Im Reich der Dämmerung Eine Analyse von Alfred Kubins Roman Die andere Seite Magisterarbeit Abgegeben den 12. November 2010 Vorgelegt von: Robin van der Burgh Leitung: Prof. Dr. T. Naaijkens Inhaltsangabe 4 1. Einleitung 1.1 Zum Künstler Alfred Kubin 4 1.2 Rezeption und Forschungsansatz 6 2. Die Andere Seite 13 3. Patera und der Amerikaner. Die Antithese vom Tod 15 und Leben 3.1 Patera: von altem Schulkameraden zum göttlichen Herrscher 15 3.2 Herkules Bell: Der Pökelkönig 19 3.3 Patera und der Amerikaner, Vater und Sohn? 22 3.4 Der Demiurg ist ein Zwitter: der Schlüssel zur Polaritätsdeutung 26 3.4.1 Patera der Todesgott 26 3.4.2 Die Klärung der Erkenntnis: Antithetische 3.4.3 Weltauffassung 30 Mainländer, Bahnsen und das Symbol 33 des Pendels 3.4.4 Fazit 46 4. Das Traumreich 48 4.1 Der Traumkünstler Alfred Kubin 48 4.2 Die schöpferische Verwandlung des Traums 52 4.2.1 Sigmund Freud und die Traumdeutung 52 4.2.2 Der Traum in der Dichtung der Romantik 55 4.3 Der Traum in der Anderen Seite 62 4.3.1 Der Erzähler 66 4.3.2 Die schöpferische Verwandlung des Traums 69 4.3.2.1 Der Traum im Bild 71 2 4.3.2.2 Der Traum im Text 75 4.3.3. “Die Verwirrung des Traums”: Ein Traum im Traum 79 4.3.3.1.1 Verdrängung: Sexualsymbolik im “Traumprotokoll” 83 4.3.3.2.1 Literarische und bildkünstlerische 90 Vorlagen des Traumprotokolls 4.4 Fazit 93 5. Schlussfolgerung 95 6. Anhang 100 7. Literaturverzeichnis 106 3 Dieses Leben in der Welt ist – mit allem, was es enthält – ein Traum. Das Erwachen aus diesem Traum ist der Tod. Khalil Gibran, Sämtliche Werke Wir haben Träume; ist nicht etwa das ganze Leben ein Traum? Arthur Schopenhauer, Hauptwerke Band I - Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Einführung 1.1 Zum Künstler Alfred Kubin Alfred Kubin wurde am 10. April 1877 in Leitmeritz, einer kleinen Stadt NordBöhmens, geboren.1 Auf der anderen Seite der Elbe, Leitmeritz gegenüber, lag Theresienstadt, wo mehr als ein Menschenalter später eine Welt wirklich wurde, die schlimmer sein würde als seine schlimmsten Träume. Und der sensible Knabe Alfred hatte schlimme Träume, von seiner Kindheit an. Von der Mutter, die vor ihrer Heirat mit dem Vater Kubins am 4. Juli 1876 Pianistin gewesen war, habe er nach eigenen Angaben seine Sensibilität geerbt.2 Alfred Kubin hat sich vor allem mit seiner visionären Kunst einen großen Namen erworben. Die Welt, in der Kubin aufwuchs, war einem weit tragenden technologischen und intellektuelen Wandel unterworfen. Kubins Kunst war geprägt von einer Welt des Übergangs, die sich am Rande des Alten und dem Anfang des Neuen befand; eine Welt, die auf die Stabilität der abendländischen Monarchien zurückblicken konnte, die die Unstimmigkeiten und der Wandel, die die zwei großen Kriege und die fortgeschrittene Technik bewirkt hatten, jedoch noch zu erwarten hatte. In dieser Zeit tiefgreifenden Wandels befand sich Kubin, der, wie viele zeitgenössischen Künstler, ein tiefes Bedürfnis hatte, seine Empfindungen auf den 1 Kubin, A. Aus meinem Leben. Hrsg. v. Ulrich Riemerschmidt. München 1974, 7 “Die nervöse Veranlagung zu dieser Krankheit hatte ich wohl von meiner Mutter geerbt […]”. Ebd., 20 2 4 Grund zu gehen. Um zu einem richtigen Ausdruck seiner Empfindungen zu gelingen, grub er sich tief in die eigene Psyche ein. Durch Experimente sowohl im Bereich des Visuellen als in dem des Wortes anzustellen, versuchte er zu einer geeigneten Ausdrucksform seiner Erkenntnisse zu kommen. In der Prosa und in den Zeichnungen Alfred Kubins verbinden sich genaue Betrachtungen mit imaginären Verzerrungen; auf einen technischen Höhepunkt vereinigt, veranschaulicht er die Grauzone zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten. Die Wahrheit aus dem Bereich des Unterbewussten zu ziehen, sie dem bewussten Geist vor Augen zu stellen und sie dann in die Kunst zu veranschaulichen: in dieser Absicht griff Kubin zu Feder und Tusche, zeitweise ergänzt von Wasserfarben. Die Visionen sexueller Angst- und Zwangsvorstellungen, von Folter, Qual, Übermacht und Ausgeliefertsein, die das Frühwerk prägen, wirkten wie Einblicke in die geheimen Triebe und Ängste der modernen Seele, die Sigmund Freud zur gleichen Zeit in seiner Traumdeutung entdeckte. Schon früh erlitt Kubin mehrere psychische Krisen. Als er zehn Jahre alt war, starb seine Mutter.3 Der frühe Tod seiner Mutter, der schon vor langer Zeit angekündigt wurde, verdüsterte den Horizont seiner Jugend: “Dieser Todeskampf hat sich mir fest eingeprägt und wirkte stark auf mich, weiter stärker aber erschrak ich und bangte mir vor der maßlosen Verzweiflung meines Vaters; er hob die lange Leiche der abgezehrten Frau aus dem Bett und lief weinend damit wie um Hilfe rufend in der ganzen Wohnung herum.”4 Nicht zuletzt die Zeugenschaft beim Todeskampf der eigenen Mutter und die Furcht vor dem Vatter könnten Kubins Hinwendung zum Abgründigen mitbedingt haben. In seinen autobiographischen Schriften hat Kubin über verschiedene psychische Ausnahmezustände berichtet. Die traumatischen Kindheitserlebnisse und die Enttäuschungen als Adoleszent stürzten ihn in eine schwere Nervenkrise, die 1896 in einem Selbstmordversuch ihren Tiefpunkt fand.5 Ein Jahr später, kurz nachdem er in den Militärdienst eingetreten war, verfiel er abermals in einen Zustand von deliröser Bewusstseinsveränderung: erst nach einer dreimonatlichen Behandlung im Spital wurde der junge Kubin entlassen. Das 3 Ebd.,10 Ebd. 5 Es fehlte nicht viel, und Kubin hätte seine Geschichte nicht nacherzählen können. Den “billigen alten Revolter”, den Kubin für den bezweckten Selbstmord zum Grab seiner Mutter mitgenommen hatte, versagte. “Zum zweiten Abdrucken”, so Kubin in seinem Selbstgeständnis, “fehlte mir die seelische Kraft.” Ebd., 18 4 5 Zeichnen, seine bevorzugte Freizeitbeschäftigung, und auch mehr Zuwendung vonseiten seines autoritären Vaters verliehen ihm wieder Kraft und halfen ihm, mit seinen seelischen Problemen fertigzuwerden und neuen Lebensmut zu fassen. Im Frühjahr 1898 begab sich Kubin nach München, um an Privatschulen und auf der Kunstakademie Graphik und Malerei zu studieren. Nicht das Studium, sondern seine Besuche an die Münchner Pinakothek und besonders eine Ausstellung der Radierungen Max Klingers, die Kubin als “Wunderrausch”6 erfahren haben soll, übten den größten Einfluss auf den jungen Künstler aus und gaben ihm die wichtigsten Anregungen für sein künstlerisches Schaffen. Vom Jahre 1908, als auch der Vater inzwischen gestorben war, berichtet er über einen neuen Zustand von unbestimmtem impulsivem Arbeitsdrang, der ihn auf dem Rückweg einer Italienreise überfiel. In seinem Zwickledter Domizil zurückgekehrt, war er trotz “zitternden Verlangens” nach zeichnerischer Gestaltung nicht imstande, “zusammenhängende, sinnvolle Striche zu zeichnen […] Diesem neuen Phänomen stand ich erschrocken gegenüber […] Um nur etwas zu tun und mich zu entlasten, fing ich nun an, selbst eine abenteuerliche Geschichte auszudenken und niederzuschreiben. Und nun strömten mir die Ideen in Überfülle zu, peitschten mich Tag und Nacht zur Arbeit, so dass bereits in zwölf Wochen mein phantastischer Roman Die andere Seite geschrieben war.”7 1.2 Rezeption und Forschungsansatz Obwohl Kubin das Schreiben “jederzeit saurer” war als die ihm “natürlicher scheinende Äußerung mit Stift und Pinsel” in seinem “eigentlichen Beruf als Zeichner”, und er sich “weder [als] Philosoph noch [als] Schriftsteller, sonder so recht mit Fleiß und Leidenschaft [als] Künstler”8 betrachtet, führte der Roman dennoch einen Umbruch im Leben des Künstler herbei. Die Andere Seite steht, wie Kubin in seiner Selbstbiographie sagte, im “Wendepunkt einer seelischen Entwicklung”, und diese wiederum steht im Zentrum seines Werkes. Nicht nur etablierte der derzeit 6 Ebd., 28 Ebd., 40f. 8 Ebd., 58 7 6 Dreißigjährige seinen Namen als Illustrator9 (eine Tätigkeit, die er nie einstellen würde), auch war der Roman eine Leistung ohnegleichen: die Überwindung seiner selbst. Denn der Autor gelang im geistlichen wie im künstlerischen Sinne zur Reife.10 Der um 1909 entwickelte Stil ändert sich bis zu Kubins Lebensende nicht wesentlich.11 Der Roman, Hermann Hesse bezeichnete ihn später als das “am meisten dichterischen Werk der letzten Jahrzehnte” ist gleiches Ranges mit Kubins stärksten Zeichnungen und gibt über diese hinaus Aufschluß über sein Wesen und Weltbild. Nicht unberechtigt hat man das Werk als Schlüsselwerk der modernen Literatur erkannt, zeugt Kubin doch von einer erstaunlichen Sehergabe, wenn er die Menschheitskatastrophe voraussieht, die er selber noch später erleben sollte. Zeit seines (langen!) Lebens hat Kubin (1877-1959) versucht den Punkt zu finden, wo Phantasie und Realität einander im Grenzbereich treffen. Er hat ihn nie gefunden. Wohl aber hat er entdeckt, dass die Unterschiede zwischen der Welt des Traums und die des Bewusstseins falsch sind. Er hat sie entlarvt als Entwürfe von Logikern, die sich entweder unfähig oder aber unwillig zeigten, alle menschlichen Erfahrungen als gleichwertig anzuerkennen. Man wird nicht übersehen, dass die Andere Seite viel Raum für Interpretationen in verschiedene Richtungen bietet. Psychoanalytischer Erkenntnisse bedienen sich zum Beispiel Sachs12, Winkler13, Schmitz14, Müller-Suur15 “Viele Anerkennungen von ähnlich empfindenden Menschen erfreuten mich damals und bestärkten mich noch in meinem illustrativen Schaffen, sodass ich lange Jahre hindurch neben meinen Blätterfolgen die Werke mir geistig nahestender Dichter verschiedener Zeiten und Zonen mit Bildern schmückte.” Ebd., 100 10 Paradoxerweise unterlag Kubins Zeichenstil von 1908 an nur wenige Veränderungen. Der Stil vom Großteil seiner Zeichnungen blieb auffallend ungeändert; eine Konsistenz, die man allerdings auch für eine seiner stärksten Qualitäten halten kann. Kubin erläutert die Entwicklung: “Meine Technik entwickelte sich langsam aus all den sorgfältig abgetönten Arbeiten in Tusche mit Pinsel und etwas Wasserfarben meiner ersten Schaffensjahre. Mit Klärung der innern Anschauung verlor sich die Lust am Anfertigen solcher nebehlhaft verwaschener Blätter, und streng wie nach einem ökonomischen System wurde die Vision in ein Liniengefüge umgesetzt.” Kubin, A. “Der Zeichner”. In: Alfred Kubin, Weltgeflecht. Hrsg. v. Otto Breicha. München, 1978: 118 (in der Folge: Breicha) 11 Während das Frühwerk von einer Unruhe und Getriebenheit geprägt ist, Dramatik und Angst die Darstellungen grundsätzlicher beherrschen, hellt sich in den später entstandenen Werken die Stimmung unleugbar auf. 12 Sachs, H. “Die andere Seite”. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse für die Geisteswissenschaften. Hrsg. v. Siegmund Freud. 1 (1912) 2: 197-204 13 Winkler, W. Psychologie der modernen Kunst. Tübingen, 1949: 246f. 14 Schmitz, O. A. H. “Die Beschwörung der Dämonen, oder Alfred Kubin der magische Mensch”. In: ders.: Brevier für Einsame: Fingerzeige zu neuem Leben. München 1923: 29-152 15 Müller-Suur, H. “Zu Kubins autobiographischen Mitteilungen über psychische Ausnahmezustände.” In: Arndt, K. [etc]: Alfred Kubin. Mappenwerke, Bücher, Einzelblätter aus der Sammlung Hedwig und Helmut Goedeckemeyer. München, 1980: 18-23 (in der Folge: Arndt) 9 7 und Kraft16. Ihr Ergebnis, im Roman sei die biografische Verarbeitung des mühsamen Verhältnises zwischen dem Vater und Sohn verarbeitet, hat die Forschung nachhaltig bestimmt.17 Andere Autoren wiederum sehen im Roman eine narrative Parallelaktion zum zeitgenössischen Diskurs der Psychoanalyse. Die Fahrt ins Traumreich wäre ihnen zufolge eine Art “Expedition” ins Unbewusste, jenes “innere Afrika“ Sigmund Freuds. Die Reise des Zeichners ließe sich dann, wie etwa Philip Rhein schließt, als literarische Umsetzung des Einschlafens, Träumens und Erwachens fassen, bzw. als Literarisierung der sogenannten „Traumarbeit“.18 Noch weiter geht die psychoanalytische Deutung Walter Winklers, der behauptet, Kubin habe sich während des Schreibens in einer Art “Trancezustand” befunden, “wo jede bewusste und logische Überlegung ausgeschaltet ist. […] Die Bildvorstellungen […] enstammen dem Weltgefühl des Schizophrenen.”19 Mehrmals ist die Andere Seite auch als eine “politische Allegorie”, das heißt als eine Prophezeiung von den Geschehnissen des Ersten Weltkrieges fünf Jahr später, gedeutet worden.20 Bereits Ernst Jünger, der berühmte Schriftsteller, mit dem Kubin später eine rege Korrespondenz führte, bescheinigte den Roman des “Visionärs” Kubin eine “Seismographen-Funktion.”21 Kraft, H. “Der Weg aus der Krise. Interdisziplinäre Aspekte der Stilentwicklung bei Alfred Kubin.” In: Alfred Kubin 1877-1959. Ausstellungskatalog. Hrsg. v. Annegret Hoberg. München, 1990: 109-116 17 Allerdings wird den ersten Anreiz einer solchen Intepretation vom Autor selbst gegeben, empfiehlt er doch denjenigen, die eine Erklärung seiner “rätselhaften Hellsichtigkeit” suchen, sich an “die Werke unserer so geistvollen Seelenforscher” zu halten. 7 18 Rhein, P. 1989: 29ff.; vgl. auch Hewig 1967: 27 u.ff.; Geyer 1995: 104ff. Kubin schrieb am 22.12.1914 zur ersten psychoanalytischen Interpretation des Romans (in der Wiener ZeitschriftImago): „Sonst bin ich wie gesagt der Ansicht daß Freud’s Entdeckung fabelhaft ist aber doch im materiellen stecken bleibt, stecken bleiben muß, weil alle rationelle Wissenschaftlichkeit niemals mehr als Bausteine liefern kann.“ (Herzmanovsky-Orlando, F. Der Briefwechsel mit Alfred Kubin, 1903-1952. Herausg. u. komment. v. Michael Klein. Salzburg: 1983: 98, vgl. 90). 19 Winkler, 1949: 246f. Zit. nach Brunn, C. Der Ausweg ins Unwirkliche: Fiktion und Weltmodell bei Paul Scheerbart und Alfred Kubin. Oldenburg, 2010: 188 20 Vgl. Cersowksy 1983: 66ff.; Geyer, 1995: 93 u.ff.; Brunn 2001: 151, Gerhards, 1997 ; Neuhäuser, 1998. 21 Nach Jünger erkenne Kubin “[…] am Untergang der bürgerlichen Welt, an dem wir tätig und leidend teilnehmen, die Zeichen der organischen Zerstörung, die feiner und gründlicher wirkt als die technischpolitischen Fakten, die auf der Oberfläche angreifen.” Jünger, E. “Die Staubdämonen” (1929) In: Alfred Kubin. Eine Begegnung. 2. Aufl. Frankfurt a. M. […], 1975: 109-117 Jünger widmete der anderen Seite 1929 eine Rezension in Ernst Niekischs Zeitschrift Widerstand und 1931 den Aufsatz “Alfred Kubins Werk”, 1931 den Aufsatz "Alfred Kubins Werk", der später unter dem Titel “Die StaubDämonen” Eingang in die Essay-Sammlung “Blätter und Steine” fand. Ausgehend von diesem Aufsatz entspann sich ein Briefwechsel zwischen beiden, der bis 1952 währte und (unvollständig) 1975 veröffentlicht wurde. Vgl. Jünger, E. Die andere Seite [Rezension]. In: Widerstand. Zeitschrift für nationalrevolutionäre Politik. Dresden. 4. Jg., Heft 2, März 1929, S. 26-81. Jünger, E. “Alfred Kubins Werk”. In: Hamburger Nachrichten. Hamburg. 140. Jg., Nr. 606 vom 30. 12. 1931, 1-2. Wiederabdruck in: Widerstand. Zeitschrift für nationalrevolutionäre Politik. Berlin. 8. Jg., Heft 1, Januar 1933, 24-27. 16 8 Der Zusammenhang von zeichnerischem Schaffen und literarischem Werk erhellen die Arbeiten von Lippuner22 und Brockhaus23. Sie weisen unter anderem auf die künstlerische Anreize und Einflüße der von Kubin geschätzten Künstler hin und die Aufnahme bildkünstlerischer Vorlagen und deren Umsetzung in sprachliche Bilder und Motive. Immer wieder werden die Bezüge zu Vorgänger in der phantastischen Literatur und in der Philosophie hervorgehoben.24 Die Bildwelt dieses “literarischen Künstlers”25 war zum Teil schon vorgeprägt. Schon als Knabe und später nach der Niederlassung in Zwickledt verschlang der leidenschaftliche Leser Kubin jede Menge Bücher.26 Aus diesem Grund wird sich der Versuch, eine Analyse der Anderen Seite aus dem Gesichtspunkt des Einflüsses vorzunehmen, das heißt, zu einer Rekonstruktion auf der Grundlage der Vorlagen, eine unbefriedigende und nicht zuletzt nahezu unmögliche Arbeit erweisen. Zum Schluss ist, und dies möchte ich nachdrücklich hervorheben, die Andere Seite ein Werk, dessen Bedeutung am ersichtlichsten wird, wenn man es im Kontext zu Kubins Leben und intellektuellem Werdegang betrachtet. Die biographischen, philosophischen und ästhetischen Aspekte seines Lebens gestalten zusammen den Roman, in seiner vordergründigen und symbolischen Bedeutung greifen sie ineinander. Kubin steht “auf der fließenden Grenze von Bildnertum und Dichtertum.”27 Der Zeichner Kubin ist vom Literaten Kubin nicht zu trennen. Die Andere Seite kann weder als ein rein literarisches Erzeugnis, noch nur von der Perspektive der Zeichnungen her betrachtet werden. Sie ist beides; im Roman zeigt sich die Doppelgabe Alfred Kubins als Schrifsteller und Künstler.28 Zuletzt sei hier noch die Studie Claudia Gerhards zu erwähnen, die das Lippuner, H. Alfred Kubins Roman “Die andere Seite”. Bern/München 1977 Brockhaus, C. “Rezeptions- und Stilpluralismus. Zur Bildgestaltung in Alfred Kubins Roman “Die andere Seite”. In: Pantheon. Zeitschrift für Kunst 32 (1974): 272-288 24 Außer Hoffmann nennt Lippuner noch Marco Polo, Nerval, Poe, Meyrink, im philosophischen Bereich Blake, Schopenhauer, Bachofen, Bahnsen, Friedländer und im künstlerischen Bereich Bosch, Callot, Füßli, Rembrandt, Goya, Redon, Guiguin, Klinger, Ensor, Munch und Brueghel als die von der Forschung als mögliche Inspiratoren in Betracht gezogenen Namen. 25 Schmied, W. “Komplex und Voller Gegensätze: Grundsätzliches zu Kubin”. In: Breicha, 1978: 7-13 (9) 26 In seiner Bibliothek stand ihm eine umfangreiche Sammlung zeitgenössischer und früherer Literatur zu Verfügung. Überdies war er selbst Kunstsammler “Ohne meine große Bibliothek und die graphischen Sammlungen hätte ich die trüben Stunden […] kaum überstanden.” Kubin, 1974: 90. In seinem Schloss im oberösterreichischen Zwicklett sammelten sich im Laufe der Jahre die Werke verschiedenster Vorbilder und Zeitgenossen an. Mit Freunden wie Paul Klee, Egon Schiele oder James Ensor tauschte er Blätter aus und holte sich Anregungen für sein eigenes Schaffen. 27 Preetorius, E. Vorwort zum Ausstellungskatalog der Gedächtnisausstellung Alfred Kubin 1877-1959. München 1964: 11 28 Lippuner versucht eine Analyse der Andere Seite im Kontext von Kubins bildkünstlerischem Umfeld. Während seiner Anliegen “Kubin auf eine sehr viel weitere Umwelt […] hineinzustellen” (Lippuner, 1977: 24) beizustimmen ist, ist sein Vorwurf an die Kubin-Forschung, diese habe Kubin 22 23 9 Thema der Apokalypse im Kontext der Moderne stellt. Statt die Kubinsche Apokalypse im narrative Form der Phantastik zu betrachten und der Roman innerhalb der literarischen Form der Phantastik zu stellen, will sie das Phantastische als Ausdruck von apokalyptisch ausgelegten Defizienz-Erfahrungen im Dienste einer Apokalypse-Konzeption verstehen. Dieser Ausgangspunkt ist insoweit sinnvoll, als Kubin in der Tat die Aspekte der Zerstörung in ihrer Fülle ausarbeitet und viele der im Roman beschriebenen Ereignisse als Prophezeiungen der Katastrophen beider Kriege anmuten. Gerhards beschränkt sich in was sie als eine Defizienz-Erfahrung betrachtet aber nur auf eine Defienz der Gesellschaft: innerpersönliche Aspekte (Krisen der Persönlichkeit und des Schaffens) werden leider außer Betracht gelassen. Die Andere Seite ist nämlich auch als “dichterische selbstbildnishafte Manifestation Kubins zu verstehen.”29 Verknüpft werden also Kubins Verhalten zur äußeren, gesellschaftlichen mit einer innerlichen, traumvollen Welt. Die Zerstörung, die Kubin innerlich empfunden hat, überträgt sich in eine äußere Welt, eine Dystopie, die jedoch wieder der Phantasie und also der Innerlichkeit des Künstlers entspringt. Über den Text, aber nicht weniger über das Bild erkundet Kubin das eigene Ich, entdeckt und bringt die Abgründe moderner Subjektivität zum Ausdruck. In der vorliegenden Arbeit soll eine möglichst umfassende Interpretation der Anderen Seite angestrebt werden, wobei der Schwerpunkt auf den Begriff “Polarität” liegen soll. Während in der bisherigen Forschung die Tendenz zu beobachten ist, den Roman aus normativen Ansätzen zu deuten, das heißt, die Deutung in einem deutlichen Rahmen einzufassen und auf jeweils einen Bereich zu beschränken (philosophische, psychoanalytische, politische oder kunsthistorische Interpretationen) schlagen wir bisher aus einem zu einseitigen Blickwinkel betrachtet, nicht stichhaltig. Weil “mit den Interpretationsmethoden, wie sie aus psychologischer, philosophischer und werkimmanenter Sicht angewendet wurden” in der Anderen Seite “nicht mehr beizukommen” sei (50), versucht Lippuner eine Interpreation aus kunstgeschichtlicher Sicht, der aber ebensosehr Einsichtigkeit vorzuwerfen ist. Er will Kubins Kreativität fast ausschließlich auf Variation und Nachahmung seiner Vorgänger verpflichten. Doch Kubin bedurfte keiner fremden Welten und übernommener Bilder, um zu illustrieren. Peter Halm hat das richtig gesehen, wenn er in einem Essay feststellte: “Was Kubin zum Illustrator prädestinierte, war der unerschöpfliche Vorrat an eigenen Bild- und Erinnerungsvorstellungen. Ein Mensch seiner Art sieht Anderes und erlebt anders als seine Mitwelt […] Weil er konkrete Lebenssituationen empfunden, Menschentypen aller Art in sich aufgenommen hat, stellen sich die adäquaten Bilde rein, wenn der Text eines Buches verwandte Szenerien heraufbeschwört.” (Halm, P, zit. nach Schmied, W. Der Zeichner Alfred Kubin. Salzburg 1967, 30) Nun geht Kubins Schaffen in der Anderen Seite über die rein illustrative Tätigkeit hinaus, er hat ihre Welt ja selbst erschaffen müssen. Inwieweit Kubin auf historische Vorlagen zurückgegriffen hat, oder sich nicht vielmehr auf die eigene Originalität verlassen hat, soll diese Arbeit noch erhellen. 29 Hewig, A. Phantastische Wirklichkeit: Kubins Andere “Die Andere Seite”. München 1967: 17 10 vielmehr eine umfassende Annäherung vor, indem versucht werden soll, die Weltauffasung Kubins als eine eigenständige Philosophie transparent werden zu lassen, jene Philosophie der Polaritäten. Obwohl diese für Kubin im Grunde ein Maßstab für das Leben schlechthin war, möchten wir zwei antithetische Polen in den Vordergrund rücken, die von der Philosophie Kubins ganz besonders geprägt sind: die Pole des Leben und Todes und die des Wachens und Traums. Zwischen ihnen, auf die andere Seite des Alltags, der Realität und des Bewusstseins, liegt das Traumreich, die phantastische Schöpfung Pateras und im Grunde die Utopie des Traumkünstlers Alfred Kubins. Der Traum, über den Kubin sein Protagonist in dieses Zwischenreich geführt, entlarvt sich als der Traum des Autors; die Reihe phantastischer Vorfälle, die diesem widerfahren, als die Auswüchse einer schöpferisch verfahrenden Einbildungskraft. Die Anregungen, die Kubin zur Inspiration aus den verschiedensten Bereichen schöpfte, findet man auch in der Anderen Seite ausgeprägt. Es soll mithin versucht werden, die folgenden Darlegungen auf eine vergleichsweise breite Basis zu stellen. Dem Text selbst sei dazu ebensoviel Aufmerksamkeit wie die zeitgenössische Literatur, Philosophie und Psychologie, mit denen Kubin sich seinerzeit beschäftigte, zuzuwenden. Zwar wird unsere Arbeit erheblich von ihrem Interesse erschwert: Ort, Sprache, ja der ganze Ablauf der Geschehnisse, alles ereignet sich im Traum, entspricht seiner Logik und ist seinen Gesetzen unterworfen. Es ist unsere Aufgabe, diese zu entschlüsseln und zu untersuchen. Zunächst möchten wir uns, im zweiten Kapitel, mit den zwei wichtigsten Personen des Romans beschäftigen, Patera und Herkules Bell. In einem nächsten Schritt gilt es, ausgehend von der Gedankenwelt Alfred Kubins, die wichtigsten Thema der Anderen Seite zu beleuchten. In jedem dieser Kapitel soll versucht werden, maßgebliche Konzepte Kubins Denkens anhand signifikanter Textfragmente anschaulich zu erläutern. Um einen anschaulichen Zugang zu der Gedankenwelt Alfred Kubins zu ermöglichen, soll neben den Bildern aus dem Roman auch gelegentlich außertextliches Bildmaterial herangezogen und im Kontext zum Roman behandelt werden. Allerdings ist das Gesamtwerk zu umfangreich um es in allen Facetten zu schildern. Doch nicht unhäufig sind die Motive, die Kubin in der Anderen Seite verarbeitet hat, bereits im zeichnerischen Frühwerk vielfältig ausgeprägt. In der 11 Erinnerung noch latent greift er auf sie zurück und bringt sie in einem neuem Kontext abermals zur Entfaltung. Aber es gibt Inwiefern die Andere Seite im Zusammenhang mit dem kubinschen Oeuvre zu betrachten ist, wird uns besonders interessieren. Zum Schluss möchten wir noch rückblickend die Ergebnisse der Arbeit zusammenfassen um somit zu einer Schlussfolgerung zu gelangen. 12 2. Die Andere Seite Der Roman die Andere Seite erschien 1909 im Verlag Georg Müller & Sohn München. Im Jahre 1928 erschien eine zweite Fassung, die von Kubin “durch die bis auf die letzte Zeit erweiterte autobiographische Einleitung und durch viele neue Zeichnungen” ergänzt wurde.30 Der Roman fängt mit einem Prolog des Erzählers an, in dem der Leser über den Inhalt des Buches verständigt wird. Die Begebenheiten, die der Erzähler angeblich zu einem Roman umgestaltet hat, folgen den Aufzeichnungen, die er in den Jahren seines Aufenthalts im “Traumreich” gemacht hat. Der Roman gliedert sich in drei Teile: 1. Der Ruf 2. Perle 3. Der Untergang des Traumreichs. Der erste Teil hat zwei Unterkapitel, der zweite und dritte Teil haben je fünf Unterkapitel. Diese Kapitel wiederum sind in namenlose Teilkapitel unterteilt (Ausnahmen: Teil II, Kap. V.II und V.III). Zudem ist ein kurzer Epilog angefügt, der den Erzähler zeigt, nachdem er aus dem Traumreich zurückgekehrt ist und sich in eine Heilanstalt begeben musste. Der Protagonist des Romans ist ein dreißigjähriger Zeichner, der eine Einladung von einem früheren Schulfreund, Claus Patera, erhält. Dieser fragt ihn, ob sein ehemaliger Klassenkamerad ihn in Perle, die Hauptstadt des “Traumreiches” besuchen möchte. Dieser Staat, ein Geheimnis für die äußere Welt, von der er isoliert ist, ist auf künstliche Weise gegründet von Patera, der zu diesem Zweck aus allen Ländern Europas Gebäude transporiert hat. Die Gattin des Künstlers lässt sich nicht leicht überzeugen und lehnt die Einladung zunächst ab. Doch späterhin, wohl von der Begeisterung ihres Gattens angezündet, gibt sie nach: die Reise ins Traumreich kann beginnen. Mit dem Zug fahren sie bis tief in Zentralasien, eine anstrengende Reise, die der Künstler nicht ohne Mißvergnügen übersteht. Zu ihrer Überraschung sehen sie eine Stadt, die in mancherlei Hinsicht krasse Übereinstimmungen mit der eigenen Wohnstadt aufweist. Perle ist eine Stadt der Vergangenheit, in der die Zeit still steht: alles, was man in ihr antrifft, ist älter als 1860, die äußerte Grenze der Modernität. Glück und Unglück, Armut und Reichtum überstürzen sich, aber alles gleicht sich in einer verborgenen Gerechtigkeit immer wieder aus. Die Traummenschen führen sie 30 Kubin, A. Die andere Seite. Phantastischer Roman. Mit einer Selbstbiographie des Künstlers, 59 Abbildungen und einem [gefalteten] Plan. München: 1928: 167. 13 auf ein geheimnisvoll waltendes Schicksal zurück, auf das sie in allen Schwankungen felsenfest vertrauen: Patera. Er, der Meister, Urheber und Herrscher des Traumstaats, bleibt auf mysteriöse Weise unnahbar, wenn der Erzähler und seine Frau versuchen, den Grund einer Reihe von beunruhigenden Ereignissen zu erfassen. Im Laufe der Geschichte gelangt der Künstler allmählich zur Erkenntnis, dass das Traumreich unumgänglich dem Untergang verfallen ist. Es wird sowohl von innen als von außen her bedroht. Ein Amerikaner, Herkules Bell, ist ins Traumreich verreist in der Absicht, Patera vom Thron zu stoßen und das Reich nach amerikanischen Muster umzugestalten. Er propagiert einen modernisierten Handel und Industrie. Wenn die Spannungen zwischen den Kräften der Vergangenheit und jenen der Zukunft sich verschärfen, fallen Stadt und Einwöhner physisch und psychisch einem apokalyptischen Schicksal heim. Die Erzählung endet mit einer kosmischen Katastrophe, die den Traumstaat vollkommen vernichtet. Patera stirbt und Bell entkommt ins Ausland. Der Künstler überlebt als einziger die Zerstörung und schreibt seine Erfahrungen nieder. 14 3. Patera und der Amerikaner. Die Antithese vom Tod und Leben Der Begriff des Gegensätzlichen durchführte das Ganze Denken Kubins. Die Grundlage seiner philosophischen Weltkonstruktion war die eines “Polaritätgesetzes”, nach dem alles kosmische Geschehen von antithetischen Kräften bestimmt sei. Er macht einen Unterschied zwischen zwei miteinander verbundenen grundlegenden Prinzipien: dem “Chaos”, das Abgrund des stofflichen Seins und zugleich Grundlage des Lebens, und dem “Selbst” als Träger des Bewusstseins, wobei aus dem Chaos das Selbst als formendes Prinzip hervorgeht. Wie bereits erwähnt, maß Kubin dem Bereich der Philosophie eine überaus wichtige Bedeutung zu. Die philosophische Weltsicht, die Kubin sich aus der Lektüre von unter anderem Schopenhauer und Nietzsche und nicht zuletzt deren Nachfolger gestaltete, spiegelt sich auch im literarischen und bildkünstlerischen Werk.31 In Anekdoten, autobiographischen Berichten, Tagebuchaufzeichnungen und auch im Werk spiegelt sich der Einfluss zeitgenössischer Philosophie wie Psychologie und nicht zuletzt die Grundstimmung des fin-de-siecle, eine Neigung zur Dekadenz und Todestrieb. 3.1 Patera: von altem Schulkameraden zum göttlichen Herrscher Unter meinen Jugendbekannten war ein sonderbarer Mensch, dessen Geschichte wohl wert ist, der Vergessenheit entrissen zu werden. Ich habe mein Möglichstes getan, um wenigsten einen Teil der seltsamen Vorkomnisse, die sich an den Namen Claus Patera knüpfen, wahrheitsgetreu, wie es sich für einen Augenzeugen gehört, zu schildern. (7)32 “Ich kenne neben Kant kein anderes Werk von so ungeheuerlichem Wert und solcher Problematik wie das Friedrich Nietzsches”. “Selbstbiographie” (1911). In: AmL, 52. In der Tat hat Kubin auch das Werk Kants geschätzt, wiewohl kantsche Einflüsse in der Anderen Seite nicht unmittelbar nachzuweisen sind. “Noch erfüllt mich jenes stille schauervolle Erlebnis eines Abends in Friedenau, das sich an den Namen Kant knüpft. […] Von wesentlicherer Bedeutung sind hingegen Kants Nachfolger, die an späterer Stelle noch ausführlich behandelt werden sollen. Kubin führt weiter: “Seine Nachfolger, für mich die Reihe Schopenhauer, Mainländer, Bahnsen, verwalten das große Erbe je nach der Stärke des Talentes, und mein Denken stand den größten Teil meiner jungen Jahre unter den Einflüssen dieser Lehren. Alfred Kubin zit. nach Schröder, E. Ludwig Klages, die Geschichte seines Lebens. Bonn, 1972. 2. Bd., 1: 498. 32 Die den Zitaten nachfolgenden eingeklammerten Ziffern korrespondieren mit den Seitenzahlen von der 2. Auflage der “Anderen Seite” aus 1973, erschienen im Verlag Nymphenburger. 31 15 Mit diesen Worten, aus denen das Anliegen des Autors, eine gemeinsame Geschichte darzustellen, offenkundig spricht, fängt der Roman an. Der Erzähler berichtet, dass er Patera als seinen Schulfreund, der sich von den Altersgenossen nicht wesentlich unterscheidet, aus der Zeit am Salzburger Gymnasium kennt.33 Auch der Besuch des Boten Franz Gautsch, der dem Erzähler die Einladung Pateras überreicht, erfolgt bereits im ersten Kapitel. Es stellt sich heraus, dass Patera ein Mann im Besitze von für europäische Begriffe unerhörten Reichtümern ist. Zunächst hegt der Erzähler noch Argwohn und hält die Geschichte Pateras für einen Schwindel. In einem kleinen Etui, das ihm Gautsch überreicht, steckt eine kleine Miniature. Dieses “auffallend charakteristische Brustbild eines junges Mannes”, dessen “braune Locken” “ein Anlitz merkwürdig antiker Prägung [umringelten]” (12), ruft in ihn die bildhafte Erinnerung an seinen ehemaligen Schulkameraden wach. Wenig später findet er im selbigen Etui einen Kartonblatt mit den Worten “Wenn du willst, so komme!” Der Erzähler berichtet, dass ihn “abermals […] ganz leise und traumhaft ein Bild aus längst entschwundener Vergangenheit [durchzuckt]: Ein seltsames Unbehagen erfasste mich jetzt – eiskalt starrte dieses schöne Gesicht mich an. In diesen Augen konnte man sich verfangen, es war etwas Katzenhaftes darin – Meine vorherige Lustigkeit war dahin, fremd und unklar war mit zumute. (14) Nichtsdestotrotz gibt der Erzähler endgültig nach. Der Einsicht ergeben, dass “im Grunde […] kein Mensch über sein Temperament hinweg [kann]” und es “immer seine Lebensäußerungen bestimmen” (15) wird, entschließt er, nachdem auch seine Frau überzeugt ist, zur Abreise ins Traumreich. Patera, so lernt der Leser früh, “hegt einen außerordentlich tiefen Widerwillen gegen alles Fortschrittliche im allgemeinen […] namentlich auf wissenschaftlichem Gebiet”. (9) Aus diesem Grund hat er den Traumstaat gegründet, den Zufluchtsort derjenigen, die mit der modernen Kultur unzufrieden sind. Nach seienr Ankunft fühlt der Erzähler sich zunächst noch recht wohl. Auch wenn er gelegentlich gegen die namenlose Schlamperei und Unordnung protestiert, so “fühlte [man] doch eine starke Hand”. (62) “Ich lernte Patera vor sechzig Jahren in Salzburg kennen, als wir beide in das dortige Gymnasium eintraten.” (7) Allerdings ist es ausgeschlossen, dass diese Zeitspanne auf eine Wirklichkeit beruht. Kubin besuchte das Gymnasium zwischen 1888 und 1890, also zwischen seinem elften und dreizehnten Lebensjahr. Zur Zeit der Abfassung der Anderen Seite war Kubin erst 31 Jahre alt. 33 16 Nicht ohne Grund hat Kubin den prägnanten Namen Patera gewählt. Führt man ihn auf das Griechische bzw. das Lateinische zurück, so fällt unmittelbar das Gleichnis zu pater ins Auge. Er ist der Vater und Schöpfer der Welt, “das unerschöpflich schöpfende Gefäß, aus dessen bodenloser Tiefe alle Formen und Gestalten hervorgehen.”34 Dass die Identität des Jugendkameraden Claus Patera dem des Herrschers des Traumreichs entspricht, erweist sich aus zwei untrüglichen Merkmale des letzeren, die dem Erzähler schon an dem Schüler auffielen: “der schöngelockte Kopf antiken Zuschnitts” und “die etwas vorstehenden übergroßen Augen von hellgrauer Farbe.” (7) Ist Patera als Schüler noch ein Bursche durchschnittlichen Gepräges, der sich nur von den anderen Schülern durch einen steifen Filzhut unterscheidet, so genießt er im Traumreich ein nahezu religiöses Ansehen. In einem Brief an seinen Freund Fritz35 (74-78) macht er sich lustig über ein eigenartiges Phänomen des Traumlandes, nämlich den “großen Uhrbann”. Die Pflicht aller Einwöhner, “Tag für Tag” den Turm zu besuchen, ist die einzige und wahre Religion des Traumreichs. Im Phänomen des Uhrbanns zeigt sich die religiöse Haltung der Traumländer Patera gegenüber. Wer in den Turm, der mit “rätselhaften Zeichnungen, wohl Symbolen” bedeckt ist, eintritt, spricht kein Gebet aus, sondern den Formel “Hier stehe ich vor Dir!” (77). Neben der “Traumreligion” (82) verblassen die anderen Konfessionen. Zwar haben “alle großen Religionen der alten Welt […] im Traumland mehr oder weniger Vertreter”, doch diese sind alle “bloß äußerlich, ein aufgepappter Flitter.” (79) Hewig ist der Ansicht, dass diese Bindung in der Uhrbannsformel zum Ausdruck kommt: “der Schwache [steht] vor dem Starken, der Abhängige vor dem Mächtigen, der Untertan vor dem Herrscher, das Geschöpf vor dem Schöpfer.” Nicht weniger gilt dies für den Erzähler. Er spürt eine “schrankenlose Macht, die er jedoch nicht zu erklären imstande ist: “Pateras Art blieb unergründlich, ebenso unverständlich die Macht, die uns im Traumlande zu Marionetten machte. (144). Der Besuch im Palast, der allerheiligsten Domäne des Traumlandes, wo der “Herzschlag des Traumlandes” pocht, ändert dies. Obwohl der Erzähler zunächst meint, der Palast sei verlassen, beweist ihm einen für das Traumland typischen Geruch den Gegenteil. (119) Der Erzähler erkennt das “Haupt von ungewöhnlicher 34 Lama Anagarika Govinda zufolge sei der Name als eine Anspielung auf das lateinische Wort für “Opferschale” zu deuten. Govinda, L. A. Psychologische Richtlinien. Versuch einer Deutung der “Anderen Seite”. In: Die Einsicht. Vierteljahresschr. für Buddhismus 4, 1951: 14. Zit. nach Hewig, 1967: 74f. 35 I.e. der Schriftsteller und Zeichner Fritz Fritz von Herzmanovsky-Orlando (1877-1954), der lebenslange Freund Alfred Kubins. 17 Größe” (120) und stellt fest, dass er seinen Freund Patera vor sich hat. Zugleich aber soll er nie wieder den Zusatz “mein Freund” in Bezug auf Patera benutzen: 36 allzusehr ist er ergriffen von der Schönheit Pateras; die Demut, die er Patera anfangs entgegenbracht, hat sich geradezu in Anbetung überstiegen: “Mit seiner breiten, niedern Stirn und der mächtigen Nasenwurzel glich er eher einem griechischen Gott als einem lebenden Menschen.” (120) Von diesem Bild völlig aus der Fassung gebracht geht in ihm nur noch einen Gedanken herum: “Das ist der Herr! Das ist der Herr!” (120) Die von innerem Betroffensein zeugende Ergriffenheit steigert sich während der Zeit des Aufenthalts im Traumreich bis zur restlosen Erschütterung. Parallel dazu sublimiert sich das Bestaunen in ein Anbeten. In einer “tiefen, religiösen Wallung” bezeugt der Erzähler Patera sein Respekt, indem er angesichts der letzten (unmittelbaren) Begegnung in die Knie beugt und die Hände faltet. (266) Auch hier klingt die Signatur des Göttlichen nach: es ergibt sich, dass Pateras Haare im Sterben weiß geworden sind. (270) Das Motiv des antiken Gottes wiederholt sich noch ein letztes Mal, wenn es heißt, Pateras Gesicht sei “marmorn, kalt, gleich einem Götterbildnis der antiken Welt.” (270) Bereits zu Beginn des Romans wird Patera mit dem Übermenschlichen in Beziehung gesetzt. So berichtet Gautsch dem Erzähler, dass er für einen “Höheren” (8) handelt. Obwohl die Bewohner zwar wenig Zusammenhörigkeitsgefühl zeigen, benehmen sie sich doch schüchtern, wenn ihr Herrscher zur Sprache kommt. Vor aller weltlichen Autorität verehren sie in ihm eine über das Menschliche hinausreichende transzendente Macht. Sie ist eine “schrankenlose Macht, voll furchtbarer Neugier, ein Auge, das in jede Ritze drang […] überall gegenwärtig; nichts entging ihr willig, denn “im Glauben daran war der Traummensch ernst, alles übrige war vergänglich.” (62) Es wundert also nicht, dass das Eintreffen des Amerikaners, auf den wir im folgenden Kapitel zu sprechen kommen, zunächst auf heftige Kritik stoßt. Seinen Ausspruch, “ich spucke auf euren Patera” empfinden die Traumländer als “Blasphemie”(161). Während der Erzähler im ersten Teil des Buches vom Bann Pateras verschont bleibt (sämtliche Traumländer hingegen unterliegen ihm vollständig), kann er sich ihm im zweiten Teil, der den vielsagenden Namen “Im Bann” trägt, nicht entziehen. Die enge Beziehung zwischen Patera und seinen Untertanen kommt im negativen Sinne im Klaps zum Ausdruck. Es stellt sich heraus, dass Patera Epileptiker ist. Erleidet er 36 Der Erzähler hat Patera vormals an mehreren Stellen als “meinen Freund” bezeichnet. 18 einen Angriff, so muss sie auch die gesamte Einwohnerschaft mitempfinden. In der Konfrontation mit Patera merkt der Erzähler, dass er sich nicht abwenden kann, “eine magische Kraft hielt mich wie festgeschraubt.” (121). Ebenso ergeht es im während der nächsten Konfrontation: “Ich fuhr erschrocken zusammen, im nächsten Moment starrte ich in die glanzlosen Augen – ich war im Bann” und “Es war ein Befehl zum Sprechen in mir.”(199) Der Erzähler macht die Beobachtung, dass den Kindern, die im Traumreich geboren werden, das Nagelglied des linken Daumens mangelt. (111). Auch Patera, so soll er später feststellen, weist dieses Merkmal auf. (198) Zum Schluss ist der letzte Satz des Buches, “Der Demiurg ist ein Zwitter”, das gleichsam als Leitmotiv schräg gedruckt die Erzählung abschließt, auf Patera zurückzuführen: ein “Doppelwesen”, das eine Welt geschaffen und wiederum zerstört hat. Kubin hat die zeichnerische Darstellungen Pateras bis auf ein Bild beschränkt. Nur unten auf der letzten Seite ist in Kleinformate eine vergleichsweise einfache Zeichnung vom Antlitz abgebildet. (Bild 1) Die Darstellung entspricht den Beschreibungen Pateras: gezeigt wird ein junger Mann mit schönem Profil, halblangen Haaren und edelen Zügen. Mag die Zeichnung auf den ersten Blick wenig besonders anmuten, eine nähere Betrachtung des Bildes zeigt Kubin jedoch als geschickter Zeichner: Pateras Augen können entweder als geschlossen oder aber als “geöffnet” betrachtet werden. Im ersten Fall ist er der schlafende Herrscher des Traumreiches, im zweiten entspricht die Darstellung (es fehlen dann die Pupillen) der Beschreibung von Pateras unwesentlichen Augen als “zwei blanken, hellen Metallscheiben, die glänzten wie kleine Monde.” 3.2 Herkules Bell: Der Pökelkönig Herkules Bell macht sein Entree im dritten Teil des Romans, der den Titel “Der Untergang” trägt. Wie Patera ist er ein Milliardär, der “keineswegs mit seinem Reichtum [geizt].” (157). Im Gegensatz zu Patera wird der Amerikaner als hässlicher Mensch beschrieben: “ein betontes Kinn, eine hohe, schmale, sehr kantige Stirn gab dem Kopf etwas schief verwegenes.” (159) Das den Text begleitende Bild bestätigt diese Schilderung (Bild 2). Wenn der Erzähler den Amerikaner zum ersten Mal aus 19 nächster Nähe mustern kann, beobachtet er ein “scharfes, diabolisches Profil.” (161). Schon früh stellt sich heraus, dass er der geschworene Feind Pateras ist. Er beginnt sein Wirken im Traumstaat mit der Gründung eines Vereins, dem er den Namen des gegen Gottes Allmacht empörten, zum Anführer der Teufel gewordenen Engels Luzifer gibt. Der Erzähler bemerkt, dass auch die Zeit ein anderes Tempo angenommen zu haben scheint. (164) Um in die Gunst der Traumländer zu gelangen, verteilt der Amerikaner dicke “Propagandazigarren”, durch deren bloße Annahme man ihm schon verfallen ist. Er, der Patera verhöhnt, will “mit großen Summen” die Zeitungen kaufen und selbst herausgeben. (165). Er reizt die Traumleute zur Gründung politischer Vereine auf. Auch der Kosmos beteiligt sich an der allgemeinen Aufklärung: der stets dicht bewölkte Himmel von Perle beginnt fahles Leuchten durchzulassen. Patera verweigert sich einer Koorporation mit Bell, der daraufhin Proklamationen gegen ihn erlässt und die Einwohnerschaft zum Abschütteln des Bannes ermahnt. “Werdet alle Söhne Luzifers!” (168), so lautet die Parole des Amerikaners. Es schart sich eine Bande fanatischen Anhänger um ihn, mit der der Bell gewaltsame Rundgänge durch die Stadt macht. Er schürt “Hass und Zwietracht und verspottete alles”. Wenn dann auch die Uhrbann vergessen wird, ist es für den Erzähler klar, “dass das Ende des Traumreiches unwiderruflich näher kam.” (189) Mit dem Enstehen zweier Parteien beginnt ein Bürgerkrieg. Mit den Erfolgen des Amerikaners steigert sich die Zerstörung des Traumreichs. Die Bürger verfallen der Sittenlosigkeit, die Häuser der Zerbröckelung. Während des zweiten Besuches des Erzählers an Patera gelangt er zur Einsicht, dass Patera ein Doppelwesen ist: jener entlarvt sich unvermittelt als der Amerikaner. Trotz seines anfänglichen Entsetzens, schließt diese Erkenntnis die “Abgründe” seiner “Zweifel und Ängste”. (200) Wenn der Traumstaat untergeht, entkommt Bell in einer Lokomotive. Verschiedene Großmächte hat er dann bereits über die Situation und topographische Lage des Traumlandes in Kenntnis gebracht. Während das Phänomen Patera ungelöst bleibt, so der Erzähler, lebt der Amerikaner “heute noch, und ihn kennt alle Welt.” (273) Dass sich die Bedeutung des Amerikaners nicht in seiner Rolle als Vertreter der zivilisierten Kulturwelt erschöpft, dafür gibt die Diskrepanz zwischen seiner Daseinsweise im Traumreich und der in den Visionen des Zeichners einen wichtigen Fingerzweig. Zwischen beiden liegt derselbe unüberbrückbare Graben wie zwischen Claus Patera und Patera. Auf der einen Seite ist der Amerikaner Mensch, der verachtet, trotzt, hasst, bewundert und in Lebensgefahr gerat. Auf der anderen Seite 20 ist er durch einen qualitativen Sprung ins Göttliche bzw. Unfassbare gerückt. Dort wird sein Schöpfertum offenbar, während er hier bloß Geschöpf ist, im Grunde sein eigenes. Hewig weist darauf hin, dass “Bell” nach dem “Lärm einer Alarmglocke”37 klingt, sein immanentes Wesen, dagegen weist der Name “Herkules auf seine transzendente Göttlichkeit, “soll doch der griechische Gott Herakles, dem der Amerikaner durch seine athletische Figur, seine ‘breiten Hünenschultern’ und seine unbeugsame Kraft äußerlich gleicht, einst kurze Zeit das ganze Himmelsgewölbe getragen haben.” Allerdings bleibt er der Widersacher Pateras, der mit der ‘Sonne’ der Vernunft, des Fortschritts, der Wissenschaft, der Politik reformieren will und “die große organische Einheit und Allverbundenheit”38 des Traumreichs zerstört. Eine Notiz von wesentlicher Bedeutung, die nämlich Aufschluss über den Ursprung der Figur Herkules Bell geben könnte, hat die Forschung bisher unberücksichtigt gelassen. In Kubins autobiographischer Schrift “Aus halbvergessenem Lande” findet man eine Stelle, an der sich Kubin eine Begebenheit aus seiner ersten Münchener Zeit (1898-1904) ins Gedächntnis ruft. Er schreibt, wie er einmal spat abends ein kleines Café betrat und sich zu einem zeitungslesenden Mann setzte: Auf einmal fiel mir dessen großer, nach hinten stark ausgebuchteter Schädel, die schmale, hohe Stirn, die seltsam nahe beisammen stehenden Augen auf: Ich sagte mir: das ist kein harmloser Mensch, das ist die Verkörperung des Bösen, das ist Satan selbst […] Nun versuchte ich tagelang das diabolische Antlitz mit dem Stift zu umreißen. Meine Skizzen gelangen aber schlecht; bald entglitten mir die Hauptverhältnisse des Kopfes, bald der suggestive Ausdruck des Mundes oder der Nasenlöcher.39 Die Körpermerkmale des Herrn im Café weisen eine geradezu erstaunliche Ähnlichkeit zu Herkules Bell auf. Nicht nur hat Bell eine “hohe, schmale, sehr kantige Stirn”, sondern wenig später beschreibt der Erzähler auch, wie er aus nächster Nähe sein “diabolisches Profil” beobachten kann. Die Vermutung lässt sich weitherhin durch die Feststellung Kubins belegen, dass er “die schier unübersehbare Fülle zeichnerischer Motive […] auf eine verhältnismäßig geringe Anzahl jugendlicher 37 Govinda, 1951: 15. Zit. Nach Hewig, 109 Ebd., 17, Zit. Nach ders. 39 “Aus halb vergessenem Lande” (1926), in: Aus meiner Werkstatt. Hrsg. v. Ulrich Riemerschmidt. München, 1976: 24 (in der Folge: AmW) 38 21 Eindrücke zurückgeht, die immer wieder nach Gestaltung drängen.”40 Kubin verfasste diese Schrift 1926; die Erinnerung geht auf die Zeit seines ersten Aufenthalts in München zurück, die zwischen den Jahren 1898-1904 liegt, also etliche Jahre bevor er die Andere Seite verfasste. Es drängt sich mithin die Vermutung auf, dass Kubin für die Darstellung des Amerikaners auf eben diese Erinnerung zurückgegriffen hat; wo seine ersten Versuche, die Figur zeichnerisch zu bannen, sich als vergeblich erwiesen, ist es ihm diesmal gelungen. In Bezug auf die bildliche Gestaltung bekennt Kubin, dass “im untergegangen Einst Geschauten” sich die “Bruchstücke des vielleicht erst gestern Erlebten”41 mischen. Offenbar bedarf es der schöpferischen Phantasie Kubins zuzeiten der Zwischenzeit, ein Bild aus der Erinnerung zur Reife zu bringen. 3.3 Patera und der Amerikaner, Vater und Sohn? In der bisherigen Forschung ist über Kubins Vaterbindung viel spekuliert worden. Schon Kubins guter Freund Oscar A.H. Schmitz betonte in einem dem Künstler gewidmeten Essay “Die Beschwörung der Dämonen oder Alfred Kubin, der magische Mensch” (1923) das persönliche Verhältnis zwischen Vater und Sohn Kubin. Für Schmitz steht es außer Zweifel, dass die Figur Patera nach dem Vorbild des Vaters gestaltet ist.42 Allerdings könnte das philosophisches System, in das Kubin in seinen Jugendjahren das Prinzip des Vaters mit dem des Sohnes verknüpfte und die ganze Weltschöpfung von dem Vater-Sohnproblem aus betrachtet, als möglichen Anlass zu dieser Vermutung gelten. Kubin stellte sich vor, […] dass ein an sich außerzeitliches, ewig seiendes Prinzip – ich nannte es ‘den Vater’ – aus einer unergründlichen Ursuche das Selbstbewusstein – ‘den Sohn’ – mit der zu ihm unscheidbar gehörigen Welt schuf. Hier war natürlich ich selbst, ‘der Ebd. Übrigens regt Kubin im Text “Der Zeichner” (1922) Künstler explizit an, seine Motive zu wiederholen: “Ich empfehle den Zeichner, seine Motive abdwandelnd zu wiederholen […]” Kubin, A. AmL: 58 41 “Aus halb vergessenem Lande”, in: AmW: 24 42 Schmitz bemerkt, dass Kubins Vater wegen seiner exotischen Erzählungen der Spitzname “der Kaiser von Hinterindien” gegeben wurde. Schmitz, der in Patera den Vater Kubins sehen will, bemerkt, dass Patera “zunächst durchaus ‘Kaiser von Hinterindien’ ist”, damit anspielend auf den Spitznamen des alten Kubins. Zwar hat der pater sein Reich in Asien gegründet, doch die topographische Lage des Traumreichs ist von der südostasiatischen Halbinsel weit entfernt: nach Angaben des Erzählers soll sie in der Nähe Samarkands liegen, wo die Reise mit dem Zug endet und die letzte Strecke in der Karawane in zwei Tagen zurückgelegt werden kann. (36) 40 22 Sohn’, der sich selbst, solange es dem eigentlichen, riesenhaften, ihn ja spiegelreflexartig frei schaffenden Vater genehm ist, narrt, peinigt und hetzt. Es kann also ein derartiger Sohn jeden Augenblick mit seiner Welt verschwinden und in die Überexistenz des Vaters aufgehoben werden. Es gibt immer nur einen Sohn, und von dessen erkennendem Gesichtspunkt aus konnte man vergleichsweise allegorisch sagen, dass dieser ganze äffende und qualvolle Weltprozess geschieht, damit an dieser Verwirrtheit der Vater erst Seine allmächtige Klarheit und Endlosigkeit merkt – misst.43 Aus der Perspektive des Vater-Sohnverhältnisses ist Patera “der weltschöpferische Vater, der in dessen widerspruchsvolle Welt geratene Traummensch ist der Sohn, der nicht zum Vater finden kann, obwohl er ihm doch so nahe ist.”44 Schmitz zufolge ist der Erzähler identisch mit dem Bild des Sohnes: “Zwar [ist] das Traumreich der Traum Pateras […], aber doch nur innerhalb des Traums des Erzählers, der sich selbst im Traum mit dem Sohn identifiziert; aber ist er denn nicht als Träumer identisch mit dem Vater? Beide sind doch von ihm geträumt”.45 Auch Müller-Thalheim ist der Ansicht, dass “der Herrscher des Traumreichs […] niemand anderer sein [kann] als der Vater, wie er sich im Geist des Kindes darstellt.”46 Schon der österreichische Psychoanalyst Hanns Sachs, hatte in einer frühen Rezension in der Zeitschrift Imago darauf hingewiesen, dass Patera auf den Vater verweist, dem freilich weibliche Züge nicht fehlen.47 Es liegt auf der Hand, die Schönheit Pateras auf einer ersten Deutungsebene auf den Vater zu beziehen, den Kubin in seiner Autobiographie um seine Schönheit preist. Die Bemerkung in einer seiner biographischen Notizen, dass ihm seinen Vater als “Urbild […] männlicher Kraft und Schönheit”48 erschien, würde “Selbstbiographie” (1911), in: AmL, 24f. Schmitz, 1923: 126. Schmitz deutet auf die Unerreichbarkeit Pateras hin, der sich im Palast verborgen halt. Er erkennt in das Vater-Sohnverhältnis die oberste Schichte des Roman: “Dreierlei ist das Traumreich in Kubins Roman: in tiefster Schicht eine großartige Kosmogenie von der Ursprünglichkeit des Mythos, in mittlerer eine gestaltensreiche Künstlervision, in der obersten Schicht, der die Freudschule allein Realität zuschreiben würde, ein Spiegel des persönlichen Verhältnisses zwischen Sohn und Vater Kubin.” Hewig darauf hin, dass Kubins Anlass zu dieser Namensgebung auf eine Jugenderinnerung zurückgehen mag: “einer seiner Klassenkameraden, dessen Erscheinung er auch bildlich eingefangen hat, trug den Namen “Patera”. Sie macht darauf Aufmerksam, dass im Besitz des Hamburger Kubin-Archivs es eine Zeichnung aus dem Jahre 1896 gibt, die “eine gedrungene, muskulöse Gestalt, die zwar nicht an Patera als den Herrscher des Traumreiches, wohl aber an Patera als den Schüler erinnert.” Ebd.,75 45 Ebd., 127 46 Müller-Thalheim, W. K. Erotik und Dämonie im Werk Alfred Kubins. Eine psychopathologische Studie. Wiesbaden: 1970: 38 47 Vgl. Sachs, 1912 48 Kubin, A. “Selbstbiographie” (I). In: AmL, 10 43 44 23 diese Annahme bestätigen. Immer wieder wird auch Patera als besonders schön oder geradezu von griechischer Schönheit beschrieben. Andere Paralellen zum Vater erkennt Müller-Thalheim in der Gegebenheit, dass der Erzähler Patera in Salzburg kennengelernt hat, wo auch Kubins erste bewusste Begegnung mit dem Vater erfolgte.49 Der Beruf des Vaters - er war Landmesser war - entspräche Pateras Entwurf des Traumreichs. Zuletzt stellt die Autorin mit dem Alter des Vaters (geboren 1848) einen weiteren Bezug zum Traumland her, wo kein Gegenstand oder Haus vor 1860 enstanden sein darf. Im von den Einwohnern im regelmäßigen Rhythmus besuchten Uhrturm erkennt sei Müller-Thalheim den Ausdruck einer nötigenden ‘Erziehung zur Reinlichkeit’, und “tiefenpsychologisch formuliert: anale Fixierungen.” Unterwerfung an den Vater.50 Im Schluss des Romans soll Kubin die vermeintliche Auseinandersetzung mit dem Vaterproblem und dem Geschlechtlichen beschlossen haben: “auf folgende, für ihn sehr charakterische Weise: ‘Das Phänomen Patera [Vater] bleibt ungelöst. Der Amerikaner, [der ‘Sohnesanteil’, mit dem er sich zu identifizieren wünscht, in mehrfacher Hinsicht sein Wunschbild] lebt heute noch und ihn kennt alle Welt.”51 Auch Hank führt die phantastischen Elemente in der Anderen Seite auf die die unbewusst erlebte Frühgeschichte des Autors zurück. Perle verweise, “bekanntlich das Kleinod einer Muschel” auf “den Vorgang einer (Neu-)Geburt, Andeutung eines uteralen Geschehens.” Eine kolossale Muschel, die der Autor im Traum beobachtet, stelle der Wunsch nach symbiotischer Regression dar, “nach Eintauchen in die Ununterscheidbarkeit der Nacht, in der jegliche Differenz – im gelatineartigen Gewabbere – verschwunden ist.”52 Die Vater-Sohn-Problematik psychoanalytisch als wesentlichsten Gehalt der Anderen Seite zu interpretieren, wie es etwa Sachs und Kraft53 versucht haben, greift sicher zu kurz. Vielmehr ist Lippuner beizustimmen, der meint, Kubin habe “allerhöchstens in einer ersten Verstehensschicht Vatergestalt und mit biographischen Gegebenheiten 49 Ebd., 7 Müller-Thalheim, 1970: 40 51 Ebd. 52 Hank, R. “Sanfte Apokalypse. Untergangsvisionen in der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende.” In: Literatur und Kritik 25 (Salzburg 1990), H. 241/242, S. 58-71 (66) 53 Kraft, 1990: 109-116 50 24 seines Autors verknüpft”. Ulrich Riemerschmiedt schreibt mit Recht, dass “das Phänomen Kubin weder so losgelöst von Bindungen und so einfach aufzufassen, wie die Neurologen das zu versuchen pflegen, noch zo kompliziert, wie es die Psychopathologen […] für angezeigt halten.”54 Nicht zuletzt der Künstler selbst hatte “bei allem Interesse für psychische Abläufe wenig […] für die so widerlichen Psychoanalysierer [übrig]”55. In Anbetracht dessen muss man der Hinweis auf “die Werke unserer so geistvollen Seelenforscher” (7) folgerichting als eine ironische Anspielung auf Freud halten. Zieht man aber Kubins eigene Aussagen in über Patera in Betracht, so stellen die Ansprüche jener Autoren, deren Theorien auf psychoanalytischen Grundlagen fußen, sich vor allem als eine Täuschung heraus: […] Patéra oder Pátera?? Ich spreche, für die andere Seite, so wie im Falle 1. aus – das Urbild nannte sich wie Fall 2. ein Name der dem cechischen wohl entstammt – während in der Zeitschrift Imago 1912 in der damals frühen Schule der Psychoanalyse der Fall 1 herangezogen wird von einem Dr. Hans Sachs in seinem Artikel wobei er meinte der Autor hätte ‘unbewußt’ das Vatersymbol schon im Namen genannt – mir fiel damals, 1908, als ich’s schrieb aber nichts dabei ein - als die Jugenderinnerung und ein gewisser Wohlklang des Namens wie ich diesen aussprach –56 Zwar lässt sich das “Urbild” Pateras denn letztlich doch eindeutig auf den Jugendfreund Claus Patera zurückführen, die Gemeinsamkeiten dürften aber somit auch schon erschöpft sein. Geyer macht darauf Aufmerksam, das ein im KubinArchiv aufbewahrtes Aquarell mit dem Titel “Lothar Patera”57 kein “breitschultriger Bursche” (7), sondern ein “eher schmächtiger Jüngling in Wanderkleidung” darstellt.58 Riemerdschmiedt, O. Nachtwort zu “Aus meinem Leben.” Kubin, A. 1974: 212 Müller-Thalheim, 1970: 47 In Anbetracht dessen muss man der Hinweis auf “die Werke unserer so geistvollen Seelenforscher” (7) folgerichting als eine ironische Anspielung auf Freud halten 56 Kubin an Carl Lange am 25.8.1941. Xerokopie im Kubin-Archiv. Zit. Nach Geyer, A. Alfred Kubin. Träumer auf Lebenszeit. Wien, Köln, Weimar, 1995: 144 57 Abgeb. Bei Hoberg, 1990: 215. 58 Geyer, 1995: 144 54 55 25 3.4 Der Demiurg ist ein Zwitter: der Schlüssel zur Polaritätsdeutung 3.4.1 Patera der Todesgott […] die Eine, Eine glänze Sonne, das Ich, das nicht mehr zerspaltene, die Einheit des eigenen Wesens, das ist im Grunde das Ziel aller Sehnsucht.59 Patera ist eine äußert komplexe Figur. Zunächst einmal, weil Ambiguität ein charakteristisches Merkmal seines Wesens ist. Ansätze aus psychologischer, philosophischer oder auch werkimmanenter Sicht reichen nicht aus, um die Vielschichtigkeit Pateras aufzudecken.60 Dass Kubin sich dessen auch selbst bewusst war, geht wohl aus folgender Erläuterung hervor: “Meine Gestalten sind weder auf irgendeinen ästhetischen Kanon festgelegt, noch sind sie Karikaturen, sie entgleiten jeder Formulierung […].”61 Selbstverständlich sind die zahlreichen biblischen Hinweise in der Anderen Seite der Kubin-Forschung nicht entgangen. So sieht Geyer in der in Gedanken ausgesprochenen Aussage des Erzählers, “Das ist der Herr, das ist der Herr!”, wenn dieser sich in Pateras Gegenwart befindet, eine “unverkennbare” Anspielung auf Christus. Überzeugender ist aber die Tatsache, dass Kubin in den Linzer Vorstudien den Eintrag “Patera 50 Jahre alt” streicht und durch “33”, dem Alter des gekreuzigten Christus, ersetzt.62 Auch vom Handlungsverlauf lassen sich leicht Beziehungen zum alten und neuen Testament legen. Im Unglück, das der Stadt trifft (im Kapitel “Hölle”), wie etwa die Insektenplage oder der Einbruch der Tiere in der Stadt, spiegeln sich die bildlichen Prophezeiungen aus den Offenbarungen Johannis. Andererseits ähnelt der endgültige Untergang des Traumreichs dem Babylons. Weder mangelt es den Hauptpersonen an biblische Anspielungen. Patera ist 59 Huch, R. Blütezeit der Romantik. Leizpig, 1916, 1: 216. Zit. Nach Hewig, 1967: 25 Einen einfallsreichen Einstieg in die Vielschichtigkeit Pateras, der wohl die wichtigste Figur des Romans ist, haben Petriconi und Schroeder erschlossen, indem sie nach traditionellem Muster die Entschlüsselung von Personen und Örtlichkeiten auf literarische Vorlagen (Petriconi: Christus, Schroeder: Gustav Meyrinks Golem) abstützen. Vgl. Petriconi, H. Das Reich des Untergang. Bemerkungen über ein mythologisches Thema. Hamburg, 1958; Schroeder, R. A. Alfred Kubin’s “Die andere Seite”: A Study in the cross-fertilization of literature and the graphic arts. Masch. Diss. Indiana University, 1970. 61 “Dämmerungwelten” (1933), in: AmW, 41 62 An anderer Stelle belegt Geyer seine Ansicht, Kubin habe in der Anderen Seite das Lebensgefühl der Dékadenz ausgeprägt. Er betrachtet die Christus-Assoziation als “Tribut an die DécadenceLiteratur, die mit Vorliebe christusähnliche Gestalten auftreten lässt.” Unerhellt bleibt aber die Frage, inwiefern Patera sich als Christusfigur gerade in einem dekadenten Rahmen stellen lässt. Geyer, 1995: 145 60 26 der “Herr” und “Meister” (176), Bell gründet der Verein Luzifer (160), reitet auf einem schwarzen Hengst (161) - ein traditionell satanisches Attribut63 - und hat dazu auch ein “diabolisches Profil” (Ebd.). An späterer Stelle heißt es, dass “seine wuchtig in zwei Höckern sich wölbende Stirn dem Gesicht etwas Teuflisches” geben. (218) Während Patera die Sphäre des Todes zugehört, wird der Widersacher Herkules Bell in die Nähe des Teufels gerückt. Geyer weist zu Recht darauf hin, dass hier indirekt der philosophische Einfluss Schopenhauers und seiner Epigonen anklingt, die propagieren, dass der Tod dem Leben vorzuziehen sei.64 Andererseits weist Patera verschiedene prägende Merkmale des Griechischen Todesgottes Thanatos auf65. In diesem Kontext vor allem aufschlussreich ist die Begebenheit, dass Thanatos in der Antike der Gott gerade des sanften Todes war. Er wurde darum häufig zusammen mit Hypnos, dem personifizierten Gott des Schlafes, abgebildet.66 In der Person Pateras vereinigt sich das von Lessing und Herder propagierte geschwisterliche Verhältnis von Schlaf und Tod.67 Aus der Gegebenheit, dass der Künstler und seine Frau während ihrer Reise spüren, dass sich ihnen eine “immer stärker werdende Müdigkeit” bemächtigt, lässt sich den wachsenden Einfluss des Traumherrschers erschließen. Geyer macht noch auf ein weiteres Indiz Aufmerksam, aus dem Pateras Rolle als Todesgott unverkennbar hervorgeht. Er deutet auf eine Aussage vom Friseur des Traumlandes hin, der als der Philosoph des Traumlandes gilt. Dieser äußert sich folgendermaßen: Sehen Sie, der Raum wirbt um die Zeit; der Vereinigungspunkt, die Gegenwart, ist der Tod; oder, was sich genau dafür setzen läßt, die Gottheit. (67) 63 Vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. v. E. Hoffman-Krayer u. Mitarbeit zahlreicher Fachgenossen v. Hans Bächtold-Stäubli. Berlin/Leipzig: 1930/31, Bd. 3, 1746 64 Vgl. Schopenhauer, A.: “Ueber den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens” In: Die Welt als Wille und Vorstellung II. Zürcher Ausgabe, Bd. IV: 576. Zit. Nach Geyer, 1995: 147 65 Hans Hinterhäuser zufolge sei Patera “kein anderer als der griechische Todesgott Thanatos”. Hinterhäuser, H. “Tote Städte”. In: Fin de siècle. Gestalten und Mythen. München, 1977: 66 66 Brockhaus Enzyklopädie. 19. Aufl. in 24 Bd. 22. Bd.: Tep-Ur. Mannheim: 1986: 62 67 Nach Lessings Schrift Wie die Alten den Tod gebildet (1769) ist der Tod der Zwillingsbruder des Schlafes. Im Nachtrag zu Leßings Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet? (1774) nimmt Herder verschiedene kunsthistorische Nuancierungen vor betont den Bezug zum Christentum. Vgl. Lessing, G.E. Wie die Alten den Tod gebildet. In: Werke. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. VI. München 1970; Herder, J.G. “Wie die Alten den Tod gebildet?” In: Herders sämtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan. Bd. V/ Berlin 1881. 27 Nach Geyer lässt sich daraus folgerichtig die folgende Gleichheitsbeziehung ableiten: Gegenwart = Tod = Die Gottheit: “Die Diagnose aus Nietzsches Zarathustra, dass ‘Gott todt ist’, wird so umgedeutet zu ‘Gott ist der Tod.”68 Patera, der seine Untertanen bisher über ihre Träume gebannt hielt, büßt mit dem Erscheinen des Milliardärs Herkules Bell zusehends an Macht ein. Wenn der Amerikaner eine Kampagne gegen Patera eröffnet, schließt er in seiner Proklamation nicht unzufällig die Warnung “Hüte sich jeder vor dem Schlaf!” (167) ein. Wohl trifft er den Kern des Geheimnisses um Pateras Machts, wenn er die Traumländer mit den folgenden Worten verständigt: Ihr seid einer Massenhypnose verfallen! Keiner gehorcht mehr seiner eigenen Vernunft! Nein, die fremde Suggestion in seinem Schädel hält er für eigene Gedanken! (166) Indem Bell dem Herrscher bekämpft, versucht er die Einwohner gleichsam aus ihrem Schlaf aufzurütteln. Dementsprechend stellt der Erzähler fest: “Der Amerikaner, der hat das wahre Leben!” (197) Geyer bringt die Wirkung Herkules Bells, die sich aus der dialektischen Grundkonstellation des Romans erklärt, auf den Punkt: “Im gleichen Maße in dem Patera den Pol des Todes repräsentiert, verkörpert Herkules Bell den Pol des Lebens.69 Dem entspricht auch die Darstellung Bells Amerikaner als eine Personifikation des aufklärerischen Fortschrittglaubens. Denn Luzifer ist nicht nur der gefallene Engel und Widersachers Gottes, sondern auch der “Lichtbringer”. So ist der Satz “Euch fehlt die Sonne, ihr Narren” als eine Bejahung des Fortschritts zu deuten. Allerdingst ist Lippuner wohl zuzustimmen, wenn er bemerkt, dass Patera als Christusfigur “die Rolle eines Zerstörers seines Reiches versagt [bleibt].”70 Weder ist er aber mit dem Teufel gleichzusetzen, denn dieser kann als die “Verkörperung von Vernichtung und Untergang nicht schöpferisch tätig sein.” Es sind genau diese traditionellen Auffassungen, so behauptet der Autor, die Kubin “verkehrt und in den Zeichnungen den Vertreter des Bösen als Schöpfer, in der ‘Anderen Seite’ den Erschaffer als die 68 Geyer, 1995: 143 Geyer, 1995: 146 70 Lippuner, 1977: 53 69 28 vernichtende Kraft dargestellt”71 hat. Im Amerikaner offenbart sich die Polarität im Wesen Pateras: Der janusköpfige ‘Herr’ ist in seine antithetischen Pole auseinandergesprungen. Die innere Zerissenheit, die zuvor nur verhüllt sichtbar wurde, hat mit dem Erscheinen des Amerikaners sinnfällige Gestalt gewonnen: Nunmehr ist Patera nur noch Eines und Herkules Bell ist das entgegengesetzte Andere.72 Die innerliche Zerissenheit führt zwängsläufig den Untergang des Traumreiches herbei. Auf der diesseitigen Ebene durchaus der Inbegriff des rebellierenden Zerstörers, versinnbildlicht der Amerikaner auf der überweltlichen Ebene jedoch die bejahende Macht des Lebens, die dem negierenden Prinzip des Todes gleichberechtigt entgegentritt. Hewig folgert richtig, dass sich “[…] der Wille, der nicht will, und der Wille, der will, feindlich und ewig unversöhnbar gegenüber stehen.”73 Es sei in diesem Verband auf das Proteusmotiv anzumerken, das Kubin im letzten Kapitel benutzt. In einem letzten Endkampf zwischen Patera und Bell, das der Erzähler als eine apokalyptische Vision in einem Traum erlebt, sind beide Widersacher riesengroß gewachsen: Patera und der Amerikaner verkrallten sich zu einer unförmigen Masse, der Amerikaner war gänzlich in Patera hineingewachsen. Ein ungeschlachter, nicht übersehbarer Körper wälzte sich nach allen Seiten. Dieses gestaltlose Wesen besaß eine Proteusnatur, Millionen kleiner, wechselnder Gesichter bildeten sich an seiner Oberfläche, schwatzten, sangen und schrien durcheinander und zogen sich wieder zurück. (263) Dieses Motiv wird von Kubin nicht nur an dieser Stelle verwendet. Bereits während der ersten Begegnung mit Patera erweist der Herrscher sich als Proteusnatur, indem er sein Gesicht in verschiedensten Formen verwandeln kann. In einem “chamäleonartig” wechselndes “Mienenspiel”, gleicht sein Antlitz 71 Ebd. Hewig, 1967: 109 73 Ebd. 72 29 blitzschnell […] nacheinander einem Jüngling – einer Frau, einem Kind – und einem Greis. Es wurde fett und hager, bekam Auswüchse wie ein Truthahn, schrumpfte winzig klein zusammen – war im nächsten Augenblick hochmütig gebläht, dehnte, streckte sich, drückte Hohn, Gutmüdigkeit, Schadenfreude, Has saus – voll Runzeln wurde es und wieder glatt wie Stein. (121) Das Motiv wird während dem zweiten Treffen mit Patera abgewandelt wiederholt, indem er sich in den Amerikaner verwandelt.74 Allerdings handelt es sich weniger um den Hetzer Herkules Bell, der ja zum Übernatürlichen wenig Bezüge aufweist, als vielmehr um eine ins metaphysisch gesteigerte Form jener, der in die Hohlform Patera Gestalt annimmt. Das wahre Ich Pateras, das sich bis zum namenlosen Es verfremdet, ist nicht das Ich des Menschen. Ein solches Ich kann sich unmöglich in einer einzigen Erscheinungsform kristallisieren. Als “janusköpfiger” Herr und Meister des kubinschen Traumreiches”, so erklärt Hewig, “wendet dem Zeichner jeweils diejenige seiner beiden Masken zu, denen in ihr sich manifestierende Macht im Traumland dominiert.”75 Daraus lässt sich auch der Zweifel des Erzählers erklären, der sich das zweite Mal, das er Patera gegenübertritt, fragt, ob Patera überhaupt ein lebendiges Wesen oder nicht vielmehr ein Geschöpf der Einbildungskraft ist: “Seine Augen glichen zwei leeren Spiegeln, welche die Undendlichkeit auffingen. Mir kam der Gedanke, dass Patera gar nicht lebe.” 3.4.2 “Die Klärung der Erkenntnis”: antithetische Weltauffassung Nicht ohne Grund betont der Erzähler in der Anderen Seite immer wieder die Eigenart von Pateras Augen.76. Im fünten Kapitel des zweiten Teiles besucht der Erzähler einen einheimischen Stamm, die “Ureinwohner” des Traumreiches in der Vorstadt. Von den “Im grell strahlenden Raum stand an der Stelle Pateras der Amerikaner vor mir…” (199) Hewig, 1967: 82, 84 76 Dass das Auge eine wesentliche Faszination auf den frühen Kubin ausgeübt haben muss, geht wohl aus der häufigen Verwendung dessen im Frühwerkt hervor. So trägt ein Götze in einem Werk mit dem Titel “Heidnisches Opfer” (+- 1900) drei Augenpaare: ein weit aufgerissenes, eines mit zurücktretenden, verschwimmenden Pupillen und schließlich eines, das zwar geöffnet ist, wie deutlich sichtbaren Wimpernreihen beweisen, zugleich aber “zwei leeren Spiegeln” gleichen. In “Weihnacht” (1899), “Die Gesegnete” (1903/05) und in Schande (+- 1900) sind die Augen, die den Menschen aus dem Dunkel heraus anstarren, dargestellt. Schließlicht ist in “Das Grausen” (1903) eine letzte Möglichkeit, da das Auge, im riesenhaften Augapfel des Seeungeheuers, sich verselbständigt und zum gräßlichen, bannenden Ding wird, gestaltet. Vgl. Lippuner, 1977: 47 74 75 30 meisten Traumländern völlig ignoriert, regen diese “Blauäugigen” die Fantasie des Künstlers an, die er beschreibt als “hochgewachsene, sehnige Gestalten”, “von deutlich mongolischem Typus77”, “in mattorangegelbte Tücher gehüllt”. (143)78 Ihre “leicht schräggestellten Augen”, deren Farbe “von strahlendsten Blau” ist, hält der Erzahler für das schönste an diesen Menschen. (144). Durch alle Stadien der Begegnungen mit Patera hindurch (Erinnerung an Schulzeit, Medaillon, Wiedersehen) lebt der Erzähler in der Bannkraft Pateras Augen, immer wieder wird ihre Gewalt hervorgehoben. Wenn sie am Schluss sogar eine blaue Farbe bekommen, schaffen sie “den direkten Zugang zu jener Welt der immateriellen Kräfte, die den ‘Blauäugigen zu Gebote stehen’”79. Der Versuch, die “Philosophie der Blauäugigen” dem Leser klarzulegen, beansprucht ein eigenes Kapitel. Zunächst sei auf das Bild hingewiesen, das der Autor der Beschreibung der Blauäugigen eingefügt hat. (Bild 3). Offenkundig handelt es sich hier um den indischen Gott der Weisheit und Intelligenz, Ganesha (Bild 4), der überdies für Beginn und Veränderung steht und mit Schutz und Gelassenheit verbunden wird. Nach Petriconi wäre Ganesha mit dem Brahma, dem “Sein an sich” in Beziehung zu bringen. Petriconi folgert, die Blauäugigen stünden so nicht nur von der Erzählstruktur der Anderen Seite her, sondern auch im philosophischen Bezugsfeld, zwischen Patera und dem Amerikaner, womit dann Kubins Weltanschauung und der Bedeutungskern des Romans sich auf die Vorstellungen von der indischen Dreifältigkeit abstützen.80 77 Ulrich Mävers bemerkt, dass die Weltabkehr der Buddhisten den Künstler schon früh fasziniert hat. Kubin schreibt in seiner Autobiographie, dass er 1917 während einer zehntägige Krise sehr intensiv im Buddhismus aufgegangen sein soll. Er hat sie genau beschrieben und damals wie später als einen entscheidenden Wendepunkt seines Lebens bezeichnet. Die Tagebücher bestätigen die intensive und fortwährende Auseinandersetzung Kubins mit Werken der östlichen Philosophie. Schon am 10. 2. 1903 teilte er Hans von Müller mit: “[…] Bin auf dem Wege Buddhist zu werden.” In: Arndt, 1980: 135f. ; Kubin an Hans von Müller, München, 10.2.03. Nach d. Orig.; Zitat. Nach Hewig, 1967: 87. Auf das Interesse Kubins an östlichen Religionen hat man immer wieder hingewiesen; ihre Bedeutung in der Anderen Seite wird von Hewig (Hewig, 1951) ausführlich behandelt und Govinda (Govinda, 1951; Hewig, 1967) widmet sogar ihre ganze Arbeit diesem Thema. 78 An einer späteren Stelle, wenn das Traumreicht bereits untergegangen ist, beoabchtet der Erzählen einen Blauäugigen, dessen “Eirund des Kopfes” “wie aus Porzellan geform” ist und dessen “dünnen durchsichtigen Nasenflügeln, dem schmalen, etwas abgedrückten Kinn” ihm “wie ein überfeinerter Mandschuprinz oder wie ein Engel au seiner buddhistischen Legende” vorkommt. Die tiefe Ehrfurcht, die die Blauäugigen dem Erzähler einflösen, grenzt an eine kniefällige Verehrung: “Seine schlanken, langen Gelenke sprachen von äußerster Entwicklung der Rasse. Alles Haar war abgeschabt, und vollkommen glatt spannte sich seine Haut.” (255) 79 Lippuner, 1977: 49 80 Petriconi, 1958: 105. Zit. Nach Lippuner, 1977: 76 31 In zweiten Teil des fünften Kapitels gelängt der Künstler zu den folgenden wichtigen Erkenntnissen. Er sieht ein, dass alle Sinnesempfindungen an und für sich austauschbar sind. Die fundamentelle Rolle der Einbildungskraft, auf die wir später noch ausgiebig eingehen werden, unterstützt diesen Befund. Dieser Zusammenhang ist die erste Denkkette. Die zweite geht von der erschreckenden Beobachtung aus, dass “das Ich” einer Person aus “unzähligen ‘Ichs’” sich zusammensetzt. “Immer mehr fühlte ich das gemeinsame Band in allem”, schreibt der Erzähler (147), nunmehr im Stande, jeden Gegenstand aus einer Vielfalt von Anschauungen zu betrachten. Dem folgt die logische Folgerung, dass am Ende das “Nichts” steht, aus dem die Einbildungskraft wieder die Welt zu erschaffen vermag. (146f). Der Aufenthalt bei den Blauäugigen führt somit einen Wendepunkt im Denken des Erzählers herbei und leistet einen wichtigen Vorschub zum Verständnis vom Wesen Pateras. Der Satz “[…] die Welt ist Einbildungskraft, Einbildung – Kraft.” (147) erinnert zwar immer noch an eine “Welt als Wille und Vorstellung” der Schopenhauerschen Weltsicht81, von einem statischen Weltbild ist aber keinesfalls die Rede mehr. In der Art und Weise, wie der Erzähler seine Vorstellung eines vielfältigen Ichs zu umreißen versucht, wird unmittelbar die Philosophie Nietzsches ersichtlich: wie Kubin verwarf auch er die Vorstellung eines einheitliches, souveränes, sich selbst durchsichtiges Ich. Vielmehr sei der Mensch als eine Vielheit zu betrachten; das bewusste Ich unter Kontrolle von einem dahinter liegenden, leiblichen Selbst beherrscht. Durch die Annahme von Dualitäten erscheint ein dynamisch bewegte Welt, die sich zwischen der Einbildung und dem Nichts befindet. Das Böse im Traumreich (und in der Welt überhaupt) ist nur als polarer Gegensatz zum Guten zu verstehen, das Nichts als Gegensatz zum Vorhandenen: “Allgegenwärtig war der rhytmische Pulsschlag Pateras, er wollte, unersättlich in seiner Einbildungskraft, immer alles zugleich, die Sache – und ihr Gegenteil, die Welt – und das Nichts. Dadurch pendelten seine Geschöpfe so hin und her” (147f.) In seinem Hauptwerk “Die Welt als Wille und Vorstellung” betrachtet Schopenhauer die Wirklichkeit eine Gegebenheit, die nur als die vom Menschen vorgestellte existiert: “Die Welt ist meine Vorstellung.” Dieser These gemäß sind für uns die Dinge nur Erscheinung: “Da die Vorstellung eine Verbindung des Subjekts mit dem Objekt ist, die nichts anderes als Erkenntnis ist, ist “alles, was für die Erkenntnis da ist, bloße die Vorstellung. Hinter dieser verbirgt sich nach Schopenhauer aber eine unerkennbare Existenz, die treibende Kraft des Universums, die er in Anlehnung an Kants “Ding an sich” als “Wille” bezeichnet. Fortführend auf diese Auffassung lautet seine zweite These “Die Welt ist Wille.” Vgl. Schopenhauer, A. Die Welt als Wille und Vorstellung. Zürcher Ausg., Werk I. Zürich, 1977: 29, 41. 81 32 Das Motiv des Pendelns im Werk Alfred Kubins erfordert allerdings eine nähere Betrachtung, der wir den folgenden Abschnitt widmen. 3.4.3 Das Motiv des Pendels Bereits Schopenhauer benutzte das Bild des Pendels, um zu veranschaulichen, wie der Mensch zwischen den “letzten Bestandtheilen” des Lebens, “dem Schmerz und der Langeweile” pendelt.82 Am gründlichsten hat sich Hewig mit dem Pendelmotiv beschäftigt. Ihre Theorie, dass das Pendel das ständige Wechselspiel von Tod und Leben versinnbildlicht, bietet eine wichtige Einsicht in das Denksystem Alfred Kubins, die auch der Anderen Seite zugrunde liegt. Zunächst sei einmal hervorgehoben, dass Kubin das Pendel nicht nur in Bezug auf einen “Willen zum Leben” und “Willen zum Nichtleben” angewendet hat. Zum ersten Mal taucht die Allegorie in einem Kontext auf, in dem eine solche Deutung fehl am Platz erscheint. Nach dem Tod seiner Frau, wenn er Aufenthalt im Hause des Arzten Lampenbogens findet und dessen Frau verführen will, stellt sich der Erzähler die Frage: “Beherrscht unsere Natur etwa eine Art von Pendelgesetz?” (132) Vielmehr als auf die Pole von Leben und Tod scheint der Künstler sich hier auf den Freudschen Geschlechtstrieb83 zu beziehen, dem der Seelenforscher den “Todestrieb” oder Thanatos als Antagonisten zur Seite stellte. Der Freudschen Traumdeutung vorausgehend entwarf er 1883 einen Zyklus Radierungen, in denen ein Handschuh zum Gegestand eines Fetischismus wird. Wie oben bereits angeführt wurde, resultierte Kubins stärkster Impuls, den Laufbahn eines Künstlers einzuschlagen, aus seiner Begegnung mit den Radierungen Max Klingers in der Münchner Pinakothek. Kubin mag das Pendeln der dargestellten Figuren in der “Handlung” (1881) wohl mit dem Sexuellen verbunden haben: Dieses Pendeln der Figuren kann als Ankündigung des Grundthemas der ganzen Serie mit rein formalen Mitteln verstanden werden: Es geht um Ambivalenz, um ein 82 Schopenhauer, A. Lichtstrahlen aus seinen Werken. Mit einer Biographie und Charakteristik Schopenhauer’s. Charleston, 2009: 72 83 Vgl. 4.2.2 33 Einerseits-andererseits, das Schwanken zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Begehren und Verzicht.84 Auch im frühen bildlichen Werk hat Kubin das Bild des Pendelns als Symbol merhmals verwendet. In “Das Pendel” (1903) (Bild 5) hängt ein Mann am Schwanz einer Riesenschlange über einem dunklem, unausmessbaren Abgrund. Monika Arndt deutet das Bild als “eine übergroße tierische Macht, deren Kräfte und Willkür nicht zu beherrschen sind.” Werden und Vergehen werden also nicht als Kreislauf, sondern als Pendelgesetz zwischen den Polen einer dialektischen Spannung von kosmischen Ausmaßen angesehen.85 Das Nichts ist der Schöpfung gleichberechtigt nebengeordnet: aus dem Nichts entsteht die Einbildungskraft, die wiederum vom Nichts “aufgefrissen” wird, “und wieder fängt es von vorne an. Der Erzähler sieht ein, dass “in der Einbildungskraft und dem Nichts […] der Urgrund liegen [musste]; vielleicht waren sie eins.”(148) Es liegt hier der Schlüssel zum Verständnis Pateras Wesens: Patera und Herkules Bell erscheinen zwar als einander bekämpfende antithetische Mächte, sie sind im Grunde jedoch eins, dieser ist nur die andere Seite der ersteren. Petriconi hat zu Recht im Stamm der Blauäugigen – an allem Wahnsinn unbeteiligt und vom Untergang bewahrt – ein drittes, neutrales Lager erkannt. Schroeder zieht den Befund weiter, indem er behauptet, dass sie auch die Achse, den Ruhepunkt des für Kubin so entscheidende Pendelgesetzes darstellen. Deutlich tritt diese Erkenntnis während der zweiten Audienz des Erzählers hervor, an deren Ende Patera in den Amerikaner verwandelt. Das Gerücht, der Herrscher des Traumreichs soll sich angeblich in der Öffentlichkeit gezeigt haben, erweist sich als eine trügerische Täuschung: man hat einen “Wachspuppenkopf” für Patera gehalten: “Der Meister eine Mystifikation – nichts weiteres!” (251), schließt der Erzähler.86 Folgerichtig muss, wenn die antithetischen Pole des Nichts und der Einbildungskraft in einem Körper wirken, “jenseits aller empirischen Gesetze – Lebendiges als tod und gleichzeitig als lebendiges 84 Kraft, H. Serie: Max Klinger, Ein handschuh (2): Handlung. In: aerzteblatt.de, Ausgabe August 2007: 346 <http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?src=&id=56566&p=> Artikel abgerufen am 12. Juni 2010 85 Bisanz, H. Alfred Kubin. München, 1980: 35 86 Geyer macht darauf Aufmerksam, dass in den Linzer Vorstudien zur Anderen Seite Kubin seinen Protagonisten gar beobachten lässt, wie Patera “gegen sich selbst kämpfte.” Skizzenbuch. Original im Oberösterreichischen Landesmuseum Linz, Inv.-Nr.Ha 6381, Bl. 66r. Zit. Nach Geyer, 153 34 erscheinen.”87 Einbildungskraft und Nichts markieren zugleich die übergreifende Polarität von Leben und Tod. Tod ist allgegenwärtig in Pateras Körper: sein Anlitz wird als “wächsern” beschrieben, seine Augen als “ausdruckslos und ohne Leben.” Wie zuvor angedeutet, unterscheidet sich das Ich Pateras von dem der Menschen: schließlich ist er eine Gottheit, daher unsterblich, als Phänomen bleibt er durchwirken, auch wenn sein Leben körperlich beendet ist. Zu berücksichtigen sei hier das vorletzte Kapitel, das die Bestattung Pateras durch die Blauäugigen beschreibt. Der Künstler, der diese Szene aus einiger Entfernung wahrnimmt, stellt eine bedeutende Veränderung in Patera fest: “Er hatte wieder etwas menschliches […] Die wächserne tote Farbe war verschwunden, er erinnerte wieder an den Menschen, den ich auf der Schule gekannt.” (266) Seine Augen haben “die letzte Spur des Unheimlichen verloren” und “leuchten nunmehr in einem feuchten, dunklen Blau.” (268f.) Die entstellten Züge Pateras weichen “dem erhabensten Ausdruck der Ruhe”(270). Der Erzähler erkennt Patera wieder “gleich einem Götterbildnis der antiken Welt” (Ebd.), dessen Körper “von einer unbeschreiblichen Schönheit” ist. Die Metamorphose, die sich an Patera vollzieht, trägt den Schleier des Transzendenten: einmal in die Sphäre der erhabenen Blauäugigen gerückt, drängt sich folgerichtig die Vermutung auf, dass Patera gar nicht tot ist. Selbst der Leiche, die “wie aus einem geheimen Kräfteüberschuss” (270) zu wachsen beginnt, zeigt noch ein letzte Spur von Vitalität. (270) Geyer ist beizustimmen, wenn dieser das Wachstum der Leiche “eindeutig dem Bereich des Lebens” zuordnet.88 Ein wichtiger Beleg für diese Annahme ist die Schilderung des Felsensaals. Es handelt sich hier um die Wiederaufnahme eines Themas, das Kubin in einer Folge mit dem Titel “Die ewige Flamme” (1901/02) bereits dargestellt hat. Zunächst sei auf eine überaus auffallende Ähnlichkeit hingewiesen, die eines dieser Blätter (Bild 6a) mit dem im Roman gedruckten Bild aufweist (Bild 6b). Was uns aber weitaus mehr interessiert ist die Bedeutung, die Kubin dem Motiv beimisst. In allen diesen Bildern aus der Folge kehrt ein flammender Kessel im Mittelpunkt der Komposition zurück. Brockhaus beleuchtet das Thema in einem weiteren Blickwinkel, der die Position Kubins innerhalb der Tradition verständlich macht und somit einen tiefgründigen Eingang zu seinem Schaffen ermöglicht: 87 88 Hewig, 1967: 83 Geyer, 1995: 152 35 die ewige Flamme darf als ein Symbol für den ewigen Mythos verstanden werden, dessen die Zeit überdauernder Größe sich das Leben unterordnet. Feuer und Kultraum gehören zum bevorzugten Motivschatz des Symbolismus. Ihre Bedeutung wechselt von Fall zu Fall und wird nur aus dem Zusammenhang heraus verständlich. Dies ist nicht anders bei Alfred Kubin […]89 Ein für alle Mal bestätigt dies unseren Erfund, dass Patera sowohl das Lebens- wie das Todesprinzip verkörpert. “Vielleicht waren die Bläuäugigen die wirklichen Herren, die durch magische Kräfte eine leblose Paterapuppe galvanisierten und das Traumreich nach gefallen und das Traumreich nach Gefallen schufen und vergehen ließen”(273) schreibt der Künstler ganz am Ende der Erzählung; eine Vermutung, deren Richtigkeit zu bestimmen dem Leser überlassen wird. Festzuhalten ist allerdings, dass im Stamm der Blauäugigen – an allem Wahnsinn unbeteiligt und vom Untergang bewahrt – ein drittes, neutrales Lager zu erkennen ist. Schroeder macht auf die Tatsache Aufmerksam, dass die Blauäugigen auch die Achse, den Ruhepunkt des Pendelgesetzes darstellen; jenes “Mitte”, “dem eifriger als jemand anderen Kubin selbst nachspürte.” 90 3.4.3 “Die Philosophie der Erlösung”: Philipp Mainländer und die Polarität von Tod und Leben In Kubins Verständnis des Todeswillens ist der Einfluss Philosophie Mainländers, dessen Philosophie den jungen Künstler tief beeindruckte, nicht zu übersehen. 91 In seinem Hauptwerk “Die Philosophie der Erlösung” (1884)92, nach Theodor Lessing “das radikalste System des Pessimismus, das die philosophische Literatur kennt”, verkündet Mainländer, dass dem menschlichen Dasein kein höherer Sinn innewohne. Der “von der Erkenntnis, daß Nichtsein besser ist als Sein entzündete Wille” sei das “oberste Prinzip aller Moral”93. In Anlehnung an Schopenhauers stellt er die These, 89 Brockhaus, C. Alfred Kubin: Das zeichnerische Frühwerk bis 1904. Hrsg. v. Hans Albert Peters. Baden-Baden, 1977: 198 90 Schroeder, 1970: 70. Zit. Nach Lippuner, 1977: 76 91 Vgl. dazu Geyer, 1995: 87ff. 92 Mainländer, P. Die Philosophie der Erlösung. Erster Band, mit einem Vorwort zur Neuausgabe von Winfried H. Müller-Seyfarth, Hildesheim/Zürich/New York, 1996 93 36 “dass wir zwar immer in der Gegenwart sind, aber stets auf Kosten oder durch den Tod der Gegenwart […]”94 Schopenhauers Verständnis der Welt als Wille und Vorstellung entnimmt Mainländer den Begriff des “Willens”, den er in den Mittelpunkt seiner Weltanschauung rückt. Während Schopenhauer aber die Auffassung vertritt, dass der “innere Gehalt”, das “Wesentliche”95 der Welt der Wille zum Leben ist und den Pessimismus überwinden will, so behauptet Mainländer Welt und Mensch seien “im tiefsten Grunde Wille zum Tode”.96 Der Mensch selbst, so Mainländer, sei “im tiefsten Grunde Wille zum Tode, weil die seinen Typus konstituierenden und ihn, durch Ein- und Austritt erhaltenden Ideen den Tod wollen.”97 Mainländer führt den Gedanken der Entwicklung ad absurdum, indem sie nicht zu einem „besseren“ Sein, sondern zum Nichtsein führt. Er vertritt somit eine negative Teleologie, die deutlich von klassischen Denkweisen abweicht. Mainländers Kosmologie nimmt die Form einer Lehre vom “Zerfall” an: Die Bewegung des Weltalls ist die Bewegung aus dem Übersein in das Nichtsein. Die Welt aber ist der Zerfall in die Vielheit, d. h. in egoistische, gegeneinander gerichtete Individualitäten. Nur in diesem Kampf von Wesen, die vorher eine einfache Einheit waren, kann das ursprüngliche Wesen selbst zerstört werden. Die Parallele zur Anderen Seite ist unverkennbar: zunächst haben wir eindeutig feststellen können, dass Herkules Bell zwar auf der Erzählebene unumstritten die 94 Ebd., 13 Schopenhauer, 1977: 347 96 Nach Mainländer soll den Entschluss Gottes, nicht mehr zu sein, sich im (unbewussten) Impuls eines jeden unorganischen Elements bzw. Organismus, sich selbst zu vernichten, fortsetzen. Diese zielgerichtete Bewegung bestimmt Mainländer als Willen, und da sie letztlich im absoluten Tod enden soll, wird sie des weiteren als Wille zum Tode gefasst. Vgl. Mainländer, 1996: 55 97 Mainländer, 1996: 55. Die Paralelle zu Mainländers Weltauffassung – seine Werke mitsamt den Anstreichungen und Zusätzen sind in Kubins Bibliothek nachzuvollziehen – zur Andere Seite ist nicht zu übersehen. Brunn unterstreicht die wichtige Rolle, die Kubins Rezeption Mainländers im Zustandekommen der Anderen Seite gespielt hat. Nach Brunn habe die durch Mainländer geöffnete Möglichkeit der Lebensverneinung, “durch systematische Ausschweifung” Kubin fasziniert. Kubin begründete überdies seine “buddhistische Krise” mit Mainländers Philosophie. (1875 schrieb Mainländer das “Buddha-Fragment”, das das ganze Leben Buddhas vermittelt. Vgl. Gerhard, M. “Der flammende Osten der Zukunft. Phillip Mainländer, der Buddhismus und das späte 19. Jahrhundert.” In: Was Philipp Mainländer ausmacht: Offenbacher Mainländer-Symposium 2001. Hrsg. v. W.H. MüllerSeyfahrt. Könighausen, 2001: 39-47). In einem Brief an Salomon Friedländer stellte Kubin 1916 „Buddha, Schopenhauer, Mainländer“ in eine systematische Reihe. Vgl. Bahnsen, J. Der Widerspruch im Willen und Wesen der Welt. 2 Bde.Princip und Einzelbewährung der Realdialektik. 2 Bände. Berlin 1880 und Leipzig 1882. Leizpig 1882; Cf. Brunn, C. “Ja warum kam ich selbst nicht länger dahinter!” Zur Mainländer-Rezeption Alfred Kubins. In: Müller-Seyfahrt, 2001: 89-111 (248ff.) Zur buddhistischen Krise Alfred Kubins, vgl. Raabe, 1957: 41ff. 95 37 Rolle des Widersachers Pateras vertritt, auf einer höheren Deutungsebene aber als der aus ihm entstandene Gegenpol zu erkennen ist. Nach Mainländer soll Gott sich bei seiner Schöpfungstat erschöpft haben, und langsam bis in seine letzten Atome zerbröckeln. Einen vergleichbaren Prozess wird dem Halbgott Patera, der Architekt und “Demiurg” des Traumreichs, unterzogen. Nicht nur der Widerstand gegen ihn verstärkt sich; während des zweiten Besuchs des Protagonisten im Palast, bestätigen verschiedene Hinweise den Befund, der Herrscher habe schon an Macht eingebußt.98 Der vermeintliche Alleinherrscher des Traumreichs trägt in der Weltauffassung des Künstlers bereits den Keim einer Polarität. Es liegt mithin im Schicksal beschlossen, dass Patera (“in Vielheit zerfallen”) einst einem Pendant begegnen wird, der zwangsläufig den Untergang des Traumreichs herbeiführt. Besonders dem Endkampf zwischen Patera und dem Amerikaner weisen verschiedene bemerkenswerte Ähnlichkeiten zum Mailänderschen Zitat auf. Aus ihrer Gespaltenheit fügen sie sich wieder zu einem Wesen – nach der Apokalypse kehrt das “Weltall” wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurück. Es ist kein Zufall, dass auch Mainländer in seiner “Philosophie der Erlösung” das Thema “Zivisilation” behandelt. Der Philosoph ist der Auffassung, dass die Zivilisation selbst den Tod bringt.99 In seinem Entwurf eines “idealen Staates” entfaltet Mainländer eine negative Utopie, die eine offenkundige Paralelle mit Pateras Traumreich aufweist: auch hier ist “Untergang […] Utopie, erlösende Vernichtung das letzte Ziel, um dessentwillen Patera sein gesamtes Spektakel inszeniert hat.”100 Hier wäre die Armut endlich beseitigt, nur „schönen Seelen“ bevölkertes dieses Reich, die ihre Individualität weiter „veredeln“ möchten: „Es verbleiben mithin nur vier Übel, die durch keine menschliche Macht vom Leben getrennt werden können: Wehen der Geburt, sowie Krankheit, Alter und Tod jedes Individuums.”101 Ein weiterer Textausschnitt, der die Gemeinsamkeit zwischen der Anderen Seite und der 98 Wo zuerst nur der im Palast wehende kalte Luft (119) ein möglicher Verweis auf den Tod ist, schließt die Beschreibung das zweite Mal unverkennbar auf einen Zustand des Verfalls: “In den verödeten, unbewohnten Räumen lagen zerbrochene Möbel, und eine dumpfe, ausgesprochen modrige Luft hemmte mir den Atem. […] Zerwühlte Betten, herabgerissene Draperien, zugemauerte Fenster, verglühende prunkvolle Öfen, verhängte Gobelins.” (198) 99 “Wie gebleichte Gebeine die Wege durch die Wüste, so bezeichnen die Denkmäler zerfallener Kulturreiche, den Tod von Millionen verkündend, die Bahn der Zivilisation” Mainländer, P. Vom Verwesen der Welt und anderen Restposten. Eine Werkauswahl, herausg. u. eingel. von Ulrich Horstmann, 2. Auflage, Waltrop und Leipzig: 2004, 69 100 Brunn, 2010: 196 101 Mainländer, 2004: 72 38 “Philosophie der Erlösung” besonders anschaulich offenlegt, beantwortet die Frage, ob die Einwohner dieses Landes glücklich wären: Sie wären es, wenn sie nicht eine entsetzliche Öde und Leere in sich empfänden. Sie sind der Not entrissen, sie sind wirklich ohne Sorgen und Leid, aber dafür hat die Langeweile sie erfasst. Sie haben das Paradies auf Erden, aber seine Luft ist erstickend schwül.102 Tatsächlich sind alle Traumländer – den Blauäugigen ausgenommen – Emigranten: ihnen gemeinsam ist eine Unzufriedenheit mit der Heimat und die Voraussicht, im Traumreich ein idyllisches, ja ein “zeitloses” Traumleben zu führen. Das eben ein solches sie erwartet – man lebt gleichsam in Träumen, von einer Zeit ist nahezu keine Rede - übertrifft auch ihre Erwartungen. Es bedarf keiner Erörterung, dass dieses Leben dazu verurteilt ist, bald zu Langeweile zu führen. Die Ankunft des Amerikaners, der aus dieser Lage schlau seinen Nutzen zieht, entlarvt das “Paradies auf Erden” als eine Diktatur, Patera als einen Tyrann. Als eine wirklich verblüffende Gemeinsamkeit wirkt Mainländers Beschreibung einer “erstickend schwülen” Luft: genau eine solche soll im Traumreich vorkommen, und zwar ohne jemals zu verändern. Überaus aufschlussreich ist weiterhin die Begebenheit, dass der Fatalist Mainländer den Menschen im Idealstaat kein “happy end” vergönnt: “Die ursprüngliche Bewegung der Menschheit kommt im idealen Staat nicht zum Stillstand, sondern sie geht weiter bis das Ziel erreicht ist – und das Ziel ist das Nichtsein.”103 Auch Patera vermag den Fortschritt trotz aller Maßnahmen nicht zu hemmen; jenen Fortschritt, der im Grunde dem Ende des Zyklus zusteuert, zusteuern muss, zur Katastrophe und zum endgültigen “Nichtsein”. Zwar bereitet der scheinbare Tod Pateras das Entschwinden seiner sichtbaren Erscheinungsform, nicht aber der in ihr sich manifestierenden göttlichen Funktion: “Als die über die Immanenz hinausreichende Urkraft, die sich ihrer Verkörperung wie einer Hülle entzog, bleibt er bestehen und wirkt unsichtbar weiter.”104 Dem magischen Zirkel des Untergangs, dem der Zeichner entronnen ist, wirkt in der “unwiderstehlichen Anziehungskraft des Todes-“Gottes” weiter (277). Im 102 Ebd., 74 Smiljanic, D. “Mainländers Anleitung zum glücklichen Nichtsein.” In: Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart Jg. 6 (2005), Heft 4 < http://www.philosophia-online.de/mafo/heft20054/Smiljanic_Mainl.htm> Artikel abegrufen am 23. Juni 2010 104 Hewig, 1967: 180 103 39 Vergleich zu den Erlebnissen im Traumreich erscheint ihm das Leben nunmehr “eintönig”. Zu “gar nichts mehr tauglich” erquickt dem Künstler “nur noch der Gedanke an das Hinschwenden, an den Tod” (276) - die Endstation der Reise ins Traumreich und die implizite Ankündigung eines künftigen Selbstmords.105 Es leuchtet ein, dass der Bezug auf Depression und Selbstmord nicht auf einem Zufall beruht. Wiederum hat Kubin eine biographische Begebenheit in den Roman verwoben, und zwar eine besonders bedeutsame. Der gescheiterte Selbstmordversuch aus dem Jahre 1896 ist nur ein Beispiel der zahlreichen Krisen und Stimmungen von Depressionen, denen Kubin von seiner Jugendzeit an zeitweise unterworfen war. Die Affinität zum Selbstmord, auffällig häufig eher nonchalant als ernsthaft dargestellt, durchzieht das ganze Frühwerk106 wie auch die privaten Äußerungen der Frühzeit. Der Tod, der dem Selbstmord unmittelbar folgen würde, sah Kubin allerdings weniger mit Angst als mit einer (manchmal geradezu inbrunstigen) Hoffnung entgegen: “Auf jeden Fall”, schreibt Kubin in einem Brief an die Schwester Maria, “[sei] der Tod eine Erlösung […], - den sich jeder Gebildete in jedem Moment geben könne.-107 Um das Jahrhundertwende notiert er, dass das ganze Leben “die langsame aber unendlich genaue und gründliche Vorbereitung für diese einzige nicht gräßliche Handlung ist.”108 Hier klingt direkt der philosophische Einfluss Schopenhauers an, der behauptete, dass der Mensch dem Tod “schon durch die Geburt anheimgefallen” und das Leben dementsprechend “ein fortdauernd gehemmtes Sterben” sei. Mag Mainländer heutzutage nahezu in der Vergessenheit geraten sein, so ist der Einfluss, den der Philosoph auf Zeitgenossen ausgeübt hat, unverkennbar: der Todestrieb des späteren Freuds, den er in “Jenseits des Lustprinzips” vertritt, ist der Philsophie Mainländers entnommen. Wenn Freud die These anstellt “das Ziel alles 105 Für Kubin war der Gedanke an Selbstmord ein fester Bestandteil seines Lebens. In seinem Tagebuch des Jahres 1930 schreibt er:“Ich bin zum Selbstmord prädestiniert. Der Gedanke an ihn war von jeher meine größte Freude. Aus ihm schöpfe ich auch noch heute meine besten Wonnen. Ich bin überzeugt, dass mein ganzes bewusstes Leben die langsame, aber unendliche genaue und gründliche Vorbereitung für diese einzige, nicht widerrufliche Handlung ist.” (Kubin, A. Dämonen und Nachtgesichte. Dresden, 1926: 44. Zit. Nach Müller-Thalheim, 45f.) Dann aber schlug das Pendel wieder ins andere Exträme aus, und wollte er “Ach nur leben leben auch noch sterben leben.” Zit. Nach Hewig, 1967: a.a.O., 203 106 Vgl. “Selbstmord (I)” (1900/01), “Selbstmord (II) (1900/01), Haus der Selbstmörder (1911). 107 Raabe, P. Alfred Kubin. Leben, Werk, Dichtung. Im Auftrag von Dr. Kurt Otte, zusammengestellt. Hamburg, 1957: 24 108 Ebd. 40 Lebens sei der Tod”109, so klingt darin unverkennbar der Pessimismus Mainländers durch. Winfried H. Müller-Seyfarth zufolge, liest die Andere Seite sich “wie eine Apotheose der Mainländerschen Geschichtsphilosophie.”110 Nach Mainländer strebt die Welt dem Nichtsein, “dem absoluten Nichts” entgegen. An Seine Schwester Maria schreibt Kubin, dass er “den Tod, das Nichts” als “das Ziel der Welt erkennt.”111 Allerdings äußere sich der “Wille zum Tode” paradoxerweise als sich stets widerstreitender “Wille zum Leben”. Mainländer versteht ihn als “eine Tautologie und eine Erklärung”. Er erklärt: “denn das Leben ist vom Willen nicht zu trennen, selbst nicht im abstraktesten Denken […] wo Wille ist, da ist Leben und wo Leben Wille.”112 Zwar stellen gleichzeitige Verneinung und Bejahung des Lebens einen Gegensatz dar, doch beides gilt Mainländer als Mittel zum Zweck – dem Nichtsein. Da die Welt “das einzig mögliche Mittel zum Zwecke”113 sei, bleibt dem Menschen folgerichtig nicht anderes übrig als sich bis zur Auflösung zu schwächen und endlich sich selbst und den ursprünglichen Schöpfergott vom Dasein zu erlösen, am konsequentesten durch Suizid.114 Wenn es aber einen Ausweg aus dem Nichts gebe, so führt dieser bei Mainländer über die Schöpfung. Der Philosoph folgert aus der These Julius Bahnsens115, der Mensch sei nur ein sich selbstbewusstes Nichts ist, dass dann der göttlicher Doppelgänger, der Werkschaffende bzw. Autor, eine Art schöpferisches Nichts ist: „Der Weise [...] blickt fest und freudig dem absoluten Nichts ins Auge.“116 Dieser Blick, so Mainländer, setzen bei ihm geistige Kräfte frei. Das Ungeheure dieses Anblicks stachelt seinen Schaffenstrieb an und für einen Augenblick scheint das universale Gesetz, von dem Mainländer spricht, außer Kraft gesetzt zu sein. Wer dem Nichts ins Auge geschaut hat, ohne vor Schreck zu erstarren, der sieht sich gerade zum Schaffen „verurteilt“ und, da er nichts zu verlieren hat, wagt er sich auf den (kurzen) Pfad der 109 Freud, S. Jenseits des Lustprinzips. Leipzig/Wien/Zürich: 1920 Da: Das Ich und das Es, 147 “Vorwort des Herausgebers”, in: Müller-Seyfarth, 2001: 15 111 Kubin an Seine Schwester Maria, 20.2.1904. Raabe, 1957: 26 112 Mainländer, 1996I: 358 113 Ebd., 325 114 Im Alter von 34 Jahren erhing Mainländer sich in seiner Wohnung. Ein Stapel am Vortage eingetroffenen, druckfrischen Belegexemplare der “Philosophie der Erlösung“ dient ihm als Podest. Bigalke, D. Rezension zu “Vom Verwesen der Welt und anderen Restposten - Eine Werkauswahl”. In: Webcritics.de, 22. Sept. 2007 <http://webcritics.de/page/book.php?id=1389> Website abgerufen am 23. Nov. 2010 115 Der deutsche Philosophe Julius Bahnsen (1830-1881) gilt als der Begründer der Charakterologie sowie einer real-dialektischen Methode der philosophischen Reflexion, die er in seinen zweibändigen „Beiträgen zur Charakterologie“ (1867) entwarf und in seinen folgenden Arbeiten, unter anderen seinem Hauptwerk „Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt“ (1880/82), weiterentwickelte. 116 Mainländer, 1996I: 499 110 41 (Er-)Schöpfung, der vielleicht auch derjenige der Erlösung ist.” Nicht zufällig überwindet der Protagonist der Anderen Seite über ein ähnliches Verfahren die des Nichts. Es sei hier auf jenen Teils des Romans hingewiesen, der vom Tod der Frau des Künstlers handelt. Ihr Sterben lässt ihm tatsächlich das Nichts ins Auge schauen. Es bemächtigt sich seiner eine dumpfe Lebensunlust: “Ich hoffte, auch mich würde der Tod holen.” Der Verlust hat ihm die Boden unter den Füßen weggezogen, die Beerdigung erlebt er “in einer Art Halbttraum” (129). Der Erzähler deutet auf einen künftigen Selbstmord hin, indem er schreibt “den Todesstoß wie ein Schlachtochse” zu erwarten. (139). Nur der schöpferische Drang hält dem Erzähler von seinem Unterfangen ab. Es überfällt ihm bald ein “Arbeitsdelirium”, durch das er “im nächsten halben Jahre […] unter dem Drucke des Schmerzes” seine “beste Sachen produzierte.” (140). In Einklang mit Mainländer feiert Kubin die Schöpfung, indem er schreibt: “Sein [der Mensch, RB] Sinngeben ist eigentlich sein Tun, und in allen Bildern, in allen Dichtungen, in aller Musik zeigt sich dieses Tun noch um die Fähigkeit, ein dunkles Gefühl klar und zusammenhängen nach außen zu stellen, vermehrt.”117 Im Bild des Lebens-und-Todespendels, das “Schöpfungsergebnis eines wollendnichtwollenden Demiurgen.”118, lassen sich zudem die unaufhörlichen Gefühlsschwankungen Kubins, denen der Künstler sich immer wieder ausgesetzt empfand, fassen. Der Gott des Todes, dem der Erzähler nach seiner Rückkehr unterworfen ist, hat nur eine “Halbherrschaft”: “im größten und im Geringsten teilte er mit einem Widersacher, der Leben wollte.” (277) Erinnern wir uns nochmals daran, dass nach Mainländer der Sinn des Lebens nur im Tod liegt, so entsteht an dieser Stelle einen Widerspruch. Hat Kubin seinen großen Vorbild zugunsten einer gemäßigteren Auffassung abgeschworen? Auf dem Vorblatt zum Epilog hat Kubin ein Zitat Julius Bahnsens übernommen: “Der Mensch ist nur ein selbstbewusstes Nichts.” (275) Eine Aussage, die Kubin noch zwei Jahrzehnte später wiederholen sollte, als er in “Fragment eines Weltbildes” (1931) schrieb: “Das Selbst ist einsam und übernah, vor allem ist es der Träger des 117 118 “Fragment eines Weltbildes”. In: AmW, 36 Hewig, 1967: 186 42 Bewusstseins”.119 Auch der letzte Satz des Epilogs, “Der Demiurg ist ein Zwitter” (277) ist Bahnsens Realdialektik entnommen.120 Anknüpfend an Hegel und Schopenhauer entwickelte Bahnsen eine pessimistische Metaphysik der Widersprüche, die er als Realdialektik bezeichnete. In seinem Hauptwerk “Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt” (1880/82) diagonistiziert Bahnsen ein “bleibendes Nebeneinander der realen Widersprüche”121. Der Mensch lebt in einer Zwiespalt, der sich sowohl in innerer Zerissenheit, als auch in den unvereinigbaren Gegensätzen der erlebten Umwelt manifestiert.122 Diesem Zustand legt Bahnsen seine Realdialektik, die fundamentale Widersprüclichkeit der erlebten Realität, zugrunde.123 Vielmehr als die vorgefunden Widersprüche zu beseitigen, geht es der Realdialektik darum, “dieselben in ihrer Unüberwindlichkeit zu erfassen.”124 Clemens Brunn folgert richtig: Da seiner “Realdialektik” gemäß Tod und Leben genau gleichstark sein müssen, mit der Macht des einen auch die des anderen wächst, bis es zum Umschlag kommt, und der Wille, in sich widersprüchlich, immer Leben und Tod zugleich will, kann es Erlösung nicht geben.125 Betrachtet man die Bahnsensche “Willensmetaphysik”, welche die Vereinigung eines Wollens mit einem widersprechenden Nichtwollen glaubt erkannt zu haben, so ergibt sich, dass diese Anschauung sich eng mit dem in sich gespaltenen Schöpfer des kubinschen Kosmos berührt. Tod und Leben, Einbildungskraft und Nichts, untrennbar und wesenhaft mit einander verbunden. Patera, die Verkörperung der antithetischen “Fragment eines Weltbildes”. In: AmW, 35 Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die philosophischen Vorbilder Alfred Kubins und ihren Einfluss auf die Andere Seite noch eingehend zu behandeln Wie Hewig feststellt, führt die Linie kubinverwandter Weltauslegung von der indischen Philosophie über Kants “Ding an sich”, über Schopenhauers “Wille” zu Bahnsen, dessen “Realdialektik”besonders den Kubin der Anderen Seite stark beeinflusste: “Die Bahnsensche ‘Willensmetaphysik’, ‘welche die Vereinigung eines Wollens mit einem widersprechenden Nichtwollen glaubt erkannt zu haben’ (Bahnsen, 1882, nach Hewig), berührt sich eng mit dem in sich gespaltenen Schöpfer des kubinschen Kosmos. (Vgl. Hewig, 87f.) Cersowsky (1983), Brunn (2001), Lippuner (1977) und andere haben gezeigt, dass der Roman als quasididaktische Allegorisierung der synkretistischen Kunst- und Lebensphilosophie Kubins zu Lesen ist. Winfried H. Müller-Seyfarth zufolge, liest die Andere Seite sich “wie eine Apotheose der Mainländerschen Geschichtsphilosophie.” 121 Bahnsen, 1882: 5 122 “derselbe Zwiespalt, welcher die Menschenbrust zerreist, auch das Ganze der Welt durchsetze.” Ebd. 123 Teymourian-Pesch, 124 Bahnsen, 1882: 5 125 Brunn, 2001: 103 119 120 43 Weltauffassung, ist nach diesem Muster gestaltet und eine dementsprechende Erfahrung macht letztlich der Protagonist, wenn Tod und Leben mit einander um die Herrschaft ringen. Oder, wie Nietzsche die symbiotische Beziehung der Antagonisten in der Geburt der Tragödie auf den Punkt bringt: “Apollo konnte nicht ohne Dionysos leben!”126 “Der Pol des Nichts braucht den des Lebens und vice versa, das Pendel schwint hin und her. Brunn führt im Hinblick auf den widersprüchlichen Bezugnahme der beiden Philosophen die folgende Annahme auf, die Konzeption Perles als eine nach nach Anleitung Mainländers eingerichtete, todgeweihte “Versuchsstation des Weltuntergangs” dürfteursprünglich einen Hauptanreiz für das Romanprojekt gebildet haben, was dem Leser in dieser Direktheit jedoch nicht zugemutet werden sollte und daher nur in “absichtlich dunkel gehaltene[r] Formulierung seinen Ausdruck fand.127 Die Argumentation scheint stichhaltig zu sein, zumal im Kapitel “Klärung der Erkenntnis” der Erzähler während seines Aufenthalts bei den Blauäugigen seinen Pessimismus überwindet und zur Einsicht gelangt. Es liegt also nahe, in dieser Szene eine biographische Verarbeitung Kubins eigener Entwicklung zu sehen, das heißt eine endgültige Absage an die Philosophie der Erlösung. Indem Perle letztlich der totalen Zerstörung anheim fällt, erweist sich die negative Utopie im Sinne Mainländers als gescheitert. Eines ist allerdings noch einzuwerfen, nämlich dass die beiden Philosophen, die einander ja diametral entgegengesetzt sind, schwer zu vereinigen sind. Doch Kubin geht hier nicht anders als im ganzen Roman vor, indem er die Doktrin abweist und den fiktionelle Raum des Romans erkannt, der eine derartige Nebenordnung durchaus zulässt. Der Schlusssatz erlaubt aber auch eine andere Interpretation aus einer der obigen ganz entliegenen Perspektive, wie sie zum Beispiel Müller-Hemmo vorschlägt128. Ohne dieser ohne weiteres beizustimmen, sei sie im Folgenden trotzdem ausgeführt (schon deshalb, weil sie einleuchtend die Ingeniösität des Demiurgen-Prinzips 126 Nietzsche, F. Die Geburt der Tragödie. KSA, Bd.1. Hrsg. v. Colli, G. u. Montinari, M. München, 1988: 40 127 Brunn, 2010: 196f. 128 Müller-Suur, 1980: 23 44 veranschaulicht). Der Autor hätte dann zu Beginn das pragmatische Ich mit einem fiktiven Ich vertauscht, würde selbst zum Zuschauer und soll schon bald erkannt haben, dass dieses Ich wie ein Doppelgänger die Züge des realen Ichs träge. Auch dieses Ich lebt wiederum in einer fiktiven Welt, jenem vom Patera gestaltenen Traumreich. Der Untergang dessen führt den Tod seines Herstellers herbei, das Ich hätte die Apokalypse überstanden. Nach der Rückkehr in der wirklichen Welt spürt es aber, dass dieses Zurückkommen immer noch nicht die Verwandlung in ein reales Ich bedeutet. Vielmehr wäre dies ein Verharren in einem zweideutigen Zustand, im dem das fiktionale Ich (auch wenn es sich als solches negieren will) nicht durch seinen angeblichen Tod zur Eindeutigkeit einer realen Existenz und zu pragmatischen Leben gelangen könnte. Auch als ein aus dem fiktiven Sein hinausstrebendes Ich bliebe es gegenüber der realen Welt ein Fremdling, wie es schon zuvor ein Fremder im Traumreich wäre, und sich seines “Graus” – das Licht und die Finsternis in Einem nicht entledigen könnte. Allerdings verzichtet Müller-Suur darauf, seine Betrachtungen auf den Punkt zu bringen. Aus den Zusammenhängen lässt sich nämlich Folgerung aufstellen: auf einer ersten Ebene verweist der Demiurg auf Patera, den wir bereits als ein Zwitterwesen entlarvt haben. Auf einer zweiten Ebene verweist er auf den Erzähler, ein fiktionales “Ich”, der das Traumreich samt seinem Herrscher getraumt hat. Auf einer letzten Ebene aber verweist der Demiurg, und dies hat Müller-Suur richtig eingesehen, auf den Autor selbst: Das nicht aufhebbare Anders-sein-und-bleiben des Protagonisten weist zurück auf den Demiurgen, der es hervorgebracht hat, den Autor, und zeigt ihm von seinem Kunstwerk her das Dilemma seines Künstlerseins.129 Nach Müller-Suur besage der Schlusssatz dass “der Hersteller von Kunstwerken, die in der fiktiven Welt der Kunst ihr eigenes Leben gewinnen”, “normal und nicht normal zugleich ist”, “weil er Künstler ist”.130 Treffender aber als jene vage Begriffe des “normalen” und “abnormalen”, scheint uns die Empfindung des Künstlers, sich im Schaffen janusköpfig wirksam zu sehen: er befindet sich in einem Grenzbereich, der 129 130 Ebd. Ebd 45 ebensoviel “Wirklichkeit” als “Überwirklichkeit” ist – zwei Begriffe, die im Schaffen wiederum eine Synthese eingehen.. 3.4.4 Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Leben von zwei antithetischen Kräften, der des Todes und der des Lebens, beherrscht wird. Beide sind einander ebenbürtig. Der Tod entspricht dem Nichts, während das Leben der Einbildungskraft entspricht, die sich aus dem Nichts über die Schöpfung darzustellen versucht. Zwischen diesen beiden Mächten pendelt nun der Mensch hin- und her. “Der Mensch ist ein Abenteuerer der Unendlichkeit jener ihn bedingenden unbekannten Mächte”, soll Kubin später schreiben.131 Das notwendige Verhalten vom “schöpferischen Geist” des Künstlers dem Polaritätsgesetz gegenüber ist “stets die Mitte zwischen den beiden Polen ein[zunehmen], aber nicht etwa ängstlich einen vorsichtigen mittleren Kurs einschlagend, sondern auf einer höheren Ebene keinem der zwei Pole ausweichend und beide beherrschend.”132 In Kubins Weltauffassung pendelt der Mensch ständig hin- und her zwischen den antithetischen Gewalten, denen er als “bewusstes Nichts” ohnmächtig ausgeliefert ist; das Bewusstsein kann es bestenfalls bis zum Zuschauer der Tragödie bringen, ohne aber gegen sie etwas ausrichten zu können: “die wirkliche Hölle liegt darin, dass sich dies widersprechende Doppelspiel in uns fortsetzt.” Wird man zunächst noch von einem “Willen zu Tode” ergriffen, so schwingt das Pendel im nächsten Moment schon zur anderen Extremität, die Sehnsucht verwandelt sich zur Angst. “Ich gewann während ihrer Verfassung die gereifte Erkenntnis,” schreibt Kubin später in “Aus meinem Leben”, “dass nicht nur in den bizarren, erhabenen und komischen Augenblicken, des Daseins höchste Werte liegen, sondern dass das Peinliche, Gleichgültige und Alltäglich-Nebensächliche dieselben Geheimnisse enthält.” Mit einem Schlussatz gleichen Inhalts beendet der Erzähler die Geschichte: “Die Liebe selbst hat einen Schwerpunkt ‘zwischen Kloaken und Latrinen’. Erhabene Situationen können der Lächerlichkeit, dem Hohne, der Ironie verfallen.” Auch das Tragische ist nie ohne Humor, denn in der Verlorenheit liegt der Kern einer künftigen Erlösung und im Tod ist der Keim neues Lebens vorhanden. Wenngleich Kubin sich weiterhin zum 131 132 “Fragment eines Weltbildes” (1931). In: AmW, 35 Schmitz, 1923: 42 46 Fatalismus bekannt hat, ist das Schicksal keine monolithische Übermacht mehr, sondern es ist in zwei gegensätzlichen Gewalten aufgespalten worden, denn “der Demiurg ist ein Zwitter.” 47 4. Das Traumreich Während des letzten Teils der Reise lebt der Erzähler in einem Zwischenzustand zwischen Traum und Wachen. In einem schläfrigen Monolog sinnt er über das Wesen des Wanderns nach. Bis zum letzten Atemzug ist das Leben eine Wanderung, auch dann, wenn einer des Wanderns nicht mehr fähig ist: “Manche gibt es, die schon weit herumgekommen sind und nicht mehr wandern mogen, oder krank im Bette liegen, oder sonst nicht wandern können, die reisen bei sich selbst im Gehirn, in der Einbildung, auch diese kommen oft weit, weit…” (41) Für die Deutung, der Erzähler habe den ganzen Aufenthalt im Traumreich nur in einem Traum erleben können, liegt an dieser Stelle ein erstes Indiz. Es ist dann auch nicht verwunderlich, dass manche Interpreten den Roman als eine im Traum erlebten Reise gedeutet haben.133 Im folgenden Kapitel beschäftigen wir uns mit dem Thema des Traums in der Anderen Seite. Bevor wir der Anderen Seite eine eingehende Untersuchung hinsichtlich der schöpferischen Verarbeitung des Traums unterziehen, scheint es mir angemessen, die Aufmerksamkeit zunächst dem Künstler selbst zuzuwenden, der die Bedeutung des Traums als unentberhliches Bestandteil seines Schaffens in Schriften, Briefen und Tagebuchaufzeichnungen unterstrichten hat. Allerdings hat auch die Forschung Kubins Auffassung zum Traum aufgegriffen und (mit mehr oder weniger Nachdruck) in die Interpretation der Anderen Seite einbezogen. 4.1 Der Traumkünstler Alfred Kubin Das Leben ist ein Traum! Nichts scheint mir zutreffender wie dieses altbekannte Gleichnis! […] Die Durchdringung all meinen wachen Fühlens und daher aller Govinda interpretiert das Traumreich als “andere Seite des Bewusstseins”. (Govinda, 1951: 14) Schroeder zufolge spiegelt sich bereits in der Gliederung des Romans die Struktur eines Nachttraums: “’Der Ruf’ (the journey through sleep to dream), ‘Perle’ (the dream itself), and ‘Untergang des Traumreichs’ (the dreamers gradual awakening). (Schroeder, 1970: 107) Auch Rhein glaubt, dass die verschiedenen Stadia der Reise den Stufen der Wachsamkeit und den des Schlafes entsprechen. (Rhein, P. H. The verbal and visual arts of Alfred Kubin. Riverside/CA: 1988, 95) Cersowsky hingegen gibt zu bedenken, dass im Text “kaum genügend Anhaltspunkte, die eine Deutung der gesamten Binnenhandlung als Darstellung eines geschlossenen Traumes des Zeichners legitimieren würden”, zu finden seien. (Cersowsky, P. Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Kafka, Kubin, Meyrink. München, 1989: 68) 133 48 Einzelempfindungen mit dem Element des Traumhaften war mit von jeher stärkste Lockung. Immer wieder hat Alfred Kubin mit ähnlich lautenden Wendungen die Bedeutung des Traums für sein künstlerisches Schaffen unterstrichen.134 Als “introspektiver Beobachter” spürte Kubin seit je dem Wesen des Traumes nach.135 Auf das Thema der Träume und deren Wichtigkeit für das Werk Alfred Kubins hat die Forschung seit je hingewiesen. So erkannte der zeitgenössische Kritiker Ferdinand Avenarius schon frühzeitig Kubins Hang zur “Traumbildnerei”136 Wolfgang Schneditz hält das Traummotiv sogar als “Untergrund des gesamten Kubinschen Werkes.” 137 Für Anneliese Hewig ist “der Begriff Traum […] in seinem vielschichtigen Bedeutungsgehalt der dem Weltbild Kubins gemäßeste”138 und als das “Schlüsselwort zum Verständnis der Kunst Alfred Kubins” bezeichnet Wieland Schmidt den Traum. Ohne Zweifel war Alfred Kubin in seinem ganzen Wesen ein “Traumkünstler”: in diesem Begriff amalgieren sich nach Brandstetter, “drei verschiedene Elemente des großen Generalnenners “Traum”. Zunächst ist da die lebenslange persönliche Faszination Kubins durch psychischen Sensationen seines vielgesichtigen, oft visionär gesteigerten Traumerlebens: 139 Weiterhin zu erwähnen ist der bewusste Einsatz nicht nur von Trauminhalten, sondern auch von Traumbildungsmechanismen bei der künstlerischen Arbeit. Schließlich kommt in Kubin die allgemeine Tendenz seiner Zeit zum Ausdruck, sich der “Nachtseite” des rationalen Bewusstseins 134 Wie tief Kubin von diesem Gedanken ergriffen war, bezeugen seine Tagebücher, die in mannigfaltigen Variationen stets diese Grundempfindung spiegeln: “[…] das Leben: ein wirrer Traum.” “Ich will diesen Künstlertraum träumen, ich weiß, dass es ein Lebenstraum ist, ein wandelbares Gespenst mit Gefühlsausdrücken […]” “Der Traum trägt mich diesem Ziel der Meisterschaft entgegen.” Zit. Nach Hedwig, 1967: 56 135 Hewig macht darauf Aufmerksam, dass Kubin zeitweise systematisch stichwortartig ein Traumtagebuch führte, sich regelmäßig Träume in seinen Tagebuchheften schrieb, die ihm ihrer besonderen Eigenart wegen merkwürdig erschienen oder ihn stark und nachhaltig beeindruckten.” Hewig, 36 136 “Und dennoch: dieser junge maler ist eine so interessante Erscheinung, dass ohne Not verliert, wer ihn nicht beachten mag. Denn vielleicht noch keiner hat so unbekümmert wie er versucht, traummäßig zu gestalten.” Avenarius, F. Traumbildnerei (1903) In: Brockhaus, 1977: 38 137 Schneditz, W. Alfred Kubin. Wien, 1956: 13 138 Hewig, 1967: 93 139 In “Rhythmus und Konstruktion schreibt Kubin: “Es sind Gesichte, suggestive Vorstellungen, welche von Kindheit an in meinem Leben die Hauptrolle spielten.” Kubin, A. In: AmW, 60. In einem aufschlussreichen autobiographischen Aufsatz mit dem Titel “Über mein Traumerleben” hebt Kubin die Bedeutung nächtlicher Visionen zur Inspiration für sein künstlerisches Schaffen immer wieder hervor. Zum Thema Traum in der Andere Seite,vgl. auch Brandstetter, G. “Das Verhältnis von Traum und Phantastik in Alfred Kubins Roman ‘Die andere Seite”. In: Phantastik in Literatur und Kunst. Hrsg. v. Christian Thomsen u. Jens M. Fischer. Darmstadt, 1980 49 zuzuwenden140. Als er eines der frühesten im Kubin-Archiv erhaltenen Aquarelle seiner Schwester Frederike mit den Worten “Das Leben ist ein Traum, / Träume glücklich!” widmete, dürfte der 20-Jährige sich dessen noch nicht bewusst sein, dass er damit die “Grundstimmung des ausgehenden Jahrhunderts”141 zum Ausdruck brachte. Für Kubins Schaffen ist daran zu erinnern, dass auch im grafischen Werk Traum und Schlaf einen bevorzugten Platz einnehmen. Die Reihe der Zeichnungen beginnt bedeutungsvoll mit “Jede Nacht besucht uns ein Traum”, das Kubin um 1900 zeichnete. Das Bild zeigt ein in grotesker Verzerrung gezeichnetes Bein und einen auf einer kraterartigen Erdkruste (die Ähnlichkeit mit einer Gehirnmasse ist unverkennbar) gestelltes Fuß. Zu erwähnen sind weiterhin die Zeichnung “Schlaf” (1906), die Serien “Traumland I” und “Traumland II” (1992) und die “Träumer” im “Orbis Pictus”. Wie oben bereits angeführt wurde, resultierte Kubins stärkster Impuls, den Laufbahn eines Künstlers einzuschlagen, seine Begegnung mit den Radierungen Max Klingers in der Münchner Pinakothek. Den Radierungen Max Klingers, besonders der “Paraphrase über den Fund eines Handschuhs”, entnahm er Wesentliches für sein eigenes künstlerisches Schaffen. Von den zehn Blättern dieses Zyklus gestalten deren zumindest acht Traumerlebnisse.142 Schnittpunkt der eklektizistischen Affinitäten Kubins bei der Auswahl seiner philosophischen, literarischen und bildkünstlerischen Vorlieben ist der Traum – in einer sehr weiten, alle unbewussten, abseitigen und zerstörischen, aber auch produktiven psychischen Kräfte umfassenden Bedeutung. Geradezu programmatisch stellt Kubin in einem Vorwort zum von ihm illustrierten Band Neue Träume von Friedrich Huch die über physiologisch-kathartische Funktion hinausweisende Bedeutung des Traumerlebens für eine sensitivere Wahrnehmung der scheinbar verbürgten Realität des Wachbewusstseins vor: Das Wachsein sei unser Maßstab für den Traum! Es für ein mehr erstarrtes, lichter gewordenes Schlafen zu halten, fühle ich mich fast gezwungen. Der, wie es schein, bodenlose Abgrund zwischen diesen Reichen unseres Seelenlebens muss der Urquell 140 Brandstetter, 1980: 255 Kommentar bei Hoberg, 1990: Kat.-Nr.4 142 Die Spannung zwischen der sichtbaren Alltagswelt und der phantasmagorischen Traumwelt bestimmt auch das Werk von Francisco de Goya, von dem Kubin tief beeindruckt war. Beispiele hinzugefügt werden, etwa mit den “Caprichos-Blättern Nr. 34 (“Las rinde el sueno”: Der Schlaf überwältigt sie) und 43 (“El sueño de la razon produce monstruos”: Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor), die das Motiv der Schlafepidemie und der Heimsuchung durch Träume gestalten. 141 50 alles Geschehens sein. Ein ungeheueres Rätselwesen äußert sich hier schöpferisch. Seine ewigen Tiefen zerreißen und zersprühen im Oberflächenglanz. Beim Traum packt uns die verblüffende Wandlungsfähigkeit, verbunden mit dem üppigsten Reichtum aller erdenklichen Empfindungs- und Gefühlsüberraschungen. In den höchsten Augenblicken des Wacherlebnisses wieder werden wir erschüttert durch maßlose, überschwengliche Wunder einer im ersten Hinblick so handfesten Welt, die auch gemächlichster Nachprüfung standhält.143 Der Traum stellt ein unentbehrlicher Bestandteil Kubins Weltauffasung dar. Ihm eng verwandt ist ein Bereich, den Kubin das Zwischenreich nennt: “Meine Räume, Beleuchtungen, Proportionen und Perspektiven sind weder in der Natur noch im Kopf vorhanden, und sind doch eben im Zwischenreich der Dämmerung .”144 Nicht zufällig handelt gerade die Andere Seite von einem Zwischenreich - nur mit dem wesentlichen Unterschied, dass Kubin es dem Publikum zugänglich gemacht, die Phantasie zu einer (angeblichen) Wirklichkeit gemacht hat. Innerhalb der Schranken der Wirklichkeit wären die meisten Geschehnisse einfach unmöglich — aber gerade die Idealität des Traumreichs läßt eine solche Abwandlung zu. Das Begriffspaar “Wachen” und “Traum” und seinen Zusammenhang im Bereich der Phantasie beschreibt Kubin bereits in den Linzer Vorstudien zur Anderen Seite, wenn es heißt, dass “das sogenannte Wahre und die sogenannten Träume […] schließlich in eines zusammen[fließen].”145. Der Traum gibt seinen Inhalt auf eine visuelle Weise preis und ist daher eine visuelle Erfahrung. Im bildkünstlerischen Schaffen setzte Kubins sich das Ziel, das Bild des Traumes in der Zeichnung festzuhalten.146 Immer wieder muss der Künstler aber enttäuscht feststellen, dass nach Erwachen die Traumbilder größtenteils verschwommen sind. Der Tatsache bewusst, dass das Residuum allein, die “Trümmer und Fetzen” des Traums noch keine neue Schöpfung ergeben, übernimmt er die Rolle eines Komponisten, indem er “die zart auftauchenden Fragmente so [zusammenfügt], dass sie ein ganzes ergaben.” Das Kompromiss lässt ihn in das Wesen des Traumes eindringen, denn “die kaum bestimmbaren Gesetze wurden nun meiner dem Tag abgewandten vertieften Sinnlichkeit immer fühlbarer und fassbarer und endlich Mittel zur Darstellung.” “Vorwort” zu Friedrich Huch, Neue Träume”, in: AmW: 172 “Dämmerungwelten”, in: AmW: 41 145 Skizzenbuch. Original im Oberösterreichischen Landesmuseum Linz, In.-Nr. Ha 6380, Bl. 28r. Nach Geyer, 1995: 105 146 “Über mein Traumerleben.” In: AmW: 7 143 144 51 [Hervorhebung von mir].147 Zwar bezieht sich Kubin hier in erster Linie auf sein bildkünstlerisches Schaffen, das Prinzip aber lässt sich entsprechend im literarischen Bereich anwenden und so dürfte auch die Andere Seite als Ergebnis einer durch diese Gesetze fruchtbar gemachten Phantasie betrachten werden; als eine Leistung der “schöpferischen Einbildungskraft” schlechthin. 4.2 Traum und Literatur Erst mit Hilfe des analytischen Verständnisses der Traumarbeit und der Erkenntnis des Unbewußten ist es möglich, den parallelen Zusammenhang von Traum und Dichtung in der Anderen Seite aufzudecken. Eine nähere Erläuterung der psychologischen und literarischen Auffassung des Traums soll eine Einsicht in die Mechanismen sowie in den Sinn und Gehalt der Traumbildungen verschaffen. Außerdem soll sie ein besseres Erfassen des nahestehenden künstlerischen Schöpfungsprozesses gestatten. 4.2.1 Sigmund Freund und die Traumdeutung Der Mensch ist nicht Herr seiner selbst. Nicht verwunderlich löste diese Bemerkung des österreichischen Seelesforschers Sigmund Freud ein heftiges Kritik der zeitgenössischen Gesellschaft aus. Aus dem vorigen Kapiteln ist hervorgegangen, dass auch Kubin das menschliche Gefühlsleben abhängig von einer höheren Macht sah. Wie Kubin sein “Ich” aus mehreren “Ichs” zusammengesetzt sah, so unterschied, auch der Begründer der Psychoanalyse das “Ich” zwischen mehreren Instanzen unterschied (“Ich”, “Es”, “Über-Ich”). Die Ursache extremer Gefühlsschwankungen, des Willens oder auch der Angst zum Tod, suchte Kubin aber nicht in den Trieben des Unterbewusstseins, sondern er sah sie in einem übermächtigen Pendelgesetz begründet. Mit dem Satz “beherrscht unsere Natur etwa eine Art Pendelgesetz?” betonte Kubin in der Anderen Seite die Ohnmacht des Individuen gegenüber die unberechenbare Natur der Pendelbewegung. Der Mensch 147 Ebd. 52 findet sich auf Lebenszeit ständig mit den antithetischen Kräften, namentlich denen des Lebens und Todes, konfrontiert und immer schwingt das Pendel von einer Extremität zum anderen. Viele Jahre später führte auch Freud den Todestrieb (Thanatos) in die Psychoanalyse ein, die – wie bei Kubin – seinen Gegenpol in den Lebenstrieben (Eros) findet. Im Bereich des Geistlichen hatte Kubin mit dem Geistesforscher nicht nur die Vorstellung unbeherrschbarer Mächte oder der Todestrieb gemeinsam. Im Jahr 1900 – kurz vor Kubin die Andere Seite schrieb – erschien Freuds “Traumdeutung”. In diesem epochalen Werk machte Freud den Traum zu einem wichtigen Bestandteil der psychoanalytischen Theorie. Dort nämlich äußern sich Erfahrungen, Empfindungen, Bedürfnisse, die der Mensch aus irgendeinem Grund den Zugang zum Bewusstsein verwehrt. In der “Traumdeutung” vertritt Freud die These, der Traum sei eine Befriedigung eines verdrängten Triebwunsches.148 Verdrängten und tabuisierten Wünsche treten in in den Träumen treten in symbolisch verkleideter Form auf, drängen ins Bewusstsein, werden von diesem zunächst abgewehrt und dann erfüllt. Die Traumdeutung selbst ist eine psychologische Technik, mit Hilfe derer es möglich ist Träume zu deuten. Bei Anwendung dieses Verfahrens stellt sich jeder Traum als ein sinnvolles psychisches Gebilde heraus. In der Psychoanalyse Freuds wird behauptet, dass Träume zwei Inhalte haben, den manifesten Inhalt und den latenten Inhalt.149 Als manifester Trauminhalt wird in der Traumdeutung das bezeichnet, was von einem Traum auch nach dem Erwachen in Erinnerung bleibt. Der latente Inhalt besteht sind in der Regel aus unbewussten Wünschen, die aus diesem oder jenem Grunde von der “Traumzensur” nicht zum Bewusstsein zugelassen werden.150 Freud meinte, dass wir mit Hilfe der Träume die Fähigkeit besitzen, das Unbewusstsein zu verstehen. “Der Traum ist eine Wunscherfüllung.” Freud, S. Die Traumdeutung. Leipzig/Wien: 2005. Faksimile d. Orig.Ausg. hrsg. von Deuticke, F. (1900) (85-92) 149 Ebd., 94 150 Freud schreibt: “Gerade die Wunscherfüllung hat uns bereits zu einer Schilderung der Träume in zwei Gruppen verteilt. Wir haben Träume gefunden, die sich offen als Wunscherfüllung gaben; andere deren Wunscherfüllung unkenntlich, often mit allen Mitteln versteckt war. In den letzten erkannten wir die Leistungen der Traumcensur.” Ebd., 325 148 53 Nach Freud ist die Hauptfunktion des Traum die des “Hüters des Schlafes”. Da die Benennung sich auf einen Vergleich stützt, handelt es sich im Grunde um eine Metapher, die von Freud folgendermaßen erläutert wird: Er [der Traum] verfährt dabei auch nur wie der gewissenhafte Nachtwächter, der zunächst seine Pflicht tut, indem er Störungen zur Ruhe bringt, um die Bürgerschaft nicht zu wecken, dann aber seine Pflicht damit fortsetzt, die Bürgschaft selbst zu wecken, wenn ihm die Ursachen der Störung bedenklich scheinen und er mit ihnen allein nicht fertig wird.151 Einerseits werden äußere Reize in den Traum so eingebaut, daß sie nicht zum Erwachen führen. Andererseits erfüllt er diese Rolle durch die Erfüllung unbewußter Wünsche. Er übersetzt die unbewussten, verdrängten Wünsche des latenten Trauminhalts in das geträumte Bilderrätsel des bewusstseinsfähigen manifesten Trauminhaltes. Erfährt der verdrängte bzw. unbewusste Wunsch des Traums eine ungenügende Entstellung, so wird er zum Angstauslöser und führt folgerichtig zum Aufwachen. Wird er aber verhüllt, so beinhaltet der Traum eine Wunscherfüllung, die der Träumer als ein real erlebt. Freud merkt an: Der Traum schafft eine Art von psychischer Erledigung für den unterdrückten oder mit Hilfe des Verdrängten geformten Wunsch, indem er ihn als erfüllt hinstellt.152 Da der Traum des Schlafenden sich nunmehr erweitern und der Schlaf fortgesetzt werden kann, erfüllt der Traum seine Funktion als “Hüter des Schlafes”. Mithilfe des Studiums der Traumarbeit ist es möglich, alle Veränderungen des Es zu beobachten, die aus der Aufdrängung von unbewusstem, ursprünglichem Es-Material gegenüber dem Ich resultieren, wobei das Es vorbewusst und durch das Abwehren des Ich eine Wandlung erfährt, die Freud als Traumentstellung bezeichnet. Der Vorgang der Verwandlung vom (bereits existierenden) latenten zum (im Traum erlebten) manifesten Trauminhalt bezeichnet Freud mit dem Begriff “Traumarbeit”.153 Damit der eigentliche Gehalt dem Bewusstsein des Träumers verschlüsselt bleibt, Freud, S. „Über den Traum“. In: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hrsg. v. A. Freud […]. 7. Aufl. Frankfurt a. M.: 1987, Bd. 2/3: Die Traumdeutung/Über den Traum, 694 152 Ebd., 693 153 Ebd., 654 151 54 bedient der Traum sich bestimmten Mechanismen (Verdichtung, Verschiebung und Symbolik) für die Traumarbeit. Auf eine bildkünstlerische Ebene übertragen hieße dies, dass die Arbeit des Künstlers sich der Traumarbeit anschließt. Den Traum als Ausgangspunkt künstlerischen Schaffens zu benutzen wirft aber gewisse Probleme auf. Es besteht die Gefahr, dass der Künstler seine Aufmerksamkeit dem latenten Trauminhalt zuwendet und durch selbstanalytische Eingriffe, Ahnungen und Rationalisierungen das Traumbild verfälscht.154 Andererseits gehört das künstlerische Schaffen viel mehr dem Bereich der Intuition, als dem der Wissenschaft oder der Philosophie zu. In einer idealistischen Auffassung - und die frühen Surrealisten können mit Recht als Idealisten bezeichnet werden - sei die Intuition als eine völlige Ausschaltung der Vernunft zu verstehen, das heißt, “als reine Subjektivität”. Betrachtet man aber das Subjektive vom Standpunkt des Materialismus aus, so ist das Subjektive selbst objektiv. Dementsprechend würde dann das Unterbewusstsein selbst einer innewohnenden Logik folgen, die rational erfassbar ist. Freud selbst hielt zunächst wenig von der Kunst des Surrealismus. In der Hoffnung auf eine Annäherung an Freud reiste André Breton 1921 nach Wien ab. Da Freud aber höchst konservative Vorstellung im Bereich der Kunst hegte, führte die Begegnung zu einer bitteren Enttäuschung für Breton. Bei einem in London gelang es Salvador Dali allerdings, Freud ansatzweise von der surrealistischen Malerei zu überzeugen. An seinen Freund Stefan Zweig schrieb Freud, dass er bis den Besuch “geneigt [war], die Surrealisten […] für absolute […] Narren zu halten.” “Der junge Spanier hingegen” soll dem Skeptiker “eine andere Schätzung nahegelegt” haben. Er gesteht: “Es ware in der Tat sehr interessant, die Entstehung eines solchen Bildes analytisch zu erforschen.”155 4.2.2 Der Traum in der Dichtung der Romantik Allerdings war Freud nicht der erste, der sich eingehend mit dem Wesen des Traums befasste. Außer Freud kommt noch eine Vielzahl anderer Quellen in Betracht, aus 154 Vgl. Passeron, R. Phaidon Encyclopedia of Surrealism. Oxford/New York: 1978: 54 Brief von Freud an Stefan Zweig vom 20. Juli 1938. In: Zweig, S. Über Sigmund Freud. Porträt – Briefwechsel – Gedenkworte. Frankfurt a. M, 1989: 183 155 55 denen Kubin seine Einfälle möglicherweise geschöpft haben könnte. Über den Traum als geheime Wunscherfüllung finden sich schon einige Hinweise in Schopenhauers Schrift “Transcendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichtkeit im Schicksal des Einzelnen”.156 Ohnehin ist die Wirkung des “Philosophen des Willens” auf Freud und den Bereich der Psychoanalyse unverkennbar.157 Tatsächlich nennt Freud in einem Aufsatz “Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse” Schopenhauer als Vorläufer der Psychoanalyse: Es sind namhafte Vorläufer als Vorgänger anzuführen, vor allem der große Denker Schopenhauer, dessen ‘unbewusster Wille’ den seelischen Trieben der Psychoanalyse gleichzusetzen ist.158 Die größte Anregung für seine Theorie erhielt Freud aber von Friedrich Nietzsche, der, wie oben bereits angemerkt, auch einen wesentlichen Einfluss auf den jungen Kubin ausgeübt hat. In der Tat findet man, wie Thomas Mann in “Freud und die Zukunft” (1936) richtig feststellte, “[…] bei Nietzsche überall Freud’sche Einsichten vorweggenommen.”159 Nach Nietzsche sei der Mensch von Trieben, Leidenschaften, Begierden, von der Sexualität und vom Leib bestimmt. Auch für Nietzsche war das “Unbewusste” eine geläufige Vorstellung. Mit seiner Unterscheidung von “dionysisch” und “apollinisch” nahm er im Grunde den psychoanalytischen Dualismus vom “Es” und dem “Ich” kongenial vorweg. Den Begriff des “Es” hat Freud später in bewusster Anlehnung an Nietzsche übernommen.160 Hervorzuheben bleibt noch, dass in der Philosophie Nietzsches die menschliche Vernunft eine untergeordnete Position zugewiesen bekommt. In der Auffassung, die an Stelle der Vgl. Rank, O. “Schopenhauer über den Wahnsinn”. In: Zentralblatt für Psychoanalyse, 1. Jahrgang 1912, 69 ff. Zit. nach Gasser, R. Nietzsche und Freud. Berlin, New York: 1997: 68 157 Christian Godin zeigt Schopenhauers Einfluss auf Freud richtig auf: “Die Seiten, die Schopenhauer der Sexualität als einer blinden Kraft widmet, die nur ihre Selbsterhaltung durch das Individuum und durch den Raum sucht und die sich in den ätherischen Vorstellungen von Liebe manifestiert, sind von einer derartigen Klarheit, dass man darin viele Gemeinsamkeiten mit der Lehre Freuds über das Unterbewusstsein und über die Verdrängung und Subliemierung feststellen wird.” Godin, C. Die Geschichte der Philosophie für Dummies. Weinheim, 2008: 422 158 Freud, S. “Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse”. In: Gesammelte Werke in 18 Bdn. Hrsg. v. Anna Freud. Imago Publishing Co., Ltd., London, Fischer Verlag, 1948. Bd. XII., 12. zit. nach. Salin, 2008: 59 159 Mann, T. “Die Stellung Freuds in der mod. Geistesgeschichte”. In: Gesammelte Werke in zwölf Bd. Frankfurt a. M., 1961. Bd. X, 277 160 “Der größte Theil unseres Wesens ist uns unbekannt […] Wir haben ein Phantom vom “Ich” im Kopfe, das uns vielfach bestimmt. Nietzsche, F. Samtliche Werke in 15 Bden., hrsg. v. Colli, G.; Montinari, M. KSA, 1964. W8. Herbst 1878 32 [8], 561. zit. nach Salin, S. Kryptologie des Unbewussten: Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland. Würzburg 2008, 58 156 56 Vernunft den Trieb, die Begierde und Leidenschaften, kurz das “dionysische” oder “traumhafte” als die Zentralinstanzen des Menschen sehen will, lässt sich mithin eine Linie von Nietzsche, zu Freud und schließlich zu Kubin ziehen. Eine weitgehende intuitive Vorwegnahme der psychoanalytischen Traumlehre ist der mit “Erleben und Erdichten” überschriebenen Abschnitt aus Nietzsches “Morgenröte”, wo der Traum als Mittel der halluzinatorischen Triebbefriedigung erkannt ist. Etliche Jahre vor Freuds Traumdeutung stößt Nietzsche auf die Konzepte der Verdrängung, der Verschiebung von Affekten oder ihrer Sublimierung. Die Begriffe, mit denen er sie benennt, sollen später von Freud zur psychoanalytischen Terminologie umetikettiert wurden.161 Über die Beziehungen des Traumes zum Wachleben schreibt er in “Jenseits von Gut und Böse” (1886): Was wir im Traume erleben, vorausgesetzt, daß wir es oftmals erleben, gehört zuletzt so gut zum Gesamthaushalt unserer Seele wie irgend etwas wirklich Erlebtes: wir sind vermöge desselben reicher und ärmer, haben ein Bedürfnis mehr oder weniger und werden schließlich am hellen lichten Tage und selbst in den heitersten Augenblicken unseres wachen Geistes ein wenig von den Gewöhnungen unserer Träume gegängelt.162 Dass Nietzsche nicht vor den Konsequenzen seiner Auffassung zurückschreckte, geht wohl aus folgender Stelle aus der “Morgenröte” (1881) hervor: In allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur nicht für eure Träume! Welche elende Schwächlichkeit, welcher Mangel an folgerichtigem Mute! Nichts ist mehr euer Eigen als eure Träume! Nichts mehr euer Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer — in diesen Komödien seid ihr alles ihr selber! Und hier gerade scheut und schämt ihr euch vor euch, und schon Ödipus, der weise Ödipus, wußte sich Trost aus dem Gedanken zu schöpfen, daß wir nichts für das können, was wir träumen. Ich schließe daraus: dass die große Mehrzahl der Menschen sich abscheulicher Träume 161 In seinen Schriften deutet Nietzsche Träume gedeutet und analysiert Stimmungen, in denen der Leib eigenwillige Absichten kundtut. Man darf sagen, dass manche von Nietzsches Begriffen des Bewussten die Vorgeschichte der Psychoanalyse darstellen. Zum Einfluss Nietzsches auf die Freud vgl. Gasser, R. Nietzsche und Freud. Berlin, New York: 1997; Assoun, P.L. Freud and Nietzsche. London/New York, 2000 ; Chapelle, D. Nietzsche and the Psychoanalysis. New York, 1993, Salin, S. Kryptologie des Unbewussten: Nietzsche, Freud und Deleuze im Wunderland. Würzburg, 2008. 162 Nietzsche, F. Jenseits von Gut und Böse. In: Werke in drei Bd. Hrsg. v. Karl Schlechta. München/Wien, 1955: 651 57 bewusst sein muss. Wäre es anders: wie sehr würde man seine nächtliche Dichterei für den Hochmut des Menschen ausgebeutet haben!163 Bereits die Romantiker wollten die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit niederreißen. So schreibt Jean Paul in “Silvesternachtstraum” über den Schlaf, dass dieser “auch den unterdrückten Elementen in der Menschennatur, ja der Natur überhaupt, zu ihrem Rechte [verhilft]”, […] und wenn er sich an das Gesetz, das uns im wachen Zustand beherrscht, nicht kehrt, wenn er unser gewöhnliches Maß und Gewicht zerbricht und alle unsere Anschauungs- und Aneignungsformen durcheinander wirft, so geschieht das nur, weil er selbst der Ausdruck eines viel höheren Gesetzes ist. Hebbel erklärte die scheinbare Unverständlichkeit der Traumbilder daraus, dass uns die Sprache des Traumes verschlüsselt bliebe und wies auf seine Zusammensetzung aus einzelnen, den Buchstaben vergleichbaren Elementen hin:. Wahnsinnige, verrückte Träume, die uns selbst im Traume doch vernünftig vorkommen: die Seele setzt mit einem Alphabet, das sie noch nicht versteht,unsinnige Figuren zusammen, wie ein Kind mit den 24 Buchstaben; es ist aber gar nichtgesagt, daß dies Alphabet an und für sich unsinnig ist.164 Als weiteres Vorbild für Kubins Schaffens dürfte hier auch sein “Lieblingsdichter”165 E.T.A. Hoffmann erwähnt sein. Sein vermeintlicher “Ritter Gluck” (1814) schildert ein Portal, hinter dem sich ein Reich der Träume verbirgt, das unschwer eine Paralelle zu Pateras Traumreich zu erkennen gibt: Durchs elfenbeinerne Tor kommt man ins Reich der Träume; wenige sehen das Tor einmal, noch wenigere gehen durch! – Abententeuerlich sieht es hier aus. Tolle 163 Nietzsche, F. Morgenröte. In: Werke, Berlin: 1972. 2. Bd.: 98. Hebbel, F. Tagebücher. 2. Bd. 1840-1844. Berlin, 1905: 208 165 Vgl. Kubin an R. u/ H. Koeppel a, 27. 6/ 1943. Die Wilde Rast. Alfred Kubin in Waldhäusern. Briefe an Reinhol und Hanne Koeppel. Berarb. u. eingeleit. v. Walter Boll. München, 1972. auch: Über mich selbst, (1943). In: AmL, 105. 164 58 Gestalten schweben hin und her, aber sie haben Charakter – eine mehr wie die andere.166 Von einem Traumland spricht gelegentlich auch Edgar Allan Poe (wohl meistens aber ein nicht geographisch, sondern psychisch gemeint). Der unermesslich reich gewordene Ellison in Poes Erzählung “Das Gut zu Arnheim” (1847)167 ruft unmittelbar die Gründung des Traumreich ins Gedächtnis, hat auch Patera ja erst durch seine Erbschaft sein Vorhaben verwirklichen können. In einem anderen Werk der Romantik, das Drama “Der Traum ein Leben” (1840)168, gestaltet Franz Grillparzer die Austauschbarkeit von Traum und Realität anhand eines Lebensentwurfs, der im Traum sozusage auf Probe realisiert wird. Novalis hat in “Heinrich von Öfterdingen” (1800) Träume markant eingesetzt, indem er sie gegeneinander vertauscht, die Welt als Traum, der Traum als Welt erscheinen lässt. Die Blauäugigen pflegen in der Anderen Seite eine Form der Komtemplation und der ruhigen Betrachtung der Natur, die der hektischen Nervosität der übrigen Traumländer diametral entgegengesetzt ist. Die Farbe ihrer Augen steht in einem auffallenden Kontrast zu den sonstigen Farben im Traumreich: das “strahlende Blau” (144) ordnet sie dem Bereich des Transzendenten zu. Wenn Novalis den Traum von der blauen Blume an den Anfang des Romans “Heinrich von Öfterdingen” setzt, eröffnet der Traum dem Protagonisten von vornherein einen überpersönlichen, transzendenten Zug. Die blaue Blume wurde daraufhin zum zentralen Symbol der Romantik, der Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Zum Schluss sei noch Schopenhauer erwähnt, der “die enge Verwandschaft zwischen Leben und Traum” einräumt und sich letzlich “genöthigt [fühlt], den Dichtern zuzugeben, dass das Leben ein langer Traum sei.169 Für die Autoren der frühen Moderne waren Übergangsstationen und Zwischenbereiche, wie Traum und Traumzustände, ein beliebtes Thema. Im “Schleier Hoffmann, E.T.A. “Ritter Glück. Eine Erinnerung aus dem Jahre 1809.” In: Fantasie-und Nachtstücke. Darmstadt, 1962: 14-23 (21) 167 Poe, E.A. “The Domain of Arnheim, Or the Landscape Garden.” In: The Complete Tale and Poems of Edgar Allan Poe. New York: 604-615 168 Grillparzer, F. Sämtliche Werke. Hrsg. u. m. Einl. u. erläuternden Anm. versehen v. Moritz Decker. 2. Bd. Leizpig, 1903. 169 Schopenhauer, A. Die Welt als Wille und Vorstellung I/1, Zürcher Ausg. Bd. 1: 46f. zit. nach Geyer, 1995: 105 166 59 der Beatrice” (1899) des Österreichischen Schrifstellers Arthur Schnitzlers170, der ebenfalls Psychiater war, liest man: Doch Träume sind Begierden ohne Mut, sind freche Wünsche, die das Licht des Tags zurückgejagt in die Winkel unsrer Seele, daraus sie erst bei Nacht zu kriechen wagen.171 In “Traumnovelle” (1926) behandelt Schnitzler die Spannung zwischen sexuellem Begehren und den Konsequenzen des Triebverzichts. Einem Ehepaar widerfahren in einer langen Nacht selstsame, erotisch aufgeladene Abenteuer. Das Motiv des Traumes realisiert sich bei beiden Partnern unterschiedlich: Während der Artzt Fridolin auf traumhafte Weise sexuelle Abenteuer erlebt, träumt seine Frau von den sanktionierten sexuellen Wünschen. Mit der “Traumdichtung” emanzipierte sich Gerhard Hauptmann bereits 1893 vom engeren Stoffgebiet des Naturalismus. In Wilhelm Busch “Eduards Traum”172 (1891) ist die gesamte Erzählung als einheitliche Traumschilderung angelegt. Das Traum-Ich dieses Büchleins hat die Gestalt einer kleinen Kugels angenommen, die sich im Fluge frei bewegen kann. Ein auffallende Begebenheit ist der Besuch an ein Traumreich, dessen Bewohner die Form geometrischer Figuren angenommen haben. Wie Kubin hat auch August Strindberg sich in künstlerischen Verfahren versucht, in denen er den Zufall und das Unterbewusste des Traums agieren lässt.173 In seinem Drama “Ett Drömspiell” (1902), wo der Traum als Kunstwerk organisiert ist, handelt es sich um die Frage, ob das Bild Wirklichkeit oder Imagination ist. Strindberg versuchte, das zusammenhanglose und scheinbar logische Muster des Traumes konsequent und radikal nachzuschaffen: “Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich.” Szenen gehen kommentarlos ineinander über, Räume und Figure 170 Obwohl sich Schnitzler der Psychoanalyse gegenüber kritisch verhielt, wurde sein literarisches Werk von Freud als “doppelgängerhaft” empfunden, weil er in dem Dichter wohl zu Recht einen psychologischen “Tiefenforscher” zu erkennen glaubt. Vgl. Bär, G. Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm. Amsterdam/New York, 2005: 164. 171 Schnitzler, A. Der Schleier der Beatrice. In: Gesammelte Werke. Die Theaterstücke. 2. Bd. Berlin, 1912: 162 172 Busch, W. Eduards Traum. München, 1891. 173 Bär zufolge habe Strindberg das deutschsprachige Theater der Jahrhundertwende sogar “nachhaltiger als die Erkenntnisse der freudschen Traumdeutung” beeinflusst. Ebd. 60 wechseln abrupt das Aussehen und die Funktion. In der Anderen Seite findet dieses Verfahren seine Entsprechung im Abschnitt “Die Verwirrung des Traums”, den wir an späterer Stelle noch eingehend betrachten werden.174 Im dramatischen Zyklus “Till Damaskus” (1898), für den Kubin 1922 die Folge “Nach Damaskus” illustrierte, hat Strindberg sich um eine theatralische Darstellung von Projektionen des Unbewussten bemüht. Es finden sich im Schauspiel Traumelemente verstreut und auch die Handlung selbst erscheint als Traumbild. Die Reise führt den Protagonisten durch die eigene unbewusste und bewusste Seelenlandschaft, die Bühne wird dementsprechend gleichsam zum Erscheinungsort einer Halbwirklichkeit gemacht. Auffallend ist die offenkundige Parallele zwischen Kubin und Strindberg in Bezug auf ihre Schätzung der schöpferischen Einbildungskraft. Auch Strindberg versuchte mittels einer “schöpferischen Einbildungskraft” eine “zweite Wirklichkeit” zu evozieren, zur kreativ Umgestaltung der ersten. In einem Brief, den Strindberg 1896 verfasste, schreibt er: Halluzinationen, Phantasien, Träume scheinen mir eine hohe Realität zu besitzen. Wenn ich sehe, dass mein Kopfkissen menschliche Formen annimmt, dann sind diese Formen da, und sagt jemand, dass sie nur (!) in meiner Phantasie gebildet werden, so antworte ich: - Sie sagen nur? Was mein inneres Auge sieht, bedeutet mir mehr!175 Die offensichtlichen Parallelen zwischen den philosophischen Grundlagen des Traumreichs und den geistes- wie literaturgeschichtlichen Gegebenheiten der deutschen Romantik mögen auf den ersten Blick überraschen. Festzuhalten ist aber, dass die Verbindung Kubins zu einem der bedeutendsten Dichter der Romantik, zu E.T.A. Hoffmann, nachweisbar ist. Es sei an dieser Stelle auf die Zeichnung “Der Sonderling” (1912) hingewiesen, die den Freund und Hoffmann-Forscher Hans Müller in einer Weise darstellt, die selber wieder als dem Geiste des gemeinsam verehrten Vorbilds verpflichtet bezeichnet werden muss.176 Deshalb hat Schroeder Recht, wenn er in Kubins Theorie der Einbildungskraft die Ähnlichkeit zu Hoffmanns 174 Vgl. 4.3.3. August Strindbergs Brev, Bd. 11, Stockholm 1969: 268. Zit. nach . Wennerscheid, S. Das Leben, ein Traum? Lust am Schein in Strindbergs „Traumspiel“ (1902). In: Zeitschrift für Germanistik. Vol. 18, Nr. 1 (2008). Anders als bei Kubin ist der “Traum” in Strindbergs Begriffswelt aber auch gelegentlich durchaus negativ konnotiert, wenn er synonym gebraucht wird als Begriff für “Illusion”. 176 Abb. Raabe, 1957: 79 175 61 “serapionistischem Prinzip” sieht.177 Überhaupt gemahnt das Traumreich an das Reich der Träume” E.T.A. Hoffmanns: “Beide gründen auf der Traumkraft der Phantasie, beide sind determiniert durch die Situation des Zwischen, des Grenzzustandes zwischen einem tieferem und einem höheren.”178 Wie in der Anderen Seite das Bewusstsein zwischen Traum- und Wachzustand pendelt, die Reise ins Traumreich überhaupt als eine Art Traum zu verstehen ist, so versetzt auch Hoffmann seinen Leser in eine Art “Fieberzustand” versetzt, „wo der Unterschied zwischen Traum und Wachen, zwischen Phantasie und Wirklichkeit aufgehoben ist.“179 4.3 Der Traum in der Anderen Seite Im vorherigen Kapitel sind wichtige Aspekte Kubins antithetischer Weltanschauung bereits ausführlich erörtert wurden. Polarität, haben wir gesehen, durchzieht das ganze kubinsche Denken und wird in der Anderen Seite kulminiert im Zwitterwesen Patera, der die Gründung, aber auch den Untergang des phantastischen Traumreiches herbeiführt. Im nachfolgenden Kapitel möchten wir den Schwerpunkt vom Vater- und Sohnprinzip auf die “schöpferische Einbildungskraft” verlegen, einen Begriff, der zwischen den antithetischen Polen des Nichts und der Einbildungskraft beheimatet ist. Der Erzähler gelängt zum Erkenntnis, dass hier der “Urgrund” allen Seins liegen müsse. Unaufhörlich ist der Mensch Zeuge eines Doppelspiels antithetischer Kräfte: wie ein Pendel schwingt es zwischen Schicksalsglauben und göttlichem Selbst hinund –her. Im Diesseits, dem Einflussbereich des Nichts, erscheint dem Künstler die Lage des Menschen “wenig vertrauenerweckend, ja unheimlich”180. Gleichsam ein Refugium verlegt der Künstler die Phantasie ins Jenseits, den Bereich der Überwirklichkeit, des Traums: “die andere Seite”. Es ist in der Überwirklichkeit, wo die Fähigkeit des übersensitiven Empfindens, Reize verschiedener Art aufzunehmen und ins Schaffen weiterzuleiten, den Anreiz zu weiterer Entfaltung erhält. “Was für 177 Schroeder, 1970: 77, Anm. 44 Hewig, 1967: 54 179 Matt, P. “Der Roman im Fieberzustand. E. T. A. Hoffmanns ‚Elixiere des Teufels’”. In: Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur. Hrsg. v. Peter von Matt. München, Wien 1994, 122-133 (130f.) 180 “Fragment eines Weltbildes”, in: AmW, 36 178 62 ein Gewinn demnach der einzig gangbare Ausweg ins Unwirkliche!”, bringt Kubin es inbrünstig zum Ausdruck.181 Wie bereits dargelegt legte Kubin dem Traum besonderer Bedeutung bei, denn im Traum kann die Phantasie sich völlig entfalten. Überdies waren nach Kubin Traumkosmos und Weltenkosmos in ihrer polaren Gegensätzlichkeit innig verwandt. Beide erkannte er als schöpferischen Äußerungen des einen “ungeheueren Rätselwesens.”182 Allerdings traute Kubin es dem wahren Künstler durchaus zu, in dieses Rätsel einzudringen.183. Auch die Psychoanalyse ist an die Rolle des Unbewussten in der Kunst interessiert, zumal sich hier die Vorgänge im Unbewussten am anschaulichsten äußern können. Außerdem kann das Kunstwerk dazu dienen, Verdrängtes freizulegen. In der Andere Seite lässt die Gestaltung des Traumreichs in vielem an den Begriffs des “Unbewussten” denken, wie es von Freud beschrieben worden ist. Wo Freud und Kubin sich in ihrer Auffassung vom Wesen des Traums aber grundlegend unterscheiden ist die Anwendbarkeit der Theorien. Wo Freud den “subjektiven” Traum in einen theoretischen Rahmen stellt, objektiv bewertet und ihn also über die persönliche Sphäre hinaushebt, ist Kubin die Ansicht, dass Träume grundsätzlich von persönlicher, nicht zu objektivierender Art seien. Eine Analyse seiner Traumbilder lehnte er denn auch ausdrücklich ab: Die einzelnen Erscheinungen werden wir uns aber hüten zu zergliedern etwa nach irgendeinem interessanten moralischen oder psychologisierenden System, um hinter das Geheimnis ihrer Deutbarkeit zu kommen; lassen wir lieber ihre echte ungebrochene Symbolkraft bestehen. Ich halte die unmittelbare schöpferische Vision für weit stärker und tragender als ihre weitschweifige Analyse.184 Zu träumen - das bedeutete für Kubin eine äußerste Position desjenigen Menschen, der sich der Rationalität und dem wachen Realitätsbewusstsein verweigert; um sich als Teil eines unbegreiflichen schöpferischen Weltwesens zu fühlen und in dieser Rolle aufzugehen. Darin unterscheidet er sich nicht nur von den Vertretern der Psychoanalyse, sondern auch von den Surrealisten, deren Verfahren er 181 Ebd. Kubin: “Vorwort” zu Huch: Neue Träume, 7. In: AmW, 172 183 “Diese beiden sich wie elektrisch anstoßenden Pole einer Schöpfung einander zu nähern, ihre gemeinsamen Keim aufzufinden, muss gelingen – wenn der echte Schöpfer es will!” 184 “Über mein Traumerleben”, in: AmW: 8 182 63 unmissverständlich abweist: “Ich finde es geradezu ablenkend, wenn man die Träume ausdenken will.”185 Im Unterschied zu den Surrealisten, die ihre Prinzipien in ein gemeinsames Programm darlegten, war Kubin weit davon entfernt, für seine Vorgehensweise ein Doktrin zu konzipieren.186 Mit Rücksicht auf die Aufmerksamkeit, der Kubin der Darstellung des Unbewussten gewidmet hat, erweist Kubin sich jedenfalls als ein Surrealist avant la lettre.187 Der österreichische Schriftsteller George Saiko vergleicht Kubin in dieser Hinsicht mit dem belgischen Maler James Ensor (1860-1949), einem Zeitgenossen Kubins, dessen Werk namentlich die französischen Surrealisten besonders beeinflusst hat. Er stellt richtig fest: […] James Ensor und Alfred Kubin, mit ihrer besonderen Disposition, dem Unbewussten künstlerischen Gestalt zu geben, haben die inhaltlichen Forderungen des Surrealismus lange vor seinem programmatischen Auftauchen verwirklicht.188 Der Traum ist eine verschlüsselte Sprache. Es ist das Verdienst Freuds, dem Traum zur Sprache verholfen zu haben. Das bis dahin fast Unformulierbare und Unbenennbare hat er in die Formulierungen diskurtiver Sprache gefasst. Freud erlöste die Dichter von der Notwendigkeit einer ihnen wie eine selbstverständlich zugewachsenen Verpflichtung, das nur in Bildern Ausdrückbare auch noch diskursiv zu sagen und damit womöglich zu desavouieren. Statt ins Geschäft des Diskursiven eintreten zu müssen konnten sie bei ihren Bildern bleiben.189 Von besonderer Bedeutung für die Anderen Seite sind vor allem die zentralen Elemente aus Freuds Traumdeutung, das heißt, die Kompositionsprinzipien der “Verschiebung” und “Verdichtung”190. Von daraus ist es ein kleiner Schritt zu den 185 173 “Jeder Künstler erlebt und schafft rein persönlich. Daher kann es auch keine allgemein gültige Regel über den rätselhaften Vorgang geben.” Kubin, A. “Aus halbvergessenem Lande. Über künstlerische Befrüchtung.” In: AmW, 19 187 Brigitte Jirku und Stephan Berg betrachten die Andere Seite als Werk, dass die Grundsätze des Surrealismus vorweggenommen hat, so etwa in der Vorgehensweise der “écriture automatique” . Vgl. Jirku, B. “Alfred Kubins ‚Die andere Seite' als Vorbote des Surrealismus.” In: Modern Austrian Literature 28 (1995), Heft 1, 31-54; Berg, S.: Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit- und Raumstrukturen in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: 1991. 188 Saiko, G. “Surrealismus und Realität”. In: Saiko, Drama und essays, 181-188. Zit. nach Posthofen R.S. Treibgut. Das vergessene Werk George Saikos. Wien […], 1995: 61 189 Wunberg, G. Jahrhundertwende: Studien zur Literatur der Moderne. Tübingen: 2001, 174 190 Nach Freud ergibt sich aus einem Vergleich von Trauminhalt und Traumgedanken, dass “eine großartige Verdichtungsarbeit geleistet wurde. Der Traum ist knapp, armselig, lakonisch im Vergleich zu dem Umfang und zur Reichhaltigkeit der Traumgedanken.” Auf eine relativ kleine Größe wird sehr 186 64 “Traumbildungsmechanismen” wie Kubins sie versteht. Trotz Kubins skeptischer Haltung dem “widerlichen Psychoanalysieren” gegenüber, seines Geständnisses, von der Psychoanalyse nicht mehr zu wissen, “als etwa zur heutigen Allgemeinbildung gehört”191 und nicht zuletzt der ironischen Lobpreisung Freuds auf der ersten Seite des Romans, dürfte Kubin – gewollt oder ungewollt – zum Zeitpunkt der Abfassung eine gewisse Vertrautheit mit der Freudschen Psychoanalyse wohl vorausgesetzt werden.192 Sein Freud Oscar A.H. Schmitz, dem der Psychoanalyse sehr nahe stand, dürfte das Interesse Kubins für die Psychoanalyse kurzfristig geweckt haben.193 Meist plausibel aber erscheint uns die Annahme, Kubin habe Freud und die Psychoanalyse zwar geschätzt, mit der Zeit aber, als ihm die Einsichten anderer Denker eröffnet wurden, der Freudschen Theorie nicht mehr Bedeutung, als er jedem anderen Wissen beigelegt hat. Martynkewicz stellt mit Recht fest: Wissen – und die Psychoanalyse macht da keine Ausnahme – hat für Kubin […] einen klar nebengeordneten Rang und ist für den Literaten und bildenden Künstler in erster Linie ein Fundus, ein Steinbruch, aus dem er geeignete Stücke herausbrechen und in das eigene Werk integrieren kann.194 viel an Bedeutung verdichtet, indem einzelne Zeichen oder Bilder mehr bedeuten als nur eine Sache. Dadurch sind Traumgedanken “überdeterminiert”. Verdichtung geht typischerweise Hand in Hand mit Verschiebung. “Traumverschiebung und Traumverdichtung sind die beiden Werkmeister, deren Tätigkeit wir die Gestaltung des Traumes hauptsächlich zuschreiben dürfen”. (1972: 307). In der Verschiebung liegt die Möglichkeit die Zensur auszuschalten. Die Literaturwissenschaft hat der Gedanke der Verschiebung aufgegriffen, indem sie versucht hat, (gegebenfalls in Zusammenhang mit Verdichtung) die Funktionsweise der Symbolik in literarischen Werken zu erklären. 191 “Oscar A. H. …: Das Selbstbildnis eines Schriftstellers” (1926) In: AmW, 180 192 Vgl. Müller-Thalheim, 10. Am 27.9.1911 schreibt er an Fritz Herzmanovsky-Orlando und empfiehlt ihm die Traumdeutung von Sigmund Freud, die Kubin offenbar gerade selbst las. Eine Woche später berichtet er an seinem Freud Herzmanovsky: “Ich lese noch immer die Sachen von Prof. Sigmund Freud, jüdisch scharfgeistige Psychologe, sehr interessant über infantile Sexualität und Traumerleben.” In einem Brief an Herzmanovsky drei Jahre später, am 25.11.1914, verhält Kubin sich schon kritischer der Psychoanalyse gegenüber. Er schreibt: “Freuds Entdeckungen sind mir äußert wertvolles Material, originell und fruchtbar. – Ins Heiligtum führen sie aber nicht, wie niemals Gelehrtenarbeit.” Noch einen Monat später bekräftigt er diese Ansicht, indem er meint: “Sonst bin ich wie gesagt der Ansicht dass Freuds Entdeckung fabelhaft ist aber doch im materiellen stecken bleibt, stecken bleiben muss, weil alle rationelle Wissenschaftlichkeit niemals mehr als Bausteine liefern kann.” In: HerzmanovskyOrlando/Kubin, 1983: 98, cf. 90. 193 Vgl. die Anekdoten “Erinnerungen an Oscar A.H. Schmitz” (1932) und “Oscar A.H. …” (1926) In: AmW, 97-102, 179-182. 194 Martynkewicz, W. “Zerstörische Dualitäten: Destruktionstrieb, Traum- und Wachbewusstsein in Alfred Kubins Roman Die andere Seite.” In: Sigmund Freud and the Knowledge of Literature / Sigmund Freud und das Wissen der Literatur. Hrsg. v. Alt, P.A u. Anz, T. Berlin/New York: 2008. 137–156 (1) 65 Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die Beschreibung vom grotesken Traumerlebnis des Erzählers verdächtig viel Elemente aus der Freudschen TraumSymbolik integriert. Allerdings lässt der Traum im Ganzen auf die Feststellung schließen, dass Kubin das Freudsche Muster von Verdichtung und Verschiebung – Kubin verwendet selbst den Begriff “kompositorische Traumgesetze” - auf die Erzählebene übertragen hat. Auf eine literarische Ebene hat er also die Rolle der schöpferischen Traumarbeit übernommen, indem er mittels Bedeutungs-Verschiebung und sprachlicher Verdichtung seinen Stoff in einem poetischen Verfahren bearbeitet hat. Die Frage, mit der wir uns im Folgenden beschäftigen möchten, ist auf welche Art und Weise Kubin seine Imagination schöpferisch tauglich gemacht hat. Es soll untersucht werden, ob der Künstler aus dem Chaos der Einbildung eine Struktur verwirklicht hat, oder ob nicht vielmehr die Einbildung selbst die Grundlage darstellt, auf der das Traumreich errichtet ist. Welcher Logik folgen den Gesetzen des Traumerlebens? Welche spezifischen kompositorische Mittel hat sich Kubin zur Deund Remontage des Traums bedient? Für eine Analyse die sich mit diesen Fragen beschäftigt bietet der Alltag der Einwohner der Perle einen besonders geeigneten Anhaltspunkt, zumal der Erzähler ihr Tun und Treiben in der Hauptstadt des Traumsreichs in seinen “Aufzeichnungen” mit größter Genauigkeit verfolgt hat. Dazu bedarf es aber zunächst einer näheren Auseinandersetzung mit dem Protagonisten, aus dessen Sicht den Alltag beschrieben wird und eien Eindruck des Traumreichs vermittelt wird. 4.3.1 Der Erzähler Eine der unabdingbaren Voraussetzungen, die Kubin für sein Anliegen, sein persönliches Traumerleben einem breiten Publikum zugänglich zu machen, zu berücksichtigen hat, ist die Darstellung seines Protagonisten. Zwar ereignen sich die Geschehnisse in der Sphäre des Überwirklichen, beruhen also auf Phantasie. Dennoch stellt der Erzähler einen Wahrheitsanspruch im Rahmen der fiktionalen Welt, indem er vorgibt, den Untergang des Traumreiches als Augenzeuge aus unmittelbarer Nähe miterlebt zu haben. Dem Unglaubwürdigen Glaubwürdigkeit zu verleihen: mit dieser 66 Anforderung steht und fällt der Erfolg der Anderen Seite. Wie Kubin dieser nachgekommen hat, soll im Folgenden erhellt werden. Während des Erzählablaufs drängt sich immer deutlicher der Beweggrund Kubins auf, die Erzählung als einen Bericht gerade in der Ich-perspektive zu schreiben. Nach Wolf Schmids Definition ist die Perspektive “der von inneren und äußeren Faktoren gebildete Komplex von Bedingungen für das Erfassen und Darstellen eines Geschehens”195. Ohne Zweifel war Kubin sich der Tatsache bewusst, dass um den literarischen Anforderungen seiner “Traumreise” gerecht zu werden, der (namenlose!) Protagonist der Anderen Seite kein anderer als der Künstler selbst hätte sein können. Tatsächlich stützen verschiedene typische Parallelen zwischen beiden Künstlern eine Annahme in diese Richtung.196 Der Erzähler ist vergleichsweise einfach gezeichnet. Zwar wird er in seinen Handlungen, Überlegungen und Gefühlen geschildert, aber diese sind stets nur als Reaktionen auf die Erlebnisse im Traumreich zu verstehen. Eigenheiten, die erst einen Charakter ausmachen, werden höchstens andeutungsweise dargestellt. Allerdings impliziert die Art und Weise, wie er sich zum Traumreich verhält, eine gewisse Empfindsamkeit. Dem dritten Kapitel, “Der Alltag”, ist zu entnehmen, dass der Erzähler über einen scharfen beobachtenden Blick verfügt. Überdies zeichnet er sich durch eine verhältnismäßig große Einsichtigkeit aus, die ihm von der Grundkonzeption eines Durchschnittsmenschen unterscheidet. Auf diese Weise ist es von vornherein ausgeschlossen, dass der Erzähler und seine Geschichte in einen bestimmten Erwartungsrahmen fallen. Weitherhin verzichtet er darauf, ihn in einen gesellschaftlichen Kontext einzufassen. Einzelheiten hinsichtlich seines Hintergrundes werden kaum gegeben. Die Auskünfte beschränken sich darauf, dass der Erzähler als Zeichner berufstätig ist. Die Gestaltung des Protagonisten orientiert sich also ausschließlich an seinen Zweck, den Erzähler über allem als einen Bezugspunkt zur Vernunft und Wirklichkeit darzustellen. Lippuner bringt es auf den Punkt: “Vernünftig zwischen allen Verrücktheiten bleibt eigentlich nur der Erzähler, sieht 195 Schmid, W. Elemente der Narratologie. Berlin, 2005: 289 Auf dem Vorblatt zum Roman findet sich das gezeichnetes Porträt eines Mannes (Bild 7), dessen Bildnis einem Foto, das Kubin in einem dem Erzähler ungefähr entsprechenden Alter zeigt, (Bild 8) aufs Haar gleicht. Einige anderen offenkundigen Parallelen zwischen dem Erzähler und Alfred Kubin sind beispielsweise die Berufstätigkeit als Zeichner, die bohemische Lebensführung, der Ehebund und der Tod der Ehefrau (Kubins Jugendbraut Emmy Bayer verstarb 1903; von seiner Frau Hedwig Kubin sind chronische Krankheit und Kuraufenthalt bezeugt, vgl. Selbstbiographie (1911) in: AmL., 39) und der Freund Fritz (i.e.: von Herzmanovsky-Orlando). 196 67 man einmal von den ‘Blauäugigen’, von Patera und ‘dem Amerikaner’ ab.”197 Zwar bleibt auch er nicht vom Klaps verschont, bemächtigt sich seiner mit der Zeit eine zunehmende Angst und findet Aufnahme in einer Heilanstalt. Die Gefahr der Vernichtung ist dann aber schon gebannt und die Wiederherstellung der Gesundheit gesichert. Halten wir aber fest: indem Kubin auf eine psychologisch eingehende Ausarbeitung seines Protagonisten nahezu verzichtet, vermag er den Schwerpunkt vom Erzähler selbst auf die erzählten Geschehnisse verlagern. Da diese nunmehr auf den Vorgrund treten, erfüllt sich somit der Wunsch Kubins, das Ausmaß der bizarren Szenerie seiner Träume zur völligen Entfaltung zu bringen. Schon bald stellt sich heraus, dass die durch den Erzähler beschriebene Welt von der tagtäglichen Welt entfernt liegt. Aus der Perspektive der normalen Welt erscheint der Traumstaat als “Reich, in welchem der Unsinn herrscht.” Da Kubin zur topographischen Lage des Traumreichs nur sparliche Angaben macht, ermöglich dies den Leser, die eigene Einbildungskraft auf das Traumland zu projizieren. Gleichzeitig aber ist der Erfolg des Erzählers, die Vorfälle glaubwürdig zu übermitteln, bedingt vom Vertrauen des Lesers. Damit er den Anschein der Aufrichtigkeit gewährleisten kann, hat Kubin seinen Protagonisten mit verschiedenen banalen Merkmale “getarnt”: er ist verheiratet, unterliegt einer Nikotinsucht, besucht zur Zeitvertreibung das örtliche Kaffeehaus und arbeitet überdies bei einer Zeitung: “Man oblag seine Lust und seinen Ärger” (64). Anderseits aber ist er, wie oben bereits erörtert, vom Anfang bis zum Ende ein Außenseiter im Traumreich; das Schicksal seiner Mitmenschen, als bestimmter Type eingestuft und ein Glied im Traum-Kollektivs zu werden, bleibt ihm erspart. Somit wird er zu einem Maßstab, nach welchem die Veränderung und Entwicklung der Ideen, um deren anschaulichen Übertragung Kubin bemüht ist, bestimmt werden. Überdies beugt die konsequente Beibehaltung der ersten Erzählperspektive eine mögliche Diskrepanz der Deutungen vor, für die der Leser gänzlich vom Erzähler abhängig ist. 197 Lippuner, 1977: 103 68 4.3.2 Die schöpferische Verwandlung des Traums Mit der Zeit erfasst der Erzähler die Logik des Traumreichs, die ebenfalls der Logik eines Traums gleicht: “Man gewöhnte sich sich im Traumland derart an das Unwahrscheinlichste, dass einem nichts mehr auffiel.” (58) Wie aber lässt sich die Eigenart einer Traumlogik charakterisieren, inwiefern unterscheidet sie sich von der Logik des Alltags? Zur Logik des Traums gehört zunächst das Gleiten zwischen dem empirisch Möglichen und dem Unmöglichen - beide Bereiche können nebeneinander existieren. Das Ziel der Surrealisten war es, “das Unwirkliche bzw. Traumhafte und die Tiefen des Unbewussten auszuloten; den durch die menschliche Logik begrenzten Erfahrungsbereich durch das Phantastische und Absurde zu erweitern.” In seinem “Surrealistischen Manifest” aus 1924 plädierte André Breton198 für die Aufhebung des Widerspruchs von Irrealität und Realität in einer absoluten “Über-Wirklichkeit”, in dem die gewohnten Denk- und Wahrnehmungsarten ihre Geltung verloren sollten. Für ihre Versuche, die Überwirklichkeit zu ergründen und die seelische Realität an Stelle der realen Außenwelt treten zu lassen, benutzten sie vor allem Traumvisionen. Indem sie auf unerklärliche Symbole und Verfremdungen zurückgriffen, versuchten sie den Zugang zu einer tiefer liegenden Wirklichkeit zu erschaffen. Was den wahren Surrealisten auszeichnete, war seine Fähigkeit, die Elemente des Traums in seine eigentliche Realität zu übertragen. Je enger die Verbindung zwischen Traum und Realität hier wurde, um so großartiger war das geschaffene. Günther Anders schreibt: Um zu zeigen, dass das Wirkliche gleichzeitig das Phantastische ist, stellt der Surrealist alle uns bekannte Gegenstände in phantastischer Umgebung dar oder in phantastischer Verzerrung; während er andererseits alles Phantastische so minitiös und mit so übertriebener Skrupelhaftigkeit darstellt, dass die Darstellung den Eindruck erweckt, sie sei getreulich, ja pedantisch ‘nach der Natur gemalt. Die Surrealisten bestrebten eine möglichst originaltreue Wiedergabe der subjektiven, inneren Wirklichkeit. Um die Kontrollinstanzen zum inneren Geschehen auszuschalten, wendeten die Surrealisten die Methode des automatischen Schreibens, 198 André Breton (1896-1966) arbeitet während dem Medizinstudium in der Psychiatrie und begegnet dort den Schriften von Sigmund Freud. Von der Welt des Traums begeistert, bricht er sein Studium ab und wendet sich der Literatur zu. Passeron, 1978: 165 69 des “reinen psychischen Automatismus” an. Auch Kubin war darum bemüht, seine Träume unmittelbar zeichnerisch einzufangen, erkannte aber schon früh die Unmöglichkeit eines solchen Unternehmens.199 Statt sich einem anderen Thema hinzuwenden, versuchte Kubin ein anderes Verfahren. Im Hinblick auf die nachfolgenden Darlegungen erscheinen folgende Anmerkungen besonders aufschlussreich. Kubin schreibt, dass er zuerst mit meiner Zeichnung unmittelbare Traumstücke ein[fing]; nachdem ich dann hinter einige gleichsam komponierende Traumgesetze gekommen war, wählte ich immer mehr aus und stellte aus den verschiedenen Einzelmotiven reiche Kombination zusammen. Ich lebte mich endlich ganz in dies spukhafte, für manche überhaupt nicht existierende Traumwesen ein, und es gelang mir, au seiner bestimmten, gleichsam ‘traumwachen’ Geisteseinstellung Kompositionen in diesem Sinn auszuführen.200 In dieser Hinsicht unterscheidet sich sein Verfahren wesentlich vom naiven, deskriptiven Automatismus der Surrealisten. Keineswegs war es Kubins Absicht, sich im Schaffen willenlos von seinen Träumen lenken zu lassen: Die freie Beherrschung aber des Stromes der eigenen, meist beängstigenden Träume, die sich gehorsam seiner Macht ergeben, ist der eigentliche Sinn dieser Kunst […]201 Der Künstler erkannte, dass erst mit der nachträglichen Kontrolle seines Traumlebens er auch seine produktive Tätigkeit zur Wirkung bringen konnte. Gelänge ihm dies, so würden ihm die schöpferisch verwertbare Einfälle aus dem Traumleben in der Folge in unerschöpflicher Fülle zuströmen. Als “introspektiver Beobachter” bewegte Kubin sich auf der Grenze zwischen Traum und der Wirklichkeit. Einerseits galt ihm, wie bereits angeführt, das Wachsein als den Maßstab für den Traum; andererseits war er sich der eigentümlichen Eigenschaft des Traums bewusst, in der Erinnerung bis auf einige Spuren zu verschwinden. So verwundert es also nicht, wenn Kubin den Wert seines Traumlebens relativiert: “[…] alles zu rasch ein Flitzen, - die Träume auch nur wie Fetzen sollten länger nachbleiben.” Kubin, A. TB 18. (3.32) Zit. nach Hewig, 1967: 65 200 In: AmL: 44f. 201 “Der Zeichner”, in: AmW, 60 199 70 “Träume hatten direkt nur ganz selten Anteil an meinen Werken, sie sind aber gleichsam in ihrer Art der Struktur den Bildvorstellungen oft stark verwandt.”202 Die Traumvision allein ergibt noch kein Kunstwerk. Immer wieder betont Kubin die Bedeutung des sorgfältig vorgehenden Künstlers. Weniger dem Chaos nachzubilden gilt es, ihm zu “abstrahieren, Zeichnungen zu schaffen, welche die Erlebnisse der schauenden Seele andern zu vermitteln imstande sind.”203 Erfolgt zunächst eine Abstraktion, so sollte daraufhin folgerichtig auch eine Konstruktion erfolgen, die ein neues Traumbild, das heißt, das endgültige Kunstwerk ergibt: Als Schauender hingegeben, als Zeichner tätig, zerlege ich die Vision, baue sie von neuem auf und versuche, so gleichsam ein geklärtes Traumbild [Hervorhebung von mir] zu formen.204 Der Prozess der “Klärung”, aus unbewusst Geschautem durch eine bewusst vorgenommene Selektion ein neues Traumbild zusammenzusetzen, setzt also den kritischen Blick des Künstlers voraus. In einem späteren Bericht unterstreicht Kubin nochmals die Dichotomie seiner Methode, indem er bekundet, zwar “aus einem dunklen Drange bei den ursprünglichen Konzeptionen” zu schaffen, deren Ausarbeitung aber gleichzeitig einer “äußerst biegsamen Bewusstseinskontrolle unterworfen” sei. Zur völligen Reife gelang das künstlerische Verfahren, zu zeichnen “mit den Augen des Kopfes und denen der Seele”205 aber erst in späterer Zeit. Von der raffinierten Kontrolle des kritischen Blicks erhebt sich dem rauschhaften Vorgang der früheren Jahre, denen der Künstler sich “völlig passiv hin[gab]”. 4.3.2.1 Der Traum im Bild Bereits in der Einführung haben wir darauf hingewiesen, dass der Roman einen Wendepunkt des künstlerischen Schaffens darstellt. In “Rhythmus und Konstruktion” (1924) formuliert Kubin zwei Ansprüche seiner Blätter, die mit recht jenen “kubinschen” Stil ausmachen: “Das Schaffen aus den Unbewussten”. In: AmW, 47 “Rhytmus und Konstruktion” (1924) In: AmW, 61 204 Ebd., 60 205 “Vorbemerkung zu Alfred Kubin, Orbis Pictus” (1930). In: AmW, 190 202 203 71 I. den unbewusst von selbst sich einstellenden Zug der Hand: den Rhythmus, II. den klaren, voraussinnenden Formgedanken: die Konstruktion. In einem späteren Bericht bekennt Kubin, die Andere Seite “einem Rausch vergleichbar”206 niedergeschrieben zu haben. Bei den Zeichnungen hingegen, “war der Vorgang wie gewöhnlich ein recht überlegener”207. Vielmehr interessiert uns aber der erste Anspruch, der Rhythmus also, der “der Zeichnung jene unverwechselbare Prägung [verleiht], die wir als “persönlich” empfinden.”208 Zum ersten Mal versucht Kubin in der Anderen Seite Traum und Linienführung aufeinander abzustimmen, das heißt, Thema und Technik in eine eins-zu-eins-Beziehung zu bringen. Diese grundlegende Veränderung des Stils spiegelt sich nur in den Illustrationen der Anderen Seite, sondern der Protagonist selbst macht eine auffallend ähnliche Entwicklung durch: Ich verzichtete auf alles bis auf den Strich und entwickelte in diesen Monaten ein seltsames Liniensystem. Ein fragmentarischer Stil, mehr geschrieben als gezeichnet, drückte es wie ein empfindliches metereologisches Instrument die geringsten Schwankungen meiner Lebensstimmung aus. – “Psychographik”, nannte ich dieses Verfahren […]” (140) Es sei nochmals betont, dass die Leistung der Anderen Seite sowohl im Bereich des Textes als Bildes liegt: beide erfüllen eine gleichrangige Rolle, nehmen aufeinander Bezug und stehen in einer Wechselbeziehung. Nicht weniger als Text beanspruchen auch die Bilder die Wirklichkeit, sowie der Erzähler sie im Traumreich erfahren haben soll. Eingedenk des Mottos: “Nur was das Auge erkennt, das kann auch Realität sein” treibt es den Künstler geradezu zu einer bildlichen Veranschaulichung und so hat Kubin insgesamt eine beträchtliche 51 Bilder in den Roman aufgenommen. Kubin steht somit “auf der fließenden Grenze von Bildnertum und Dichtertum”, wie Emil Preetorius richtig erkannt hat: “voll zu erfassen sind Seine Schöpfungen nur, wenn […] das “Literarische” in eins genommen wird mit dem erfindungsreichen Gewebe seiner bewegten, tausendfältigen Liniensprache.”209 “Selbstbiografie” (VI, 1946), in: AmL, 80 Ebd 208 “Rhytmus und Konstruktion” (1924), in: AmW, 61 209 Vgl. Schroeder, 1970: 104. Zit. nach Lippuner, 1977: 153 206 207 72 Den Anforderungen einer Traumerfahrung im gezeichneten Bild gerecht zu werden heißt, die Dämmerungswelt des Traums adäquat ins Bild zu übertragen. Das Maß der Suggestivität der Zeichnung bestimmt inwieweit die Phantasie des Betrachters angeregt wird. Die “Realität” des Traumreichs konstituiert sich folgerichtig aus der gegenseitigen Abhängigkeit von Text und Bild. Das Bildmaterial geht somit weit über ihre konventionnelle, veranschaulichende Funktion im Sinne einer “Illustration” hinaus: “Dem zeichnerischen Stil kommt so mindestens die gleiche Bedeutung zu wie der thematischen oder motivischen Aussage”210, betont Lippuner. Die Technik, die Kubin für die 52 Zeichnungen in der Anderen Seite angewendet hat, ist die Zeichnung mit Feder und Tusche. Während der Stil des Frühwerks sich durch harte Hell-Dunkel-Kontraste und klar abgegrenzten Konturen ausprägt, könnte für den nachhaltigen Stil des gereiften Künstlers das verbindende Liniennetz mit weicheren Übergängen bezeichnend sein. Zieht man die Illustration zum Traumprotokoll heran (Bild 12), so prägt sich diese durch ein Netz feinster Federstriche aus, in dem alle Bildelemente eingesponnen werden. Durch subtile Schraffuren werden Übergänge der Konture Konturübergänge geschafft, disparate räumliche Dimensionen verschränkt. Unter dem Begriff “Psychographik” versteht der Protagonist das Verfahren, die zeichnende Hand auf die Empfindungen der jeweiligen Stimmung abzustimmen, indem er sie gleich empfindsam für sie macht.211 Anstelle einzelner Striche ist die Zeichnung aus einem einheitlichen Liniensystem aufgebaut. Gerade durch Vorstellungen der Phantasie in ein solches Netz einzufangen, kommen phantastische Zustände und Wirkungen am eindringlichsten zur Wirkung: “ Das dichte Strichgefüge fordert von vornherein eine differenziertere Betrachtungsweise, als bei einer plakativeren Eindeutigkeit von Form und Kontur nötig wäre, und daher sind unterschiedlichen Perspektiven schon durch Material und Darstellungstechnik vorgegeben. Da einen eindeutig festgelegten Fluchtpunkt fehlt, kann der Leser den Blick stufenlos über die in verschiedenen Dimensionstiefen 210 Ebd. “Ein fragmentarischer Stil, mehr geschrieben, wie gezeichnet, drückte es wie ein empfindliches metereologisches Instrument die geringsten Schwankungen meiner Lebensstimmung aus. – Psychographik nannte ich dieses Verfahren.” 211 73 gelagerten Motiv-Zentren schweifen lassen und die Bildelemente selbsttätig in eine lebendige Sequenz bringen.212 Indem zielgerichtet Fantasie und Kreativität des Lesers herausgefordert werden, reicht die Illustration weit über seine Funktion als eindeutig bildliches Kommentar aus. Brandstetter bringt es treffend auf den Punkt: Das Mittel der Federzeichnung also vermag […] die Statik visueller Eindeutigkeit zu unterlaufen und damit etwas von der Dynamik des Traum-Geschehens 213 einzufangen. Besonders auffallend ist die Tatasache, dass während der Stil und die Technik der Zeichnungen immer wieder die Suggestion des Traums erwecken, ihre Inhalte jedoch vielmehr von profaner Art sind: “Das phantastische der “Anderen Seite” ist in ihren Illustrationen höchstens ansatzweise zu finden”214, stellt Lippuner richtig fest. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass die meisten Illustrationen sich um einen möglichst hohen Realitätsanteil bemühen. Nur selten findet man Kompositionen in denen der Künstler das Visionäre oder Religiöse thematisiert hat215; umso größer ist der Anteil alltäglicher Motive, wie etwa Landschaften, Häuser, Personen, Tiere und Gegenstände. Die besondere Fähigkeit Kubins, die Ferne, das Immaterielle, das Atmosphäre und das Trumhafte in seinen Illustrationen zur Anderen Seite einzufängen, ändert an der Wirklichkeitsnähe der Motive kaum etwas: Der “Tiger” (Bild 13) bleibt bei aller Greifbarkeit des Hintergründigen eine Raubkatze, der “Torbogen” ist trotz seiner Unheimlichkeit ein Stück Arechitektur. Die Verfremdung der Wirklichkeit erfolgt nur gerade soweit, dass Bildgegenstände in die Distanz gerückt oder in den Spannungsgegensatz von greller Helligkeit und tiefer Schwärze gestellt oder von der Strichtechnik her nicht eigentlich körperlich-plastisch durchmodelliert sind. Damit erhalten die Bilder weniger die Eigenschaft des Fantastischen als die des Surrealen.216 Gegenstände, Geschehnisse, Menschen und Tiere sind durchaus konkret fassbar, immer aber scheint auch das Hintergründige 212 Thomsen, 1980: 259 Brandstetter, 1980: 260 214 Lippuner, 1977: 159 215 Eine Ausnahme dieser Beobachtung bilden die Bilder “Spieldose”, “Einsame Orte”, “Ganesha” und “Höllensturz”. 216 Lippuner, 1977: 159 213 74 durch sie hindurch, man erahnt gleichsam die Geheimnisse ihres Daseins. Ihre Existenz wird aus dem weltlichen Bereich ins Traumhafte gerückt. 4.3.2.2 Der Traum im Text Rhein merkt zu Recht an, dass Kubin in der Anderen Seite weniger den Inhalt des Traums als den Traum selbst hervorheben will.217 Kubin hat auf verschiedene Weisen diese Thematik unterstrichen. Bevor dem Künstler den Zugang zum Traumreich gestattet wird, soll er seine Fotokamera samt Fernrohr abgeben. Auf der Erzählebene selbst wird diese Anweisung durch die Vorschrift erklärt, dass moderne Geräte im Traumreich unerwünscht seien. Geht man von der These Rheins aus, die Reise ins Traumreich sei immer ein Traum gewesen, so öffnet sich noch eine zweite Deutung. Mit Rücksicht auf die geistige Erfahrungsebene des Traums erscheinen Fotokamera und Fernrohr als Geräte, die durchaus zum Bereich der materiellen Realität gehören. Dass gerade der Besitz solcher Instrumente im Traumreich nicht erlaubt ist, könnte darauf hinweisen, dass die bevorstehenden Erfahrungen sich nur im Geist erfassen lassen.218 Ähnlich sinnbildlich wirkt der Tunnel, der zum Tor des Traumreichs führt und die Außenwelt also endgültig vom Traumreich abschließt. Sowohl der Erzähler als seine Frau machen eine unheimliche Erfahrung. Der Künstler berichtet, es soll ihm “wie auf einem Schlag ein ganz unbekanntes, gräßlichea Gefühl” überkommen sein, während seine Frau “leichenblaß” geworden ist, und mit “Todesangst” im Antlitz ihrem Gatte zuflüstert: “Nie mehr komme ich da heraus” (42). Anders als im bildkünstlerischen Frühwerk, wo das Groteske allgegenwärtig ist und die Darstellung von der Phantasie bestimmt wird, stehen in der Anderen Seite das Alltägliche und das Phantastische in ständiger Wechselwirkung mit einander. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang erscheint die Bemerkung Hewigs: Die unerschöpfliche Fülle der Phantasie erfuhr er nicht nur im Traum, in der Tagträumerei und in der Vision, die macht des Imaginativen erstreckte sich für ihn auch auf den Bereich des Alltäglichen, den er bewusst oder unbewusst mit ihrer Magie auflud. […] So konstituiert sich eine Welt, die eine Unterscheidung zwischen “Throughout the novel, it is the dream itself that Kubin wishes to emphasize rather than the narration of a particular dream’s content.” Rhein, 1988: 97 218 Ebd. 217 75 Fiktion und Realität nicht zulässt, da die mittels der Imagination geschaffene Überwirklichkeit die Realität überwächst und aus ihrer beiden Verbindung die eigentliche, unzerlegbare kubinsche Wirklichkeit entspringt. Das ist Die andere Seite.219 “Alle Dinge und Figuren des Traumreichs” notiert Kubin in seinem Tagebuch “sind vielfältige Ausstrahlungen der ‘Traumkraft’.220 Wie Kubin im Roman die Grenze zwischen der Wirklichkeit und der Überwirklichkeit aufgehoben hat, erweist sich schon früh nach der Ankunft des Künstlers. Im Gegensatz zu den äußeren Bedingungen, die den Eindruck erwecken, “hier sei alles wie daheim”, ist der innere Vorstellungsbereich der Träumer mit dem irrationalen Element des Traumeigentümlichen durchsetzt. Im Traumreich “[…] waren Einbildungen einfach Realitäten.” (63) An dieser Stelle kommt ein typischer Zug Kubins Schaffen zum Ausdruck, “das Gewohnte, die alltägliche Realität, in den Bereich des Ungewohnten, aber eigentlich Wirklichen zu verwandeln und unter der scheinbar fest gefügten Oberfläche das widersprüchlich Wirkende selbst durchsichtig zu lassen.”221 Ein weiteres Beispiel der Überlagerung von Traum und Realität ist die Geldwirtschaft, die man nur als einen “symbolischen” Brauch angenommen hat. Die Grundlage des Handels im Traumland, so berichtet der Erzähler, ist “Mundwerk: […] Dem Gegner etwas vorzutäuschen, das war der Witz.” (61) Wie der Traum von der Unbeständigkeit seiner ablaufenden Bilder geprägt wird, die nach ihren jähen Erscheinung schon gleich wie Sand zerrinnen, dann in rasantem Tempo von wieder neuen Bildern abgelöst werden, so werden auf ähnliche Weise die Einwohner des Traumlandes von ständig neuen, der Einbildungskraft entsprungenen Entwicklungen überrascht. Wer sich beispielsweise erstens noch des Wohlstandes erfreuen kann, braucht sich nicht zu wundern, wenn ihm das nächste Moment alles Geld von einer namenlosen Macht abhanden genommen ist, denn “das Traumschicksal war erbarmungslos: der zusammengerafften Reichtum zerran im Handumdrehen.” (62f.) Die Gesetze der Imagination gelten vor denen der Realität, ja, die Imagination ist Realität. Wiewohl die Traumleute alle einer Suggestion unterliegen, von der auch der Künstler nicht erspart bleibt, bewahrt die “verborgene Kraft” Patera seinen Untertanen vor 219 Ebd., 94 TB 14. (9.39) Zit. nach derselb, ebd. 221 Hewig, 1967: 114 220 76 einem Chaos: “Eine ungeheuerliche, bis ins Verborgene dringende Gerechtigkeit, glich es wieder aus.” (62). Jeder unterliegt dem Bann des Traums. Seine Omnipräsenz bekundet der Herrscher dem Künstler mit der Versicherung “und doch war ich immer bei dir.” (120) Dementsprechend will es die Logik des Traumreichs, dass die Traumländer auch die Missgeschicke ihres Herrschers teilen. Zunächst ist da der periodisch wiederkehrende Klaps. Nach Ansicht der Traumländer eine Mahnung und Strafe “für das innerliche Auflehnen gegen das Unabänderliche”, dem Künstler zufolge ein epileptischer Anfall Pateras. Festzuhalten bleibt, dass im Klaps “das wahre innere Verhältnis im Äußeren sichtbar wird”222 Der Erzähler beschreibt, wie “Menschen und Tiere einen Moment steif wie Holz” werden und wenn der Anfall vorüber ist, “alles wieder seinen Gang” (122) ging. Während dem Klaps erscheint dem Erzähler das “weiße, abgemarte Pferd” (97) (Bild 11), dessen plötzliche Auftreten unerklärt bleibt. Die Beschreibung seiner Erscheinung lässt ihn durchaus als ein Wesen aus dem Bereich des Phantastischen erscheinen: Die große Mähre war fast verhungert und schleuderte mit verzweifelter Kraft ihre riesige Hufe. Den knochigen Schädel weit vorgestreckt, die Ohren rückwärts angelegt, so jagte dieses Tier an mir vorüber. Sein trübes glanzloses Auge traf mich – es war blind. Ich hörte das Knirschen seiner Zähne, und als ich ihm aufschaudern nachblicke, sah ich sein zerschundenes, blutiges Hinterteil glänzen. Der rasende Galopp dieses lebenden Skeletts kannte kein Einhalten. (98f.) Längst vor die Tierinvasion, die den Untergang des Traumreichs einleitet, hereinbricht, ist das Animalische schon mit den Geheimnissen Pateras verknüpft. Das “große Rätsel” des Klapses lernt der Erzähler in Gestalt des weißen Pferdes kennen, dem er in einem unterirdischen Gang begegnet223. Schroeder zieht eine Verbindung vom tatsächlichen Untergang Perles zum Pferdeauftritt: das “Donnern” (229), welches das Ende besiegelt, hat seine Entsprechung im “furchtbaren, taktmäßigem Dröhnen” (98), das als Geräusch des Galopps das Schlussbild von den apokalyptischen Reitern vorwegnimmt. Somit scheinen diese von Anfang an wesenhaft zum Traumreich zu 222 Ebd., 128 In der Endphase des Untergangs enthüllt sich der Gang als unterirdisches Labyrinth, auf dem Perle erbaut wurde (256). 223 77 gehören. Anmerkungsweise wird allerdings noch festgehalten, das wildgewordene Pferd kehre in Kubins zeichnerischem Werk wieder.224 Die Assoziation des Pferdes mit den Bereichen des Todes und des Unheimlichen verweist in der Tat auf ein im Werk Kubins wiederkehrendes Motivkomplex. Ein nicht unbeachtlicher Teil der frühen Blättern hat Kubin das Pferd, meist als furchtbare Erscheinung in entsprechend dramatischer Szenerie, dargestellt.225 Im Blatt “Aus einem Traum” (1903/05) galoppiert ein Schimmel einen dunklen, eingewölbten Gang mit Pflasterboden entlang, sein Fell spannt sich knapp über die hervortretenden Rippen und auch die Kruppe wirkt knochig. Lippuner stellt richtig fest, dass “[…] die Kopfhaltung, die zurückgelegten Ohren und das große, wie blind anmutende Auge […] fast genau der Illustration in der Anderen Seite entsprechen.226. Kubin führt seine Faszination mit aufjagenden Pferden auf eine Jugenderinnerung zurück, die er als Anekdote in “Angst und Bangigkeit” erläutert.227 Es sei nochmals daran zu erinnern, dass Bell auf einem schwarzen Hengst reitet – wie erörtert ein Attribut, das ihm in die Nähe des Teufels rückt. Ein weiterer Hinweis, der für diese Annahme spricht, ist das Blatt “Der Teufel als Hengst” (1913), das Kubin etliche Jahre nach der Veröffentlichung der Anderen Seite angefertigt hat. Wenn schon der Titel vielsagend ist, trägt dieses Pferd überdies noch ein schwarzes Fell. Folgerichtig ist das weiße Pferd dem Bereich Pateras zuzuteilen: der Klaps, mit dem es gleichzeitig erscheint, ist ja das “innere Gesetz des Traumreichs und als Gegenwelt 224 Schroeder, 1970: 89f. u. Anm. 54. In der Zeichnung Hungersnot (1901/02) (Bild 12) hat Kubin Leben und Tod einheitlich zum Ausdruck Ausdruck gebracht, indem ein enthaupteter Reiter seinem Pferd (hinten Skelett, vorn Apfelschimmel) den Kopf auf einer vorgestreckten Lans vorhält, dem es in tobsüchtigem Galopp hinterherrrennt. Treffend sind die physiologischen und perspektivischen Ähnlichkeiten zwischen dem weißen Pferd der Anderen Seite und dem Pferd der Hungernot-Darstellung. Dem “Hungersnot”-Bild hinzuzufügen sind beispielsweise “Vor den Stufen” (1900-1903), “Totenbraut”, (um 1900), Pferdebastard (1900-1903,) “Adoration” (um 1900), “Schlächter” (1897), “Das heilige Aas” (1903), Hungersnot (1901/02) zu erwähnen. 226 Lippuner, 1977: 107 227 “Als kleiner Junge spielte ich in unserem Dorfe auf der Straße. Auf einmal hörte ich ein Getümel und Rufen: ein Pferd hatte sich frei gemacht und galoppierte die Straße herauf. Mich erfasste ein unsagbare Angst vor dem heranstürmenden großen Tier, ich wollte in ein Haus flüchten, war aber zu klein, um den Türgriff zu erreichen. Im Augenblick der größten Qual ging das Haustor wie durch ein Wunder von selbst ein wenig auf, ich zwängte mich durch den Spalt und schlug es hinter mir wieder zu; da hörte ich von meinem Versteck aus schon die scharfen Schläge der Hufe des herantobenden Pferdes. Seither – es sind mehr als 45 Jahre vergangen -, erfasst mich jedesmal eine Angst und rätselhafte Bangigkeit, wenn ich ein scheues Pferd in meiner Näher bemerke. Auch treibt es mich immer wieder, solche Vorgänge künstlerisch zu gestalten.” Kubin, A. “Angst und Bangigkeit”. In: AmW, 27. In einem späteren Werk “Der Gaulschreck” (1920) hat Kubin das Pferdemotiv in ähnlichem Zusammenhang nochmals aufgegriffen: ein Mann flieht vor einem herantobenden Pferd, das ihn ohnehin bald niedertreten wird. Noch in den späten dreißiger Jahre soll Kubin auf die Errinerung zurückgreifen, so etwa in “Erregte Pferde” (1935/40). 225 78 zum Rationalen mit ihm gekoppelt”.228 Es ist nicht ohne Grund, dass gerade wenn das Traumreich der Schlafepidemie verfallen ist, das Pferd noch einmal in Erscheinung tritt. Der Traumzustand ist an diesem Punkt in eine eigentliche “Bewusstlosigkeit” weitergeführt. Doch auch im Traumreich bleiben dem Erzähler im Wachzustand die Bilders des Unterbewusstseins verschlüsselt. Wie in der Normalwelt verschafft ihm erst der Traum diesen Zugang. Im Abschnitt “Der Verwirrung des Traums” greift Kubin tatsächlich auf dieses “Chinese Box”-Verfahren zurück. Brandstetter ist durchaus Beifall zu zollen, wenn sie diesen Traum als einen “Kernstück der Anderen Seite” betrachtet, der “die bildnerisch-phantastische Traum-Motivik mit Formen der Traum-Komposition in einer Kristallisation aller von Kubin eingesetzten Mittel” vereinigt. Überdies tritt in diesem Abschnitt der Zeichner Kubin am meist zu Tage: die Schilderung der grotesken Szenerie des Traumerlebens entspricht der Thematik einer großen Menge Zeichnungen aus dem graphischen Oeuvre. Es scheint angebracht, den Traum näher zu beleuchten. 4.3.3 “Die Verwirrung des Traums”: Ein Traum im Traum Wie Traum und Realität im Traumreich unterschiedslos ineinandergehen zeigt der anschauliche beschriebene Abschnitt “Die Verwirrung des Traums” (149-153), wo die Traumebene gleichsam potenziert wird. Protokolliert wird hier nämlich ein “Traum im Traum”, dem der Erzähler eine Illustration beigefügt hat. Dieser Nachttraum des Erzählers ist von der rationalen Kontrolle befreit, die ansonsten schon im Interesse einer zusammenhängenden Erzählung gefordert ist. Da die kausalen Gesetze im Traum ausgeschaltet sind, gestaltet sich der Ablauf des Geschehens alogisch und traumeigentümlich. Im Traumzustand spitzt sich das einzigartige Vermögen der “schöpferischen Einbildungskraft” zu: vom kontrollierenden Intellekt gelöst, hat die Phantasie hat freies Spiel. Obwohl Kubin sich in der Beschreibung des Traums nicht für eine metaphorische Sprechweise entscheidet, entbehr seine Sprache keineswegs verdichtender Bildkraft. Brandstetter bemerkt, dass Kubins erzählerischer Darstellungsstil nichts von 228 Lippuner, 1977: 108 79 Symbolhaftigkeit an sich trägt: “gerade da, wo sie am plastischsten und bildgesättigsten ist, verweist seine Sprache auf sich selbst.”229: Endlich fiel er wie vom Schlage getroffen zu Boden, erblasste, sein Leib wurde licht und durchsichtig, und man sah deutlich in seinen Eingeweiden zwei kleinen Eisenbahnzüge herumsausen. (150) Das scheinbar so selbstverständliche und deckungsgleiche Zusammenfallen von Zeichen und Bezeichnetem ist es gerade, was seiner Traumdarstellung den phantastischen Charakter Zuordnungssicherheit, die gibt. Mit der konventionalisierten Begriffs- und normalerweise für die Kommunikationsformen dergeordneten Alltagsrealität des Leser charakteristisch ist, benennt Kubin in seinen Traum-Passagen vollkommen Unwahrscheinliches, Unerwartetes und Unvorhersehbares. Dadurch bricht der Kontrast zwischen Traum- und Wach-Realität um so befremdlicher auf und bewirkt eine doppelte Irritation: erstens durch die dargestellten, rätselhaft-undurchsichtigen Vorgänge selbst, und zweitens durch die sprachliche Gleichsetzung bzw. Gleichbehandlung von selbstverständlicher AlltagsWirklichkeit mit der Gegenwelt des Traums.230 Im vorangehenden Abschnitt “Die Klärung der Erkenntnis” legte der Erzähler die Philosophie der Blauäugigen dar. Noch von den Geschehnissen dieses Tages tief beeindruckt, schläft er “mit großen Gedanken ein.” (149) Doch der Traum, der ihn diese Nacht überfällt, kennzeichnet er als “weniger großartig”: nur “seiner Sonderbarkeit wegen” möchte der Künstler ihn erzählen. Betrachtet man jedoch die Zeichnung so erscheint diese Auskunft in einem auffallenden Gegensatz zur minuziösen Schilderung und der Stellung im Gesamtgefüge des Romans. Das Kapitel “Die Verwirrung des Traums” markiert nicht nur den Übergang zum zweiten Hauptteil (“Der Untergang des Traumreichs”); Schroeder hat darauf hingewiesen, dass auch die dazugehörige Illustration einen auffällig zentralen Platz einnimt.231 In der Tat ist sie die sechsundzwanzigste Illustration von insgesamt einundfünfzig und so trifft der Anspruch Brandstetters auch auf einer formalen Ebene zu, der Abschnitt als 229 Brandstetter, G. 1980: 261 Ebd. 231 Schroeder, 1970: 110. Anm. 20. 230 80 einen Kernpunkt zu betrachten. Die Zeichnung gehen nämlich fünfundzwanzig Bilder in den ersten sechs Kapiteln voraus, ebensoviele folgen in den letzten sechs Kapiteln. Um die Eigenständigkeit von Kubins sprachlicher Traum-Phantastik und ihr Zusammenspiel mit dem (gezeichneten) Bild zu erkennen ist es lohnenswert, Kubins Illustration dieses Traumes heranzuziehen (Bild 13). Allerdings sei zunächst anzumerken, dass mit Rücksicht auf die Stelle im Roman, die Kubin dem Traumprotokoll zugewiesen hat, den Versuch, wie etwa dies Lippuner vorschlägt, den Inhalt in einen größeren bildkünstlerischen Rahmen einzuordnen, nicht genügt. Zwar hat Kubin in der Illustration verschiedene Motive verarbeitet, die im Frühwerk schon nachweisbar sind. Dies allein rechtfertigt jedoch noch nicht die weitgehende Relativierung, das ganze Bild etwa als eine bloße Kompilation zu betrachten. Abgesehen von der Einmaligkeit der vorliegenden Bildkomposition (die Wiederaufnahme verschiedenster Motive in einen neuen Zusammenhang fordert eine neue Betrachtung) ist noch der kontextuelle Faktor zu berücksichtigen: eine Illustration stellt ja in erster Linie eine bildliche Erläuterung zum Text dar. Es empfiehlt sich also vielmehr von einer Modifikation, als von einer Wiederholung der Motive zu sprechen. Diese Überlegungen möchten wir jedoch erst an späterer Stelle anstellen. Im Hinblick auf das Thema dieses Kapitels, scheint es mir angemessen, für die Analyse des Traumsprotokolls die Aufmerksamkeit namentlich auf den Traum selbst zu richten. Dieser Anforderung gerecht zu werden, schlagen wir einen psychoanalytischen Eingang vor. Keineswegs ist es aber die Absicht, eine durchgängige Analyse auf Freudscher Grundlage durchzuführen. Schon Karl Jaspers wies auf die Gefahr tiefenpsychologische Ausdeutungen hin, die er als “immer stärker werdenden Zug innerhalb der psychoanalytischen Bewegung” aufzeigt: “Es wird verwechselt das Sinnverstehen mit dem kausalen Erklären.” Außerdem eignet sich der Abschnitt schon dem Umfang wegen nicht für eine Analyse. Würde man den Anweisungen Freuds Folge leisten, so bedürfte eine Analyse im Vergleich zum Traumprotokoll das “sechs-,acht-, zwölffache an Schriftraum.”232 232 Freud, S. Die Traumdeutung. Frankfurt a. M, 1991: 285. Zit. nach Geyer, 1995: 122 81 Der Schauplatz des Traumes ist der Vorplatz, nach dem der Erzähler sich aus einer erhabenen Sicht blicken sieht. Betrachtet man aber die Zeichnung, so stellt sich heraus, dass diese nicht der Schilderung entspricht, so wie sie vorher gegeben wurde. Das “Gewirr von Brücken, Türmen, Windmühlen, Bergzacken” weist nur wenig Gemeinsamkeiten mit dem “kleinen Dörfchen” (143) von vorhin auf. Prägen sich die “hochwachsene, sehnige” Blauäugigen durch eine erhabene Serenität aus, so bewegen sich die “große und kleine, dicke und dunne” Bewohner dieser Stadt recht hektisch “in einem Gewirr”. (149). Allerdings gehören diese Unterschiede zur Eigenart des Traumes, Erlebnisse des Wachlebens gleichsam “Tagesreste” darzustellen. Nach Freud sei “in jedem Traum eine Anknüpfung an die Erlebnisse des letztabgelaufenen Tages aufzufinden.”233 Der unbewusste Wunsch bahnt sich tags oder im Schlaf einen Weg zu den Tagesresten, auf die übertragen wird: “Es entsteht nun ein auf das recente Material übertragener Wunsch, oder der unterdrückte recente Wunsch hat sich durch Verstärkung aus dem Unterbewussten neu belebt.” Als “Tagesreste” erscheinen im Traum neben den Blauäugigen auch der Müller und ein Schimpanse. Überaus traumhaft ist weiterhin die passive Position des Erzählers zu, aus der er die Bilderflut des Traum-Geschehens beobachtend registriert. (in der Zeichnung in der rechtunteren Ecke). Die Gegenwart des Müllers, dem der Erzähler des Brudermordes verdächtigt, könnte darauf hindeuten, dass es sich hier um einen Angsttraum234 handelt. Während er im vorangehenden Kapitel nur eine Verdacht hegt, erweist sich diese nunmehr als Gewissheit, indem er eine Geständnis ablegt: “ich habe ihn umgebracht.” Wie im Traum werden Zeit- und Raumdimensionen ihrer unumstößlichen, wirklichkeitskonstituierenden Funktion beraubt. Denn der Versuch des Müllers, den Künstler ins Wasser zu werfen, kann von jener gerade noch abgewehrt werden, indem er “sein linkes Bein […] in die Länge zieht” und so mühelos den anderen Ufer erreichen kann. Nach Freud ignoriert das Unbewusste die Größenunterschiede ignoriert. Im Traum kann das Kleine zu etwas Großem wachsen oder das Ferne plötzlich ganz nah erscheinen – und umgekehrt. Durch das Unbewusste ignoriert werden überdies die Zeitunterschiede. Ereignisse, die zu verschiedenen Zeiten stattfanden, können im Traum also nebeneinander 233 Freud, 2005: 176 Freud lenkt in der “Traumdeutung” die Aufmerksamkeit besonders auf jenen Typus von Angstträumen. Vgl. ebd., 337ff. 234 82 vorkommen. Nicht zufällig hat Kubin diese Gegebenheit, das heißt, die eigentümliche Empfindung der Traum-Zeit in wörtlichem Sinne bildlich dargestellt: Und nun hörte ich um mich herum ein vielfaches Ticket und gewahrte eine Menge flacher Uhren der verschiedensten Größen, von der Turmuhr bis zur Küchenuhr und der kleinsten Taschenuhr hinab. Sie hatten kurze Stummelbeine und krochen wie Schildkröten unter aufgeregtem Ticken durcheinander auf der Wiese umher. (149) Die verselbständigenden Uhren veranschaulichen ein in den Traum potenzierter “Tagesrest” aus dem Alltagsleben des Erzählers. Sie verweisen auf den “großen Uhrbann”, dessen bisher ungeklärtes Geheimnis der Künstler im Unbewussten heimsucht. Als Tagesrest dürfte auch der Schimpansee auf den Alltag zurückzuführen sein, und zwar auf den Affen des Friseurs “Giovanni”, den sein Herr die Kunst des Schneidens beigebracht hat. (68) Aufschlussreich im Kontext zum Traum ist die Darstellung verschiedenster Tiere in der Illustration. Hier wird ein weiteres Merkmal des “Traum im Traums” deutlich, auf weiteren Stellen im Roman voraus und zurück zu verweisen. Wie die Uhren als “Tagesrest” auf den Uhrbann verweisen, deuten die Tiere auf den weiteren Verlauf der Erzählung voraus, nämlich die Tierinvasion im dritten Teil. Eine besonders umfassende Kompositionslinie vom abgeschlossenen Traumprotokoll zum ganzen Roman-Komplex besteht im Prinzip der Verwandlung, dem im Traumreich alles unterliegt. Nicht nur in der Geldwirtschaft, im Besitz, in den Gegenständen, sondern selbst im unfassbaren Geschöpf Patera kommt die ständige Metamorphose zum Ausdruck, wenn dieser in den Amerikaner verwandelt. Das Prinzip ist nicht nur kennzeichnend für die Empfindung im Traum; es geht überdies auf die kurz vorher erworbene Erkenntnis des Erzählers zurück, dass alles im Traumreich durch ein gemeinsames Band verknüpft und gegenseitig austauschbar ist. 4.3.3.1 Verdrängung: Sexualsymbolik im “Traumprotokoll” In der “Traumdeutung” behauptet Freud, alle Träume seien Wunschträume, die Angstträume nicht ausgenommen: “Das sein psychischer Vorgang, der Angst entwickelt, darum doch eine Wunscherfüllung sein kann, enthält für uns keinen 83 Widerspruch […]”.235 Tatsächlich finden sich im Traum verschiedene Sexualsymbole. Wie erwähnt besteht die Landschaft aus ein “Gewirr von Brücken, Türmen, Windmühlen, Bergzacken”. Bei dieser Betrachtung drängt sich die Freudsche Erklärung auf, dass “viele Landschaften der Träume, besonders solche mit Brücken oder bewaldeten Bergen unschwer als Genitalbeschreibungen zu erkennen” seien.236 Als auffälligste und unmittelbar entschlüsselbare Genitalbeschreibungen sind die “apfelgrüne[n] Strünke”, die “wie Riesenspargel dichtgedrängt aus dem feuchten Boden sprossen” (150) und die “kolossale Muschel” (153) zu erkennen. Brandstetter behauptet, der Riesenspargelzaun sei als Pendant zu einer früher dargestellten phallischen Landschaft der morchelartigen Pilze in den verrufenen Sümpfen (81) (Bild 14) und zu den “heiligen” Gegenständen der sonderbaren (Fruchtbarkeits)Religionen des Traumreiches zu betrachten, in der “Haare, Horn, Tannenzapfen, Pilze, Heu” (80) verehrt werden; nicht zufällig phallische Symbole, wie sie als Bildmotive schon bei Bosch und Brueghel und später bei Felicien Rops237 Verwendung fanden.238 Die Entsprechung zu den phallischen Gebilden gibt die Illustration des “Tempels” (Bild 15), dessen Tor ein Vagina-Symbol und der Eingang zu “Mysterien”, in denen die “Organe der Fruchtbarkeit” die zentrale Rolles pielen, ist. An dieser Stelle erscheint erstmals das Zwitter-Motiv, denn der Kult muss folgerichtig als eine zweigeschlechtlicher verstanden werden. Im Endkampf wird die Bahnsensche Aussage, nach der der “Demiurg” ein “Zwitter” ist, auch buchstäblich vor Augen geführt.239 Als sexuell konnotiert erweist sich der Sumpf überdies wenn man die Blätter “Sumpf” (1900) “Urschlamm” (1904) ( Bild 16) und “Sumpfplanzen” (um 1905) (Bild 18) und heranzieht: ersteres zeigt eine nackte Frau in der Gestaltungsweise primitiver Ebd., 343. Freud erläutert: “Eine Wunscherfüllung müsste gewiss Lust bringen, aber es fragt sich auch, wem? Natürlich dem, der den Wunsch hat. Vom Träumer ist uns aber bekannt, dass er zu seinen Wünschen ein ganz besonderes Verhältnis unterhält. Er verwirft sie, zensuriert sie, kurz, er mag sie nicht. Eine Erfüllung derselben kann ihm also keine Lust bringen, sondern nur das Gegenteil davon. Die Erfahrung zeigt dann, daß dieses Gegenteil, was noch zu erklären ist, in der Form der Angst auftritt.” Freud, 2005: 344 236 Ebd., 358 237 Félicien Rops (1833-1898) war ein Belgischer Graphiker und Maler. Zeit seines Lebens hat Rops zahlreiche (anstößige) radierungen für Titelblätter und Buchillustrationen geschafft. In seinen Radierfolgen verbinden sich Sexualität und Mystik zu einem theatralen, dem Satanismus huldigenden Symbolismus. Brockhaus Enzyklopädie, 1986. 18. Bd.: Rad-Rus: 554 238 Zur Symbolverklärung vgl. Schlégl, M; Cinotti, I. Das Gesamtwerk von Hieronymus Bosch. Mailand 1966: 118f. Zit. Nach Lippuner, 1977: 66 239 “Patera und der Amerikaner verkrallten sich zu einer unförmigen Masse, der Amerikaner war gänzlich in Patera hineingewachsen.” (263) 235 84 Kulturen240, zweiteres eine im Sumpf liegende, ebenfalls nackte Frau, aus deren Körper exotische Pflanze wachsen. Das frühe Blatt “Naturgeschichte” (vor 1900) (Bild 19) zeigt eine sumpfige Dschungellandschaft, dessen Vordergrund von einem Tiger eingenommen wird, der sich über eine nackte Frauenleiche – wohl sein Opfer – biegt.241 Wie im zeichnerischen Werk ist der Sumpf in der Anderen Seite die Heimstätte des Urzustandes, die Antithese zum zivilisierten bzw. städtischen Leben, oder, so man will, das dionysische Prinzip des Irrationellen bzw Rauschhaften gegenüber dem apollinische Prinzip der Ordnung.242 Wenn der Erzähler und seine Frau auf ärztliche Verordnung zur Erholung der letzeren einen Ausflug aufs Land machen, die Frau sodann starkes Fieber bekommt und das Paar zur Zurückreise entschließt, gerät es in einem Sumpf: “Ein Huschen und Rascheln hub an, die Dämonen des Sumpfes regten sich. Meine Frau litt unter Schüttelfrösten und presste sich eng an mich.” (116). Als es nach der Ankunft in der Stadt heißt: “ich wusste jetzt, dass ich eine Todkranke heimbrachte” und die Frau kurz daraufhin auch tatsächlich sterbt, überschneiden sich Tod und Sumpf-Bild in einer unheimlichen Bedeutung. Zu betonen sei hier allerdings, dass der Sumpf nicht nur außerhalb der Stadt liegt, sondern im Grunde das ganze Traumreich ein Sumpf ist: Patera hat sein Reich ja in einem Sumpfgebiet das Traumreich angelegt (52). Analog zum Verfall der Sitten, der die Menschen in einen urwüchsigen Zustand versetzt, verwandelt Perle während dem Untergang in einen Sumpf: Die unzähligen Geschöpfe, welche Perle durchwandert, die Gärten verwüstet und die Menschen geängstigt hatten, alle stammten sie aus dem Sumpfe, der sich viele Meile ins graue Dunkel erstreckte. (241) 240 Die Frau hat einen im Verhältnis zu ihrem Kopf riesigen Körper, der nach oben ausgedehnt ist. Die Haare sind gleichsam um den Körper drapiert und reichen bis über die breiten Hüfte. 241 Es sei darauf hingewiesen, dass die Reihe der Illustrationen des Romans (das Selbstporträt ausgenommen) mit der Tigerdarstellung anfängt. (Bild 17) In der Lebensgeschichte Pateras führt eine Tigerjagd und eine aus ihr hervorgehenden Verletzung unmittelbar zur Gründung des Traumreichs. Während der Untergangsskatastrophe wiederholt sich diese Geschichte, indem ein Tiger sein (weibliches) Opfer nur leicht verletzt (194f.). In der Tat liegt der Verdacht nahe, dass der Tiger eine andere Gestalt Pateras ist. Der Herrscher selbst wird jedenfalls an mehreren Stellen als Raubkatze personifiziert; in seinem Palast gebe es überdies einen “riesigen Tiger.” Das Symbol des Tigers als die Personifikation der Macht im Werk Kubins ist allerdings nicht neu. In “Der Herr der Erde” (um 1900) lagert auf einem großen Kissen ein Tiger, der von turbantragenden Diernen umgeben ist. Seine Gefärlichkeit wird durch zwei mit den Köpfen seiner Opfer bedeckte Tabletts betont. 242 Damit eröffnet sich eine bemerkenswerte Parallele zu Thomas Manns Novelle Tod in Venedig: auch Mann bringt das Bild des Sumpfes in einem dionysischen Zusammenhang. Wie die verhängnisvolle Reiselust des Protagonisten mit der Vision eines Sumpfes einhergeht, so soll auch die fatale Seuche “aus warmen Morästen” erzeugt sein. 85 Gerade in einem Sumpfgebiet hat Patera das Traumreich angelegt (52). Analog zum Verfall der Sitten verwandelt Perle während dem Untergang in einem Sumpf, (241) in dem “unzählige Träumer, Bauern, Fischern” ihr Ende finden. (Ebd.) Dass “diese Wildnis” im Traumland dennoch “für heilig” (Ebd.) gilt, lässt sich aus dem vorher erwähnten, heidnischen Kultus erklären: Wie ich erfahren habe, opferte er [Patera, RB] im Namen des Traumvolkes “der Sumpfmutter”243 – und verband sich aufs neue mit ihr - in Mysterien, in denen Blut und Geschlecht besonders bedeutsam waren. (Ebd.) Wiederum stehen die Begriffe “Sumpf” und “Sexualität”, in Gestalt einer Art “Urmutter” konkretisiert, in unmittelbarer Beziehung zueinander. Es wundert nicht, dass der Stamm der Blauäugigen – trotz ihrer Nähe zu Patera – “von all diesen Bräuchen fern blieb” (242): ihre aufgeklärte Kultur ist dem Stadium des Geschlechtstrieb und deren Verehrung längst entwachsen. Die Nachforschungen des Erzählers über die Hintergründe des Fruchtbarkeitskultus bleiben allerdings vergeblich – gerade an solche unerledigte Fragen aber knüpft der Traum an.244 Eindrucksvolle, im Wachleben erschauten Bilder beschwört der Geist im Traum wieder herauf. Assozationen mit dem Phallischen und Vaginalen die im Bewusstsein verdrängt werden, können sich im Traum ungehemmt weiterentwickeln. Abgesehen von dieser Wiederaufnahme deutet nach Freud die Uhr auch als ein Symbol für das weibliche Genital.245 Freud zufolge gehört der Angsttraum zu jenem Typus von Träumen, “die mitten im Schlaf zu wecken vermögen.”246 Das letzte Bild, das der Künstler vor seinem Erwachen sieht, ist eine “kolossale Muschel”: “Da, ein neues Unheil! Die Muschel öffnete sich schwerfällig, mein Standort wurde abschüssig, in ihrem Innern zitterten gelatineartige Massen ------- ich erwachte.- (153) Kubin gestaltet das Thema noch einmal in der “Sumpfmutter” (1922). Im Kapitel „Das Traummaterial und die Traumquellen“ äußert Freud die These, dass rezente Eindrücke (d. h. kürzlich, im Laufe des Vortages gewonnene) gegenüber indifferenten (d. h. unbestimmten, nicht mit einem expliziten, kurz zuvor aufgetretenen Ereignis) in der Traumbildung deutlich überwiegen. Vgl. Freud, 2005: 112-189. 245 Vgl. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt a.M., 1991: 255. Zit. nach Geyer, 1995: 126. Folgt man der Interpretation Müller-Thalheims, so spielt der große Uhrbann an und für sich als Allegorie einer Latrine schon auf die freudschen Themen der “analen Phase” und der Verdrängung an. Vgl. Müller-Thalheims, 1970: 39f. 246 Freud, 2005: 340 243 244 86 Wenn schon die Muschel unschwer als eine Anspielung auf das weibliche Geschlecht zu erkennen ist, so muss sie im Riesenumfang eine für den Erzähler um so größere Bedeutung haben. Erinnern wir uns an die kurze Liaison mit Melitta Lampenbogen, mit der sich der Erzähler unmittelbar nach dem Tod seiner Frau einließ. Offenkundig spiegelt sich im Traum das Schuldbewusstsein des Künstlers, sich einem spontanen Trieb hingegeben zu haben. Späterhin bekennt er, den Fehltritt zu bereuen und “die Last des lebendigen Fleisches” besonders stark zu spüren: “Selbst in dieser Stunde neckten mich zwischendurch laszive Gedanken, welche gleich Blasen in mir aufstiegen und zerplatzten.” In der Übermittlung dieser Affäre nämlich bezieht sich der Erzähler wörtlich auf das “Pendelgesetz”, und zwar in Zusammenhang mit seinem Schicksalsdenken. Überdies gibt er nähere Auskunften über die Art seiner Handlung. Nach den jüngsten Geschehnissen ist der Erzähler “ohnmächtig und verzweifelt”: “an der Oberfläche meines Bewusstseins war ich empört über mich selbst.” Der österreichische Psychologe Viktor Frankl247 meint, dass der Wille zur Lust erst Raum gewinnen würde, wenn der Wille zum Sinn früstriert sei: “In das existentielle Vakuum, in diese Sinnleere wuchert das Libido hinein”. Der ‘Wille zur Lust’ tritt “eigentlich erst dann in Erscheinung, wenn der Wille zum Sinn früstriert ist.” Dementsprechend erklärt sich der durchaus unvorhergesene Entschluss aus dem traumatischen Verlust seiner Frau, das den Künstler momentan um seine Vernunft gebracht hat. Der Impuls aber soll “irgendwo im Tiefe”, wohl dem Unterbewusstsein, angesetzt haben. Handelt er etwa in einem Anfalls von Geistesverwirrung? Allerdings ist der Künstler sich bewusst, dass sich hier höhere Macht regen: “[…] blitzartig wandelte sich jetzt alles, allen in einem gesammelten, starren, einheitlichen Willen: so wurde es irgendwo bestimmt. (132) Einen wesentlichen Einfluss auf die Art von des Traumes können nach Freud auch somatische, das heißt, körperliche Reize haben. In Anbetracht dessen würde es nicht wundern, wenn sich im Traum des Erzählers die Kopulation wiederholt.248 Zwar 247 Viktor Frankl, 1905-1997. Österreichischer Neurologe und Psychiater. Er begründete die Logotherapie bzw. Existenzanalyse („Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“). 248 Die Liebelei mit Melitta wird weitergefürht. Durch versteckte Hinweise vermag der Künstler sie letztendlich zum Liebesakt zu verführen, der allerdungs nur implizit vorliegt: “Ich spürte den 87 widerspricht dem die freudsche These, dass der Traum im Grunde eine Wunscherfüllung sei – einmal befriedigt braucht sie nicht mehr unterdrückt bzw. heimlich verlangt zu werden -andererseits erhält sich unterbewusst der Biss ins Gewissen. Schon Melitta Lampenbogen selbst ist eine recht markante Persönlichkeit, in der das Frauenbild Alfred Kubins gleichsam verdichtet wird. Eine nähere Betrachtung des Frühwerks ergibt, dass Frauenfiguren durchgehend mit einer bedrohlichen Sexualität behaftet sind. Zu Recht konstatiert Neuhäuser, dass Melitta “die Verlockung einer unterdrückten Sexualität [verkörpert], die, eben weil sie unterdrückt ist, so mächtig wirkt.” Sie ist die femme fatale der decadence, der Inbegriff der sexuellen Macht. Weniger als eine weibliche Figur ist sie für den Erzähler eine aus erotischen Signalen zusammengesetzte Figur, die mit ihrem plaktiven Schönheitsyp sowohl die unerfüllten sexuellen Sehnsüchte des Erzählers als auch seine reale Angst und Verachtung darstellt. Die Theorie Freuds geht davon aus, dass im Unterbewusstsein sich alles Verdrängte befindet, das sodann im Traum zum Ausdruck kommt. Es ist nur folgerichtig, dass die unterbewusst empfundende Erregbarkeit vor dieser mächtiger Frau von der Zensur (Schamgefühl) im Wachleben unterdrückt wird, sich im Traum aber (verschlüsselt) wieder kundtut. Dieser kulminiert allerdings in einen schauderhaften Klimax. Der Ansicht Geyers, den Traums als einen Angsttraum zu bezeichnen, ist beizustimmen; Freud weist ja ausdrücklich auf das “sexuelle Material” in den “Traumgedanken der Angstträume hin.” Neben den sofort dechiffrierbaren Genitalsymbolen finden sich im Traum auch noch subtilere erotische Anspielungen: Ein in grünes weiches Leder gekleideter Mann, mit einer Mütze, welche wie eine weisse Wurst aussah, saß auf einem entlaubten Baume und fing aus der Luft Fische. Er hing sie dann an den Zweigen auf und im Nu waren sie gedörrt. (149). berauschenden, im Traumland nur zu bekannten Luft – meine Frau hatte für mich nie gelebt. ---“ Es folgt ein neuer Absatz, der Erzähler ist wieder draußen: “Auf der Straße war es Ruhig, […]” (136) 88 Nach der Freudschen Darstellung der Traumarbeit wären die Fische, und eventuell auch die Mütze des Mannes, als mänliche Genitalsymbole zu deuten. Eine besonders aufschlussreiche Figur im Traum ist allerdings der Schimpanse. Trotz seiner Kultivierung und seinem menschähnlichen Benehmen bewahrt auch Giovanni nicht vor dem alles beherrschendem Geschlechtstrieb. Nach dem Ausbruch der Tierinvasion gefährden “Überfälle [von] scharenweisenweise auftretenden großer Affen” der Bevölkerung. Als Sinnbilder der brutalen männlichen Sexualität schonen “diese Teufel […] weder Frauen noch Kinder.” Dem Geschlechtstrieb erliegt schließlich selbst der vermenschlichte Affe Giovanni, wenn er die Versuchung einer schönen Meerkätzin nicht widerstehen kann. (185) Die Bedeutung, die dem AffeMotiv im sexuellen Sinne in der Anderen Seite zugrunde liegt, lässt sich von den anderen Werken her erschließen. Im Blatt “Wissenschaft” (1901/02) (Bild 20) ist der Affe nicht nur als eine Parodie auf das wissenschaftliche Bemühen des Menschen zu verstehen,249 sondern auch im Sinne einer anderen geläufigen Bildtradition, in der er als Symbol des menschlichen Geschlechtstriebes erscheint. Der Begriff “Forschritt” ist im wörtlichen und übertragener Bedeutung gestaltet: der liegende Mann verhindert gleichzeitig Schritt als Fortschritt des Affens: beide enden an demselben Punkt, dem Gesclecht des Mannes. Im Blatt “Der Affe” (1903/06) (Bild 21) umklammert ein Gorilla mit der einen Hand eine Frau, indem er sie mit der anderen onaniert. 250 In seinem weit aufgesperrten Maul steckt die Friseur der Frau, die den Affen lässig ergeben gewähren lässt.. Die Zeichnung “Ein für Alle” (um 1902) zeigt die Frau als verfügbares Sexualobjekt. Der Opfer, eine an die Wand gefesellte nackte Frau, ist der Gewalt der drei sich nähernden Gestalten – wiederum Affen! – völlig ausgeliefert. Phantasiert wird also das passive Sexualobjekt, das jeder Begierde ausgeliefert ist.251 Der menschenähnliche Affe verkörpert folgerichtig die Triebnatur, das Tierische im Menschen. In diesem Sinne erscheint er sowohl in den frühen Zeichnungen, wie in der Anderen Seite. Zuletzt scheint die folgende Szene einer näheren Betrachtung, zumal sie über die persönliche Ebene des Zeichners hinausweist: 249 Vgl. 4.3.4.2 Zum Vergleich lässt sich das Bild “Geilheit” (1900) heranziehen. Einem dichtbehaarten Hund mit erigiertem Riesenpenis, aus dem Samen tropft, ist eine im Hintergrund dargestellte Frau gegenübergestellt, die er gleichsam im Schach hält 251 Vgl. Neuhäuser, 1998: 88 250 89 Der tote Müller […] hatte in Krämpfen einen Kranz von vielen Hunderttausenden milchiger, weisser Eierchen gelegt, aus denen sich Legionen von Schnecken entwickelten, die ihren Erzeuger sogleich begierig auffrassen. Geyer zufolge ließe sich der Vorgang des Eierlegens, der normalerweise ausschließlich mit dem weiblichen Fortpflanzungsverhalten verknüpft wird, auf eine Anspielung auf die männliche Ejakulation deuten. Die Schnecken, die aus den Eiern schlüpfen und den Müller verschlingen, entsprechen nach dem Freudschen Interpretationsmuster dem Symbol des weiblichen Genitals. 4.3.3.2 Literarische und bildkünstlerische Vorlagen des Traumprotokolls Die Kunstwissenschaft hat Kubins Orientierung an Vorbildern nachgewiesen. Schmied zählt detaillierte Belege für die Abhängigkeit von Redon und Ensor auf und verweist weiterhin auf Goya und Charles de Groux; zwei Künstler, auf die Kubin sich in seiner Selbstbiografie bezieht. Lippuner befasst sich fast ausschließlich mit diesem Thema, indem er versucht, eine Rekonstruktion auf (vorwiegend) bildlichkünstlerischer Grundlage vorzunehmen. Zwar bietet dieser einen interessanten Eingang zum Roman, doch Lippuner begibt sich in die Gefahr, sämtliche Ereignisse des Romans umständlich immer aus diesem Ansatz erklären zu wollen. Indem der Text selbst somit aus dem Rahmen fällt, zweitrangig oder in manchen Fällen gar nicht behandelt wird, gerät der Roman aus seinen Fugen. Auch das gründliches Studium Lippuners zu den Einflüssen Kubins kann nicht verhelfen, dass die einheitliche Struktur eines Romans eine Zergliederung in einzelnen bildkünstlerischen Motiven einfach nicht zulässt. Während Lippuners Ergebnisse im Vergleich von Bild mit Bild sich als überaus einfallsreich zeigen, schießt er im Vergleich von Bild mit Text leider zu kurz. Psychologie und Entwicklung des Protagonisten bleiben unbeachtet, die biographische Gegebenheiten beschränken sich auf rein oberflächliche Parallelen in Bezug auf die Lebensführung des Protagonisten. Allerdings würde es von einer naiven Kurzsichtigkeit zeugen, die Behauptungen, die Kubin in seinen autobiographischen Aufzeichnungen macht, ohne weiteres hinzunehmen. Der Traum mag eine verschlüsselte Sprache sein, seine Welt eine verborgene; die Bilder aber, die im Traum aus der Tiefe emporwachsen, sind zusammengesetzt aus (visuellen) Erfahrungen. Einst Geschautes und Erlebtes verwandeln sich auf unergründliche 90 Weise in neue Bildern, die von der Realität nunmehr weit entfernt sind. Eben diese Fähigkeit zur Verwandlung hat Kubin interessiert; die “frei schaffende Einbildungskraft” ist ein unterbewusster Prozess, dass ebensoviel dem Bereich des Traums als der Wirklichkeit gehört. Wir haben bereits auf das Erinnerungsvermögen des Künstlers Kubin hingewiesen, die Gegebenheit also, dass er aus den nachhaltigen Eindrücken der Jugendjahren auch in späteren Jahren noch gelegentlich Einfälle schöpfen konnte. Erwähnt ist auch schon die Sammlerleidenschaft und das Interesse an den verschiedensten Künstlern. Es gilt mittlerweile als belegt, dass die von Kubin verehrten Künstler gelegentlich als Vorlage zum eigenen Schaffen gedient haben. Im kurzen Bericht “Wie ich illustriere” (1943) gibt der Künstler aufschlußreich Rechenschaft über den Schaffensprozess: Der große Schatz an im Gedächtnis aufbewahrten Formen, der sich ansammelte durch alles, besonders das in früheren Jahren Gesehene: Landschaften, Gebäude, Innenräume, Menschen und Tiere, vielleicht untermischt noch mit den Eindrücken der zahlreichen Bilder, graphischen Blättern oder Photos, ist jetzt das Reservoir aus dem die Einbildungskraft sorgfältig auswählend, verwerfend und neu zusammenpassenschaft.252 In “Dämmerungswelten” (1933) bekräftigt er diese Bekenntnis nochmals, indem er Avenarius’ Prägung des kubinschen Werk als “Traumzeichnen” kritisiert, weil “zu ungenau”. Was der Künstler aber wohl für sicher hält, ist dass sein “[…] Gefühlsbereich sich hauptsächlich aus dem Erlebnishumus der untergegangenen Kindheit und Jugend nähert.”253 Damit scheint die These einer exklusiv an das Traumbewusstsein gebundene Originalität also überholt zu sein. Es scheint mir sinnvoll, zur kritischen Auseinandersetzung mit den in den Illustrationen dargestellten Motive das bildkünstlerische Frühwerk Alfred Kubins heranzuziehen. Vielmehr als eine Rekonstruktion der Bildmotive auf der Grundlage kunsthistorischer Vorbildern, beschränken wir uns im Folgenden auf eine Auswahl verschiedener, prägnanter Motive, in denen der Schwerpunkt auf den Traum liegt. 252 253 “Wie ich illustriere”, in: AmW, 71 “Dämmerungswelten”. In: AmW, 42 91 Zunächst lässt sich die Figur des “Brustwarzenmannes” heranziehen: Ein alter Kerl mi tabnorm großem Oberkörper und kurzen Beinen näherte sich; bis auf ein paar beschmierte Arbeiterzwilchhosen war er nackt. Er hatte zwei lange senkrechte Reihen von Brustwarzen – ich zählte achtzehn -, Nun zog er Seine Lungen schnaufend voll Luft, bald schwoll die rechte und bald die linke Brust mehr an, dann spielte er mit den Fingern auf diesen achtzehn Warzen die schönsten Harmonikastücke. Dabei bewegte er sich taktmäßig nach der Melodie wei ein Tanzbär, während er die Luft wieder ausstieß. Schließlich hörte er auf, schneuzte sich in die Hände und schleuderte sie von sich. Dann wuchs ihm ein ungeheurer Bart, in dessen Gestrüpp er verschwand. (150) Wie Geyer richtig bemerkt, gehen aus der Beschreibung des Traumprotokoll einige einleuchtende Gemeinsamkeiten mit den Traumbildern des Mönchens Medardus aus E.T.A. Hoffmans “Elixiere des Teufels” (1815) hervor. Nicht zufällig spielt auch hier das Thema der Verdrängung der Sexualität eine wichtige Rolle.254 Der Brustwarzenmann findet seine Entsprechung in einer Figur, die zur Geige mutiert: “[…] und der Bruder spielte dazu auf, aber auf der eigenen Brust streichend, die zur Geige wurde.” 255 Zwar weist Lippuner weist darauf hin, dass das Motiv der fliegenden Fische schon im Blatt “Alltagsmusik” (1903/05) vorkommt256 und weisen auch die Blätter “Adoration / Der Schmerbauch” (um 1900) (Bild 22) und “Die verschwundene Nacht” (1900) das Motiv schon auf, der Einfall des Harmonikaspiels ist allerdings einzigartig. Im Zusammenhang mit den Uhren lohnt es sich, folgende Ausspruch Schopenhauers heranzuziehen: Die Menschen “gleichen Uhrwerken welche aufgezogen werden und gehen, ohne zu wissen warum […] jedes Individuum, jedes Menschengesicht und dessen Lebenslauf ist nur ein kurzer Traum des unendlichen Naturgeistes […] ist nur ein flüchtiges Gebilde mehr, dass er spielend hinzeichnet auf sein undendliches Blatt, Raum und Vgl. dazu Goak, J.Y.: Die Ich-Problematik in E. T. A. Hoffmanns ‚Die Elixiere des Teufels’. Eine psychoanalytische Untersuchung in Auseinandersetzung mit der deutschen idealistischen Philosophie. Frankfurt a. M. 2000. 255 Hoffmann, E.T.A. Die Elixiere des Teufels : Lebens-Ansichten des Katers Murr. Darmstadt, 1962: 222 256 Später hat Kubin es nochmals in der “Samsara”-mappe verwendet. Lippuner, 1977: 82 254 92 Zeit, und eine gegen diese verschwindend kleine Weile bestehen lässt, dann auslöscht, neuen Platz zu machen.257 Da der Schimpanse des Traumprotokolls in der Illustration nicht dargestellt ist, möchten wir ihn nur kurz beleuchten. Wie im Blatt “Wissenschaft” erweist sich der Affe Giovanni in der Anderen Seite als das Symbol der Überschätzung des Intellekts. Er ersetzt vollauf einen Menschen, ist “ungemein begabt und strebsam”, “ehrlich und zuverlässig”, doch von der Philosophie hält er nicht viel. An anderer Stelle will er dem Künstler pfuschen, weil “er […] sich selbst so ein wenig als Künstler” fühlt. Nicht nur der Friseur und sein Affe, sondern auch der Künstler bzw. das Künstlertum erscheinen mithin in einem satirischen Rahmen. Wie Giovanni dem Künstler nachzuaffen versucht, äfft der Affe in “Wissenschaft” dem nachdenklichen Menschen nach, indem er die Pose von Rodins “Denker” annimmt. Übrigens hielt auch Kubin einen lebendigen Affen, auf den er in späterer Zeit in der humoristischen Erzählung “Tip und Giovanni” (1934) zurückgegriffen hat.258 Als literarischer Verwandter Giovannis nennt Geyer Wilhelm Buschs “Fipps der Affe” (1879), der als Gehilfe des Friseurmeisters Krülls gleichfalls sein Friseurtalent unter Beweis stellt.259 Nebenbei eröffnet sich eine auffallende Parallele zu Franz Kafkas “Bericht für eine Akademie”, in dem ebenfalls die (letztlich misglückte) Menschwerdung eines Affens beschrieben wird.260 4.4 Fazit Aus den Ergebnissen der Untersuchung ist hervorgegangen, dass das Verhältnis Kubins zum Traum sich als durchaus ambivalent bewerten lässt. Fest steht allerdings, dass Kubin den Traum einen hohen Stellenwert in seinem Schaffen einräumt. Den autobiographischen Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass Kubin sich bestimmt eingehend mit Freuds Theorien auseinandergesetzt hat. Bald schätzt er den Psychoanalytiker um seine klare Einsichte ins Wesen des Traums, bald aber gönnt er 257 Schopenhauer, Die Wille als Welt und Vorstellung. 1. Teil 4. Buch. Sämtliche Werke, 1. Leipzig o. J. 426. Zit. nach Brockhaus, 1977: 124 258 Vgl. AmL: 197-205 259 Auch Lippuner erkennt in der Erzählung Busch’ eine Vorlage zur Anderen Seite, Lippuner, 97. Vgl. Busch, W. Fipps der Affe. In: Gesamtwerk in sechs Bänden. Bd. 4, 328ff. Zit. Nach Geyer, 63 260 Kafka, F., Ein Bericht für eine Akademie. In: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der kritischen Ausg. Hrsg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt a. M.: 1994, Bd. 1: 245 93 ihm kein gutes Wort. Jedenfalls hat Kubin ein großes Interesses an den Bereich des Unbewusstseins an den Tag gelegt, dessen Entdeckung im Grunde Freud zuzuschreiben ist.261 In neueren Forschungen wird der Einfluss Freuds auf Kubin merkwürdigerweise mit skeptischem Blick betrachtet, ganz zu schweigen von einem psychoanalytischen Ansatz zur Deutung des Romans, der unanim als überholte Methode abgelehnt wird. Was viele solcher Überlegungen jedoch außer Betracht lassen, ist die Gegebenheit, dass der Erzähler des Romans ganz ausdrücklich selbst die Rolle eines Psychoanalytikers übernimmt. In der Art und Weise, wie im Traumprotokoll der Traum entwirrt und auf einzelne Segmente zurückgebracht wird, zeigt sich, wie eng sich Kubins Vorgehensweise an die Traumdeutung im freudschen Sinne lehnt. Zwar ergibt sich der Traum als die Konstruktion eines Künstlers, der seine Einbildungskraft auf die Spitze treibt und zu diesem Zweck dem Traum den Geisteszustand und Rahmen entlehnt. Was darin aber auffällt ist das Maß, in dem sich verschiedenste Konzepte aus der Psychoanalyse und die vom Erzähler dargestellte Bilder überdecken. Ohne Ausnahmen zeichnen sie sich alle durch eine augenfällige Prägnanz aus, was keineswegs auf reinen Zufall zurückzuführen ist. Besonders die sexuell konnotierte Bilder schließen auf eine Verdrängung reell erlebten Vorfälle, die im Unbewussten in verschlüsselter Ausprägung ihren Niederschlag finden. Darüber hinaus prägen sich die Begriffe der freudschen Begriffe der Verschiebung und Verdichtung in Kubins Schöpfungsprozess aus, der über die Anwedung “kompositorischer Traumgesetzte” erfolgt, das heißt die Demontage und Remontage von Traumbildern in das Kunstwerk. Allerdings bietet die Psychoanalyse nicht der einzige Eingang in Kubins Verhältnis zu Traum. Neben den Motive früherer Werke, auf die Kubin sich gelegentlich bezieht, kommen auch literarische Vorbilder in Betracht, die lange vor Freud sich schon mit dem Traumerleben beschäftigten. 261 Zwar hatte, wie bereits erörtert, die Entdeckung des Unbewussten verschiedene (philosophische) Vorläufer, ohne deren Freud seine Theorien wahrscheinlich nie hätte entwickeln können, doch die aus ihr hervorgehende Diszipline der Psychoanalyse, die sich mit der Analyse des Unbewussten befasst, ist ein wesentliches Verdienst Freuds. 94 5. Schlussfolgerung Das Ziel dieser Arbeit war es, die Andere Seite in einem möglichst weit umfassenden Rahmen zu behandeln. Die Arbeit gliederte im wesentlichen in zwei Teilen. Im ersten Teil wurde versucht, im Roman die Polarität zwischen Leben und Tod offenzulegen. Es hat sich herausgestellt, dass Patera auf einer ersten Deutungsschicht zunächst in einem autobiographischen Zusammenhang als eine Vaterfigur zu identifizieren ist. Der Roman ist nicht nur dem Vater Kubins gewidmet, möglicherweise hat dieser “Kaiser von Hinterindien” auch eine erste Anregung zur Gestaltung des Monarchen vom Traumreich gegeben. Allerdings ist die Andere Seite, so haben wir hervorgehoben, keineswegs als eine Sublimation des Vater-Sohn-Verhältnis aufzufassen. Würde man die Problematik der Kindzeit, die Ängsten des sensiblenen Knaben Alfred Kubins mit dem strengen Vater, im Sinne eines Traumas, und der Roman als dessen Verarbeitung betrachten, so würde man schon bald zur Erkenntnis gelangen, dass innerhalb des komplexen Motivschatzes Kubins ein eindimensionaler Deutungsversuch, ob auf psychoanalytischer, autobiographischer, philosophischer oder bildkünstlerischer Grundlage, immer über sein Ziel hinausschießt. Der Roman bietet eine Fülle Eingänge, mit denen dem Text jeweils einen neuen Sinn unterlegt werden kann. Statt allen diesen Deutungen ausgiebige Aufmerksamkeit entgegenzubringen, haben wir den Versuch gemacht, den Text im Zusammenhang mit dem Künstler Alfred Kubin zu sehen. Von dem Gesichtspunkt der Philosophie aus betrachtet fällt immer wieder der Begriff Polarität ins Auge. Kubin hat seine Vorstellung einer aus antithetischen Polen zusammengesetzten Welt ins Wesen Pateras übertragen. Am Anfang des Romans ist das Traumreich noch der Einheit Pateras Herrschaft unterworfen. Auch im zweiten Teil ist Patera noch unumstritten der Alleinherscher seines Reichs, nur ist der Erzähler bereits zu verschiedenen Erkenntnissen gekommen, die das Geheimnis vom Wesen Pateras erschließen. Als besonders wichtige Einsichten sind die antithetische Zweiteilung der Welt in die “Einbildungskraft” und das “Nichts” und die vielgliederige Zusammensetzung des Menschen in mehreren Ichs zu erwähnen. Anschließend an diese Entwicklungen bewirkt die Ankunft des Amerikaners im dritten Teil den Untergang des Traumreichs, indem dieser die Untertane aus dem 95 Bannkreis Pateras ausbrechen lässt. Herkules Bell siegt, Patera stirbt. Indem aber die zwei Mächten im Endkampf wieder in einem Geschöpf zusammenschmelzen, greift Kubin auf einer höheren Ebene abermals das Motiv der Polarität auf, indem er die Unvereinbarkeit der antithetischen Mächten zeitweise auflöst. RückAus diesem Blickwinkel erscheint das Traumreich als ein Experiment des Künstlers, in dem er eine Auswahl verschiedener philosophischer Auffassungen einer Prüfung unterstellt hat. Anklänge an Schopenhauer und Nietzsche sind unübersehbar. Der besondere Stellenwert von Mainländer und Bahnsen ist bewusst in den Vordergrund gestellt, indem Kubin Ausschnitte aus ihrem Werk als Mottos übernommen hat. Auch der Buddhismus hat einen wesentlichen Einfluss auf Kubin augeübt. Neben einer augenfälligen Sympathie für den Stammen der aufgeklärten Blauäugigen, fallen dem Erzähler ja in diesem Kapitel die Schuppen von den Augen. Diese “Klärung der Erkenntnis”, so haben wir behauptet, stellt eine Zäsur in der bisherigen Weltanschauung sowohl des Erzählers als auch des Künstlers Alfred Kubins dar. Im Verständnis der Welt versagt Mainländers Philosophie, denn Begriffe wie Tod und Nichts sind ohne das Leben undenkbar. In der Realdialektik werden beide Pole ausgeglichen. Ausbalanciert sind sie aber keineswegs: gerade in diesem ewige Ringen erkennt der Erzähler die “wirkliche Hölle”, die darin liegt, dass das “widersprechenden Doppelspiel” sich in uns fortsetzt ist. Patera und Herkules Bell sind beide nur die Ergebnisse eines phantasievollen Experiments, in dem Kubin seine Philosophie auf die Spitze getrieben hat. Kubins Metapher des Pendels veranschaulicht sinnfällig, wie der Mensch sich sein Leben lang beiden einem Konflikt der antithetischen Kräften ausgesetzt sieht. Für den Künstler bedeutet dies sein Heil woanders zu suchen, indem er sich auf seine natürliche Anlage, die Schöpfung, beruft. Im Bereich der Einbildungskraft kann er sie völlig entfalten, hier ist der Künstler sein eigener Herr – der Demiurg eben. Dementsprechend erscheint Patera zugleich als Schöpfung und Spiegelbild des Künstlers: aus dem “Nichts” schuf Patera das Traumreich und ins Nichts wird er endgültig wieder verschwinden. Wie Patera in seinem Luftschloss, so lebt auch der Künstler einsam in seiner Phantasie. Im Rückschlus hieraus lässt sich sagen, dass der Roman im Grunde eine phantastische Allegorie ist. Er ist weder Dystopie noch Utopie, sondern vielmehr ein Gedankenexperiment, das Erzeugnis einer Welt, wo Schöpfung und Zerstörung, Leben und Tod nur den Launen der Phantasie unterworfen sind. 96 Der zweite Teil der Arbeit behandelte die andere Polarität, die zwischen Traum und Wachen. Zunächst ist die Relevanz der Traumwelt in Kubins Werk aus biographischer Perspektive beleuchtet worden. Eine nähere Auseinandersetzung mit den autobiographischen Aufzeichnungen hat ergeben, dass Kubin dem Traum zeitlebens eine besondere Rolle beigemessen hat. Immer wieder betont der Künstler, wie Träume und frühere Erinnerungen unerschöpfliche Fundgruben sind, die ständig Stoff zu neuen Werken bieten. Andererseits verschafft Kubin gelegentlich einen Einblick in die Methode, wie der Vorgang des Traums auf die künstlerische Arbeit übertragen werden kann: erst die “kompositorischer Traumgesetzte” machen den Traum zum Kunstwerk geeignet. Wichtiger aber erscheint uns die Tatsache, dass das wichtigste Thema des Romans selbst der Traum ist. Nicht nur der Ort der Handlung selbst wird als “Traumreich” bezeichnet, ihre bloße Struktur ist nach dem Traumerleben konzipiert. Darüber hinaus ähnelt die Reise selbst dem Ablauf eines Traumes, von der Abfahrt bis zur Finsternis des Tunnel, gerade vor der Ankunft im Traum(reich), erkennt man die Stadien . Die Grenze zwischen Schlaf und Wachen ist fließend und die Einwohner befinden sich in einer Art halbwachen Dämmerzustandes, die man heute als “REM-Schlaf” bezeichnet. In derselben Dämmerung ist das Traumreich gehüllt ist, wo jeder dem anderen gleicht und die Sonne sich hinter einer permanenter Wolkendecke verbirgt. Zuletzt beschreibt der Erzähler im Traumprotokoll einen Traum im Einzelnen. Noch kein Jahrzehnt vor der Veröffentlichung der Anderen Seite erschien Freuds epochales Werk “Die Traumdeutung”, das eine ganze Generation von Künstlern nachhaltig geprägt hat. Für Kubin hatte der Traum eine symbolische Kraft, die keiner psychologischen Analyse bedarf. Ihre unmittelbare schöpferische Vision hielt er für stärker hielt als deren Analyse. Darin unterscheidet er sich von Freud, dessen unmittelbaren Einfluss auf den Künstler allerdings kaum widerlegbar ist. Auch von den Surrealisten, die sich später vom Werk Kubins anregen ließen, hebt sich das Verfahren eindeutig ab. Was diese aber wohl erkannten, war die Gegebenheit, dass alles Traumhafte in der surrealistischen Kunst sich vorzugsweise im Bereich der Wirklichkeit ereignen sollte. Dementsprechend galt auch Kubin das Wachsein als den Maßstab für den Traum. Der Künstler verhütet sich davor, die Geschehnisse im Traumreich ein für alle Mal logisch zu begründen. Am Anfang hebt der Erzähler die Einbildungskraft hervor, am Ende gerät er in einer Heilanstalt: was sich also zwischen der Vorbemerkung und dem Schluss ereignet, lässt sich nicht ohne weiteres 97 objektivieren, denn die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit ist vollends verschwommen. Im “Traum im Traum”-Abschnitt hat Kubin versucht, die Art und Weise, wie der Traum im Schlafzustand operiert, im Text und Bild nachzuahmen. Gleich wie der Traum die Bilder des Unterbewusstseins aneinanderreiht, verzerrt und dann in einem neuen Zusammenhang zusammensetzt, so führt Kubin auf der Grundlage eines Tagesrestes einen Ablauf verschiedensten Bilder auf. Bild und Text ergänzen sich in diesem Vorgehen gegenseitig, beide sind sorgfältig ausgewirkt und adäqat auf einander abgestimmt. Das Realistische der Darstellungsweise unterstützt das Phantastische der Begebenheit. Der Traum des Künstlers ist der Traum des Autors. Die Andere Seite ist die imaginäre Welt Alfred Kubins, der Bereich, in dem die schöpferische Einbildungskraft tätig ist. Das Anliegen Kubins war es, die Vorstellungen aus der eigenen Phantasiewelt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Um dies zu ermöglichen schuf Kubin ein Traumreich, an dessen Spitze er den ehemaligen Schulkameraden Claus Patera gestellt hat. Der Protagonist selbst aber, so stellt sich eindeutig heraus, ist nach eigenem Vorbild modelliert. Einerseits ist dieser unbeteiligte Beobachter derjenige, der die Verbindung zur Alltagswirklichkeit herstellt und mit dem sich der Leser identifizieren kann, andererseits ist er der Traumende bzw. der traumende Künstler, dessen Phantasie die ganze Reise entspringt. Indem der Autor den Held auf eine Reise ins Traumreich schickt, das im Grunde die eigene “Dämmerungswelt” verkörpert, wird der Autor gewissermaßen selbst zum Zuschauer. Die Einladung hätte er mithin an sich selbst gerichtet und die Reise führt ihn alsbald in den unermesslichen Räumen des eigenen Unbewusstseins. Erst die Beobachtungen, die er aus den Augen dieses Künstlers an “der anderen Seite” der Realität macht, bilden zusammen den Inhalt des Romans die Andere Seite, von der Errichtung des Traumreichs bis zu seinem Untergang. Wiewohl alles zunächst noch als eine Idylle anmutet, gar nicht so verschieden von “daheim”, ist unaufhaltsam das Chaos der Einbildungskraft wirksam. In allem spurt man die “starke Hand” Pateras, dessen “Auge” jedes Treiben ständig überwacht. Keiner bleibt vom “Klaps”, der epileptischen Attacke des Herrschers, verschont; der Beweis dafür, dass die Traumleute auch auf einer höheren Stufe der Macht Pateras unterliegen. Man gelängt zur Erkenntnis, dass das ganze Traumreich ein langer Traum des schlafenden Herrschers Pateras ist: Aus dem Traum, dem diese Dämmerungswelt entsprungen ist, erklären sich sämtliche phantastische Ereignisse. 98 Nie aber verliert Kubin sich in den Szenerien seiner “schöpferischen Einbildungskraft”: während des Aufenthalts des Protagonisten im Traumreichs gerät dieser, trotz aller Umstände, kein einziges Mal wirklich außer Fassung. Was Kubin in der Anderen Seite anstrebte war nicht die orgiastische Grausamkeit des Frühwerks. Im neuen Zeichenstil, der “Psychographik”, beschränkt Kubin sich auf den Strich. Nunmehr gibt sich das Unheimliche sich nicht ohne weiteres preis, sondern ist getarnt in einem Netz feinster Linien. In der Erzählung selbst wird der Verfall stufenweise herbeigeführt und ganz allmählich steuert sie auf einen Klimax zu. Indem sie dann letztlich in eine “Kernspaltung” kulminiert und die wirkliche Hölle ausbricht, erweist Kubin sich noch immer als einen rücksichtlosen Demiurgen. Nach der Auffassung des Künstlers soll die Geschichte ein böses Ende nehmen: der Gott des Todes ist es zunächst, dem sich der Erzähler nach Zurückkehr unterwirft. Jenseits des Traumreichs bewegt sich das Leben aber zwischen den zwei Polen des Lebens und des Todes. Hier fehlt die einheitliche Struktur eines Pateras: jedes Einzelwesen ist dazu berufen, seine Entscheidungen selbst zu treffen. Und obwohl der Erzähler die Wirklichkeit nunmehr als eine bittere Enttäuschung erfährt: den Ruf zum Leben völlig ignorieren, das vermag auch er nicht. 99 6. Anhang Bild 1 Bild 2 Bild 3 Bild 4 100 Bild 5 Bild 6a Bild 6b 101 Bild 7 Bild 8 Bild 10 Bild 11 Bild 12 102 Bild 13 Bild 15 Bild 14 Bild 16 103 Bild 17 Bild 18 Bild 16 Bild 19 Bild 20 Bild 21 104 Bild 21 105 7. Literaturverzeichnis Primärliteratur: Bahnsen, Julius Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt. Princip und Einzelbewährung der Realdialektik. 2 Bände. Berlin 1880 und Leipzig 1882. Busch, Wilhelm Eduards Traum. München: Bassermann, 1891. Freud, Sigmund Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hrsg. v. A. Freud […]. 7. Aufl. Frankfurt a. M.: 1987 Freud, Sigmund. Jenseits des Lustprinzips. Leipzig/Wien/Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1920 “Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.” In: Gesammelte Werke, 15. Band. Frankfurt a. M., 1961 „Über den Traum“. In: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hrsg. v. A. Freud […]. 7. Aufl. Frankfurt a. M.: 1987, Bd. 2/3: Die Traumdeutung/Über den Traum Die Traumdeutung. Leipzig/Wien: Elibron, 2005. Faksimile d. Orig.Ausg. hrsg. von Franz Deuticke. (1900) Grillparzer, Franz. Sämtliche Werke. Hrsg. u. m. Einl. u. erläuternden Anm. versehen v. Moritz Decker. 2. Bd. Leizpig: Hesse, 1903. 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