widerfahren in
einer langen Nacht selstsame, erotisch aufgeladene Abenteuer. Das Motiv des
Traumes realisiert sich bei beiden Partnern unterschiedlich: Während der Artzt
Fridolin auf traumhafte Weise sexuelle Abenteuer erlebt, träumt seine Frau von den
sanktionierten sexuellen Wünschen.
Mit der “Traumdichtung” emanzipierte sich Gerhard Hauptmann bereits 1893 vom
engeren Stoffgebiet des Naturalismus. In Wilhelm Busch “Eduards Traum”172 (1891)
ist die gesamte Erzählung als einheitliche Traumschilderung angelegt. Das Traum-Ich
dieses Büchleins hat die Gestalt einer kleinen Kugels angenommen, die sich im Fluge
frei bewegen kann. Ein auffallende Begebenheit ist der Besuch an ein Traumreich,
dessen Bewohner die Form geometrischer Figuren angenommen haben.
Wie Kubin hat auch August Strindberg sich in künstlerischen Verfahren versucht, in
denen er den Zufall und das Unterbewusste des Traums agieren lässt.173 In seinem
Drama “Ett Drömspiell” (1902), wo der Traum als Kunstwerk organisiert ist, handelt
es sich um die Frage, ob das Bild Wirklichkeit oder Imagination ist. Strindberg
versuchte, das zusammenhanglose und scheinbar logische Muster des Traumes
konsequent und radikal nachzuschaffen: “Alles kann geschehen, alles ist möglich und
wahrscheinlich.” Szenen gehen kommentarlos ineinander über, Räume und Figure
170
Obwohl sich Schnitzler der Psychoanalyse gegenüber kritisch verhielt, wurde sein literarisches
Werk von Freud als “doppelgängerhaft” empfunden, weil er in dem Dichter wohl zu Recht einen
psychologischen “Tiefenforscher” zu erkennen glaubt. Vgl. Bär, G. Das Motiv des Doppelgängers als
Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm. Amsterdam/New York, 2005: 164.
171
Schnitzler, A. Der Schleier der Beatrice. In: Gesammelte Werke. Die Theaterstücke. 2. Bd. Berlin,
1912: 162
172
Busch, W. Eduards Traum. München, 1891.
173
Bär zufolge habe Strindberg das deutschsprachige Theater der Jahrhundertwende sogar
“nachhaltiger als die Erkenntnisse der freudschen Traumdeutung” beeinflusst. Ebd.
60
wechseln abrupt das Aussehen und die Funktion. In der Anderen Seite findet dieses
Verfahren seine Entsprechung im Abschnitt “Die Verwirrung des Traums”, den wir
an späterer Stelle noch eingehend betrachten werden.174 Im dramatischen Zyklus “Till
Damaskus” (1898), für den Kubin 1922 die Folge “Nach Damaskus” illustrierte, hat
Strindberg sich um eine theatralische Darstellung von Projektionen des Unbewussten
bemüht. Es finden sich im Schauspiel Traumelemente verstreut und auch die
Handlung selbst erscheint als Traumbild. Die Reise führt den Protagonisten durch die
eigene unbewusste und bewusste Seelenlandschaft, die Bühne wird dementsprechend
gleichsam zum Erscheinungsort einer Halbwirklichkeit gemacht.
Auffallend ist die offenkundige Parallele zwischen Kubin und Strindberg in Bezug auf
ihre Schätzung der schöpferischen Einbildungskraft. Auch Strindberg versuchte
mittels einer “schöpferischen Einbildungskraft” eine “zweite Wirklichkeit” zu
evozieren, zur kreativ Umgestaltung der ersten. In einem Brief, den Strindberg 1896
verfasste, schreibt er:
Halluzinationen, Phantasien, Träume scheinen mir eine hohe Realität zu besitzen.
Wenn ich sehe, dass mein Kopfkissen menschliche Formen annimmt, dann sind diese
Formen da, und sagt jemand, dass sie nur (!) in meiner Phantasie gebildet werden, so
antworte ich: - Sie sagen nur? Was mein inneres Auge sieht, bedeutet mir mehr!175
Die offensichtlichen Parallelen zwischen den philosophischen Grundlagen des
Traumreichs und den geistes- wie literaturgeschichtlichen Gegebenheiten der
deutschen Romantik mögen auf den ersten Blick überraschen. Festzuhalten ist aber,
dass die Verbindung Kubins zu einem der bedeutendsten Dichter der Romantik, zu
E.T.A. Hoffmann, nachweisbar ist. Es sei an dieser Stelle auf die Zeichnung “Der
Sonderling” (1912) hingewiesen, die den Freund und Hoffmann-Forscher Hans
Müller in einer Weise darstellt, die selber wieder als dem Geiste des gemeinsam
verehrten Vorbilds verpflichtet bezeichnet werden muss.176 Deshalb hat Schroeder
Recht, wenn er in Kubins Theorie der Einbildungskraft die Ähnlichkeit zu Hoffmanns
174
Vgl. 4.3.3.
August Strindbergs Brev, Bd. 11, Stockholm
1969: 268. Zit. nach . Wennerscheid, S. Das Leben, ein Traum? Lust am Schein
in Strindbergs „Traumspiel“ (1902). In: Zeitschrift für Germanistik. Vol. 18, Nr. 1 (2008). Anders als
bei Kubin ist der “Traum” in Strindbergs Begriffswelt aber auch gelegentlich durchaus negativ
konnotiert, wenn er synonym gebraucht wird als Begriff für “Illusion”.
176
Abb. Raabe, 1957: 79
175
61
“serapionistischem Prinzip” sieht.177 Überhaupt gemahnt das Traumreich an das
Reich der Träume” E.T.A. Hoffmanns: “Beide gründen auf der Traumkraft der
Phantasie, beide sind determiniert durch die Situation des Zwischen, des
Grenzzustandes zwischen einem tieferem und einem höheren.”178 Wie in der Anderen
Seite das Bewusstsein zwischen Traum- und Wachzustand pendelt, die Reise ins
Traumreich überhaupt als eine Art Traum zu verstehen ist, so versetzt auch Hoffmann
seinen Leser in eine Art “Fieberzustand” versetzt, „wo der Unterschied zwischen
Traum und Wachen, zwischen Phantasie und Wirklichkeit aufgehoben ist.“179
4.3 Der Traum in der Anderen Seite
Im vorherigen Kapitel sind wichtige Aspekte Kubins antithetischer Weltanschauung
bereits ausführlich erörtert wurden. Polarität, haben wir gesehen, durchzieht das ganze
kubinsche Denken und wird in der Anderen Seite kulminiert im Zwitterwesen Patera,
der die Gründung, aber auch den Untergang des phantastischen Traumreiches
herbeiführt. Im nachfolgenden Kapitel möchten wir den Schwerpunkt vom Vater- und
Sohnprinzip auf die “schöpferische Einbildungskraft” verlegen, einen Begriff, der
zwischen den antithetischen Polen des Nichts und der Einbildungskraft beheimatet ist.
Der Erzähler gelängt zum Erkenntnis, dass hier der “Urgrund” allen Seins liegen
müsse. Unaufhörlich ist der Mensch Zeuge eines Doppelspiels antithetischer Kräfte:
wie ein Pendel schwingt es zwischen Schicksalsglauben und göttlichem Selbst hinund –her. Im Diesseits, dem Einflussbereich des Nichts, erscheint dem Künstler die
Lage des Menschen “wenig vertrauenerweckend, ja unheimlich”180. Gleichsam ein
Refugium verlegt der Künstler die Phantasie ins Jenseits, den Bereich der
Überwirklichkeit, des Traums: “die andere Seite”. Es ist in der Überwirklichkeit, wo
die Fähigkeit des übersensitiven Empfindens, Reize verschiedener Art aufzunehmen
und ins Schaffen weiterzuleiten, den Anreiz zu weiterer Entfaltung erhält. “Was für
177
Schroeder, 1970: 77, Anm. 44
Hewig, 1967: 54
179
Matt, P. “Der Roman im Fieberzustand. E. T. A. Hoffmanns ‚Elixiere des Teufels’”. In: Das
Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur. Hrsg. v. Peter von Matt. München, Wien
1994, 122-133 (130f.)
180
“Fragment eines Weltbildes”, in: AmW, 36
178
62
ein Gewinn demnach der einzig gangbare Ausweg ins Unwirkliche!”, bringt Kubin es
inbrünstig zum Ausdruck.181
Wie bereits dargelegt legte Kubin dem Traum besonderer Bedeutung bei, denn im
Traum kann die Phantasie sich völlig entfalten. Überdies waren nach Kubin
Traumkosmos und Weltenkosmos in ihrer polaren Gegensätzlichkeit innig verwandt.
Beide erkannte er als schöpferischen Äußerungen des einen “ungeheueren
Rätselwesens.”182 Allerdings traute Kubin es dem wahren Künstler durchaus zu, in
dieses Rätsel einzudringen.183. Auch die Psychoanalyse ist an die Rolle des
Unbewussten in der Kunst interessiert, zumal sich hier die Vorgänge im Unbewussten
am anschaulichsten äußern können. Außerdem kann das Kunstwerk dazu dienen,
Verdrängtes freizulegen. In der Andere Seite lässt die Gestaltung des Traumreichs in
vielem an den Begriffs des “Unbewussten” denken, wie es von Freud beschrieben
worden ist. Wo Freud und Kubin sich in ihrer Auffassung vom Wesen des Traums
aber grundlegend unterscheiden ist die Anwendbarkeit der Theorien. Wo Freud den
“subjektiven” Traum in einen theoretischen Rahmen stellt, objektiv bewertet und ihn
also über die persönliche Sphäre hinaushebt, ist Kubin die Ansicht, dass Träume
grundsätzlich von persönlicher, nicht zu objektivierender Art seien. Eine Analyse
seiner Traumbilder lehnte er denn auch ausdrücklich ab:
Die einzelnen Erscheinungen werden wir uns aber hüten zu zergliedern etwa nach
irgendeinem interessanten moralischen oder psychologisierenden System, um hinter
das Geheimnis ihrer Deutbarkeit zu kommen; lassen wir lieber ihre echte
ungebrochene Symbolkraft bestehen. Ich halte die unmittelbare schöpferische Vision
für weit stärker und tragender als ihre weitschweifige Analyse.184
Zu träumen - das bedeutete für Kubin eine äußerste Position desjenigen Menschen,
der sich der Rationalität und dem wachen Realitätsbewusstsein verweigert; um sich
als Teil eines unbegreiflichen schöpferischen Weltwesens zu fühlen und in dieser
Rolle aufzugehen. Darin unterscheidet er sich nicht nur von den Vertretern der
Psychoanalyse,
sondern
auch
von
den
Surrealisten,
deren
Verfahren
er
181
Ebd.
Kubin: “Vorwort” zu Huch: Neue Träume, 7. In: AmW, 172
183
“Diese beiden sich wie elektrisch anstoßenden Pole einer Schöpfung einander zu nähern, ihre
gemeinsamen Keim aufzufinden, muss gelingen – wenn der echte Schöpfer es will!”
184
“Über mein Traumerleben”, in: AmW: 8
182
63
unmissverständlich abweist: “Ich finde es geradezu ablenkend, wenn man die Träume
ausdenken will.”185 Im Unterschied zu den Surrealisten, die ihre Prinzipien in ein
gemeinsames Programm darlegten, war Kubin weit davon entfernt, für seine
Vorgehensweise
ein
Doktrin
zu
konzipieren.186
Mit
Rücksicht
auf
die
Aufmerksamkeit, der Kubin der Darstellung des Unbewussten gewidmet hat, erweist
Kubin sich jedenfalls als ein Surrealist avant la lettre.187 Der österreichische
Schriftsteller George Saiko vergleicht Kubin in dieser Hinsicht mit dem belgischen
Maler James Ensor (1860-1949), einem Zeitgenossen Kubins, dessen Werk
namentlich die französischen Surrealisten besonders beeinflusst hat. Er stellt richtig
fest:
[…] James Ensor und Alfred Kubin, mit ihrer besonderen Disposition, dem
Unbewussten künstlerischen Gestalt zu geben, haben die inhaltlichen Forderungen
des Surrealismus lange vor seinem programmatischen Auftauchen verwirklicht.188
Der Traum ist eine verschlüsselte Sprache. Es ist das Verdienst Freuds, dem Traum
zur Sprache verholfen zu haben. Das bis dahin fast Unformulierbare und
Unbenennbare hat er in die Formulierungen diskurtiver Sprache gefasst. Freud erlöste
die Dichter von der Notwendigkeit einer ihnen wie eine selbstverständlich
zugewachsenen Verpflichtung, das nur in Bildern Ausdrückbare auch noch diskursiv
zu sagen und damit womöglich zu desavouieren. Statt ins Geschäft des Diskursiven
eintreten zu müssen konnten sie bei ihren Bildern bleiben.189
Von besonderer Bedeutung für die Anderen Seite sind vor allem die zentralen
Elemente aus Freuds Traumdeutung, das heißt, die Kompositionsprinzipien der
“Verschiebung” und “Verdichtung”190. Von daraus ist es ein kleiner Schritt zu den
185
173
“Jeder Künstler erlebt und schafft rein persönlich. Daher kann es auch keine allgemein gültige Regel
über den rätselhaften Vorgang geben.” Kubin, A. “Aus halbvergessenem Lande. Über künstlerische
Befrüchtung.” In: AmW, 19
187
Brigitte Jirku und Stephan Berg betrachten die Andere Seite als Werk, dass die Grundsätze des
Surrealismus vorweggenommen hat, so etwa in der Vorgehensweise der “écriture automatique” . Vgl.
Jirku, B. “Alfred Kubins ‚Die andere Seite' als Vorbote des Surrealismus.” In: Modern Austrian
Literature 28 (1995), Heft 1, 31-54; Berg, S.: Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit- und Raumstrukturen
in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: 1991.
188
Saiko, G. “Surrealismus und Realität”. In: Saiko, Drama und essays, 181-188. Zit. nach Posthofen
R.S. Treibgut. Das vergessene Werk George Saikos. Wien […], 1995: 61
189
Wunberg, G. Jahrhundertwende: Studien zur Literatur der Moderne. Tübingen: 2001, 174
190
Nach Freud ergibt sich aus einem Vergleich von Trauminhalt und Traumgedanken, dass “eine
großartige Verdichtungsarbeit geleistet wurde. Der Traum ist knapp, armselig, lakonisch im Vergleich
zu dem Umfang und zur Reichhaltigkeit der Traumgedanken.” Auf eine relativ kleine Größe wird sehr
186
64
“Traumbildungsmechanismen” wie Kubins sie versteht. Trotz Kubins skeptischer
Haltung dem “widerlichen Psychoanalysieren” gegenüber, seines Geständnisses, von
der Psychoanalyse nicht mehr zu wissen, “als etwa zur heutigen Allgemeinbildung
gehört”191 und nicht zuletzt der ironischen Lobpreisung Freuds auf der ersten Seite
des Romans, dürfte Kubin – gewollt oder ungewollt – zum Zeitpunkt der Abfassung
eine gewisse Vertrautheit mit der Freudschen Psychoanalyse wohl vorausgesetzt
werden.192 Sein Freud Oscar A.H. Schmitz, dem der Psychoanalyse sehr nahe stand,
dürfte das Interesse Kubins für die Psychoanalyse kurzfristig geweckt haben.193 Meist
plausibel aber erscheint uns die Annahme, Kubin habe Freud und die Psychoanalyse
zwar geschätzt, mit der Zeit aber, als ihm die Einsichten anderer Denker eröffnet
wurden, der Freudschen Theorie nicht mehr Bedeutung, als er jedem anderen Wissen
beigelegt hat. Martynkewicz stellt mit Recht fest:
Wissen – und die Psychoanalyse macht da keine Ausnahme – hat für Kubin […]
einen klar nebengeordneten Rang und ist für den Literaten und bildenden Künstler in
erster Linie ein Fundus, ein Steinbruch, aus dem er geeignete Stücke herausbrechen
und in das eigene Werk integrieren kann.194
viel an Bedeutung verdichtet, indem einzelne Zeichen oder Bilder mehr bedeuten als nur eine Sache.
Dadurch sind Traumgedanken “überdeterminiert”. Verdichtung geht typischerweise Hand in Hand mit
Verschiebung. “Traumverschiebung und Traumverdichtung sind die beiden Werkmeister, deren
Tätigkeit wir die Gestaltung des Traumes hauptsächlich zuschreiben dürfen”. (1972: 307). In der
Verschiebung liegt die Möglichkeit die Zensur auszuschalten. Die Literaturwissenschaft hat der
Gedanke der Verschiebung aufgegriffen, indem sie versucht hat, (gegebenfalls in Zusammenhang mit
Verdichtung) die Funktionsweise der Symbolik in literarischen Werken zu erklären.
191
“Oscar A. H. …: Das Selbstbildnis eines Schriftstellers” (1926) In: AmW, 180
192
Vgl. Müller-Thalheim, 10. Am 27.9.1911 schreibt er an Fritz Herzmanovsky-Orlando und empfiehlt
ihm die Traumdeutung von Sigmund Freud, die Kubin offenbar gerade selbst las. Eine Woche später
berichtet er an seinem Freud Herzmanovsky: “Ich lese noch immer die Sachen von Prof. Sigmund
Freud, jüdisch scharfgeistige Psychologe, sehr interessant über infantile Sexualität und Traumerleben.”
In einem Brief an Herzmanovsky drei Jahre später, am 25.11.1914, verhält Kubin sich schon kritischer
der Psychoanalyse gegenüber. Er schreibt: “Freuds Entdeckungen sind mir äußert wertvolles Material,
originell und fruchtbar. – Ins Heiligtum führen sie aber nicht, wie niemals Gelehrtenarbeit.” Noch
einen Monat später bekräftigt er diese Ansicht, indem er meint: “Sonst bin ich wie gesagt der Ansicht
dass Freuds Entdeckung fabelhaft ist aber doch im materiellen stecken bleibt, stecken bleiben muss,
weil alle rationelle Wissenschaftlichkeit niemals mehr als Bausteine liefern kann.” In: HerzmanovskyOrlando/Kubin, 1983: 98, cf. 90.
193
Vgl. die Anekdoten “Erinnerungen an Oscar A.H. Schmitz” (1932) und “Oscar A.H. …” (1926) In:
AmW, 97-102, 179-182.
194
Martynkewicz, W. “Zerstörische Dualitäten: Destruktionstrieb, Traum- und Wachbewusstsein in
Alfred Kubins Roman Die andere Seite.” In: Sigmund Freud and the Knowledge of Literature /
Sigmund Freud und das Wissen der Literatur. Hrsg. v. Alt, P.A u. Anz, T. Berlin/New York: 2008.
137–156 (1)
65
Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die Beschreibung vom grotesken
Traumerlebnis des Erzählers verdächtig viel Elemente aus der Freudschen TraumSymbolik integriert. Allerdings lässt der Traum im Ganzen auf die Feststellung
schließen, dass Kubin das Freudsche Muster von Verdichtung und Verschiebung –
Kubin verwendet selbst den Begriff “kompositorische Traumgesetze” - auf die
Erzählebene übertragen hat. Auf eine literarische Ebene hat er also die Rolle der
schöpferischen Traumarbeit übernommen, indem er mittels Bedeutungs-Verschiebung
und sprachlicher Verdichtung seinen Stoff in einem poetischen Verfahren bearbeitet
hat.
Die Frage, mit der wir uns im Folgenden beschäftigen möchten, ist auf welche Art
und Weise Kubin seine Imagination schöpferisch tauglich gemacht hat. Es soll
untersucht werden, ob der Künstler aus dem Chaos der Einbildung eine Struktur
verwirklicht hat, oder ob nicht vielmehr die Einbildung selbst die Grundlage darstellt,
auf der das Traumreich errichtet ist. Welcher Logik folgen den Gesetzen des
Traumerlebens? Welche spezifischen kompositorische Mittel hat sich Kubin zur Deund Remontage des Traums bedient?
Für eine Analyse die sich mit diesen Fragen beschäftigt bietet der Alltag der
Einwohner der Perle einen besonders geeigneten Anhaltspunkt, zumal der Erzähler ihr
Tun und Treiben in der Hauptstadt des Traumsreichs in seinen “Aufzeichnungen” mit
größter Genauigkeit verfolgt hat. Dazu bedarf es aber zunächst einer näheren
Auseinandersetzung mit dem Protagonisten, aus dessen Sicht den Alltag beschrieben
wird und eien Eindruck des Traumreichs vermittelt wird.
4.3.1
Der Erzähler
Eine der unabdingbaren Voraussetzungen, die Kubin für sein Anliegen, sein
persönliches Traumerleben einem breiten Publikum zugänglich zu machen, zu
berücksichtigen hat, ist die Darstellung seines Protagonisten. Zwar ereignen sich die
Geschehnisse in der Sphäre des Überwirklichen, beruhen also auf Phantasie. Dennoch
stellt der Erzähler einen Wahrheitsanspruch im Rahmen der fiktionalen Welt, indem
er vorgibt, den Untergang des Traumreiches als Augenzeuge aus unmittelbarer Nähe
miterlebt zu haben. Dem Unglaubwürdigen Glaubwürdigkeit zu verleihen: mit dieser
66
Anforderung steht und fällt der Erfolg der Anderen Seite. Wie Kubin dieser
nachgekommen hat, soll im Folgenden erhellt werden.
Während des Erzählablaufs drängt sich immer deutlicher der Beweggrund Kubins auf,
die Erzählung als einen Bericht gerade in der Ich-perspektive zu schreiben. Nach
Wolf Schmids Definition ist die Perspektive “der von inneren und äußeren Faktoren
gebildete Komplex von Bedingungen für das Erfassen und Darstellen eines
Geschehens”195. Ohne Zweifel war Kubin sich der Tatsache bewusst, dass um den
literarischen Anforderungen seiner “Traumreise” gerecht zu werden, der (namenlose!)
Protagonist der Anderen Seite kein anderer als der Künstler selbst hätte sein können.
Tatsächlich stützen verschiedene typische Parallelen zwischen beiden Künstlern eine
Annahme in diese Richtung.196
Der Erzähler ist vergleichsweise einfach gezeichnet. Zwar wird er in seinen
Handlungen, Überlegungen und Gefühlen geschildert, aber diese sind stets nur als
Reaktionen auf die Erlebnisse im Traumreich zu verstehen. Eigenheiten, die erst einen
Charakter ausmachen, werden höchstens andeutungsweise dargestellt. Allerdings
impliziert die Art und Weise, wie er sich zum Traumreich verhält, eine gewisse
Empfindsamkeit. Dem dritten Kapitel, “Der Alltag”, ist zu entnehmen, dass der
Erzähler über einen scharfen beobachtenden Blick verfügt. Überdies zeichnet er sich
durch
eine
verhältnismäßig
große
Einsichtigkeit
aus,
die
ihm
von
der
Grundkonzeption eines Durchschnittsmenschen unterscheidet. Auf diese Weise ist es
von vornherein ausgeschlossen, dass der Erzähler und seine Geschichte in einen
bestimmten Erwartungsrahmen fallen. Weitherhin verzichtet er darauf, ihn in einen
gesellschaftlichen Kontext einzufassen. Einzelheiten hinsichtlich seines Hintergrundes
werden kaum gegeben. Die Auskünfte beschränken sich darauf, dass der Erzähler als
Zeichner berufstätig ist. Die Gestaltung des Protagonisten orientiert sich also
ausschließlich an seinen Zweck, den Erzähler über allem als einen Bezugspunkt zur
Vernunft und Wirklichkeit darzustellen. Lippuner bringt es auf den Punkt:
“Vernünftig zwischen allen Verrücktheiten bleibt eigentlich nur der Erzähler, sieht
195
Schmid, W. Elemente der Narratologie. Berlin, 2005: 289
Auf dem Vorblatt zum Roman findet sich das gezeichnetes Porträt eines Mannes (Bild 7), dessen
Bildnis einem Foto, das Kubin in einem dem Erzähler ungefähr entsprechenden Alter zeigt, (Bild 8)
aufs Haar gleicht. Einige anderen offenkundigen Parallelen zwischen dem Erzähler und Alfred Kubin
sind beispielsweise die Berufstätigkeit als Zeichner, die bohemische Lebensführung, der Ehebund und
der Tod der Ehefrau (Kubins Jugendbraut Emmy Bayer verstarb 1903; von seiner Frau Hedwig Kubin
sind chronische Krankheit und Kuraufenthalt bezeugt, vgl. Selbstbiographie (1911) in: AmL., 39) und
der Freund Fritz (i.e.: von Herzmanovsky-Orlando).
196
67
man einmal von den ‘Blauäugigen’, von Patera und ‘dem Amerikaner’ ab.”197 Zwar
bleibt auch er nicht vom Klaps verschont, bemächtigt sich seiner mit der Zeit eine
zunehmende Angst und findet Aufnahme in einer Heilanstalt. Die Gefahr der
Vernichtung ist dann aber schon gebannt und die Wiederherstellung der Gesundheit
gesichert.
Halten wir aber fest: indem Kubin auf eine psychologisch eingehende Ausarbeitung
seines Protagonisten nahezu verzichtet, vermag er den Schwerpunkt vom Erzähler
selbst auf die erzählten Geschehnisse verlagern. Da diese nunmehr auf den Vorgrund
treten, erfüllt sich somit der Wunsch Kubins, das Ausmaß der bizarren Szenerie seiner
Träume zur völligen Entfaltung zu bringen. Schon bald stellt sich heraus, dass die
durch den Erzähler beschriebene Welt von der tagtäglichen Welt entfernt liegt. Aus
der Perspektive der normalen Welt erscheint der Traumstaat als “Reich, in welchem
der Unsinn herrscht.” Da Kubin zur topographischen Lage des Traumreichs nur
sparliche Angaben macht, ermöglich dies den Leser, die eigene Einbildungskraft auf
das Traumland zu projizieren. Gleichzeitig aber ist der Erfolg des Erzählers, die
Vorfälle glaubwürdig zu übermitteln, bedingt vom Vertrauen des Lesers. Damit er den
Anschein der Aufrichtigkeit gewährleisten kann, hat Kubin seinen Protagonisten mit
verschiedenen banalen Merkmale “getarnt”: er ist verheiratet, unterliegt einer
Nikotinsucht, besucht zur Zeitvertreibung das örtliche Kaffeehaus und arbeitet
überdies bei einer Zeitung: “Man oblag seine Lust und seinen Ärger” (64). Anderseits
aber ist er, wie oben bereits erörtert, vom Anfang bis zum Ende ein Außenseiter im
Traumreich; das Schicksal seiner Mitmenschen, als bestimmter Type eingestuft und
ein Glied im Traum-Kollektivs zu werden, bleibt ihm erspart. Somit wird er zu einem
Maßstab, nach welchem die Veränderung und Entwicklung der Ideen, um deren
anschaulichen Übertragung Kubin bemüht ist, bestimmt werden. Überdies beugt die
konsequente Beibehaltung der ersten Erzählperspektive eine mögliche Diskrepanz der
Deutungen vor, für die der Leser gänzlich vom Erzähler abhängig ist.
197
Lippuner, 1977: 103
68
4.3.2 Die schöpferische Verwandlung des Traums
Mit der Zeit erfasst der Erzähler die Logik des Traumreichs, die ebenfalls der Logik
eines Traums gleicht: “Man gewöhnte sich sich im Traumland derart an das
Unwahrscheinlichste, dass einem nichts mehr auffiel.” (58) Wie aber lässt sich die
Eigenart einer Traumlogik charakterisieren, inwiefern unterscheidet sie sich von der
Logik des Alltags?
Zur Logik des Traums gehört zunächst das Gleiten zwischen dem empirisch
Möglichen und dem Unmöglichen - beide Bereiche können nebeneinander existieren.
Das Ziel der Surrealisten war es, “das Unwirkliche bzw. Traumhafte und die Tiefen
des Unbewussten auszuloten; den durch die menschliche Logik begrenzten
Erfahrungsbereich durch das Phantastische und Absurde zu erweitern.” In seinem
“Surrealistischen Manifest” aus 1924 plädierte André Breton198 für die Aufhebung des
Widerspruchs von Irrealität und Realität in einer absoluten “Über-Wirklichkeit”, in
dem die gewohnten Denk- und Wahrnehmungsarten ihre Geltung verloren sollten. Für
ihre Versuche, die Überwirklichkeit zu ergründen und die seelische Realität an Stelle
der realen Außenwelt treten zu lassen, benutzten sie vor allem Traumvisionen. Indem
sie auf unerklärliche Symbole und Verfremdungen zurückgriffen, versuchten sie den
Zugang zu einer tiefer liegenden Wirklichkeit zu erschaffen. Was den wahren
Surrealisten auszeichnete, war seine Fähigkeit, die Elemente des Traums in seine
eigentliche Realität zu übertragen. Je enger die Verbindung zwischen Traum und
Realität hier wurde, um so großartiger war das geschaffene. Günther Anders schreibt:
Um zu zeigen, dass das Wirkliche gleichzeitig das Phantastische ist, stellt der
Surrealist alle uns bekannte Gegenstände in phantastischer Umgebung dar oder in
phantastischer Verzerrung; während er andererseits alles Phantastische so minitiös
und mit so übertriebener Skrupelhaftigkeit darstellt, dass die Darstellung den
Eindruck erweckt, sie sei getreulich, ja pedantisch ‘nach der Natur gemalt.
Die Surrealisten bestrebten eine möglichst originaltreue Wiedergabe der subjektiven,
inneren
Wirklichkeit.
Um
die
Kontrollinstanzen
zum
inneren
Geschehen
auszuschalten, wendeten die Surrealisten die Methode des automatischen Schreibens,
198
André Breton (1896-1966) arbeitet während dem Medizinstudium in der Psychiatrie und begegnet
dort den Schriften von Sigmund Freud. Von der Welt des Traums begeistert, bricht er sein Studium ab
und wendet sich der Literatur zu. Passeron, 1978: 165
69
des “reinen psychischen Automatismus” an. Auch Kubin war darum bemüht, seine
Träume unmittelbar zeichnerisch einzufangen, erkannte aber schon früh die
Unmöglichkeit eines solchen Unternehmens.199 Statt sich einem anderen Thema
hinzuwenden, versuchte Kubin ein anderes Verfahren. Im Hinblick auf die
nachfolgenden
Darlegungen
erscheinen
folgende
Anmerkungen
besonders
aufschlussreich. Kubin schreibt, dass er
zuerst mit meiner Zeichnung unmittelbare Traumstücke ein[fing]; nachdem ich dann
hinter einige gleichsam komponierende Traumgesetze gekommen war, wählte ich
immer mehr aus und stellte aus den verschiedenen Einzelmotiven reiche Kombination
zusammen. Ich lebte mich endlich ganz in dies spukhafte, für manche überhaupt nicht
existierende Traumwesen ein, und es gelang mir, au seiner bestimmten, gleichsam
‘traumwachen’ Geisteseinstellung Kompositionen in diesem Sinn auszuführen.200
In dieser Hinsicht unterscheidet sich sein Verfahren wesentlich vom naiven,
deskriptiven Automatismus der Surrealisten. Keineswegs war es Kubins Absicht, sich
im Schaffen willenlos von seinen Träumen lenken zu lassen:
Die freie Beherrschung aber des Stromes der eigenen, meist beängstigenden Träume,
die sich gehorsam seiner Macht ergeben, ist der eigentliche Sinn dieser Kunst […]201
Der Künstler erkannte, dass erst mit der nachträglichen Kontrolle seines Traumlebens
er auch seine produktive Tätigkeit zur Wirkung bringen konnte. Gelänge ihm dies, so
würden ihm die schöpferisch verwertbare Einfälle aus dem Traumleben in der Folge
in unerschöpflicher Fülle zuströmen.
Als “introspektiver Beobachter” bewegte Kubin sich auf der Grenze zwischen Traum
und der Wirklichkeit. Einerseits galt ihm, wie bereits angeführt, das Wachsein als den
Maßstab für den Traum; andererseits war er sich der eigentümlichen Eigenschaft des
Traums bewusst, in der Erinnerung bis auf einige Spuren zu verschwinden. So
verwundert es also nicht, wenn Kubin den Wert seines Traumlebens relativiert:
“[…] alles zu rasch ein Flitzen, - die Träume auch nur wie Fetzen sollten länger nachbleiben.”
Kubin, A. TB 18. (3.32) Zit. nach Hewig, 1967: 65
200
In: AmL: 44f.
201
“Der Zeichner”, in: AmW, 60
199
70
“Träume hatten direkt nur ganz selten Anteil an meinen Werken, sie sind aber
gleichsam in ihrer Art der Struktur den Bildvorstellungen oft stark verwandt.”202
Die Traumvision allein ergibt noch kein Kunstwerk. Immer wieder betont Kubin die
Bedeutung des sorgfältig vorgehenden Künstlers. Weniger dem Chaos nachzubilden
gilt es, ihm zu “abstrahieren, Zeichnungen zu schaffen, welche die Erlebnisse der
schauenden Seele andern zu vermitteln imstande sind.”203 Erfolgt zunächst eine
Abstraktion, so sollte daraufhin folgerichtig auch eine Konstruktion erfolgen, die ein
neues Traumbild, das heißt, das endgültige Kunstwerk ergibt:
Als Schauender hingegeben, als Zeichner tätig, zerlege ich die Vision, baue sie von
neuem auf und versuche, so gleichsam ein geklärtes Traumbild [Hervorhebung von
mir] zu formen.204
Der Prozess der “Klärung”, aus unbewusst Geschautem durch eine bewusst
vorgenommene Selektion ein neues Traumbild zusammenzusetzen, setzt also den
kritischen Blick des Künstlers voraus. In einem späteren Bericht unterstreicht Kubin
nochmals die Dichotomie seiner Methode, indem er bekundet, zwar “aus einem
dunklen Drange bei den ursprünglichen Konzeptionen” zu schaffen, deren
Ausarbeitung aber gleichzeitig einer “äußerst biegsamen Bewusstseinskontrolle
unterworfen” sei. Zur völligen Reife gelang das künstlerische Verfahren, zu zeichnen
“mit den Augen des Kopfes und denen der Seele”205 aber erst in späterer Zeit. Von der
raffinierten Kontrolle des kritischen Blicks erhebt sich dem rauschhaften Vorgang der
früheren Jahre, denen der Künstler sich “völlig passiv hin[gab]”.
4.3.2.1
Der Traum im Bild
Bereits in der Einführung haben wir darauf hingewiesen, dass der Roman einen
Wendepunkt des künstlerischen Schaffens darstellt. In “Rhythmus und Konstruktion”
(1924) formuliert Kubin zwei Ansprüche seiner Blätter, die mit recht jenen
“kubinschen” Stil ausmachen:
“Das Schaffen aus den Unbewussten”. In: AmW, 47
“Rhytmus und Konstruktion” (1924) In: AmW, 61
204
Ebd., 60
205
“Vorbemerkung zu Alfred Kubin, Orbis Pictus” (1930). In: AmW, 190
202
203
71
I.
den unbewusst von selbst sich einstellenden Zug der Hand: den Rhythmus,
II.
den klaren, voraussinnenden Formgedanken: die Konstruktion.
In einem späteren Bericht bekennt Kubin, die Andere Seite “einem Rausch
vergleichbar”206 niedergeschrieben zu haben. Bei den Zeichnungen hingegen, “war
der Vorgang wie gewöhnlich ein recht überlegener”207. Vielmehr interessiert uns aber
der erste Anspruch, der Rhythmus also, der “der Zeichnung jene unverwechselbare
Prägung [verleiht], die wir als “persönlich” empfinden.”208 Zum ersten Mal versucht
Kubin in der Anderen Seite Traum und Linienführung aufeinander abzustimmen, das
heißt, Thema und Technik in eine eins-zu-eins-Beziehung zu bringen. Diese
grundlegende Veränderung des Stils spiegelt sich nur in den Illustrationen der
Anderen Seite, sondern der Protagonist selbst macht eine auffallend ähnliche
Entwicklung durch:
Ich verzichtete auf alles bis auf den Strich und entwickelte in diesen Monaten ein
seltsames Liniensystem. Ein fragmentarischer Stil, mehr geschrieben als gezeichnet,
drückte es wie ein empfindliches metereologisches Instrument die geringsten
Schwankungen meiner Lebensstimmung aus. – “Psychographik”, nannte ich dieses
Verfahren […]” (140)
Es sei nochmals betont, dass die Leistung der Anderen Seite sowohl im Bereich des
Textes als Bildes liegt: beide erfüllen eine gleichrangige Rolle, nehmen aufeinander
Bezug und stehen in einer Wechselbeziehung. Nicht weniger als Text beanspruchen
auch die Bilder die Wirklichkeit, sowie der Erzähler sie im Traumreich erfahren
haben soll. Eingedenk des Mottos: “Nur was das Auge erkennt, das kann auch Realität
sein” treibt es den Künstler geradezu zu einer bildlichen Veranschaulichung und so
hat Kubin insgesamt eine beträchtliche 51 Bilder in den Roman aufgenommen.
Kubin steht somit “auf der fließenden Grenze von Bildnertum und Dichtertum”, wie
Emil Preetorius richtig erkannt hat: “voll zu erfassen sind Seine Schöpfungen nur,
wenn […] das “Literarische” in eins genommen wird mit dem erfindungsreichen
Gewebe seiner bewegten, tausendfältigen Liniensprache.”209
“Selbstbiografie” (VI, 1946), in: AmL, 80
Ebd
208
“Rhytmus und Konstruktion” (1924), in: AmW, 61
209
Vgl. Schroeder, 1970: 104. Zit. nach Lippuner, 1977: 153
206
207
72
Den Anforderungen einer Traumerfahrung im gezeichneten Bild gerecht zu werden
heißt, die Dämmerungswelt des Traums adäquat ins Bild zu übertragen. Das Maß der
Suggestivität der Zeichnung bestimmt inwieweit die Phantasie des Betrachters
angeregt wird. Die “Realität” des Traumreichs konstituiert sich folgerichtig aus der
gegenseitigen Abhängigkeit von Text und Bild. Das Bildmaterial geht somit weit über
ihre konventionnelle, veranschaulichende Funktion im Sinne einer “Illustration”
hinaus: “Dem zeichnerischen Stil kommt so mindestens die gleiche Bedeutung zu wie
der thematischen oder motivischen Aussage”210, betont Lippuner.
Die Technik, die Kubin für die 52 Zeichnungen in der Anderen Seite angewendet hat,
ist die Zeichnung mit Feder und Tusche. Während der Stil des Frühwerks sich durch
harte Hell-Dunkel-Kontraste und klar abgegrenzten Konturen ausprägt, könnte für den
nachhaltigen Stil des gereiften Künstlers das verbindende Liniennetz mit weicheren
Übergängen bezeichnend sein. Zieht man die Illustration zum Traumprotokoll heran
(Bild 12), so prägt sich diese durch ein Netz feinster Federstriche aus, in dem alle
Bildelemente eingesponnen werden. Durch subtile Schraffuren werden Übergänge der
Konture Konturübergänge geschafft, disparate räumliche Dimensionen verschränkt.
Unter dem Begriff “Psychographik” versteht der Protagonist das Verfahren, die
zeichnende Hand auf die Empfindungen der jeweiligen Stimmung abzustimmen,
indem er sie gleich empfindsam für sie macht.211 Anstelle einzelner Striche ist die
Zeichnung aus einem einheitlichen Liniensystem aufgebaut. Gerade durch
Vorstellungen der Phantasie in ein solches Netz einzufangen, kommen phantastische
Zustände und Wirkungen am eindringlichsten zur Wirkung: “
Das
dichte
Strichgefüge
fordert
von
vornherein
eine
differenziertere
Betrachtungsweise, als bei einer plakativeren Eindeutigkeit von Form und Kontur
nötig wäre, und daher sind unterschiedlichen Perspektiven schon durch Material und
Darstellungstechnik vorgegeben. Da einen eindeutig festgelegten Fluchtpunkt fehlt,
kann der Leser den Blick stufenlos über die in verschiedenen Dimensionstiefen
210
Ebd.
“Ein fragmentarischer Stil, mehr geschrieben, wie gezeichnet, drückte es wie ein empfindliches
metereologisches Instrument die geringsten Schwankungen meiner Lebensstimmung aus. –
Psychographik nannte ich dieses Verfahren.”
211
73
gelagerten Motiv-Zentren schweifen lassen und die Bildelemente selbsttätig in eine
lebendige Sequenz bringen.212
Indem zielgerichtet Fantasie und Kreativität des Lesers herausgefordert werden, reicht
die Illustration weit über seine Funktion als eindeutig bildliches Kommentar aus.
Brandstetter
bringt
es
treffend
auf
den
Punkt:
Das Mittel der Federzeichnung also vermag […] die Statik visueller Eindeutigkeit zu
unterlaufen
und
damit
etwas
von
der
Dynamik
des
Traum-Geschehens
213
einzufangen.
Besonders auffallend ist die Tatasache, dass während der Stil und die Technik der
Zeichnungen immer wieder die Suggestion des Traums erwecken, ihre Inhalte jedoch
vielmehr von profaner Art sind: “Das phantastische der “Anderen Seite” ist in ihren
Illustrationen höchstens ansatzweise zu finden”214, stellt Lippuner richtig fest.
Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass die meisten Illustrationen sich um einen
möglichst hohen Realitätsanteil bemühen. Nur selten findet man Kompositionen in
denen der Künstler das Visionäre oder Religiöse thematisiert hat215; umso größer ist
der Anteil alltäglicher Motive, wie etwa Landschaften, Häuser, Personen, Tiere und
Gegenstände. Die besondere Fähigkeit Kubins, die Ferne, das Immaterielle, das
Atmosphäre und das Trumhafte in seinen Illustrationen zur Anderen Seite
einzufängen, ändert an der Wirklichkeitsnähe der Motive kaum etwas: Der “Tiger”
(Bild 13) bleibt bei aller Greifbarkeit des Hintergründigen eine Raubkatze, der
“Torbogen” ist trotz seiner Unheimlichkeit ein Stück Arechitektur. Die Verfremdung
der Wirklichkeit erfolgt nur gerade soweit, dass Bildgegenstände in die Distanz
gerückt oder in den Spannungsgegensatz von greller Helligkeit und tiefer Schwärze
gestellt oder von der Strichtechnik her nicht eigentlich körperlich-plastisch
durchmodelliert sind. Damit erhalten die Bilder weniger die Eigenschaft des
Fantastischen als die des Surrealen.216 Gegenstände, Geschehnisse, Menschen und
Tiere sind durchaus konkret fassbar, immer aber scheint auch das Hintergründige
212
Thomsen, 1980: 259
Brandstetter, 1980: 260
214
Lippuner, 1977: 159
215
Eine Ausnahme dieser Beobachtung bilden die Bilder “Spieldose”, “Einsame Orte”, “Ganesha” und
“Höllensturz”.
216
Lippuner, 1977: 159
213
74
durch sie hindurch, man erahnt gleichsam die Geheimnisse ihres Daseins. Ihre
Existenz wird aus dem weltlichen Bereich ins Traumhafte gerückt.
4.3.2.2
Der Traum im Text
Rhein merkt zu Recht an, dass Kubin in der Anderen Seite weniger den Inhalt des
Traums als den Traum selbst hervorheben will.217 Kubin hat auf verschiedene Weisen
diese Thematik unterstrichen. Bevor dem Künstler den Zugang zum Traumreich
gestattet wird, soll er seine Fotokamera samt Fernrohr abgeben. Auf der Erzählebene
selbst wird diese Anweisung durch die Vorschrift erklärt, dass moderne Geräte im
Traumreich unerwünscht seien. Geht man von der These Rheins aus, die Reise ins
Traumreich sei immer ein Traum gewesen, so öffnet sich noch eine zweite Deutung.
Mit Rücksicht auf die geistige Erfahrungsebene des Traums erscheinen Fotokamera
und Fernrohr als Geräte, die durchaus zum Bereich der materiellen Realität gehören.
Dass gerade der Besitz solcher Instrumente im Traumreich nicht erlaubt ist, könnte
darauf hinweisen, dass die bevorstehenden Erfahrungen sich nur im Geist erfassen
lassen.218 Ähnlich sinnbildlich wirkt der Tunnel, der zum Tor des Traumreichs führt
und die Außenwelt also endgültig vom Traumreich abschließt. Sowohl der Erzähler
als seine Frau machen eine unheimliche Erfahrung. Der Künstler berichtet, es soll ihm
“wie auf einem Schlag ein ganz unbekanntes, gräßlichea Gefühl” überkommen sein,
während seine Frau “leichenblaß” geworden ist, und mit “Todesangst” im Antlitz
ihrem Gatte zuflüstert: “Nie mehr komme ich da heraus” (42).
Anders als im bildkünstlerischen Frühwerk, wo das Groteske allgegenwärtig ist und
die Darstellung von der Phantasie bestimmt wird, stehen in der Anderen Seite das
Alltägliche und das Phantastische in ständiger Wechselwirkung mit einander.
Aufschlussreich in diesem Zusammenhang erscheint die Bemerkung Hewigs:
Die unerschöpfliche Fülle der Phantasie erfuhr er nicht nur im Traum, in der
Tagträumerei und in der Vision, die macht des Imaginativen erstreckte sich für ihn
auch auf den Bereich des Alltäglichen, den er bewusst oder unbewusst mit ihrer
Magie auflud. […] So konstituiert sich eine Welt, die eine Unterscheidung zwischen
“Throughout the novel, it is the dream itself that Kubin wishes to emphasize rather than the
narration of a particular dream’s content.” Rhein, 1988: 97
218
Ebd.
217
75
Fiktion und Realität nicht zulässt, da die mittels der Imagination geschaffene
Überwirklichkeit die Realität überwächst und aus ihrer beiden Verbindung die
eigentliche, unzerlegbare kubinsche Wirklichkeit entspringt. Das ist Die andere
Seite.219
“Alle Dinge und Figuren des Traumreichs” notiert Kubin in seinem Tagebuch “sind
vielfältige Ausstrahlungen der ‘Traumkraft’.220 Wie Kubin im Roman die Grenze
zwischen der Wirklichkeit und der Überwirklichkeit aufgehoben hat, erweist sich
schon früh nach der Ankunft des Künstlers. Im Gegensatz zu den äußeren
Bedingungen, die den Eindruck erwecken, “hier sei alles wie daheim”, ist der innere
Vorstellungsbereich
der
Träumer
mit
dem
irrationalen
Element
des
Traumeigentümlichen durchsetzt. Im Traumreich “[…] waren Einbildungen einfach
Realitäten.” (63) An dieser Stelle kommt ein typischer Zug Kubins Schaffen zum
Ausdruck, “das Gewohnte, die alltägliche Realität, in den Bereich des Ungewohnten,
aber eigentlich Wirklichen zu verwandeln und unter der scheinbar fest gefügten
Oberfläche das widersprüchlich Wirkende selbst durchsichtig zu lassen.”221 Ein
weiteres Beispiel der Überlagerung von Traum und Realität ist die Geldwirtschaft, die
man nur als einen “symbolischen” Brauch angenommen hat. Die Grundlage des
Handels im Traumland, so berichtet der Erzähler, ist “Mundwerk: […] Dem Gegner
etwas vorzutäuschen, das war der Witz.” (61) Wie der Traum von der
Unbeständigkeit seiner ablaufenden Bilder geprägt wird, die nach ihren jähen
Erscheinung schon gleich wie Sand zerrinnen, dann in rasantem Tempo von wieder
neuen Bildern abgelöst werden, so werden auf ähnliche Weise die Einwohner des
Traumlandes von ständig neuen, der Einbildungskraft entsprungenen Entwicklungen
überrascht. Wer sich beispielsweise erstens noch des Wohlstandes erfreuen kann,
braucht sich nicht zu wundern, wenn ihm das nächste Moment alles Geld von einer
namenlosen Macht abhanden genommen ist, denn “das Traumschicksal war
erbarmungslos: der zusammengerafften Reichtum zerran im Handumdrehen.” (62f.)
Die Gesetze der Imagination gelten vor denen der Realität, ja, die Imagination ist
Realität.
Wiewohl die Traumleute alle einer Suggestion unterliegen, von der auch der Künstler
nicht erspart bleibt, bewahrt die “verborgene Kraft” Patera seinen Untertanen vor
219
Ebd., 94
TB 14. (9.39) Zit. nach derselb, ebd.
221
Hewig, 1967: 114
220
76
einem Chaos: “Eine ungeheuerliche, bis ins Verborgene dringende Gerechtigkeit,
glich es wieder aus.” (62). Jeder unterliegt dem Bann des Traums. Seine Omnipräsenz
bekundet der Herrscher dem Künstler mit der Versicherung “und doch war ich immer
bei dir.” (120) Dementsprechend will es die Logik des Traumreichs, dass die
Traumländer auch die Missgeschicke ihres Herrschers teilen. Zunächst ist da der
periodisch wiederkehrende Klaps. Nach Ansicht der Traumländer eine Mahnung und
Strafe “für das innerliche Auflehnen gegen das Unabänderliche”, dem Künstler
zufolge ein epileptischer Anfall Pateras. Festzuhalten bleibt, dass im Klaps “das
wahre innere Verhältnis im Äußeren sichtbar wird”222 Der Erzähler beschreibt, wie
“Menschen und Tiere einen Moment steif wie Holz” werden und wenn der Anfall
vorüber ist, “alles wieder seinen Gang” (122) ging. Während dem Klaps erscheint
dem Erzähler das “weiße, abgemarte Pferd” (97) (Bild 11), dessen plötzliche
Auftreten unerklärt bleibt. Die Beschreibung seiner Erscheinung lässt ihn durchaus als
ein Wesen aus dem Bereich des Phantastischen erscheinen:
Die große Mähre war fast verhungert und schleuderte mit verzweifelter Kraft ihre
riesige Hufe. Den knochigen Schädel weit vorgestreckt, die Ohren rückwärts
angelegt, so jagte dieses Tier an mir vorüber. Sein trübes glanzloses Auge traf mich –
es war blind. Ich hörte das Knirschen seiner Zähne, und als ich ihm aufschaudern
nachblicke, sah ich sein zerschundenes, blutiges Hinterteil glänzen. Der rasende
Galopp dieses lebenden Skeletts kannte kein Einhalten. (98f.)
Längst vor die Tierinvasion, die den Untergang des Traumreichs einleitet,
hereinbricht, ist das Animalische schon mit den Geheimnissen Pateras verknüpft. Das
“große Rätsel” des Klapses lernt der Erzähler in Gestalt des weißen Pferdes kennen,
dem er in einem unterirdischen Gang begegnet223. Schroeder zieht eine Verbindung
vom tatsächlichen Untergang Perles zum Pferdeauftritt: das “Donnern” (229), welches
das Ende besiegelt, hat seine Entsprechung im “furchtbaren, taktmäßigem Dröhnen”
(98), das als Geräusch des Galopps das Schlussbild von den apokalyptischen Reitern
vorwegnimmt. Somit scheinen diese von Anfang an wesenhaft zum Traumreich zu
222
Ebd., 128
In der Endphase des Untergangs enthüllt sich der Gang als unterirdisches Labyrinth, auf dem Perle
erbaut wurde (256).
223
77
gehören. Anmerkungsweise wird allerdings noch festgehalten, das wildgewordene
Pferd kehre in Kubins zeichnerischem Werk wieder.224
Die Assoziation des Pferdes mit den Bereichen des Todes und des Unheimlichen
verweist in der Tat auf ein im Werk Kubins wiederkehrendes Motivkomplex. Ein
nicht unbeachtlicher Teil der frühen Blättern hat Kubin das Pferd, meist als furchtbare
Erscheinung in entsprechend dramatischer Szenerie, dargestellt.225 Im Blatt “Aus
einem Traum” (1903/05) galoppiert ein Schimmel einen dunklen, eingewölbten Gang
mit Pflasterboden entlang, sein Fell spannt sich knapp über die hervortretenden
Rippen und auch die Kruppe wirkt knochig. Lippuner stellt richtig fest, dass “[…] die
Kopfhaltung, die zurückgelegten Ohren und das große, wie blind anmutende Auge
[…] fast genau der Illustration in der Anderen Seite entsprechen.226. Kubin führt seine
Faszination mit aufjagenden Pferden auf eine Jugenderinnerung zurück, die er als
Anekdote in “Angst und Bangigkeit” erläutert.227
Es sei nochmals daran zu erinnern, dass Bell auf einem schwarzen Hengst reitet – wie
erörtert ein Attribut, das ihm in die Nähe des Teufels rückt. Ein weiterer Hinweis, der
für diese Annahme spricht, ist das Blatt “Der Teufel als Hengst” (1913), das Kubin
etliche Jahre nach der Veröffentlichung der Anderen Seite angefertigt hat. Wenn
schon der Titel vielsagend ist, trägt dieses Pferd überdies noch ein schwarzes Fell.
Folgerichtig ist das weiße Pferd dem Bereich Pateras zuzuteilen: der Klaps, mit dem
es gleichzeitig erscheint, ist ja das “innere Gesetz des Traumreichs und als Gegenwelt
224
Schroeder, 1970: 89f. u. Anm. 54.
In der Zeichnung Hungersnot (1901/02) (Bild 12) hat Kubin Leben und Tod einheitlich zum
Ausdruck Ausdruck gebracht, indem ein enthaupteter Reiter seinem Pferd (hinten Skelett, vorn
Apfelschimmel) den Kopf auf einer vorgestreckten Lans vorhält, dem es in tobsüchtigem Galopp
hinterherrrennt. Treffend sind die physiologischen und perspektivischen Ähnlichkeiten zwischen dem
weißen Pferd der Anderen Seite und dem Pferd der Hungernot-Darstellung. Dem “Hungersnot”-Bild
hinzuzufügen sind beispielsweise “Vor den Stufen” (1900-1903), “Totenbraut”, (um 1900),
Pferdebastard (1900-1903,) “Adoration” (um 1900), “Schlächter” (1897), “Das heilige Aas” (1903),
Hungersnot (1901/02) zu erwähnen.
226
Lippuner, 1977: 107
227
“Als kleiner Junge spielte ich in unserem Dorfe auf der Straße. Auf einmal hörte ich ein Getümel
und Rufen: ein Pferd hatte sich frei gemacht und galoppierte die Straße herauf. Mich erfasste ein
unsagbare Angst vor dem heranstürmenden großen Tier, ich wollte in ein Haus flüchten, war aber zu
klein, um den Türgriff zu erreichen. Im Augenblick der größten Qual ging das Haustor wie durch ein
Wunder von selbst ein wenig auf, ich zwängte mich durch den Spalt und schlug es hinter mir wieder
zu; da hörte ich von meinem Versteck aus schon die scharfen Schläge der Hufe des herantobenden
Pferdes. Seither – es sind mehr als 45 Jahre vergangen -, erfasst mich jedesmal eine Angst und
rätselhafte Bangigkeit, wenn ich ein scheues Pferd in meiner Näher bemerke. Auch treibt es mich
immer wieder, solche Vorgänge künstlerisch zu gestalten.” Kubin, A. “Angst und Bangigkeit”. In:
AmW, 27. In einem späteren Werk “Der Gaulschreck” (1920) hat Kubin das Pferdemotiv in ähnlichem
Zusammenhang nochmals aufgegriffen: ein Mann flieht vor einem herantobenden Pferd, das ihn
ohnehin bald niedertreten wird. Noch in den späten dreißiger Jahre soll Kubin auf die Errinerung
zurückgreifen, so etwa in “Erregte Pferde” (1935/40).
225
78
zum Rationalen mit ihm gekoppelt”.228 Es ist nicht ohne Grund, dass gerade wenn das
Traumreich der Schlafepidemie verfallen ist, das Pferd noch einmal in Erscheinung
tritt. Der Traumzustand ist an diesem Punkt in eine eigentliche “Bewusstlosigkeit”
weitergeführt. Doch auch im Traumreich bleiben dem Erzähler im Wachzustand die
Bilders des Unterbewusstseins verschlüsselt. Wie in der Normalwelt verschafft ihm
erst der Traum diesen Zugang. Im Abschnitt “Der Verwirrung des Traums” greift
Kubin tatsächlich auf dieses “Chinese Box”-Verfahren zurück. Brandstetter ist
durchaus Beifall zu zollen, wenn sie diesen Traum als einen “Kernstück der Anderen
Seite” betrachtet, der “die bildnerisch-phantastische Traum-Motivik mit Formen der
Traum-Komposition in einer Kristallisation aller von Kubin eingesetzten Mittel”
vereinigt. Überdies tritt in diesem Abschnitt der Zeichner Kubin am meist zu Tage:
die Schilderung der grotesken Szenerie des Traumerlebens entspricht der Thematik
einer großen Menge Zeichnungen aus dem graphischen Oeuvre. Es scheint
angebracht, den Traum näher zu beleuchten.
4.3.3 “Die Verwirrung des Traums”: Ein Traum im Traum
Wie Traum und Realität im Traumreich unterschiedslos ineinandergehen zeigt der
anschauliche beschriebene Abschnitt “Die Verwirrung des Traums” (149-153), wo die
Traumebene gleichsam potenziert wird. Protokolliert wird hier nämlich ein “Traum
im Traum”, dem der Erzähler eine Illustration beigefügt hat. Dieser Nachttraum des
Erzählers ist von der rationalen Kontrolle befreit, die ansonsten schon im Interesse
einer zusammenhängenden Erzählung gefordert ist. Da die kausalen Gesetze im
Traum ausgeschaltet sind, gestaltet sich der Ablauf des Geschehens alogisch und
traumeigentümlich. Im Traumzustand spitzt sich das einzigartige Vermögen der
“schöpferischen Einbildungskraft” zu: vom kontrollierenden Intellekt gelöst, hat die
Phantasie hat freies Spiel.
Obwohl Kubin sich in der Beschreibung des Traums nicht für eine metaphorische
Sprechweise entscheidet, entbehr seine Sprache keineswegs verdichtender Bildkraft.
Brandstetter bemerkt, dass Kubins erzählerischer Darstellungsstil nichts von
228
Lippuner, 1977: 108
79
Symbolhaftigkeit an sich trägt: “gerade da, wo sie am plastischsten und
bildgesättigsten ist, verweist seine Sprache auf sich selbst.”229:
Endlich fiel er wie vom Schlage getroffen zu Boden, erblasste, sein Leib wurde licht
und durchsichtig, und man sah deutlich in seinen Eingeweiden zwei kleinen
Eisenbahnzüge herumsausen. (150)
Das scheinbar so selbstverständliche und deckungsgleiche Zusammenfallen von
Zeichen und Bezeichnetem ist es gerade, was seiner Traumdarstellung den
phantastischen Charakter
Zuordnungssicherheit,
die
gibt. Mit
der konventionalisierten Begriffs- und
normalerweise
für
die
Kommunikationsformen
dergeordneten Alltagsrealität des Leser charakteristisch ist, benennt Kubin in seinen
Traum-Passagen
vollkommen
Unwahrscheinliches,
Unerwartetes
und
Unvorhersehbares. Dadurch bricht der Kontrast zwischen Traum- und Wach-Realität
um so befremdlicher auf und bewirkt eine doppelte Irritation: erstens durch die
dargestellten, rätselhaft-undurchsichtigen Vorgänge selbst, und zweitens durch die
sprachliche Gleichsetzung bzw. Gleichbehandlung von selbstverständlicher AlltagsWirklichkeit mit der Gegenwelt des Traums.230
Im vorangehenden Abschnitt “Die Klärung der Erkenntnis” legte der Erzähler die
Philosophie der Blauäugigen dar. Noch von den Geschehnissen dieses Tages tief
beeindruckt, schläft er “mit großen Gedanken ein.” (149) Doch der Traum, der ihn
diese Nacht überfällt, kennzeichnet er als “weniger großartig”: nur “seiner
Sonderbarkeit wegen” möchte der Künstler ihn erzählen. Betrachtet man jedoch die
Zeichnung so erscheint diese Auskunft in einem auffallenden Gegensatz zur
minuziösen Schilderung und der Stellung im Gesamtgefüge des Romans. Das Kapitel
“Die Verwirrung des Traums” markiert nicht nur den Übergang zum zweiten
Hauptteil (“Der Untergang des Traumreichs”); Schroeder hat darauf hingewiesen,
dass auch die dazugehörige Illustration einen auffällig zentralen Platz einnimt.231 In
der Tat ist sie die sechsundzwanzigste Illustration von insgesamt einundfünfzig und so
trifft der Anspruch Brandstetters auch auf einer formalen Ebene zu, der Abschnitt als
229
Brandstetter, G. 1980: 261
Ebd.
231
Schroeder, 1970: 110. Anm. 20.
230
80
einen Kernpunkt zu betrachten. Die Zeichnung gehen nämlich fünfundzwanzig Bilder
in den ersten sechs Kapiteln voraus, ebensoviele folgen in den letzten sechs Kapiteln.
Um die Eigenständigkeit von Kubins sprachlicher Traum-Phantastik und ihr
Zusammenspiel mit dem (gezeichneten) Bild zu erkennen ist es lohnenswert, Kubins
Illustration dieses Traumes heranzuziehen (Bild 13). Allerdings sei zunächst
anzumerken, dass mit Rücksicht auf die Stelle im Roman, die Kubin dem
Traumprotokoll zugewiesen hat, den Versuch, wie etwa dies Lippuner vorschlägt, den
Inhalt in einen größeren bildkünstlerischen Rahmen einzuordnen, nicht genügt. Zwar
hat Kubin in der Illustration verschiedene Motive verarbeitet, die im Frühwerk schon
nachweisbar sind. Dies allein rechtfertigt jedoch noch nicht die weitgehende
Relativierung, das ganze Bild etwa als eine bloße Kompilation zu betrachten.
Abgesehen
von
der
Einmaligkeit
der
vorliegenden
Bildkomposition
(die
Wiederaufnahme verschiedenster Motive in einen neuen Zusammenhang fordert eine
neue Betrachtung) ist noch der kontextuelle Faktor zu berücksichtigen: eine
Illustration stellt ja in erster Linie eine bildliche Erläuterung zum Text dar. Es
empfiehlt sich also vielmehr von einer Modifikation, als von einer Wiederholung der
Motive zu sprechen. Diese Überlegungen möchten wir jedoch erst an späterer Stelle
anstellen.
Im Hinblick auf das Thema dieses Kapitels, scheint es mir angemessen, für die
Analyse des Traumsprotokolls die Aufmerksamkeit namentlich auf den Traum selbst
zu richten. Dieser Anforderung gerecht zu werden, schlagen wir einen
psychoanalytischen Eingang vor. Keineswegs ist es aber die Absicht, eine
durchgängige Analyse auf Freudscher Grundlage durchzuführen. Schon Karl Jaspers
wies auf die Gefahr tiefenpsychologische Ausdeutungen hin, die er als “immer stärker
werdenden Zug innerhalb der psychoanalytischen Bewegung” aufzeigt: “Es wird
verwechselt das Sinnverstehen mit dem kausalen Erklären.” Außerdem eignet sich der
Abschnitt schon dem Umfang wegen nicht für eine Analyse. Würde man den
Anweisungen Freuds Folge leisten, so bedürfte eine Analyse im Vergleich zum
Traumprotokoll das “sechs-,acht-, zwölffache an Schriftraum.”232
232
Freud, S. Die Traumdeutung. Frankfurt a. M, 1991: 285. Zit. nach Geyer, 1995: 122
81
Der Schauplatz des Traumes ist der Vorplatz, nach dem der Erzähler sich aus einer
erhabenen Sicht blicken sieht. Betrachtet man aber die Zeichnung, so stellt sich
heraus, dass diese nicht der Schilderung entspricht, so wie sie vorher gegeben wurde.
Das “Gewirr von Brücken, Türmen, Windmühlen, Bergzacken” weist nur wenig
Gemeinsamkeiten mit dem “kleinen Dörfchen” (143) von vorhin auf. Prägen sich die
“hochwachsene, sehnige” Blauäugigen durch eine erhabene Serenität aus, so bewegen
sich die “große und kleine, dicke und dunne” Bewohner dieser Stadt recht hektisch
“in einem Gewirr”. (149). Allerdings gehören diese Unterschiede zur Eigenart des
Traumes, Erlebnisse des Wachlebens gleichsam “Tagesreste” darzustellen. Nach
Freud sei “in jedem Traum eine Anknüpfung an die Erlebnisse des letztabgelaufenen
Tages aufzufinden.”233 Der unbewusste Wunsch bahnt sich tags oder im Schlaf einen
Weg zu den Tagesresten, auf die übertragen wird: “Es entsteht nun ein auf das recente
Material übertragener Wunsch, oder der unterdrückte recente Wunsch hat sich durch
Verstärkung aus dem Unterbewussten neu belebt.” Als “Tagesreste” erscheinen im
Traum neben den Blauäugigen auch der Müller und ein Schimpanse. Überaus
traumhaft ist weiterhin die passive Position des Erzählers zu, aus der er die Bilderflut
des Traum-Geschehens beobachtend registriert. (in der Zeichnung in der rechtunteren
Ecke).
Die Gegenwart des Müllers, dem der Erzähler des Brudermordes verdächtigt, könnte
darauf hindeuten, dass es sich hier um einen Angsttraum234 handelt. Während er im
vorangehenden Kapitel nur eine Verdacht hegt, erweist sich diese nunmehr als
Gewissheit, indem er eine Geständnis ablegt: “ich habe ihn umgebracht.” Wie im
Traum
werden
Zeit-
und
Raumdimensionen
ihrer
unumstößlichen,
wirklichkeitskonstituierenden Funktion beraubt. Denn der Versuch des Müllers, den
Künstler ins Wasser zu werfen, kann von jener gerade noch abgewehrt werden, indem
er “sein linkes Bein […] in die Länge zieht” und so mühelos den anderen Ufer
erreichen kann. Nach Freud ignoriert das Unbewusste die Größenunterschiede
ignoriert. Im Traum kann das Kleine zu etwas Großem wachsen oder das Ferne
plötzlich ganz nah erscheinen – und umgekehrt.
Durch das Unbewusste ignoriert werden überdies die Zeitunterschiede. Ereignisse, die
zu verschiedenen Zeiten stattfanden, können im Traum also nebeneinander
233
Freud, 2005: 176
Freud lenkt in der “Traumdeutung” die Aufmerksamkeit besonders auf jenen Typus von
Angstträumen. Vgl. ebd., 337ff.
234
82
vorkommen. Nicht zufällig hat Kubin diese Gegebenheit, das heißt, die eigentümliche
Empfindung der Traum-Zeit in wörtlichem Sinne bildlich dargestellt:
Und nun hörte ich um mich herum ein vielfaches Ticket und gewahrte eine Menge
flacher Uhren der verschiedensten Größen, von der Turmuhr bis zur Küchenuhr und
der kleinsten Taschenuhr hinab. Sie hatten kurze Stummelbeine und krochen wie
Schildkröten unter aufgeregtem Ticken durcheinander auf der Wiese umher. (149)
Die verselbständigenden Uhren veranschaulichen ein in den Traum potenzierter
“Tagesrest” aus dem Alltagsleben des Erzählers. Sie verweisen auf den “großen
Uhrbann”, dessen bisher ungeklärtes Geheimnis der Künstler im Unbewussten
heimsucht. Als Tagesrest dürfte auch der Schimpansee auf den Alltag zurückzuführen
sein, und zwar auf den Affen des Friseurs “Giovanni”, den sein Herr die Kunst des
Schneidens beigebracht hat. (68) Aufschlussreich im Kontext zum Traum ist die
Darstellung verschiedenster Tiere in der Illustration. Hier wird ein weiteres Merkmal
des “Traum im Traums” deutlich, auf weiteren Stellen im Roman voraus und zurück
zu verweisen. Wie die Uhren als “Tagesrest” auf den Uhrbann verweisen, deuten die
Tiere auf den weiteren Verlauf der Erzählung voraus, nämlich die Tierinvasion im
dritten Teil.
Eine besonders umfassende Kompositionslinie vom abgeschlossenen Traumprotokoll
zum ganzen Roman-Komplex besteht im Prinzip der Verwandlung, dem im
Traumreich alles unterliegt. Nicht nur in der Geldwirtschaft, im Besitz, in den
Gegenständen, sondern selbst im unfassbaren Geschöpf Patera kommt die ständige
Metamorphose zum Ausdruck, wenn dieser in den Amerikaner verwandelt. Das
Prinzip ist nicht nur kennzeichnend für die Empfindung im Traum; es geht überdies
auf die kurz vorher erworbene Erkenntnis des Erzählers zurück, dass alles im
Traumreich durch ein gemeinsames Band verknüpft und gegenseitig austauschbar ist.
4.3.3.1 Verdrängung: Sexualsymbolik im “Traumprotokoll”
In der “Traumdeutung” behauptet Freud, alle Träume seien Wunschträume, die
Angstträume nicht ausgenommen: “Das sein psychischer Vorgang, der Angst
entwickelt, darum doch eine Wunscherfüllung sein kann, enthält für uns keinen
83
Widerspruch
[…]”.235
Tatsächlich
finden
sich
im
Traum
verschiedene
Sexualsymbole. Wie erwähnt besteht die Landschaft aus ein “Gewirr von Brücken,
Türmen, Windmühlen, Bergzacken”. Bei dieser Betrachtung drängt sich die
Freudsche Erklärung auf, dass “viele Landschaften der Träume, besonders solche mit
Brücken oder bewaldeten Bergen unschwer als Genitalbeschreibungen zu erkennen”
seien.236 Als auffälligste und unmittelbar entschlüsselbare Genitalbeschreibungen sind
die “apfelgrüne[n] Strünke”, die “wie Riesenspargel dichtgedrängt aus dem feuchten
Boden sprossen” (150) und die “kolossale Muschel” (153) zu erkennen. Brandstetter
behauptet, der Riesenspargelzaun sei als Pendant zu einer früher dargestellten
phallischen Landschaft der morchelartigen Pilze in den verrufenen Sümpfen (81)
(Bild 14) und zu den “heiligen” Gegenständen der sonderbaren (Fruchtbarkeits)Religionen des Traumreiches zu betrachten, in der “Haare, Horn, Tannenzapfen,
Pilze, Heu” (80) verehrt werden; nicht zufällig phallische Symbole, wie sie als
Bildmotive schon bei Bosch und Brueghel und später bei Felicien Rops237
Verwendung fanden.238 Die Entsprechung zu den phallischen Gebilden gibt die
Illustration des “Tempels” (Bild 15), dessen Tor ein Vagina-Symbol und der Eingang
zu “Mysterien”, in denen die “Organe der Fruchtbarkeit” die zentrale Rolles pielen,
ist. An dieser Stelle erscheint erstmals das Zwitter-Motiv, denn der Kult muss
folgerichtig als eine zweigeschlechtlicher verstanden werden. Im Endkampf wird die
Bahnsensche Aussage, nach der der “Demiurg” ein “Zwitter” ist, auch buchstäblich
vor Augen geführt.239
Als sexuell konnotiert erweist sich der Sumpf überdies wenn man die Blätter “Sumpf”
(1900) “Urschlamm” (1904) ( Bild 16) und “Sumpfplanzen” (um 1905) (Bild 18) und
heranzieht: ersteres zeigt eine nackte Frau in der Gestaltungsweise primitiver
Ebd., 343. Freud erläutert: “Eine Wunscherfüllung müsste gewiss Lust bringen, aber es fragt sich
auch, wem? Natürlich dem, der den Wunsch hat. Vom Träumer ist uns aber bekannt, dass er zu seinen
Wünschen ein ganz besonderes Verhältnis unterhält. Er verwirft sie, zensuriert sie, kurz, er mag sie
nicht. Eine Erfüllung derselben kann ihm also keine Lust bringen, sondern nur das Gegenteil davon.
Die Erfahrung zeigt dann, daß dieses Gegenteil, was noch zu erklären ist, in der Form der Angst
auftritt.” Freud, 2005: 344
236
Ebd., 358
237
Félicien Rops (1833-1898) war ein Belgischer Graphiker und Maler. Zeit seines Lebens hat Rops
zahlreiche (anstößige) radierungen für Titelblätter und Buchillustrationen geschafft. In seinen
Radierfolgen verbinden sich Sexualität und Mystik zu einem theatralen, dem Satanismus huldigenden
Symbolismus. Brockhaus Enzyklopädie, 1986. 18. Bd.: Rad-Rus: 554
238
Zur Symbolverklärung vgl. Schlégl, M; Cinotti, I. Das Gesamtwerk von Hieronymus Bosch.
Mailand 1966: 118f. Zit. Nach Lippuner, 1977: 66
239
“Patera und der Amerikaner verkrallten sich zu einer unförmigen Masse, der Amerikaner war
gänzlich in Patera hineingewachsen.” (263)
235
84
Kulturen240, zweiteres eine im Sumpf liegende, ebenfalls nackte Frau, aus deren
Körper exotische Pflanze wachsen. Das frühe Blatt “Naturgeschichte” (vor 1900)
(Bild 19) zeigt eine sumpfige Dschungellandschaft, dessen Vordergrund von einem
Tiger eingenommen wird, der sich über eine nackte Frauenleiche – wohl sein Opfer –
biegt.241 Wie im zeichnerischen Werk ist der Sumpf in der Anderen Seite die
Heimstätte des Urzustandes, die Antithese zum zivilisierten bzw. städtischen Leben,
oder, so man will, das dionysische Prinzip des Irrationellen bzw Rauschhaften
gegenüber dem apollinische Prinzip der Ordnung.242 Wenn der Erzähler und seine
Frau auf ärztliche Verordnung zur Erholung der letzeren einen Ausflug aufs Land
machen, die Frau sodann starkes Fieber bekommt und das Paar zur Zurückreise
entschließt, gerät es in einem Sumpf: “Ein Huschen und Rascheln hub an, die
Dämonen des Sumpfes regten sich. Meine Frau litt unter Schüttelfrösten und presste
sich eng an mich.” (116). Als es nach der Ankunft in der Stadt heißt: “ich wusste jetzt,
dass ich eine Todkranke heimbrachte” und die Frau kurz daraufhin auch tatsächlich
sterbt, überschneiden sich Tod und Sumpf-Bild in einer unheimlichen Bedeutung. Zu
betonen sei hier allerdings, dass der Sumpf nicht nur außerhalb der Stadt liegt,
sondern im Grunde das ganze Traumreich ein Sumpf ist: Patera hat sein Reich ja in
einem Sumpfgebiet das Traumreich angelegt (52). Analog zum Verfall der Sitten, der
die Menschen in einen urwüchsigen Zustand versetzt, verwandelt Perle während dem
Untergang in einen Sumpf:
Die unzähligen Geschöpfe, welche Perle durchwandert, die Gärten verwüstet und die
Menschen geängstigt hatten, alle stammten sie aus dem Sumpfe, der sich viele Meile
ins graue Dunkel erstreckte. (241)
240
Die Frau hat einen im Verhältnis zu ihrem Kopf riesigen Körper, der nach oben ausgedehnt ist. Die
Haare sind gleichsam um den Körper drapiert und reichen bis über die breiten Hüfte.
241
Es sei darauf hingewiesen, dass die Reihe der Illustrationen des Romans (das Selbstporträt
ausgenommen) mit der Tigerdarstellung anfängt. (Bild 17) In der Lebensgeschichte Pateras führt eine
Tigerjagd und eine aus ihr hervorgehenden Verletzung unmittelbar zur Gründung des Traumreichs.
Während der Untergangsskatastrophe wiederholt sich diese Geschichte, indem ein Tiger sein
(weibliches) Opfer nur leicht verletzt (194f.). In der Tat liegt der Verdacht nahe, dass der Tiger eine
andere Gestalt Pateras ist. Der Herrscher selbst wird jedenfalls an mehreren Stellen als Raubkatze
personifiziert; in seinem Palast gebe es überdies einen “riesigen Tiger.” Das Symbol des Tigers als die
Personifikation der Macht im Werk Kubins ist allerdings nicht neu. In “Der Herr der Erde” (um 1900)
lagert auf einem großen Kissen ein Tiger, der von turbantragenden Diernen umgeben ist. Seine
Gefärlichkeit wird durch zwei mit den Köpfen seiner Opfer bedeckte Tabletts betont.
242
Damit eröffnet sich eine bemerkenswerte Parallele zu Thomas Manns Novelle Tod in Venedig: auch
Mann bringt das Bild des Sumpfes in einem dionysischen Zusammenhang. Wie die verhängnisvolle
Reiselust des Protagonisten mit der Vision eines Sumpfes einhergeht, so soll auch die fatale Seuche
“aus warmen Morästen” erzeugt sein.
85
Gerade in einem Sumpfgebiet hat Patera das Traumreich angelegt (52). Analog zum
Verfall der Sitten verwandelt Perle während dem Untergang in einem Sumpf, (241) in
dem “unzählige Träumer, Bauern, Fischern” ihr Ende finden. (Ebd.) Dass “diese
Wildnis” im Traumland dennoch “für heilig” (Ebd.) gilt, lässt sich aus dem vorher
erwähnten, heidnischen Kultus erklären:
Wie ich erfahren habe, opferte er [Patera, RB] im Namen des Traumvolkes “der
Sumpfmutter”243 – und verband sich aufs neue mit ihr - in Mysterien, in denen Blut
und Geschlecht besonders bedeutsam waren. (Ebd.)
Wiederum stehen die Begriffe “Sumpf” und “Sexualität”, in Gestalt einer Art
“Urmutter” konkretisiert, in unmittelbarer Beziehung zueinander. Es wundert nicht,
dass der Stamm der Blauäugigen – trotz ihrer Nähe zu Patera – “von all diesen
Bräuchen fern blieb” (242): ihre aufgeklärte Kultur ist dem Stadium des
Geschlechtstrieb und deren Verehrung längst entwachsen.
Die Nachforschungen des Erzählers über die Hintergründe des Fruchtbarkeitskultus
bleiben allerdings vergeblich – gerade an solche unerledigte Fragen aber knüpft der
Traum an.244 Eindrucksvolle, im Wachleben erschauten Bilder beschwört der Geist im
Traum wieder herauf. Assozationen mit dem Phallischen und Vaginalen die im
Bewusstsein verdrängt werden, können sich im Traum ungehemmt weiterentwickeln.
Abgesehen von dieser Wiederaufnahme deutet nach Freud die Uhr auch als ein
Symbol für das weibliche Genital.245
Freud zufolge gehört der Angsttraum zu jenem Typus von Träumen, “die mitten im
Schlaf zu wecken vermögen.”246 Das letzte Bild, das der Künstler vor seinem
Erwachen sieht, ist eine “kolossale Muschel”:
“Da, ein neues Unheil! Die Muschel öffnete sich schwerfällig, mein Standort wurde
abschüssig, in ihrem Innern zitterten gelatineartige Massen ------- ich erwachte.- (153)
Kubin gestaltet das Thema noch einmal in der “Sumpfmutter” (1922).
Im Kapitel „Das Traummaterial und die Traumquellen“ äußert Freud die These, dass rezente
Eindrücke (d. h. kürzlich, im Laufe des Vortages gewonnene) gegenüber indifferenten (d. h.
unbestimmten, nicht mit einem expliziten, kurz zuvor aufgetretenen Ereignis) in der Traumbildung
deutlich überwiegen. Vgl. Freud, 2005: 112-189.
245
Vgl. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt a.M., 1991: 255. Zit. nach
Geyer, 1995: 126. Folgt man der Interpretation Müller-Thalheims, so spielt der große Uhrbann an und
für sich als Allegorie einer Latrine schon auf die freudschen Themen der “analen Phase” und der
Verdrängung an. Vgl. Müller-Thalheims, 1970: 39f.
246
Freud, 2005: 340
243
244
86
Wenn schon die Muschel unschwer als eine Anspielung auf das weibliche Geschlecht
zu erkennen ist, so muss sie im Riesenumfang eine für den Erzähler um so größere
Bedeutung haben. Erinnern wir uns an die kurze Liaison mit Melitta Lampenbogen,
mit der sich der Erzähler unmittelbar nach dem Tod seiner Frau einließ. Offenkundig
spiegelt sich im Traum das Schuldbewusstsein des Künstlers, sich einem spontanen
Trieb hingegeben zu haben. Späterhin bekennt er, den Fehltritt zu bereuen und “die
Last des lebendigen Fleisches” besonders stark zu spüren: “Selbst in dieser Stunde
neckten mich zwischendurch laszive Gedanken, welche gleich Blasen in mir
aufstiegen und zerplatzten.” In der Übermittlung dieser Affäre nämlich bezieht sich
der Erzähler wörtlich auf das “Pendelgesetz”, und zwar in Zusammenhang mit seinem
Schicksalsdenken. Überdies gibt er nähere Auskunften über die Art seiner Handlung.
Nach den jüngsten Geschehnissen ist der Erzähler “ohnmächtig und verzweifelt”: “an
der Oberfläche meines Bewusstseins war ich empört über mich selbst.” Der
österreichische Psychologe Viktor Frankl247 meint, dass der Wille zur Lust erst Raum
gewinnen würde, wenn der Wille zum Sinn früstriert sei: “In das existentielle
Vakuum, in diese Sinnleere wuchert das Libido hinein”. Der ‘Wille zur Lust’ tritt
“eigentlich erst dann in Erscheinung, wenn der Wille zum Sinn früstriert ist.”
Dementsprechend erklärt sich der durchaus unvorhergesene Entschluss aus dem
traumatischen Verlust seiner Frau, das den Künstler momentan um seine Vernunft
gebracht hat. Der Impuls aber soll “irgendwo im Tiefe”, wohl dem Unterbewusstsein,
angesetzt haben. Handelt er etwa in einem Anfalls von Geistesverwirrung? Allerdings
ist der Künstler sich bewusst, dass sich hier höhere Macht regen:
“[…] blitzartig wandelte sich jetzt alles, allen in einem gesammelten, starren,
einheitlichen Willen: so wurde es irgendwo bestimmt. (132)
Einen wesentlichen Einfluss auf die Art von des Traumes können nach Freud auch
somatische, das heißt, körperliche Reize haben. In Anbetracht dessen würde es nicht
wundern, wenn sich im Traum des Erzählers die Kopulation wiederholt.248 Zwar
247
Viktor Frankl, 1905-1997. Österreichischer Neurologe und Psychiater. Er begründete die
Logotherapie bzw. Existenzanalyse („Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“).
248
Die Liebelei mit Melitta wird weitergefürht. Durch versteckte Hinweise vermag der Künstler sie
letztendlich zum Liebesakt zu verführen, der allerdungs nur implizit vorliegt: “Ich spürte den
87
widerspricht dem die freudsche These, dass der Traum im Grunde eine
Wunscherfüllung sei – einmal befriedigt braucht sie nicht mehr unterdrückt bzw.
heimlich verlangt zu werden -andererseits erhält sich unterbewusst der Biss ins
Gewissen.
Schon Melitta Lampenbogen selbst ist eine recht markante Persönlichkeit, in der das
Frauenbild Alfred Kubins gleichsam verdichtet wird. Eine nähere Betrachtung des
Frühwerks ergibt, dass Frauenfiguren durchgehend mit einer bedrohlichen Sexualität
behaftet sind. Zu Recht konstatiert Neuhäuser, dass Melitta “die Verlockung einer
unterdrückten Sexualität [verkörpert], die, eben weil sie unterdrückt ist, so mächtig
wirkt.” Sie ist die femme fatale der decadence, der Inbegriff der sexuellen Macht.
Weniger als eine weibliche Figur ist sie für den Erzähler
eine aus erotischen Signalen zusammengesetzte Figur, die mit ihrem plaktiven
Schönheitsyp sowohl die unerfüllten sexuellen Sehnsüchte des Erzählers als auch
seine reale Angst und Verachtung darstellt.
Die Theorie Freuds geht davon aus, dass im Unterbewusstsein sich alles Verdrängte
befindet, das sodann im Traum zum Ausdruck kommt. Es ist nur folgerichtig, dass die
unterbewusst empfundende Erregbarkeit vor dieser mächtiger Frau von der Zensur
(Schamgefühl) im Wachleben unterdrückt wird, sich im Traum aber (verschlüsselt)
wieder kundtut. Dieser kulminiert allerdings in einen schauderhaften Klimax. Der
Ansicht Geyers, den Traums als einen Angsttraum zu bezeichnen, ist beizustimmen;
Freud weist ja ausdrücklich auf das “sexuelle Material” in den “Traumgedanken der
Angstträume hin.”
Neben den sofort dechiffrierbaren Genitalsymbolen finden sich im Traum auch noch
subtilere erotische Anspielungen:
Ein in grünes weiches Leder gekleideter Mann, mit einer Mütze, welche wie eine
weisse Wurst aussah, saß auf einem entlaubten Baume und fing aus der Luft Fische.
Er hing sie dann an den Zweigen auf und im Nu waren sie gedörrt. (149).
berauschenden, im Traumland nur zu bekannten Luft – meine Frau hatte für mich nie gelebt. ---“ Es
folgt ein neuer Absatz, der Erzähler ist wieder draußen: “Auf der Straße war es Ruhig, […]” (136)
88
Nach der Freudschen Darstellung der Traumarbeit wären die Fische, und eventuell
auch die Mütze des Mannes, als mänliche Genitalsymbole zu deuten.
Eine besonders aufschlussreiche Figur im Traum ist allerdings der Schimpanse. Trotz
seiner Kultivierung und seinem menschähnlichen Benehmen bewahrt auch Giovanni
nicht vor dem alles beherrschendem Geschlechtstrieb. Nach dem Ausbruch der
Tierinvasion gefährden “Überfälle [von] scharenweisenweise auftretenden großer
Affen” der Bevölkerung. Als Sinnbilder der brutalen männlichen Sexualität schonen
“diese Teufel […] weder Frauen noch Kinder.” Dem Geschlechtstrieb erliegt
schließlich selbst der vermenschlichte Affe Giovanni, wenn er die Versuchung einer
schönen Meerkätzin nicht widerstehen kann. (185) Die Bedeutung, die dem AffeMotiv im sexuellen Sinne in der Anderen Seite zugrunde liegt, lässt sich von den
anderen Werken her erschließen. Im Blatt “Wissenschaft” (1901/02) (Bild 20) ist der
Affe nicht nur als eine Parodie auf das wissenschaftliche Bemühen des Menschen zu
verstehen,249 sondern auch im Sinne einer anderen geläufigen Bildtradition, in der er
als Symbol des menschlichen Geschlechtstriebes erscheint. Der Begriff “Forschritt”
ist im wörtlichen und übertragener Bedeutung gestaltet: der liegende Mann verhindert
gleichzeitig Schritt als Fortschritt des Affens: beide enden an demselben Punkt, dem
Gesclecht des Mannes. Im Blatt “Der Affe” (1903/06) (Bild 21) umklammert ein
Gorilla mit der einen Hand eine Frau, indem er sie mit der anderen onaniert. 250 In
seinem weit aufgesperrten Maul steckt die Friseur der Frau, die den Affen lässig
ergeben gewähren lässt.. Die Zeichnung “Ein für Alle” (um 1902) zeigt die Frau als
verfügbares Sexualobjekt. Der Opfer, eine an die Wand gefesellte nackte Frau, ist der
Gewalt der drei sich nähernden Gestalten – wiederum Affen! – völlig ausgeliefert.
Phantasiert wird also das passive Sexualobjekt, das jeder Begierde ausgeliefert ist.251
Der menschenähnliche Affe verkörpert folgerichtig die Triebnatur, das Tierische im
Menschen. In diesem Sinne erscheint er sowohl in den frühen Zeichnungen, wie in der
Anderen Seite.
Zuletzt scheint die folgende Szene einer näheren Betrachtung, zumal sie über die
persönliche Ebene des Zeichners hinausweist:
249
Vgl. 4.3.4.2
Zum Vergleich lässt sich das Bild “Geilheit” (1900) heranziehen. Einem dichtbehaarten Hund mit
erigiertem Riesenpenis, aus dem Samen tropft, ist eine im Hintergrund dargestellte Frau
gegenübergestellt, die er gleichsam im Schach hält
251
Vgl. Neuhäuser, 1998: 88
250
89
Der tote Müller […] hatte in Krämpfen einen Kranz von vielen Hunderttausenden
milchiger, weisser Eierchen gelegt, aus denen sich Legionen von Schnecken
entwickelten, die ihren Erzeuger sogleich begierig auffrassen.
Geyer zufolge ließe sich der Vorgang des Eierlegens, der normalerweise
ausschließlich mit dem weiblichen Fortpflanzungsverhalten verknüpft wird, auf eine
Anspielung auf die männliche Ejakulation deuten. Die Schnecken, die aus den Eiern
schlüpfen und den Müller verschlingen, entsprechen nach dem Freudschen
Interpretationsmuster dem Symbol des weiblichen Genitals.
4.3.3.2 Literarische und bildkünstlerische Vorlagen des Traumprotokolls
Die Kunstwissenschaft hat Kubins Orientierung an Vorbildern nachgewiesen.
Schmied zählt detaillierte Belege für die Abhängigkeit von Redon und Ensor auf und
verweist weiterhin auf Goya und Charles de Groux; zwei Künstler, auf die Kubin sich
in seiner Selbstbiografie bezieht. Lippuner befasst sich fast ausschließlich mit diesem
Thema,
indem
er
versucht,
eine
Rekonstruktion
auf
(vorwiegend)
bildlichkünstlerischer Grundlage vorzunehmen. Zwar bietet dieser einen interessanten
Eingang zum Roman, doch Lippuner begibt sich in die Gefahr, sämtliche Ereignisse
des Romans umständlich immer aus diesem Ansatz erklären zu wollen. Indem der
Text selbst somit aus dem Rahmen fällt, zweitrangig oder in manchen Fällen gar nicht
behandelt wird, gerät der Roman aus seinen Fugen. Auch das gründliches Studium
Lippuners zu den Einflüssen Kubins kann nicht verhelfen, dass die einheitliche
Struktur eines Romans eine Zergliederung in einzelnen bildkünstlerischen Motiven
einfach nicht zulässt. Während Lippuners Ergebnisse im Vergleich von Bild mit Bild
sich als überaus einfallsreich zeigen, schießt er im Vergleich von Bild mit Text leider
zu kurz. Psychologie und Entwicklung des Protagonisten bleiben unbeachtet, die
biographische Gegebenheiten beschränken sich auf rein oberflächliche Parallelen in
Bezug auf die Lebensführung des Protagonisten. Allerdings würde es von einer
naiven
Kurzsichtigkeit
zeugen,
die
Behauptungen,
die
Kubin
in
seinen
autobiographischen Aufzeichnungen macht, ohne weiteres hinzunehmen. Der Traum
mag eine verschlüsselte Sprache sein, seine Welt eine verborgene; die Bilder aber, die
im Traum aus der Tiefe emporwachsen, sind zusammengesetzt aus (visuellen)
Erfahrungen. Einst Geschautes und Erlebtes verwandeln sich auf unergründliche
90
Weise in neue Bildern, die von der Realität nunmehr weit entfernt sind. Eben diese
Fähigkeit
zur
Verwandlung
hat
Kubin
interessiert;
die
“frei
schaffende
Einbildungskraft” ist ein unterbewusster Prozess, dass ebensoviel dem Bereich des
Traums als der Wirklichkeit gehört.
Wir haben bereits auf das Erinnerungsvermögen des Künstlers Kubin hingewiesen,
die Gegebenheit also, dass er aus den nachhaltigen Eindrücken der Jugendjahren auch
in späteren Jahren noch gelegentlich Einfälle schöpfen konnte. Erwähnt ist auch schon
die Sammlerleidenschaft und das Interesse an den verschiedensten Künstlern. Es gilt
mittlerweile als belegt, dass die von Kubin verehrten Künstler gelegentlich als
Vorlage zum eigenen Schaffen gedient haben. Im kurzen Bericht “Wie ich illustriere”
(1943) gibt der Künstler aufschlußreich Rechenschaft über den Schaffensprozess:
Der große Schatz an im Gedächtnis aufbewahrten Formen, der sich ansammelte durch
alles, besonders das in früheren Jahren Gesehene: Landschaften, Gebäude,
Innenräume, Menschen und Tiere, vielleicht untermischt noch mit den Eindrücken
der zahlreichen Bilder, graphischen Blättern oder Photos, ist jetzt das Reservoir aus
dem
die
Einbildungskraft
sorgfältig
auswählend,
verwerfend
und
neu
zusammenpassenschaft.252
In “Dämmerungswelten” (1933) bekräftigt er diese Bekenntnis nochmals, indem er
Avenarius’ Prägung des kubinschen Werk als “Traumzeichnen” kritisiert, weil “zu
ungenau”. Was der Künstler aber wohl für sicher hält, ist dass sein “[…]
Gefühlsbereich sich hauptsächlich aus dem Erlebnishumus der untergegangenen
Kindheit und Jugend nähert.”253
Damit scheint die These einer exklusiv an das Traumbewusstsein gebundene
Originalität also überholt zu sein. Es scheint mir sinnvoll, zur kritischen
Auseinandersetzung mit den in den Illustrationen dargestellten Motive das
bildkünstlerische Frühwerk Alfred Kubins heranzuziehen. Vielmehr als eine
Rekonstruktion der Bildmotive auf der Grundlage kunsthistorischer Vorbildern,
beschränken wir uns im Folgenden auf eine Auswahl verschiedener, prägnanter
Motive, in denen der Schwerpunkt auf den Traum liegt.
252
253
“Wie ich illustriere”, in: AmW, 71
“Dämmerungswelten”. In: AmW, 42
91
Zunächst lässt sich die Figur des “Brustwarzenmannes” heranziehen:
Ein alter Kerl mi tabnorm großem Oberkörper und kurzen Beinen näherte sich; bis
auf ein paar beschmierte Arbeiterzwilchhosen war er nackt. Er hatte zwei lange
senkrechte Reihen von Brustwarzen – ich zählte achtzehn -, Nun zog er Seine Lungen
schnaufend voll Luft, bald schwoll die rechte und bald die linke Brust mehr an, dann
spielte er mit den Fingern auf diesen achtzehn Warzen die schönsten
Harmonikastücke. Dabei bewegte er sich taktmäßig nach der Melodie wei ein
Tanzbär, während er die Luft wieder ausstieß. Schließlich hörte er auf, schneuzte sich
in die Hände und schleuderte sie von sich. Dann wuchs ihm ein ungeheurer Bart, in
dessen Gestrüpp er verschwand. (150)
Wie Geyer richtig bemerkt, gehen aus der Beschreibung des Traumprotokoll einige
einleuchtende Gemeinsamkeiten mit den Traumbildern des Mönchens Medardus aus
E.T.A. Hoffmans “Elixiere des Teufels” (1815) hervor. Nicht zufällig spielt auch hier
das Thema der Verdrängung der Sexualität eine wichtige Rolle.254 Der
Brustwarzenmann findet seine Entsprechung in einer Figur, die zur Geige mutiert:
“[…] und der Bruder spielte dazu auf, aber auf der eigenen Brust streichend, die zur
Geige wurde.”
255
Zwar weist Lippuner weist darauf hin, dass das Motiv der
fliegenden Fische schon im Blatt “Alltagsmusik” (1903/05) vorkommt256 und weisen
auch die Blätter “Adoration / Der Schmerbauch” (um 1900) (Bild 22) und “Die
verschwundene Nacht” (1900) das Motiv schon auf, der Einfall des Harmonikaspiels
ist allerdings einzigartig.
Im Zusammenhang mit den Uhren lohnt es sich, folgende Ausspruch Schopenhauers
heranzuziehen:
Die Menschen “gleichen Uhrwerken welche aufgezogen werden und gehen, ohne zu
wissen warum […] jedes Individuum, jedes Menschengesicht und dessen Lebenslauf
ist nur ein kurzer Traum des unendlichen Naturgeistes […] ist nur ein flüchtiges
Gebilde mehr, dass er spielend hinzeichnet auf sein undendliches Blatt, Raum und
Vgl. dazu Goak, J.Y.: Die Ich-Problematik in E. T. A. Hoffmanns ‚Die Elixiere des Teufels’. Eine
psychoanalytische Untersuchung in Auseinandersetzung mit der deutschen idealistischen Philosophie.
Frankfurt a. M. 2000.
255
Hoffmann, E.T.A. Die Elixiere des Teufels : Lebens-Ansichten des Katers Murr. Darmstadt, 1962:
222
256
Später hat Kubin es nochmals in der “Samsara”-mappe verwendet. Lippuner, 1977: 82
254
92
Zeit, und eine gegen diese verschwindend kleine Weile bestehen lässt, dann
auslöscht, neuen Platz zu machen.257
Da der Schimpanse des Traumprotokolls in der Illustration nicht dargestellt ist,
möchten wir ihn nur kurz beleuchten. Wie im Blatt “Wissenschaft” erweist sich der
Affe Giovanni in der Anderen Seite als das Symbol der Überschätzung des Intellekts.
Er ersetzt vollauf einen Menschen, ist “ungemein begabt und strebsam”, “ehrlich und
zuverlässig”, doch von der Philosophie hält er nicht viel. An anderer Stelle will er
dem Künstler pfuschen, weil “er […] sich selbst so ein wenig als Künstler” fühlt.
Nicht nur der Friseur und sein Affe, sondern auch der Künstler bzw. das Künstlertum
erscheinen mithin in einem satirischen Rahmen. Wie Giovanni dem Künstler
nachzuaffen versucht, äfft der Affe in “Wissenschaft” dem nachdenklichen Menschen
nach, indem er die Pose von Rodins “Denker” annimmt. Übrigens hielt auch Kubin
einen lebendigen Affen, auf den er in späterer Zeit in der humoristischen Erzählung
“Tip und Giovanni” (1934) zurückgegriffen hat.258 Als literarischer Verwandter
Giovannis nennt Geyer Wilhelm Buschs “Fipps der Affe” (1879), der als Gehilfe des
Friseurmeisters Krülls gleichfalls sein Friseurtalent unter Beweis stellt.259 Nebenbei
eröffnet sich eine auffallende Parallele zu Franz Kafkas “Bericht für eine Akademie”,
in dem ebenfalls die (letztlich misglückte) Menschwerdung eines Affens beschrieben
wird.260
4.4
Fazit
Aus den Ergebnissen der Untersuchung ist hervorgegangen, dass das Verhältnis
Kubins zum Traum sich als durchaus ambivalent bewerten lässt. Fest steht allerdings,
dass Kubin den Traum einen hohen Stellenwert in seinem Schaffen einräumt. Den
autobiographischen Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass Kubin sich bestimmt
eingehend mit Freuds Theorien auseinandergesetzt hat. Bald schätzt er den
Psychoanalytiker um seine klare Einsichte ins Wesen des Traums, bald aber gönnt er
257
Schopenhauer, Die Wille als Welt und Vorstellung. 1. Teil 4. Buch. Sämtliche Werke, 1. Leipzig o.
J. 426. Zit. nach Brockhaus, 1977: 124
258
Vgl. AmL: 197-205
259
Auch Lippuner erkennt in der Erzählung Busch’ eine Vorlage zur Anderen Seite, Lippuner, 97. Vgl.
Busch, W. Fipps der Affe. In: Gesamtwerk in sechs Bänden. Bd. 4, 328ff. Zit. Nach Geyer, 63
260
Kafka, F., Ein Bericht für eine Akademie. In: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der
kritischen Ausg. Hrsg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt a. M.: 1994, Bd. 1: 245
93
ihm kein gutes Wort. Jedenfalls hat Kubin ein großes Interesses an den Bereich des
Unbewusstseins an den Tag gelegt, dessen Entdeckung im Grunde Freud
zuzuschreiben ist.261 In neueren Forschungen wird der Einfluss Freuds auf Kubin
merkwürdigerweise mit skeptischem Blick betrachtet, ganz zu schweigen von einem
psychoanalytischen Ansatz zur Deutung des Romans, der unanim als überholte
Methode abgelehnt wird. Was viele solcher Überlegungen jedoch außer Betracht
lassen, ist die Gegebenheit, dass der Erzähler des Romans ganz ausdrücklich selbst
die Rolle eines Psychoanalytikers übernimmt. In der Art und Weise, wie im
Traumprotokoll der Traum entwirrt und auf einzelne Segmente zurückgebracht wird,
zeigt sich, wie eng sich Kubins Vorgehensweise an die Traumdeutung im freudschen
Sinne lehnt. Zwar ergibt sich der Traum als die Konstruktion eines Künstlers, der
seine Einbildungskraft auf die Spitze treibt und zu diesem Zweck dem Traum den
Geisteszustand und Rahmen entlehnt. Was darin aber auffällt ist das Maß, in dem sich
verschiedenste Konzepte aus der Psychoanalyse und die vom Erzähler dargestellte
Bilder überdecken. Ohne Ausnahmen zeichnen sie sich alle durch eine augenfällige
Prägnanz aus, was keineswegs auf reinen Zufall zurückzuführen ist. Besonders die
sexuell konnotierte Bilder schließen auf eine Verdrängung reell erlebten Vorfälle, die
im Unbewussten in verschlüsselter Ausprägung ihren Niederschlag finden.
Darüber hinaus prägen sich die Begriffe der freudschen Begriffe der Verschiebung
und Verdichtung in Kubins Schöpfungsprozess aus, der über die Anwedung
“kompositorischer Traumgesetzte” erfolgt, das heißt die Demontage und Remontage
von Traumbildern in das Kunstwerk.
Allerdings bietet die Psychoanalyse nicht der einzige Eingang in Kubins Verhältnis zu
Traum. Neben den Motive früherer Werke, auf die Kubin sich gelegentlich bezieht,
kommen auch literarische Vorbilder in Betracht, die lange vor Freud sich schon mit
dem Traumerleben beschäftigten.
261
Zwar hatte, wie bereits erörtert, die Entdeckung des Unbewussten verschiedene (philosophische)
Vorläufer, ohne deren Freud seine Theorien wahrscheinlich nie hätte entwickeln können, doch die aus
ihr hervorgehende Diszipline der Psychoanalyse, die sich mit der Analyse des Unbewussten befasst, ist
ein wesentliches Verdienst Freuds.
94
5.
Schlussfolgerung
Das Ziel dieser Arbeit war es, die Andere Seite in einem möglichst weit umfassenden
Rahmen zu behandeln. Die Arbeit gliederte im wesentlichen in zwei Teilen. Im ersten
Teil wurde versucht, im Roman die Polarität zwischen Leben und Tod offenzulegen.
Es hat sich herausgestellt, dass Patera auf einer ersten Deutungsschicht zunächst in
einem autobiographischen Zusammenhang als eine Vaterfigur zu identifizieren ist.
Der Roman ist nicht nur dem Vater Kubins gewidmet, möglicherweise hat dieser
“Kaiser von Hinterindien” auch eine erste Anregung zur Gestaltung des Monarchen
vom Traumreich gegeben. Allerdings ist die Andere Seite, so haben wir
hervorgehoben, keineswegs als eine Sublimation des Vater-Sohn-Verhältnis
aufzufassen. Würde man die Problematik der Kindzeit, die Ängsten des sensiblenen
Knaben Alfred Kubins mit dem strengen Vater, im Sinne eines Traumas, und der
Roman als dessen Verarbeitung betrachten, so würde man schon bald zur Erkenntnis
gelangen, dass innerhalb des komplexen Motivschatzes Kubins ein eindimensionaler
Deutungsversuch, ob auf psychoanalytischer, autobiographischer, philosophischer
oder bildkünstlerischer Grundlage, immer über sein Ziel hinausschießt. Der Roman
bietet eine Fülle Eingänge, mit denen dem Text jeweils einen neuen Sinn unterlegt
werden
kann.
Statt
allen
diesen
Deutungen
ausgiebige
Aufmerksamkeit
entgegenzubringen, haben wir den Versuch gemacht, den Text im Zusammenhang mit
dem Künstler Alfred Kubin zu sehen.
Von dem Gesichtspunkt der Philosophie aus betrachtet fällt immer wieder der Begriff
Polarität ins Auge. Kubin hat seine Vorstellung einer aus antithetischen Polen
zusammengesetzten Welt ins Wesen Pateras übertragen. Am Anfang des Romans ist
das Traumreich noch der Einheit Pateras Herrschaft unterworfen. Auch im zweiten
Teil ist Patera noch unumstritten der Alleinherscher seines Reichs, nur ist der Erzähler
bereits zu verschiedenen Erkenntnissen gekommen, die das Geheimnis vom Wesen
Pateras erschließen. Als besonders wichtige Einsichten sind die antithetische
Zweiteilung der Welt in die “Einbildungskraft” und das “Nichts” und die
vielgliederige Zusammensetzung des Menschen in mehreren Ichs zu erwähnen.
Anschließend an diese Entwicklungen bewirkt die Ankunft des Amerikaners im
dritten Teil den Untergang des Traumreichs, indem dieser die Untertane aus dem
95
Bannkreis Pateras ausbrechen lässt. Herkules Bell siegt, Patera stirbt. Indem aber die
zwei Mächten im Endkampf wieder in einem Geschöpf zusammenschmelzen, greift
Kubin auf einer höheren Ebene abermals das Motiv der Polarität auf, indem er die
Unvereinbarkeit der antithetischen Mächten zeitweise auflöst.
RückAus diesem Blickwinkel erscheint das Traumreich als ein Experiment des
Künstlers, in dem er eine Auswahl verschiedener philosophischer Auffassungen einer
Prüfung unterstellt hat. Anklänge an Schopenhauer und Nietzsche sind unübersehbar.
Der besondere Stellenwert von Mainländer und Bahnsen ist bewusst in den
Vordergrund gestellt, indem Kubin Ausschnitte aus ihrem Werk als Mottos
übernommen hat. Auch der Buddhismus hat einen wesentlichen Einfluss auf Kubin
augeübt. Neben einer augenfälligen Sympathie für den Stammen der aufgeklärten
Blauäugigen, fallen dem Erzähler ja in diesem Kapitel die Schuppen von den Augen.
Diese “Klärung der Erkenntnis”, so haben wir behauptet, stellt eine Zäsur in der
bisherigen Weltanschauung sowohl des Erzählers als auch des Künstlers Alfred
Kubins dar. Im Verständnis der Welt versagt Mainländers Philosophie, denn Begriffe
wie Tod und Nichts sind ohne das Leben undenkbar. In der Realdialektik werden
beide Pole ausgeglichen. Ausbalanciert sind sie aber keineswegs: gerade in diesem
ewige Ringen erkennt der Erzähler die “wirkliche Hölle”, die darin liegt, dass das
“widersprechenden Doppelspiel” sich in uns fortsetzt ist. Patera und Herkules Bell
sind beide nur die Ergebnisse eines phantasievollen Experiments, in dem Kubin seine
Philosophie auf die Spitze getrieben hat. Kubins Metapher des Pendels
veranschaulicht sinnfällig, wie der Mensch sich sein Leben lang beiden einem
Konflikt der antithetischen Kräften ausgesetzt sieht. Für den Künstler bedeutet dies
sein Heil woanders zu suchen, indem er sich auf seine natürliche Anlage, die
Schöpfung, beruft. Im Bereich der Einbildungskraft kann er sie völlig entfalten, hier
ist der Künstler sein eigener Herr – der Demiurg eben. Dementsprechend erscheint
Patera zugleich als Schöpfung und Spiegelbild des Künstlers: aus dem “Nichts” schuf
Patera das Traumreich und ins Nichts wird er endgültig wieder verschwinden. Wie
Patera in seinem Luftschloss, so lebt auch der Künstler einsam in seiner Phantasie.
Im Rückschlus hieraus lässt sich sagen, dass der Roman im Grunde eine phantastische
Allegorie ist. Er ist weder Dystopie noch Utopie, sondern vielmehr ein
Gedankenexperiment, das Erzeugnis einer Welt, wo Schöpfung und Zerstörung,
Leben und Tod nur den Launen der Phantasie unterworfen sind.
96
Der zweite Teil der Arbeit behandelte die andere Polarität, die zwischen Traum und
Wachen. Zunächst ist die Relevanz der Traumwelt in Kubins Werk aus
biographischer Perspektive beleuchtet worden. Eine nähere Auseinandersetzung mit
den autobiographischen Aufzeichnungen hat ergeben, dass Kubin dem Traum
zeitlebens eine besondere Rolle beigemessen hat. Immer wieder betont der Künstler,
wie Träume und frühere Erinnerungen unerschöpfliche Fundgruben sind, die ständig
Stoff zu neuen Werken bieten. Andererseits verschafft Kubin gelegentlich einen
Einblick in die Methode, wie der Vorgang des Traums auf die künstlerische Arbeit
übertragen werden kann: erst die “kompositorischer Traumgesetzte” machen den
Traum zum Kunstwerk geeignet. Wichtiger aber erscheint uns die Tatsache, dass das
wichtigste Thema des Romans selbst der Traum ist. Nicht nur der Ort der Handlung
selbst wird als
“Traumreich” bezeichnet, ihre bloße Struktur ist nach dem
Traumerleben konzipiert. Darüber hinaus ähnelt die Reise selbst dem Ablauf eines
Traumes, von der Abfahrt bis zur Finsternis des Tunnel, gerade vor der Ankunft im
Traum(reich), erkennt man die Stadien . Die Grenze zwischen Schlaf und Wachen ist
fließend und die Einwohner befinden sich in einer Art halbwachen Dämmerzustandes,
die man heute als “REM-Schlaf” bezeichnet. In derselben Dämmerung ist das
Traumreich gehüllt ist, wo jeder dem anderen gleicht und die Sonne sich hinter einer
permanenter
Wolkendecke
verbirgt.
Zuletzt
beschreibt
der
Erzähler
im
Traumprotokoll einen Traum im Einzelnen.
Noch kein Jahrzehnt vor der Veröffentlichung der Anderen Seite erschien Freuds
epochales Werk “Die Traumdeutung”, das eine ganze Generation von Künstlern
nachhaltig geprägt hat. Für Kubin hatte der Traum eine symbolische Kraft, die keiner
psychologischen Analyse bedarf. Ihre unmittelbare schöpferische Vision hielt er für
stärker hielt als deren Analyse. Darin unterscheidet er sich von Freud, dessen
unmittelbaren Einfluss auf den Künstler allerdings kaum widerlegbar ist. Auch von
den Surrealisten, die sich später vom Werk Kubins anregen ließen, hebt sich das
Verfahren eindeutig ab. Was diese aber wohl erkannten, war die Gegebenheit, dass
alles Traumhafte in der surrealistischen Kunst sich vorzugsweise im Bereich der
Wirklichkeit ereignen sollte. Dementsprechend galt auch Kubin das Wachsein als den
Maßstab für den Traum. Der Künstler verhütet sich davor, die Geschehnisse im
Traumreich ein für alle Mal logisch zu begründen. Am Anfang hebt der Erzähler die
Einbildungskraft hervor, am Ende gerät er in einer Heilanstalt: was sich also zwischen
der Vorbemerkung und dem Schluss ereignet, lässt sich nicht ohne weiteres
97
objektivieren, denn die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit ist vollends
verschwommen.
Im “Traum im Traum”-Abschnitt hat Kubin versucht, die Art und Weise, wie der
Traum im Schlafzustand operiert, im Text und Bild nachzuahmen. Gleich wie der
Traum die Bilder des Unterbewusstseins aneinanderreiht, verzerrt und dann in einem
neuen Zusammenhang zusammensetzt, so führt Kubin auf der Grundlage eines
Tagesrestes einen Ablauf verschiedensten Bilder auf. Bild und Text ergänzen sich in
diesem Vorgehen gegenseitig, beide sind sorgfältig ausgewirkt und adäqat auf
einander abgestimmt. Das Realistische der Darstellungsweise unterstützt das
Phantastische der Begebenheit.
Der Traum des Künstlers ist der Traum des Autors. Die Andere Seite ist die imaginäre
Welt Alfred Kubins, der Bereich, in dem die schöpferische Einbildungskraft tätig ist.
Das Anliegen Kubins war es, die Vorstellungen aus der eigenen Phantasiewelt einer
breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Um dies zu ermöglichen schuf Kubin
ein Traumreich, an dessen Spitze er den ehemaligen Schulkameraden Claus Patera
gestellt hat. Der Protagonist selbst aber, so stellt sich eindeutig heraus, ist nach
eigenem Vorbild modelliert. Einerseits ist dieser unbeteiligte Beobachter derjenige,
der die Verbindung zur Alltagswirklichkeit herstellt und mit dem sich der Leser
identifizieren kann, andererseits ist er der Traumende bzw. der traumende Künstler,
dessen Phantasie die ganze Reise entspringt. Indem der Autor den Held auf eine Reise
ins Traumreich schickt, das im Grunde die eigene “Dämmerungswelt” verkörpert,
wird der Autor gewissermaßen selbst zum Zuschauer. Die Einladung hätte er mithin
an sich selbst gerichtet und die Reise führt ihn alsbald in den unermesslichen Räumen
des eigenen Unbewusstseins. Erst die Beobachtungen, die er aus den Augen dieses
Künstlers an “der anderen Seite” der Realität macht, bilden zusammen den Inhalt des
Romans die Andere Seite, von der Errichtung des Traumreichs bis zu seinem
Untergang. Wiewohl alles zunächst noch als eine Idylle anmutet, gar nicht so
verschieden von “daheim”, ist unaufhaltsam das Chaos der Einbildungskraft wirksam.
In allem spurt man die “starke Hand” Pateras, dessen “Auge” jedes Treiben ständig
überwacht. Keiner bleibt vom “Klaps”, der epileptischen Attacke des Herrschers,
verschont; der Beweis dafür, dass die Traumleute auch auf einer höheren Stufe der
Macht Pateras unterliegen. Man gelängt zur Erkenntnis, dass das ganze Traumreich
ein langer Traum des schlafenden Herrschers Pateras ist: Aus dem Traum, dem diese
Dämmerungswelt entsprungen ist, erklären sich sämtliche phantastische Ereignisse.
98
Nie
aber
verliert
Kubin
sich
in
den
Szenerien
seiner
“schöpferischen
Einbildungskraft”: während des Aufenthalts des Protagonisten im Traumreichs gerät
dieser, trotz aller Umstände, kein einziges Mal wirklich außer Fassung.
Was Kubin in der Anderen Seite anstrebte war nicht die orgiastische Grausamkeit des
Frühwerks. Im neuen Zeichenstil, der “Psychographik”, beschränkt Kubin sich auf
den Strich. Nunmehr gibt sich das Unheimliche sich nicht ohne weiteres preis,
sondern ist getarnt in einem Netz feinster Linien. In der Erzählung selbst wird der
Verfall stufenweise herbeigeführt und ganz allmählich steuert sie auf einen Klimax
zu. Indem sie dann letztlich in eine “Kernspaltung” kulminiert und die wirkliche Hölle
ausbricht, erweist Kubin sich noch immer als einen rücksichtlosen Demiurgen. Nach
der Auffassung des Künstlers soll die Geschichte ein böses Ende nehmen: der Gott
des Todes ist es zunächst, dem sich der Erzähler nach Zurückkehr unterwirft. Jenseits
des Traumreichs bewegt sich das Leben aber zwischen den zwei Polen des Lebens
und des Todes. Hier fehlt die einheitliche Struktur eines Pateras: jedes Einzelwesen ist
dazu berufen, seine Entscheidungen selbst zu treffen. Und obwohl der Erzähler die
Wirklichkeit nunmehr als eine bittere Enttäuschung erfährt: den Ruf zum Leben völlig
ignorieren, das vermag auch er nicht.
99
6.
Anhang
Bild 1
Bild 2
Bild 3
Bild 4
100
Bild 5
Bild 6a
Bild 6b
101
Bild 7
Bild 8
Bild 10
Bild 11
Bild 12
102
Bild 13
Bild 15
Bild 14
Bild 16
103
Bild 17
Bild 18
Bild 16
Bild 19
Bild 20
Bild 21
104
Bild 21
105
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<http://webcritics.de/page/book.php?id=1389> Website abgerufen am 23. Nov. 2010
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346
111
<http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?src=&id=56566&p=>
abgerufen am 12. Juni 2010
Artikel
Smiljanic, Damir. “Mainländers Anleitung zum glücklichen Nichtsein.” In: Beiträge
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112
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