Grosse_Politik_funktioniert_so

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Große Politik funktioniert so, wie der kleine Maxi es sich vorstellt - ein Kommentar der
anderen von Robert Menasse
Von vorgeblichen Widerständen und tatsächlichen Interessen in der Debatte um die
Aufnahme der Türkei in die Europäische Union: Was wirklich dahinter steckt. Wie sich das
der "kleine Maxi" vorstellt. Und warum er Recht hat.
Die große Politik funktioniert in der Regel so, wie der kleine Maxi es sich vorstellt." Dieser
Aperçu von Karl Kraus wurde von Sir Karl Popper methodisch bestätigt: "Wer ein
komplexes politisches Problem verstehen will", schrieb er, "tut gut daran, es auf eine
möglichst einfache Frage zurückzuführen. Diese einfache Frage lautet in der Regel: Cui
bono? Die Komplexität des Problems erweist sich dann als nachgeordnetes Phänomen nämlich als Produkt aller Versuche, die Antwort auf diese einfache Frage zu verschleiern."
Die gegenwärtige Debatte über die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei erweist sich
geradezu als Lehrbuch-Beispiel für den hellsichtigen Zynismus von Karl Kraus und die
fruchtbare analytische Kälte von Karl Popper - lässt sich doch tatsächlich zeigen, dass die
politischen Eliten Europas nichts unversucht lassen, dem "kleinen Maxi" zu signalisieren,
dass sie Politik in seinem Sinne machen, während sie alle Hände voll zu tun haben, zu
verschleiern, welchen Interessen ihre Politik tatsächlich gehorcht.
Wer ist für den EU-Beitritt der Türkei
Beginnen wir mit der Cui-bono-Frage. Wer hat gut begründetes Interesse an einem EUBeitritt der Türkei? Erstens die europäischen Konzerne. Sie bekämen einen
Wirtschaftsraum von siebzig Millionen Billigarbeitern dazu. Es bedarf keiner großen
Fantasie, sich vorzustellen, was das steuer- und lohnpolitisch für Europa bedeuten
würde: die definitive Anatolisierung der Sozialstaaten.
Es scheint zwar völlig unerklärlich, dass EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
begonnen werden, obwohl die Türkei sich weigert, ein EU-Mitglied, nämlich Zypern,
anzuerkennen, tatsächlich aber zeigt dies nur, wie stark der ökonomische Druck ist,
wenn sogar dieser Sachverhalt keine Rolle spielt.
Militärs
Zweitens die europäischen Militärs. Sie bekämen endlich eine richtige, große,
kampferprobte Armee unter ihr Kommando, mit der Europa auch auf militärischem
Gebiet ein "Globalplayer" würde.
Drittens die Vereinigten Staaten. Mit dem Beitritt ihres Nato-Partners Türkei in die EU
würden sie ganz Europa als Partner für ihre Nahost-Politik und zur Sicherung von vier
Fünftel der Erdölfelder der Welt erhalten, zugleich wäre das EU-Modell im besten Sinn
des Begriffs, nämlich als sozialstaatliches Gegenmodell zum US-amerikanischen
Wirtschaftsliberalismus, nachhaltig geschwächt. Beides erklärt ausreichend die massiven
US-Interventionen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei.
In Hinblick auf diese handfesten materiellen Interessen bekommen alle Floskeln, mit
denen dieser Prozess legitimiert wird, etwas peinigend Lächerliches: dass Europa ein
"multikulturelles Projekt" sei, ein "Friedensprojekt", ein "Klub universeller demokratischer
Werte", der "die Säkularisierung auch der islamischen Welt vorantreiben" könnte (ich
zitiere dies aus der deutschen und österreichischen Tagespresse der letzten drei Tage).
Keine 5 Prozent
Die Probe aufs Exempel ist denkbar einfach: Würde man der europäischen Bevölkerung
die Fragen stellen, ob sie den Lohndruck durch anatolische Billigarbeiter und den
weiteren Abbau des Sozialstaates durch diese industrielle Reservearmee als
multikulturelle Bereicherung empfänden, ob sie stolz darauf wären, wenn Europa soziale
Verarmung durch größere militärische Stärke kompensieren könnte, und ob sie die
Möglichkeit massiveren US-amerikanischen Einflusses auf die europäische Politik als
wünschenswerten Ausdruck einer vernünftigen Globalisierung ansehen würden, bekämen
die politischen Eliten Europas keine fünf Prozent Zustimmung.
Und würde man fragen, ob der EU-Beitritt Polens geholfen habe, den militanten
Katholizismus dieses Landes zu "säkularisieren", bekäme man wohl nur verständnisloses
Kopfschütteln. Dennoch wurde genau dieser Weg, der für die überwältigende Mehrheit
dieses Kontinents inakzeptabel und unverständlich ist, eingeschlagen. So viel zum "Klub
universeller demokratischer Werte".
Ahnungen des "kleinen Maxi"
Der "kleine Maxi" jedenfalls begreift das oder ahnt es zumindest, stellt sich das
Zustandekommen solcher politischen Entscheidungen teils als simplen Fall von
Korruption, teils als Konsequenz machtvoller Interessen, die nicht die seinen sind, vor,
jedenfalls wirklich so, wie Karl Kraus sich vorstellte, dass der "kleine Maxi" es sich zu
Recht vorstellt, und er äußert seine Skepsis und seine Ängste im Rahmen seiner
Möglichkeiten hilflos auftrumpfend: am Stammtisch und bei Wahlen als "Protestwähler".
Wie wird er nun politisch beruhigt? Indem die politischen Eliten ihm signalisieren, dass
sie ganz seiner Meinung seien, bedingungslos bereit, seine Interessen zu vertreten und
heroisch für ihn zu kämpfen - doch leider würden machtvolle "allgemeine
Entwicklungstendenzen" in eine andere Richtung drängen, sich "internationale Trends"
als fast unüberwindbar erweisen, geradezu naturgesetzliche "Marktgesetze" und
"Sachzwänge" ihnen die Hände binden.
Und hier kommen wir zu dem Phänomen, dass just die politischen Parteien, die die
Interessen der EU-Erweiterungsgewinner am konsequentesten vertreten, nämlich die
konservativen Parteien, am heftigsten gegen die Erweiterung opponieren (wie zum
Beispiel die CDU/CSU in Deutschland). Und am allerheftigsten tun dies die konservativen
Parteien der kleinen Länder, wie sich jetzt wieder am Beispiel Österreich am Vorabend
der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gezeigt hat.
Natürlich weiß SChüssel wen er vertritt
Ja weiß denn der österreichische Kanzler Wolfgang Schüssel, die Nummer drei der
österreichischen Wählerzustimmung, aber der Nummer-eins-Zögling des
Wirtschaftsbundes, nicht, welche Interessen er zu vertreten hat? Natürlich weiß er es.
Hier erweist sich einmal mehr die Popper'sche Methode als produktiv, die Fakten auf den
Tisch zu legen, die Interessen zu hinterfragen, und alle Selbstinterpretationen,
Begründungen und Erklärungen der handelnden Personen als Ablenkungsversuche zur
Seite zu schieben.
Das sind die Fakten: Der österreichische Kanzler Wolfgang Schüssel hat den EUBeschluss vom Dezember 2004, mit der Türkei in Beitrittsverhandlungen einzutreten,
mitgetragen. Er hat im Juni 2005 diesen Beschluss bekräftigt und auch dem "Fahrplan",
also der Terminplanung dieser Verhandlungen, grünes Licht gegeben. Warum hat er sich
dann am Vorabend des Verhandlungsbeginns mit der Türkei als Skeptiker und Bremser
profilieren wollen?
Das scheint unerklärlich - daher weiter mit den Fakten: Er weiß, dass gegenwärtig nichts
die Öffentlichkeit so sehr emotionalisiert wie die Aussicht, mit dem freien Zuzug von
Millionen Türken fertig werden, gegen Millionen Billigarbeiter konkurrieren zu müssen.
Und er weiß, dass er, wenn er öffentlich dagegen opponiert, mit der zumindest
insgeheimen Zustimmung auch der konservativen Parteien der anderen EUMitgliedsstaaten rechnen kann.
Win-win-Situation
Von seiner politischen Interessenslage her ergibt sich daher eine Win-win-Situation: Der
Kanzler eines kleines Landes kann weit über seine objektive Bedeutung hinauswachsen,
indem er sich, noch dazu knapp bevor er den EU-Ratsvorsitz übernimmt, zum Anwalt
auch der verängstigten Populationen der großen Länder macht. Er macht sich bei den
politischen Eliten beliebt, weil er auf sich nimmt, was diese nicht auf sich nehmen
können, weil es in deren Fall, im Gegensatz zum österreichischen Engagement,
irreversible Konsequenzen hätte. Und so sehr er auch alles zu verkomplizieren scheint er stört den geplanten Ablauf nicht, hilft aber enorm, das vorgesehene Ergebnis zu
legitimieren: denn nun erscheint als mühsam erkämpfter Kompromiss, was andernfalls
als zynische Interessenspolitik im Interesse einiger weniger Gewinner gegolten hätte.
Nur so sind die Fakten zusammenzudenken, dass Wolfgang Schüssel dem EU-Beitritts"Fahrplan" zweimal zugestimmt hatte, ihn in letzter Sekunde zu bekämpfen beschloss,
um in aller letzter Sekunde wieder klein beizugeben. Dass es in den Konferenzen 24:1
gegen Österreich stand, klingt dramatischer, als es ist. Der österreichische Kanzler hatte
die Rückendeckung der konservativen Parteien Europas, explizit zum Beispiel von Frau
Merkel in Deutschland, und der wichtigen Medien wie etwa der FAZ.
Und nun versuchen wir im Sinne Poppers eine möglichst simple, faktisch aber gut
begründete Antwort auf diese so kompliziert und geradezu unerklärlich erscheinende
Frage, warum just die politischen Interessensvertreter der Wirtschaft und der Militärs zu
verkomplizieren versuchen, was durchzusetzen objektiv ihre Aufgabe und ihr Interesse
ist.
Legitimation für Politik gegen die Mehrheit
Die einfache Antwort ist: Sie tun es, weil sie wissen, dass ihre Verkomplizierungen den
Prozess nicht aufhalten, aber kollateral dazu führen, demokratische Legitimation für eine
Politik zu erhalten, die gegen die Mehrheit der Bevölkerung gerichtet ist. Das Problem der
konservativen Volksparteien in Europa ist ja, dass sie, aus den Zeiten der gemeinsamen
Anstrengung um den Sozialstaat als Gegenmodell zum stalinistischen Sozialismus, 30 bis
40 Prozent Wählerzustimmung gewohnt waren, heute für ihre wahren Interessen und
Absichten aber keine fünf Prozent bekommen würden. Das heißt, dass sie in besonderem
Maße zu populistischen Signalen gezwungen sind.
Wenn man Politik als Interessenpolitik und Wahlverhalten als Ausdruck der je eigenen
materiellen Interessen begreift, gäbe es europaweit keine christlich-konservative Partei in
einem Parlament. Daher sind keine anderen Parteien zu solch "irrationalen"
populistischen Verrenkungen gezwungen, wie die konservativen Wirtschaftsparteien.
Wenn Linksparteien, die die Absicherung oder gar den Ausbau des Sozialstaats fordern,
des Populismus bezichtigt werden, dann wird übersehen, dass ihre Forderungen
tatsächlich ein gesellschaftliches Bedürfnis darstellen.
(DER STANDARD, Printausgabe 8./9.10.2005)
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