Document

Werbung
D:\68636281.doc
Seite 1 von 16
15. Nov. 2009: 11:30 Uhr Festvortrag zu 45 Jahre Willi-Graf-Studentenwohnheim
Dr. Walter Flemmer:
Ethik und Journalismus: ein Widerspruch?
Eine Vorbemerkung
Ethik ist kein überholter Begriff, wer ernsthaft über den Zustand unserer Gesellschaft
diskutiert, kommt an ihm nicht vorbei. Wir sprechen von Bioethik, Umwelt- und
Medizinethik, von Wissenschafts- und Wirtschaftsethik, von pädagogischer und
feministischer Ethik, um nur einige Beispiele zu nennen. Seit mehr als einigen Jahren
ist die Rede auch von der Medienethik, angestoßen durch Medienskandale oder
Medienunfälle. Eine immer wieder aufflammende Medienkritik ist als Thema
inzwischen in die allgemeine Debatte über das Selbstverständnis und das Wohin der
Gesellschaft eingegangen. Doch haben wir überhaupt Maßstäbe, wenn wir über
Grenzbereiche der Praxis der Berichterstattung urteilen?
Der Journalist, der Medienberichterstatter, ist immer auch Beobachter. Aber gibt es
eine objektive Berichterstattung? Beobachtung ist ohne jemand, der beobachtet,
nicht möglich, und dieser Jemand beobachtet von seinem Standpunkt aus.
Eine auf einem belebten Platz aufgestellte Kamera, die ohne menschliches Zutun
einfach aufnimmt, was sie vor der Linse tut, hat nichts mit Journalismus zu tun. Wenn
freilich ein Journalist oder eine Cutterin, später aus dem aufgezeichneten Material
eine Sendung produzieren, stellen sich die Fragen, mit denen wir uns gerade
beschäftigen.
Ethik beginnt mit der Frage nach der Bedeutung der Worte „gut“ und „böse“ , „gut“
oder „schlecht“. Sie gehört zu den ältesten Fragen der Philosophie. Gibt es einen
Unterschied zwischen „gut“ und „böse“, gibt es zwischen „gut“ und „besser“ einen
Konsens?
Journalistisches Handeln
Die Fotografin Herlinde Koebel hat vor einiger Zeit einen Film mit dem Titel „Die
Meute“ gedreht und gefragt: Wie verhalten sich Journalisten in der Öffentlichkeit, bei
der Jagd nach Informationen? Sie zeigte, wie Journalisten und Kameraleute sich auf
Politiker stürzen, sie zeigte Bodyguards, die einen Reporter zu Boden rempeln, sie
zeigte die aufgefahrenen starrenden Mikrophone. Eine Meute ist am Werk, die alles
und jedes auffrisst, jagt, die in alle Ecken schnüffelt, die keine Schamgrenze zu
kennen scheint.
Was stellt das Fernsehen mit den Zuschauern an, wenn ihnen gezeigt wird, wie der
Diktator Saddam Hussein aus seinem Loch, in dem er sich versteckt hat, gezogen
wird? Und dann tauchte ein Video auf, aufgenommen mit einem Mobiltelefon, Bild
und Ton machten deutlich, in welch entwürdigender Weise Saddam erledigt wurde.
Die Frage war: Ist nicht auch die Gesellschaft, die eine solche Exekution zu
Medienspektakel macht, pervers? Gibt es nicht eine Menschenwürde, die sogar noch
für einen Verbrecher zu gelten hat? Das Video wurde auch ins Internet gestellt und
wurde immer wieder abgerufen.
Hat dieses Video, haben die Aufnahmen der Folterszenen aus Abu Ghraib der
Aufklärung, der Information gedient? Braucht die Meute nicht immer wieder
entsprechende Sensationen, um bemerkt zu werden?
Die Zeitschrift „Chrismon“ dokumentierte in Erzählungen Betroffener das Verhalten
der Kamerateams beim Tsunami im Dezember 2004. Die Betroffenen erlebten
D:\68636281.doc
Seite 2 von 16
Journalisten bei der Jagd nach Bildern und Geschichten. Thomas Deckert und Ulrich
Meyer erzählten. Ich zitiere Deckert: "Wir waren auf dem Schiff - und unsere
Gedanken kreisten noch um das, was geschehen war: Wir dachten an das Kind, das
gestorben war. An den Mann, der durchgehalten - ein Franzose, Karin hatte ihm
Lieder gesungen, bis nach 14 Stunden der erste von zwei Hubschraubern kam.
Voller Adrenalin kamen wir in Phuket an. Stellen Sie sich das vor: eine schmale
Gangway, und auf der anderen Seite der ganze Kai voller Kameraleute. Das war ein
Spießrutenlauf! Dazu die Einheimischen, die uns berührten und "Lucky! Lucky"
riefen. Sie wollten von unserem Glück was abhaben, wir hatten ja überlebt. Die
Fotografen hielten uns die Kamera ins Gesicht und fragten in allen Sprachen. Wir
wollten selber fragen, wir hatten ja keine Ahnung vom Ausmaß der Katastrophe.
Aber die haben gefilmt und gefilmt, da war kein Respekt, gar nichts." ..."Noch eine
Situation: Wir waren noch auf der Insel, waren mit den Toten beschäftigt, die wir in
Leintücher eingewickelt hatten. Aber wir mussten ihnen doch einen Namen geben.
Wir haben sie wieder ausgepackt, den Anblick werde ich mein Leben nicht
vergessen. Ich hab dann "Heinrich" auf einen Zettel geschrieben... Also, ich mache
das Tuch auf, und auf einmal kommt da eine Kamera, "Foto machen!" - und jemand
macht ein Foto."
Meyer: "Ich habe dafür keine Entschuldigung. Das sind Menschen, die ihren Benefit,
ihren Nutzen aus einer Katastrophe ziehen."
Erinnern Sie sich an die Maddie-Story? Fehlte den Medien in der Berichterstattung
über die in Portugal verschwundene Madeleine Mc Cann die nötige Distanz? Die
Eltern des kleinen Mädchens haben die Medien für ihre Zwecke eingespannt. In
England brach geradezu eine Medienhysterie aus. Der Fall Maddie war zur Soap
Opera geworden.
Lutz Tillmann, Geschäftsführer des Deutschen Presserates meinte dazu:
"Medienvertreter aus der ganzen Welt haben sich gemeingemacht mit den Eltern der
entführten Madeleine Mc Cann, während diese wiederum - und das macht den Fall
so außergewöhnlich - sich ebenso gemein gemacht haben mit den Medien." Hätten
sich die Medien zurückhalten können oder müssen?
Ethisch relevante Fragen beim Medienkonsum und der Medienproduktion
Der Konsum wie die Medienproduktion werfen ethisch relevante Fragen auf:
Erstens auf der Vermittlungsebene: Mit welchem Ziel vermittle ich?
Zweitens auf der Inhaltsebene: Was vermittle ich?
Drittens auf der Präsentationsebene: Wie vermittle ich?
Diese Fragen sind unterschiedlichen Handlungs-, Moral- und Ethiksystemen
zugehörig. Dabei gilt sicher, dass Medienhandeln notwendig mit Normen
zusammenstößt. Medienschaffende, aber auch Mediennutzer müssen sich mit
diesen Normen auseinandersetzen, mit Normen, die auch miteinander konkurrieren
können. Die normativ vorgegebenen Verhaltensweisen können nur wirksam werden,
wenn individuell Verantwortung wahrgenommen wird.
Ich gebe zwei Beispiele für den Respekt als Voraussetzung jeglichen Handelns und
der Wahrnehmung von Verantwortung. Es sind Beispiele aus meiner journalistischen
Tätigkeit.
Im Rahmen von fünf einstündigen Dokumentationen über die Kultur und Geschichte
Syriens wollte ich auch einen Film über das muslimische Erbe drehen. Ich hatte die
schriftliche Erlaubnis des Religions- und Informationsministeriums, überall drehen zu
dürfen und stand eines Tages mit meinem großen Team vor der Sayda-ZeynabMoschee, in der eine Enkelin Mohammeds begraben ist. Ich wollte unbedingt in
D:\68636281.doc
Seite 3 von 16
dieser prächtigen und im Außenbezirk von Damaskus stehenden Moschee drehen
und zeigte dem Verwalter meine Dreherlaubnis. Doch dieser wehrte ab, weder das
Religions- noch das Informationsministerium interessiere ihn, noch nie sei ein
Fernsehteam in die Moschee gekommen und schon gar nicht eines von
Ungläubigen. Ich fragte: Kann ich den Imam, den höchsten Geistlichen der Moschee,
sprechen? Der komme erst in ein bis zwei Stunden wieder, war die Antwort. Ich
wartete und stimmte mein Team auf Geduld ein. Der Imam kam und sogar war sogar
bereit, mit mir zu sprechen.
Ich erklärte ihm meine Absicht, machte meine Kenntnis seiner Religion deutlich,
erläuterte ihm, dass ich mich im Koran auskenne. Wir tranken mehrere Tässchen
kardamongewürzten Kaffee, und noch etwa einer Stunde stand der bärtige Geistliche
auf, umarmte und küsste mich auf beide Wangen und sagte: Bruder, ich vertraue dir,
du hast Respekt vor meiner Religion, du wirst sie nicht schlecht machen, du kannst
alles haben. Und wir durften mit dem ganzen Team in der Moschee drehen, in der
die Gläubigen leidenschaftlich und laut vor dem Schrein der Heiligen beteten. Ich
hatte mich zurückgehalten, ich hatte Vertrauen gewonnen.
Ähnlich ging es mir in Japan. Jahrelang hatte ich bei der Vorbereitung eines Filmes
über die Kultur des Zen in Kyoto versucht, den Abt eines Klosters zu überzeugen,
dass ich mit dem Kamerateam bei einer nächtlichen Meditationszeremonie dabei
sein musste, wenn ich Zen erklären wollte. Immer wieder lehnte der Abt ab. Wir
störten nur, meinte er. Eines Tages saßen wir wieder beisammen, der Abt, ein mit
mir befreundeter japanischer Philosophieprofessor und ich. Ich wurde geprüft, ich
durfte meine Kenntnisse des Zen erläutern, und nach einer Weile entfernte sich der
Abt in ein Nebenzimmer. Dann kam er mit einem schönen Fächer zurück. Ich habe
für dich ein Haiku auf diesem Fächer geschrieben, sagte er, du hast mich überzeugt,
du hast du kannst heute Nacht mit deinem Team kommen und alles aufnehmen, was
du willst. Wäre ich selbstherrlich journalistisch aufgetreten, hätte ich nie die für
meinen Film wichtigen Szenen bekommen.
Doch, so frage ich auch: Ist es nicht verständlich, dass sich Menschen wehren, durch
die Medien in die Öffentlichkeit gezerrt zu werden? Wann ist die Grenze
überschritten? Wann darf ich Menschen nicht überreden, sich der Kamera zu
sterlen?
Mediale Verletzung oder Selbstauslieferung
In der letzten Zeit ist immer wieder von der Reality-Falle die Rede gewesen. Bei allen
Fernsehsendern haben sich die Doku-Soaps vermehrt. Menschen werden verlockt,
ihre Probleme, ihr Leben vor den Zuschauern auszubreiten. So in der Reihe "Frauen
Tausch" auf RTL II. Zwei Frauen wechseln für die Show zehn Tage lang ihre
Familien. Dabei werden sie ständig von der Kamera beobachtet. Man spricht vom
"Sozial-Spanner TV". Mehr als 60 solcher Sendungen finden sich pro Woche im
deutschen Fernsehen. Im "Spiegel" stand zu lesen: "Tag für Tag werden so im
deutschen Fernsehen Schuldner beraten, Kinder erzogen, Häuser umgebaut,
Schwiegertöchter gesucht und Frauen getauscht. Es werden Süchtige therapiert,
Ehen oder Restaurants gerettet, Nachbarschaftskräche geschlichtet, Straßenkinder
aufgelesen und Schulabschlüsse nachgemacht." Um die realen Protagonisten zu
finden, werden Scouts ausgeschickt, häufig sind sie Praktikanten oder Volontäre.
Immer wieder berichten mir junge Leute in meiner Fernsehakademie davon, dass sie
es kaum noch ertrügen, wieder auf die Suche nach einer Tochter, die bereit ist, im
Fernsehen ihre Mutter fertigzumachen, einen Exhibitionisten, einen Nachbarn, der
mit seinem Nachbar abrechnet, ausgeschickt zu werden.
D:\68636281.doc
Seite 4 von 16
Ist es mit dem journalistischen Ethos vereinbar, in dieser Weise Jagd auf Menschen
zu machen, sie für ein minimales Honorar breit zu klopfen, ins Studio zu kommen
und zur Unterhaltung der Massen ihre Situation möglichst wirklichkeitsnah
auszubreiten?
Da es immer schwieriger wird, Menschen mit spannenden Geschichten zu finden, ist
man neuerdings auf die Idee verfallen, denn Schauhunger so zu befriedigen, dass
man sich entsprechende Geschichten ausdenkt und versucht, Laiendarsteller, aber
auch Kleindarsteller zu gewinnen, die dann drehbuchgenau die neue Form der DokuSoap realisieren müssen. Dürfen Journalisten, Medienmacher, die Menschenwürde
verletzen, die Privatsphäre von Mitmenschen rücksichtslos öffentlich machen? Diese
Frage stellte sich auch bei der Verhaftung des ehemaligen Postchefs Klaus
Zumwinkel. Hatte die Bochumer Staatsanwaltschaft den Termin der bevorstehenden
Durchsuchung den Journalisten vorab signalisiert? Schon vor den Fahndern ist im
Morgengrauen ein Übertragungswagen des ZDF in dem Kölner Villenviertel
vorgefahren, in dem der mutmaßliche Steuerhinterzieher lebt. Gleich nach Beginn
der Razzia waren die Zuschauer live dabei.
Haben Promis, Personen des öffentlichen Lebens, in diesem Zusammenhang
weniger Rechte als andere Bürger? Wie war das, als die Bildzeitung über Seehofers
Berliner Geliebte und deren Schwangerschaft berichtete? Hatte hinter den Kulissen
jemand, vielleicht ein Parteifreund, die Infos an die Zeitung gegeben, um Seehofer
politisch matt zu setzen? Hätten sich die Journalisten, denen die Umstände
zugetragen wurden, weigern sollen, diese publik zu machen? Heribert Prantl hat
damals in der SZ geschrieben: "Das Blatt selbst hat sich in der Überschrift des ersten
Artikels zutreffend charakterisiert: Da steht das Wort <schmutzig>. Dieser
Selbstbeurteilung kann man nicht widersprechen, denn auf diesem Terrain kennt das
Blatt sich aus...Die Klärung seiner privaten Verhältnisse ist die Sache von Seehofer
und seiner Familie und nicht die einer Zeitung."
Die Medien verbreiten Informationen, was immer auch geschieht, scheint
berichteswert zu sein. Im Blick auf die Medienethik ergibt sich dabei der Konflikt
zwischen einem Recht auf Information seitens der Öffentlichkeit und dem
individuellen Persönlichkeits- und Datenschutz.
Immer wieder gelangt man so zum Skandaljournalismus, einer Berichterstattung, die
nicht primär der Information, sondern einer sichtlich sich ständig steigernden
Sensationsgier und einem Voyeurismus sondergleichen entgegenkommt.
Politiker bestimmen nicht nur über die Rundfunkgesetze das Programm mit, sondern
direkt auch über ihre Auftritte. Wie sollen Journalisten sich verhalten? Hätten sie zum
Beispiel Schröders Ehegeschichten nicht behandeln sollen? Sollten, konnten sie
kritisieren, dass Schröder quasi als Wahlvorbereitung Frau Köpf heiratete, damit er
auch als Ehemann punkten konnte?
Hätten Journalisten verhindern sollen und können, dass Theo Waigel seine neue
Frau in einer Talkshow von RTL dem Fernsehvolk vorführte, während in einer
Talkshow eines anderen kommerziellen TV Senders die Ehemalige die Zuschauer zu
Tränen rührte?
Die Turtel-Swimmingpool-Fotos des ehemaligen Verteidigungsministers Rudolf
Scharping, die in der Illustrierten "Die Bunte" veröffentlicht wurden, sind kritisiert
worden. Die Chefredakteurin der "Bunten", Frau Rieckel hat auf einer
Podiumsdiskussion bei den "Medientagen" deutlich gemacht, dass der Minister
selbst die treibende Kraft gewesen ist, er habe alle Bilder vor der Veröffentlichung
vorgelegt bekommen und sie freigegeben. Minister Scharping hatte sich also von der
Veröffentlichung seines Liebestaumelst etwas versprochen. Er galt nicht gerade als
ein sehr kommunikativer Zeitgenosse und schon gar nicht als Aufreißer. Journalisten
formulierten: "Er rührt sich nicht, schaut nicht, sagt nicht Muh noch Mäh. Dieses
D:\68636281.doc
Seite 5 von 16
Benehmen vertreibt die Leute aus seiner Nähe." Er war bitter davon enttäuscht, dass
seine andere Selbstwahrnehmung nicht honoriert wurde. Er selbst sah sich als
lockeren lustigen, gefühlsbetonten Zeitgenossen. Mit dem Knutsch-und
Planschbildern wollte er der Öffentlichkeit sein anderes Bild vermitteln. Hätten die
Journalisten der "Bunten" das Angebot Scharpings, an den Pool zu kommen,
ausschlagen sollen, vielleicht mit dem Hinweis auf moralische Bedenken? Hätten Sie
ihm sagen sollen: So benimmt man sich nicht in der Öffentlichkeit, so etwas tut man
nicht? Als kommerzielles Unternehmen wollte und musste die Illustrierte die Auflage
des Blattes steigern.
Scharping selbst hat sich mit den Fotos der Lächerlichkeit preisgegeben, hat sich
selbst demontiert. Wäre es die Aufgabe von Journalisten gewesen, ihn vor der
Selbstdemontage zu bewahren?
Vielleicht nicht in dieser Größenordnung, aber immer wieder in der Alltagsarbeit von
Journalisten, stellt sich die Frage: Soll ich so oder so handeln? Soll ich alles, was mir
angeboten wird, bringen? Darf ich überhaupt Wirklichkeit verhindern? Wie soll ich
einen Sachverhalt schildern, und komme ich bei solchen Entscheidungen nicht in die
Versuchung, die sogenannte Schere im Kopf wirksam werden zu lassen?
Kann es bei Amokläufen noch eine Privatspäre geben? Im "Spiegel" wurde ebenso
wie im "Stern" die Geschichte des jungen Amokläufers von Erfurt in allen Details
ausgebreitet. Während der "Stern" die Tat rekonstruierte und einige Interviews
brachte, hatte der "Spiegel" die Nase vorn und druckte eine Fülle von Familienfotos
ab. Die Familie beim Urlaub, in Teneriffa, Ungarn, der Junge vor einer Torte der
Aufschrift "Jugendweihe".
Das Privatleben inszeniert für die Medien.
Wie kam der "Spiegel" zu den Fotos? Die Familie muss sie ihm gegeben haben,
wahrscheinlich wurde viel Geld für sie bezahlt. Wieder: eine Öffnung der
Privatsphäre. Ohne Zwang, so dürfen wir fragen? Oder kann sich heute niemand
verweigern, wenn die Medien anrücken? Ist es selbstverständlich geworden, die
Türen zu öffnen und die Reporter ins Wohnzimmer zu bieten und ihnen auf jede
Frage zu antworten, ihnen auch die privatesten Bilder zur Verfügung zu stellen? Die
Reporter, die das Erfurter Amok-Drama ins Bild setzten, hätten wahrscheinlich
gelacht, wenn wir ihre Tätigkeit mit Fragen nach der Ethik ihres Tuns konfrontiert
hätten?
Anfang des Jahres 2001: Ein böser Nachbar sprengt gezielt sein Haus in die Luft, um
seine Familie zu schocken und Nachbarn umzubringen, nachdem er sich erschossen
hat. Mein Haus hat plötzlich keine Dachziegel mehr, keine Fenster und Türen. Es ist
Nacht, aber zwei Stunden nach der Tat stehen schon Fernsehteams privater Sender
in meinem Garten und wollen filmen, wollen mich interviewen. Ich werfe sie hinaus,
verbiete ihnen den Einbruch in meine Privatsphäre.
Einen besonderen Einblick in den Zusammenhang von Privatsphäre und Medien
lieferte die Berichterstattung über den Tod von Alexandra Schürmann, der Tochter
von Petra Schürmann, die viele Jahre lang eines der Vorzeigegesichter des
Fernsehens im Bayerischen Rundfunk gewesen war. Trauer und Beisetzung wurden
regelrecht inszeniert. Interviews mit der Mutter, die durch einen Selbstmordgeisterfahrer die auch beim Fernsehen beschäftigte Tochter verloren hatte, reihten sich
aneinander. Alle Boulevardzeitungen öffneten ihre Seiten, und die Betroffene breitete
ihren Schmerz detailliert aus. Was oder wer hatte sie zur Öffnung der Privatsphäre
genötigt? Oder hatte die bekannte Fernsehdame überhaupt keine Privatsphäre
mehr? Die AZ Sonderseiten über die Beisetzung gerieten zur Journalisten-Lyrik unter
Aufzählung von Prominamen.
D:\68636281.doc
Seite 6 von 16
Die Privatsphäre war wiederum von der Betroffenen selbst geöffnet worden, weil
Öffentlichkeit für die in der Öffentlichkeit Stehenden unerlässlich ist, weil sie sich im
Gespräch halten müssen? Petra Schürmann hat schließlich ein Buch über ihre
Trauer geschrieben, und auch die Entstehung und Präsentation des fertigen Buches
wurden wieder öffentlich zelebriert.
Ein Gegenbeispiel: Die Beerdigung der Frau, die bei einem Skiunfall durch
Ministerpräsident Althaus umkam, wurde von der Familie der Getöteten nicht zum
Medienereignis gemacht. Die Familie verbot jegliche Aufnahmen.
Für uns ist die Frage wichtig: Sollten sich die Betroffenen bei vergleichbaren
Ereignissen mehr zurückhalten oder sollten sich die Journalisten auf einen
Ehrenkodex verpflichtet fühlen, der es verbietet, mit Menschen und ihr persönliches
Umfeld breit ins Licht der Öffentlichkeit zu bringen?
Noch einmal Erfurt. Ich zitierte aus der "Süddeutschen Zeitung" vom 2.5.2002: "Vier
Stunden liegt der Mordlauf des 19jährigen zurück. In der Nähe des Gutenberg
Gymnasiums sitzt ein älterer Schüler auf einer Gartenmauer. Sein Gesicht ist rot
geweint, der Körper zittert. Instinktiv wendet man den Blick aus Anstand ab. Plötzlich
schreit er laut seinen Schmerz hinaus. Ein Kamerateam rennt hin, hält das Objektiv
drauf. Bevor es filmen kann, schützen die Freunde den Jungen. "Haut ab!" Als das
Team sich nicht trollt, greift ein Polizist ein." Der Oberbürgermeister hat schließlich
verfügt, dass bei Trauerfeiern auf Friedhöfen striktes Medienverbot herrscht. Ich
finde die Verfügung des Oberbürgermeisters verständlich und richtig.
Auch die Zeitschrift "Der Journalist", das Organ des deutschen Journalisten
Verbandes hat nach Ehrfurt die Frage nach journalistischer Qualität, Ethik und
Professionalität gestellt. Zitiert wird die des Direktors des Mitteldeutschen
Rundfunkhauses Erfurt, Werner Dieste: "Die Brutalität der Medienmaschinerie ist wie
ein Bulldozer über Ehrfurcht gerollt. Ein Katastrophenschutzhelfer sagte: >Wir kamen
fast nicht zu den Verletzten, soviel Pressemenschen standen vor dem Gutenberg
Gymnasium<. "Warum lasst Ihr uns nicht in Frieden trauern?" fragte eine Schülerin
wenige Tage nach dem Blutbad über Lautsprecher auf dem Erfurter Domplatz.
Auf Erfurt folgte die Bluttat von Winnenden. Tagelang hat sie die Schlagzeilen
bestimmt. Und wieder war die Berichterstattung höchst fragwürdig. Die "Bildzeitung"
titelte mit dem "Amok-Killer", aber auch der "Spiegel" hatte sichtlich nach Erfurt nichts
gelernt und trotz der seinerzeitigen Kritik den Mörder mit der Headline "Wenn Kinder
zu Killern werden" zum Titelhelden gemacht. "Und wenn wieder ein Amokläufer
kommt", fragte die achtjährige Lea ihre Eltern, "dann kommt er doch wieder im
Fernsehen, oder?" Auch Lea war wie andere Schülerinnen stundenlang im
Klassenzimmer eingesperrt gewesen.
In Amerika hatten die Eheleute Nancy und Philllip Garrido ein Mädchen entführt und
18 Jahre lang gefangen gehalten. Um an Nachrichten, Material, relevante
Gegenstände zu kommen, zahlten die amerikanischen Journalisten auch noch für
jedes Gerücht abenteuerliche Preise. Die Geschichte wurde medial ins HollywoodFormat gebracht.
Ein Blick in die Rundfunkgesetze.
Liefern sie die notwendigen Voraussetzungen für ethisches, journalistisches
Verhalten?
Nach dem Zusammenbruch des Hitler Regimes im Jahr 1945 stellte sich den Siegern
des Zweiten Weltkrieges als eine der wesentlichen Aufgaben die Neuordnung des
Rundfunks in Deutschland.
D:\68636281.doc
Seite 7 von 16
Hitler hatte den Rundfunk zum Reichs-Rundfunk und Propagandainstrument für
seine Absichten gemacht. Rund 10 Jahre lang waren den Deutschen die Parolen der
Nationalsozialisten ins Haus gefunkt worden. Nationales Bewusstsein,
Kampfbereitschaft und Glaube an den Endsieg sollten mithilfe des Rundfunks auch
dann noch angeheizt werden, als sich der Untergang des deutschen Größenwahns
sich schon an allen Fronten abzeichnete.
Die westlichen Alliierten, Amerikaner, Engländer und Franzosen, die neben den
Russen eigene Zonen Deutschlands nach der Kapitulation besetzten, ordneten das
Rundfunkwesen in diesen Zonen, noch ehe es das Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland und die entsprechenden Länderverfassungen gab, nach den ihnen
richtig erscheinenden Zielen. Im Gegensatz zu der östlichen Besatzungsmacht, den
Russen, sahen sie im Rundfunk ein Erziehungsmittel zur Demokratie und wollten ihn
absichern gegen die Gefahr staatlicher Oberhoheit, die für sie am schärfsten sich im
Rundfunk als Instrument der nationalsozialistischen Diktatur ausgedrückt hatte.
Wesentlichen Einfluss auf die Rundfunkneuordnung nahm Hugh Carlton Greene der
Rundfunkoffizier der britischen Zone und spätere Generaldirektor der englischen
BBC. Er wollte einen Rundfunk schaffen, frei von der "schweren Hand
parteipolitischer Kontrollen." Hugh Carlton Greene sagte in einer Rede, die er 1971
im Bayerischen Rundfunk in München hielt: "Der Preis der Freiheit ist ständige
Wachsamkeit und Widerstand gegen Druck. Nennen Sie mir ein Land, in dem
Rundfunkleute und Politiker häufig streiten, und ich nenne es eine Gesellschaft, die
freier ist als die meisten. Wo es derartige Streitigkeiten nicht gibt, ist Vorsicht am
Platze. Und nehmen Sie sich auch vor dem Rundfunkmann in acht, der von seiner
Unabhängigkeit spricht und im gleichen Atemzug erklärt, dass seine Beziehungen zu
Politikern ungetrübt sind.". In den Rundfunkgesetzen sind also Grundlagen eines
generell ethischen Verhaltens vorgegeben, nach dem sich auch die schon erwähnten
Pflichten zu richten haben.
Verändern die Medien Wertvorstellungen und Moral?
Wenn Fragen der Ethik eine Rolle spielen, so drängt sich sofort das Stichwort
Verantwortung auf. Gibt es auch im Journalismus eine Verantwortung für das, was
ich veröffentliche, eine Verantwortung Gesetzen gegenüber, gegenüber der
Gesellschaft, gegenüber meinem Gewissen, vielleicht sogar eine Verantwortung vor
Gott? Eine Verantwortung für andere, für das, was ich tue oder nicht tue?
Ich versuche nun an einigen Beispielen deutlich zu machen, wo für mich die Grenzen
der Darstellung von Wirklichkeit liegen und wo für mich die ethischen Fragen
beginnen.
Vor Jahren strahlten wir einen Film über die "Via Dolorosa" aus, der das
Basartreiben Jerusalems einfing, dieser Straße, in der Christen, Juden und Araber
miteinander umgehen und Pilger den Weg Christi nachgehen. In einer Sequenz des
Filmes wird gezeigt, wie Araber, Familienangehörige, den Gestorbenen aus einem
Hospital heraustragen und auf ein Auto verladen. Die Kamera zeigt den Vorgang. Die
Betroffenen sehen die Kamera. Sie wehren ab. Sie winken ab. Der Kameramann
dreht weiter. Eine Hand will nach der Kamera greifen. Der Kameramann dreht weiter.
Im endgültigen Film ist die ganze Szene zu sehen, auch die Hand, die vor die
Kamera greift, um das Bild zu verdecken. Der Redakteur und Autor des Films hat die
Szene nicht herausgenommen, sondern im Kommentar gesagt: "Die Leute wollten
nicht, dass wir drehen." Sein Text gipfelte in dem Satz: "Eine durchaus verständliche
Reaktion." Ich versuchte dem Kollegen klar zu machen, dass er falsch gehandelt
habe. Für mich war eine Schranke überschritten worden. Wirklichkeit?
Selbstverständlich, aber wenn der Verantwortliche glaubt, sagen zu müssen, er
D:\68636281.doc
Seite 8 von 16
empfinde die Abwehrreaktionen verständlich und doch nicht auf die Bilder verzichtet,
dann gerät er meiner Meinung nach in eine Ecke, in der die Verachtung für jene
beginnt, die unseren Kameras ausgesetzt sind.
Bei den Beratungen zum "Projekt-Plan" brachte einmal einer meiner Kollegen den
Vorschlag ein, die letzten Stunden eines Menschen zu filmen. Er habe das
Einverständnis des Sterbenden und seiner Angehörigen, und durch den sehr
sensiblen Produzenten und Autor sei auch die Gewähr gegeben, dass der Film
dezent werde. Ich habe mich trotzdem gegen den Plan ausgesprochen. Ich meinte,
dass es kein Informations- oder Wirklichkeitsrecht geben könne, das uns erlaubt, in
solchen Augenblicken die Kamera auf das Gesicht eines Menschen zu richten. Es
muss Situationen geben, bei denen die Kamera vor der den letzten Türen Halt
macht. Ich weiß, dass andere Rundfunkanstalten eine solche Sterbeszene bereits
gedreht haben, und auch in der Bundesrepublik ist, wie ich weiß, diese Schwelle
überschritten worden. Ich habe aber daran festgehalten, dass in dem Programm, in
dem ich persönlich Verantwortung übernommen hatte, immer Grenzen bleiben
mussten.
Bei der "INPUT" in Venedig, einer internationalen Fernsehmesse, kam einer der
meist diskutierten Filme aus Kanada. Ein Psychologe und Mitarbeiter des
kanadischen Fernsehens war stolz, ein Tabu gebrochen zu haben und versuchte auf
der Veranstaltung die Teilnehmer sogar in Einzelgesprächen von seinem Film zu
überzeugen. Er hatte seinen etwa achtjährigen Sohn gefilmt, während seine Frau ein
Kind erwartete. Der Junge musste oder durfte dabei sein, während der Frauenarzt
die Schwangere untersuchte. Der Mann selbst agierte als Autor des Films, der
einerseits die mehrmaligen Untersuchungen in allen Details, andererseits die
Reaktion des Kindes zeigte. Dann führte der Vater seinem Sohn Dias von einer
Geburt vor, um das Kind auch auf den Geburtsakt vorzubereiten. Das Kind hielt sich
immer wieder die Hände vor die Augen. Es wolle das Blut nicht sehen, erklärte es in
dieser Sequenz des Films. Der Vater ließ nicht locker. Und schließlich filmte er auch,
wie sein Sohn die Einleitung der Geburt, die Geburt selbst miterlebte. Der stolze
Filmemachervater war überzeugt, eine große Tat vollbracht zu haben, weil er als
Erster wieder eine geschlossene Tür aufgemacht hatte. Und er wurde von einer
großen Zahl von anwesenden Journalisten wegen seines Mutes bewundert und
gelobt. Ich fragte mich: Ist dies der richtige Weg? Und ich habe dem kanadischen
Kollegen auch gesagt, dass er meiner Meinung nach sein Kind vergewaltigt habe, als
er die Abwehrreaktionen dieses Kindes einfach beiseiteschob. Möglicherweise mag
ein solcher Film noch für wissenschaftliche Zwecke eine begrenzte Berechtigung
haben. Aber ist nicht die Intimität verletzt, wenn jemand seine Frau und sein Kind so
entblößt?
Journalistische Ethik und Geld
Darf Geld eine Rolle spielen, um an Informationen zukommen, darf Schmiergeld
gefordert werden, damit Interessenten eine Plattform im Medium geboten wird?
Journalisten sind immer wieder der Versuchung ausgesetzt, Geld- oder
Sachzuwendungen entgegenzunehmen und dafür Sendeplätze, Produktionsaufträge,
die Platzierung von Produkten anzubieten. Im Kampf um die beste Quote sind
Sender immer wieder bereit zu zahlen.
Der ORF hatte die Chance mit der befreiten Natascha Kampusch ein Interview zu
führen. RTL soll 250.000 " bezahlt haben, um das Interview auch in Deutschland
senden zu können. Wenn man bei einem so kostenträchtigen Thema nur genug
Werbeeinblendungen platziert, kann man die Viertelmillionen Euro wieder herein
bekommen. Die entführte und dann freigekommene Susanne Osthoff forderte
D:\68636281.doc
Seite 9 von 16
offensichtlich vor ihrem Auftritt im ZDF von der Moderatorin: "Sie sagen mir jetzt
vorher, was ich von Ihnen als Gnadenakt vom ZDF für diesen Auftrag kriege."
Wie stellt sich die Versuchung für den einzelnen Journalisten dar. Ich erinnere mich.
Eines Tages bot mir in meinen frühen Jahren, als ich gerade Hauptabteilungsleiter
geworden war, ein Produzent eine interessante Fernsehserie an. Schließlich meinte
er, wenn er den Produktionsauftrag bekäme, würde für mich auch einiges
herausspringen. Ich warf für ihn laut schimpfend zur Türe hinaus, meine
Sekretärinnen sprangen erschrocken auf. Aber ihre Kollegen in anderen
Rundfunkanstalten sind nicht so kleinlich, rief der Produzent mir zu, ehe er
verschwand.
In den folgenden Jahrzehnten meiner Tätigkeit bin ich nie wieder in Versuchung
geführt worden. Meine Reaktion scheint sich in der Branche schnell
herumgesprochen zu haben. Wer nicht den Anfängen wehrt, ist verloren.
Es ist einfach mit journalistischer Ethik nicht zu vereinbaren, sich schmieren zu
lassen.
Medien und Politik
Wir haben an einigen konkreten Fällen und Formen der Berichterstattung Konfliktfälle
betrachtet und müssen nun über diese hinaus die medienethischen Fragen in den
größeren gesellschaftlichen Zusammenhang stellen. Dabei kommen unweigerlich die
Politik beziehungsweise der Umgang der Medien mit der Politik und der Umgang der
Politik mit den Medien ins Spiel.
Albert Scharf, ehemaliger Intendant des Bayerischen Rundfunks, hat die
Grundtugenden eines redlichen Journalismus wie folgt benannt:
"Unvoreingenommenheit und Wahrhaftigkeit, Sachkunde und Überblick, Fairness,
angemessene Vielfalt bei der Vermittlung von Meinungen, Sorgfalt der Sprache und
zwar inhaltlich wie in der Grammatik. Offen und unabhängig muss der Vermittler
sein, frei und mutig, aber auch bescheiden und selbstkritisch, selbstbewusst, aber
nicht allzu selbstsicher, schon gar nicht hoch- und übermütig oder arrogant."
Das ist ein ganzer Blumenstrauß wichtiger Forderungen und hehrer Grundsätze.
Mehr als andere es sind die in den politischen Abteilungen tätigen Journalistinnen
und Journalisten vielfältigen Versuchungen ausgesetzt. Um die in den Kultur- oder
Bildungsredaktionen Tätigen kümmert sich kaum ein Politiker. Die politischen
Kollegen hingegen sind auf die Kontakte mit der Politik geradezu angewiesen. Die
Parteien unterhalten bei den Sendern sogenannte Freundeskreise, in denen nicht
nur das Programm besprochen wird, sondern auch Personalentscheidungen
vorbereitet werden. Die Stichworte: einmal schwarz, einmal rot. Die
Intendantenwahlen und die Berufungen der Direktorenposten beim ZDF sind ein
aufschlussreicher Spiegel für das politische Spiel, ein Spiel freilich, bei dem mit
eisernen Bandagen gefochten wird. Beim ZDF haben, so darf man sagen, die
Parteien großen Einfluss. Mit Hauen und Stechen wird um Kandidaten und Posten
gefeilscht, jede Seite versucht die andere auszutricksen. Der jüngste Konfliktfall
schwelt nun schon einige Monate. Es geht um die erneute Berufung des
Chefredakteurs. Eine Partei möchte verhindern, dass der amtierende Chefredakteur,
nachdem seine Vertragszeit ausgelaufen ist, wieder auf diese Position berufen wird.
Der politische Journalist/Journalistinnen müssen, wie gesagt, den Kontakt zur Politik
halten. Dabei geraten sie leicht in Konflikte. Anfragen um Interviews können positiv
oder negativ beschieden werden. Wer darf das Feriengespräch mit der
Bundeskanzlerin führen? Wer wird im Studio einem Spitzenpolitiker
gegenübergestellt? Wenn die Topjournalisten je nach der Farbe der Landesregierung
dieser oder jener Partei zuzurechnen sind oder ihr gar angehören, wie verhalten sie
D:\68636281.doc
Seite 10 von 16
sich in Konfliktfällen? Beweisen Sie eher journalistische Unabhängigkeit oder sind sie
offen oder verdeckt bereit, die eigene Partei und deren Verhaltensweise zustimmend
zu würdigen? Wie sieht es bei der Berichterstattung über mögliche ParteienSpendenskandale aus? Ist es nicht ein gefährlicher Weg, wenn man ein politisches
Magazin in die Nähe einer Partei rückt, während das andere der Gegenpartei
zugeordnet wird? Wie sieht ein offener, unabhängiger, objektiver Journalismus aus?
Halten sich die politischen Journalisten an die zitierten ethischen Grundsätze?
Politischer Journalismus, dies bedeutete in Deutschland immer auch einen kritischen
Journalismus, investigative Magazine lieferten Woche für Woche dafür Beispiele,
Berichte, an denen man sich reiben konnte, die herausforderte, die auch die Politiker
herausforderten. Was aber geschieht, wenn die Politiker sich diesen Magazinen
verweigern, den investigativen Journalismus gleichsam außer Kraft setzen? Seit
einiger Zeit müssen die Kollegen in den politischen Redaktionen hören: Der Herr
Minister, die Frau Ministerin stehen nicht zur Verfügung, sie sind voll mit Terminen.
Die gleichen Politiker stehen aber selbstverständlich für eine Talkshow zur
Verfügung, denn in diesen Talkshows werden sie nicht hart angefasst, sondern
können ein Statement nach dem anderen abgeben. Der fragende TV-Journalismus
verfällt vor den Augen des Publikums zu einer Selbstbeweihräucherung der
politischen Kaste. Politiker erobern die abendlichen Talkshows und werden nicht
mehr, wie ursprünglich gedacht, als zu befragende Gäste eingeladen sondern
spielen selbst die Talkmaster, so formulierte ein schreibender Kollege vor einiger
Zeit. Er wies auch darauf hin, dass Politiker und andere Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens eigene Talkshows erhalten hatten. Nicht mehr journalistische
Ausbildung, politische Unabhängigkeit und Distanz zu den Befragten waren gefragt.
Nur Prominenz zählt. Wo blieb die journalistische Ethik? Sie sehen: Das Thema ist
brisant.
Berichterstattung aus Kriegsgebieten
Ein besonderes Problem für die aktuelle politische Berichterstattung sind
kriegerische Auseinandersetzungen. Im Vietnamkrieg so kann man sagen, führte die
beinahe uneingeschränkte Berichterstattung, führten die Bilder vom Sterben der
Vietnamesen und der amerikanischen Soldaten zur Beendigung des Krieges. Die
grausamen Bilder, jeden Abend in allen amerikanischen Wohnzimmern, waren
unerträglich geworden.
Im Golfkrieg konnte nur sehr eingeschränkt berichtet werden. Wie soll der Reporter
vor Ort objektiv berichten, wenn ihm nur vorbereitetes, zensiertes Material zur
Verfügung steht? Doch schon vorher hatte die britische Agentur Hill and Knowlton
die Horrormeldungen lanciert, "dass irakische Soldaten 312 Babys aus ihrem
Brutkästen genommen und auf dem kühlen Krankenhausfußboden von Kuwaitstadt
hatten sterben lassen." Alle Medien griffen die Story auf, verbreiteten sie und heizten
damit den Hass auf Saddam Hussein an. In der UNO, der amerikanische Präsident
vor dem Kongress, überall wurde die erfundene Meldung mit Tränen in den Augen
nachgebetet. Die Story, erfunden von der minderjährigen Tochter des kuwaitischen
Botschafters in den USA, war Teil einer millionenschweren Kampagne, für die die
Saudis eine Werbefirma eingeschaltet hatten, um die Amerikaner zum Eingreifen zu
veranlassen.
Wir erfahren vom Kriegsgeschehen nur durch die Augen der Journalisten und
Kameraleute, ohne wahrscheinlich zu bedenken, welchen Einschränkungen diese
ausgesetzt sind. Was geschah in Kroatien wirklich, so müssen wir heute, viele Jahre
später, immer noch fragen, wie war die Berichterstattung im jüngsten Krieg im Nahen
Osten, wie ist die Berichterstattung über Nordkorea zu werten?
D:\68636281.doc
Seite 11 von 16
Fast fünf Wochen dauerte der Krieg zwischen den schiitischen Hisbollahmilizen und
der israelischen Armee. Wochen, in denen immer wieder die gleichen Bilder gezeigt
wurden. Israelisches Feuer auf der einen Seite, die leidende libanesische
Zivilbevölkerung auf der anderen Seite. Von der Hisbollah war zwar immer die Rede.
Gesehen aber hat man die Milizen so gut wie nie. Die einzigen Bilder, die es von der
Hisbollah gab, waren Archivaufnahmen, die Kämpfer in Uniform bei Paraden zeigten,
sowie zwei Ihre Milizionäre, die in israelische Gefangenschaft gerieten und dabei
gefilmt worden waren. Fotos oder Filme vom Kampfgeschehen aufseiten der
Hisbollah Fehlanzeige. Zu fragen ist: Trugen die Milizionäre bei ihrem Kampf gegen
die israelische Armee Uniformen? Oder waren sie in Zivil? Von wo aus feuerten sie
ihre Raketen ab, wo befanden sich ihre Stellungen? Wurde aus Wohngebieten
heraus operiert? Versuchte die Hisbollah, in ihrem Kampf gegen Israel mit der
Zivilbevölkerung im Libanon zu verschmelzen?
Die Genfer Abkommen von 1949 verbieten ausdrücklich das Vortäuschen eines
zivilen oder Nichtkombattantenstatus und verpflichten die Kriegsparteien "sich von
der Zivilbevölkerung zu unterscheiden." Auch das Abschießen von Raketen aus der
Mitte von Wohngebieten oder eine militärische Operation aus Büros, die in
Wohngebieten untergebracht sind, ist demzufolge eindeutig verboten.
Wer in den Kriegstagen als Berichterstatter in den Südlibanon reiste, war unter
Beobachtung der Hisbollah, die sorgsam darauf achtete, welche Motive die
Kameraleute und Fotografen wählten.
War dies ein Krieg, der über die Medien geführt wurde und deswegen ein
Propagandagewinn für die Hisbollah? Den Fernsehzuschauern boten sich über
Wochen die gleichen Bilder: Israelische Panzer und Artillerie, israelische Soldaten,
die von vor ihren Panzern beteten oder erschöpft daneben schliefen, und auf der
anderen Seite zerstörte Straßenzüge in den Vororten Beiruts und in anderen
Städten, schnell fahrende Ambulanzen und Opfer, die auf den Fernsehbildern aus
dem Libanon stets Zivilisten waren. Verwundete und getötete Kämpfer der Hisbollah
kamen in den Nachrichten nicht vor. Natürlich gab es sie, aber eben nicht in der
Wirklichkeit der Fernsehbilder.
In Israel: eine offene und alles andere als regierungsfreundliche Berichterstattung.
Eine kritische Debatte über den Einsatz im Libanon. Drehorte frei zugänglich. Bei der
Hisbollah: Die Zahl der angeblich getöteten Zivilisten hoch, später erst wurde die
Zahl korrigiert, 50 Menschen zuerst, dann nur eine Person. Die höhere Zahl aber war
schon stundenlang um die Welt gegangen. Ein Beispiel: Die toten Kinder von Kana,
die unter dem dreistöckigen Gebäude begraben wurden. Wurde aus dem Krieg ein
Krieg der Bilder? Man muss sich beispielsweise das Kind anschauen, das am Tag
nach dem Angriff auf Kana auf den Titelseiten der internationalen Presse zu sehen
war, ein totes Kind in den Armen eines schreienden Mannes. Wer war der Mann?
Nicht eine Bergung, eine Inszenierung wurde gezeigt. Der allgegenwärtige Helfer ist
über vier Stunden mit der geborgenen Leiche des Kindes von Kamera zu Kamera
gelaufen. Er hat das tote Kind bereits den Fotografen präsentiert, bevor er es später
aus den Trümmern zog. Die Hisbollah hat Regie geführt. Der lange Abstand
zwischen der Bombardierung des Gebäudes und seinem Zusammenbruch führt zu
Zweifeln am direkten Zusammenhang beider Ereignisse. Bei dem seltsam steifen
Körper n der Kinder hat offensichtlich Leichenstarre eingesetzt, was üblicherweise
erst Stunden nach dem Tod geschieht. Auf einem der Fotos hält der vermeintliche
Retter das tote Kind wie eine Trophäe über seinem Kopf, eine Geste, die ohne
Kameras völlig lächerlich wäre. Die Opfer so hat man gesagt, schreien nicht aus
Trauer, sondern um gehört zu werden.
Und möglicherweise sind sie von dem Kamerateam sogar aufgefordert worden,
besonders laut zu schreien, um starke Bilder zu bekommen.
D:\68636281.doc
Seite 12 von 16
Wie sollen Journalisten in solchen Situationen ihre Verantwortung wahrnehmen, wie
sollen sie ethische Standards hochhalten? Müssten sie ganz auf die Berichterstattung verzichten, wenn nicht garantiert werden kann, dass diese objektiv ist?
Dokumentationen
Wir haben über das journalistische Selbstverständnis, die journalistische Ethik am
Beispiel der Nachrichten, des Interviews, der Magazine und Gesprächsrunden
gesprochen. Ein wichtiger Bereich sind natürlich auch die Dokumentationen. Sie
kennen sicher die großen dokumentarischen Reihen des ZDF-Journalisten Guido
Knopp zu zeitgeschichtlichen Themen wie Wehrmacht, Himmler, Hitlers Helfer,
Hitlers Frauen etc. Knopp hat es fertiggebracht damit in Hauptabendsendezeiten
zukommen und ein großes Publikum zu erreichen. Eine Schar von Zuarbeitern
sammelt das Material, Buch und Videopublikationen tragen den Namen Knopp in
beinahe alle Haushalte. Vor allem in den ersten Serien wurden immer wieder
nachgestellten Szenen eingeblendet, Füße, Hände kamen ins Bild, die von
Schauspielern stammten. Das Originalmaterial reichte nicht aus. Und so mussten
auch reihenweise Zeitzeugen, die immer nur mit kurzen Sätzen zu Wort kamen,
einbezogen werden.
Immer wieder hat die Kritik nach der Zuverlässigkeit solcher Mittel gefragt, und der
Fernsehhistoriker verteidigte sich immer wieder mit dem Hinweis, er erstelle keine
wissenschaftlichen Dokumentationen, sondern wolle mit seinen Sendungen ein
breites Publikum erreichen und ihm zeitgeschichtliche Konstellationen verständlich
machen. Dass gerade bei der Erstellung zeitgeschichtlicher Dokumentationen sich
die Frage nach der historischen Wahrheit und damit auch die nach der
journalistischen Verantwortung stellt, ist selbstverständlich.
Medienwahlen
Wahlen sind, könnte man sagen, sind zu Medienwahlen geworden. Bestimmen wir
eigentlich noch mit Stimmzetteln den politischen Weg der Gesellschaft? Blicken wir
auf die letzten Bundestagswahlen. Man darf sie wohl als Medienwahlen bezeichnen.
Schon bei der ersten Schröder Sieges-Wahl schrieb die "Zeit": "Noch nie zuvor bei
einer deutschen Wahl gab es im Vorfeld ein Theater in diesem Ausmaß. Ein Kampf
der medialen Kreationen und Personen und ihre Identifikationsangebote für die
Wähler, die nicht nur wie gewohnt, sondern vor allem für das Fernsehen gespielt
wurden... Die televisionäre Transformation der Politik war das neue Fernsehthema
des Wahlkampfs." Was war geschehen? Ist die Wahl im, durch Fernsehen
entschieden worden? Blicken wir zurück auf die Vorwahlperiode. Werbebilder, die
Lafontaine und Schröder lächelnd zeigten, waren überall zu sehen. Lafontaine und
Schröder mit Ehefrauen. Schröders Auftritte in den Bundestagsdebatten, seine
Heirat, der makellose Ehemann, alles im Blick auf die Wahl. Schröder verdankte
seine Popularität dem Fernsehen. Der Parteitag der SPD in Leipzig wurde genau
nach einem Drehbuch inszeniert. Dagegen stand Kohl, der verbrauchte alte Mann,
der sich geradezu aufpumpte, um noch anzukommen. Dann der Parteitag der CSU.
Auf ihm teilte Kohl nicht den Parteifreunden, sondern im Fernsehvolk mit, dass es
sich Schäuble als Nachfolger wünsche. Schäuble war zu dieser Zeit schon auf der
Heimreise. Das Fernsehen war zum eigentlichen Sprachrohr der Regierung
geworden. Hatte sich das Fernsehen zum Sprachrohr machen lassen? Das
berühmte Sommerinterview Theo Waigels, in dem er dem Fernsehen, nicht den
Kabinettsmitgliedern der CSU, seine Amtsmüdigkeit wissen ließ, brachte ihm und
dem Journalisten Ärger. Ein einziger Journalist hatte es in der Hand, wann er die
D:\68636281.doc
Seite 13 von 16
Bombe hochgehen lassen, wann er das Band aus der Schublade holen wollte. Er
hatte das Band einige Zeit schlummern lassen.
Der Gewinner der Bundestagswahl wuchs immer stärker in die Rolle des
Medienkanzlers hinein, nachdem schon vorher die Gegner sich in den Medien in
Szene gesetzt hatten. Eingeständnisse von Niederlagen, Rücktritte, alles findet, alles
fand im Fernsehen statt. Auch die Bundestagswahl, in der Schröder und Stoiber zum
Fernsehduell antraten, war zum Medienspektakel geworden. Stoiber musste sich
einen eigenen Medienberater engagieren, der ihm seine vielen Ähs und langen
unvollständigen Sätze abtrainierte. Freilich wirkte vieles dann bei den
Fernsehauftritten wie einstudiert, unlebendig. Und Schröder kam die Flutkatastrophe
zur Hilfe. Werbewirksam konnte er sich in den Überschwemmungsgebieten als
Macher vor den Fernsehkameras präsentieren.
Im Fernsehen sprachen er und seine Minister davon, dass es sicher keine
Steuererhöhungen geben werde und dass das Nein zu jeder Unterstützung eines
möglichen Krieges gegen den Irak das letzte Wort sei. Nach der gewonnenen Wahl
sah alles anders aus. Wen kümmert das? Das Wahlvolk hatte die Medienkanzler
geglaubt, hatte ihm sein staatsmännisches und väterlich sicheres Auftreten mit den
entscheidenden Stimmen honoriert.
Bei der letzten Bundestagswahl konnten wir täglich bestaunen, wie Journalisten mit
den immer gleichen Politikern ihre sogenannten Wahlsendungen absolvierten. Ein
Höhepunkt sollte das Duell Merkel/Steinmeier werden, bei dem der Kanzlerin und
dem Außenminister eine Journalistin und drei Journalisten gegenübergestellt
wurden. Der Höhepunkt geriet, so war immer wieder nachher zu vernehmen, zu einer
Selbstdemontage des Journalismus, weil die Journalisten die Sendung auch zur
Selbstdarstellung benutzt hatten. Vor allem die Dame in der Runde gab Antworten
auch auf Fragen, die sie stellte. Der Informationsgewinn für die Zuschauer war
minimal, die Fragen konnten nichts Neues zutage fördern. Und auch bei dieser
Bundestagswahl wurden im Fernsehen Versprechungen abgegeben, wurden
Schwüre geleistet, die nach der Wahl, als die Politik wieder in der Tagesrealität
angekommen war, sich als Populismus entlarvten.
Ein Minister, der einen Monat lang nicht im Fernsehen war, ist schon ein toter
Minister.
Die Fernsehstudios sind zu Ersatzparlamenten geworden. Die wirklichen oder die
scheinbaren Streitgespräche werden nicht im Plenarsaal, sondern bei den so
genannten politischen Talkshows ausgeführt. Und am nächsten Tag zitieren die
Rundfunksender und die Zeitungen, was dieser oder jener Politiker bei den Damen,
meist sind es ja Damen, gesagt hat. Alle gehen sie hin, wenn sie auf angefragt
werden. Manche könnten schon die Festanstellung bei der ARD oder dem ZDF
einklagen, so häufig treten sie auf. Die politische Diskussion ist zum Showereignis
geworden. Interessant auch, dass die Verantwortung für die damalige Etablierung
der Sendung mit Christiansen nicht bei den politischen Chefs, sondern bei der
Unterhaltung fixiert wurde. Die Programmdirektion beugte sich der Forderung von
Frau Christiansen, die sich von den Politikjournalisten nichts dreinreden lassen
wollte. Politik unterwirft sich den Gesetzen des Mediums. Doch Medien sind nicht
einfach die Macht im Staat, weil sie sich diese Macht anmaßen würden. Zu fragen
ist: Wer instrumentalisiert wen? Kürzlich erst hat sich der Parlamentspräsident
beschwert, weil die öffentlich-rechtlichen Sender nicht die Wahl der Bundeskanzlerin
bzw. die Vereidigung der Minister übertrugen. Die Sender wehrten sich und sagten,
damit sei kein Publikum zu gewinnen.
Begeben wir uns auf die Seite der Journalisten. Sollten oder könnten sie noch
gegensteuern? Was wäre geschehen, wenn ARD und ZDF sich geweigert hätten, die
nach amerikanischem Muster veranstalteten Fernsehduelle mitzumachen? Was wäre
D:\68636281.doc
Seite 14 von 16
geschehen, wenn einer der Protagonisten sich geweigert hätte, die Amerikanisierung
des Wahlkampfes mitzumachen? Der Verweigerer wäre wohl als Feigling
gebrandmarkt worden.
Die Frage ist: Was gebe ich weiter? Wie verantworte ich von meinem Gewissen als
Journalist, vielleicht auch von meinem Gewissen als Staatsbürger, die Weitergabe
von Informationen, von Tatsachen, die ich recherchiert habe oder die mir zugetragen
wurden?
Das Lehrstück: Bill Clinton und die Medien
Stürzte der mächtigste Mann der Welt wegen der oder über die Medien?
Erinnern wir uns. Mit dem 21.9.1998, der Veröffentlichung der Videoaufzeichnung
der Vernehmung Clintons, so heißt es, hatte eine neue Epoche bis Medienzeitalters
begonnen.
Die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb: "Historisch einzigartig ist der Vorgang, der sich
da abspielt. Durch die Veröffentlichung intimster Angelegenheiten wird versucht, den
Präsidenten des mächtigsten Staates zu demütigen, seiner letzten politischen
Autorität zu berauben... Die Zurschaustellung von Privatem hat in diesem Fall die
Politik restlos verdrängt."
Was war geschehen? Im nie zuvor möglichem Ausmaß war die ganze Welt
eingeladen worden, sich als Voyeur zu betätigen und den Beklagten zu lynchen.
Nicht mehr die sinnvollerweise hinter den verschlossenen Türen eines Gerichtes
stattfindende Vernehmung, sondern das Volksurteil sollte entscheiden. Die
amerikanische Fernsehgesellschaft wurde mithilfe der Medien zu einem gigantischen
Volksgerichtshof gemacht.
Schon bei der Veröffentlichung der 4000seitigen Dokumente der Vernehmung oder
bei der Aussage von Monica Lewinsky hat der Anwalt Kenneth Starr manipulieren
dürfen, ohne dass es selbst vor Gericht gebracht worden wäre. Kenneth Starr hatte
das vierstündige Vernehmungsvideo zur Veröffentlichung freigegeben. Während
dieses Video im Fernsehen lief, sprach Clinton vor den Vereinten Nationen. Auf den
amerikanischen Bildschirmen war nichts von der in der Rede wichtigen politischen
Thematik zu sehen. Keines der vier großen Networks berichtete aus dem UNOHauptquartier, weil die Zeit der für das Clinton-Video gebraucht wurde. Auf CNN gab
es einen 15sekündigen Nachrichtenspot. Kenneth Starr hatte für seine Schnüffelei
übrigens schon 40 Millionen Dollar Steuergelder verpulvert.
Mit der Fernseherausstrahlung des Videos, so kann man sagen, zerstörte sich die
amerikanische Politik selbst. Kenneth Starr brach eine jahrhundertalte
angelsächsische Rechtstradition: die Vertraulichkeit der Grand Jury, der
Anklagekammer. Eine Verletzung, ein Bruch der Verfassung, fand statt. Denn
niemand darf ohne due process - unter Verletzung seiner unantastbaren Rechte verurteilt werden. Jeder Anwalt darf die Anklageschrift sehen, bevor sie publik wird.
Schon die 445 Seiten landeten jedoch erst im Kongress, dann erst im Weißen Haus.
Indem der Justizausschuss des Repräsentantenhauses die Veröffentlichung der
Verhörprotokolle genehmigte, verletzte er das amerikanische Recht, die
Menschenrechte, die Menschenwürde. Wilhelm Christbaum hat damals im
"Münchner Merkur" geschrieben, dies sei politische Kriminalität, die schwerer wiege
als die Notlüge Clintons.
Der Sexskandal war eine politische Hetzjagd, von Kenneth Starr und dem
Ausschussvorsitzenden Heyde seit Jahren vorbereitet. Kenneth Starr, der
Saubermann, der sich in pornographischen Details suhlte, erscheint dabei wie ein
Inquisitor, der Ketzer, vornehmlich Hexen, verbrennt, um sich an den nackten Frauen
aufzugeilen. Kenneth Starr, der beim Joggen geistliche Lieder singt.
D:\68636281.doc
Seite 15 von 16
Die elektronische Lynchjustiz, die in den USA ingang gesetzt wurde, muss zu denken
geben. Das Parlament hat durch die Veröffentlichung das Urteil der Straße
überlassen und sich seiner Richterrolle gegeben.
In New York titelte das Boulevardblatt "New York Daily News" aus Anlass der
Veröffentlichung des Videos "Heute ist Pornotag". Eine wahrhaft schreckliche
Titelung, die das ganze Ausmaß der auch journalistischen Bedenklichkeiten deutlich
macht.
Die Übertragung der Clinton-Aussagen sahen in Amerika über 22 Millionen
Menschen. Die Clinton-Lewinsky-Affäre hatte die amerikanische Medienlandschaft
verändert. Die Grenzen zwischen dritter und vierter Gewalt und die zwischen
Privatem und Öffentlichem waren endgültig niedergerissen.
Es gab keine Skrupel vor Indiskretionen mehr. Alles ist öffentlich, kann veröffentlicht
werden. Der amerikanische Enthüllungsjournalismus war zum
Inquisitionsjournalismus degeneriert. Nur noch die Quote zählte, die Internetkunden
zahlten Zeche. Jeder Skandal, jede Enthüllung ist erwünscht, wenn sie nur Leser,
Zuschauer finden.
Damit sind wir wieder bei der für unser Thema entscheidenden Frage: Wie hätten
sich die Verantwortlichen der Networks, der Zeitungen, verhalten sollen? Hätten Sie
ethisch verantwortlich gehandelt, hätten sie die Videos zurückweisen müssen. Doch
wer von ihnen hätte eine solche Verhaltensweise wagen können? Hätte er nicht
ausgestrahlt, nicht publiziert, die Konkurrenten hätten sich gefreut über den Zuwachs
von Zuschauern oder Lesern. Wahrscheinlich wäre er von den Aktionären, den
Gesellschaftern seines Senders, seiner Zeitung, gefeuert worden, denn er hätte sie
um einen Teil ihres Gewinns gebraucht.
Bei der Vermarktung des Videos im Internet ist noch ein Detail bemerkenswert. Um
das Interesse der Nutzer gezielt zu wecken, wurden die pornographischen Passagen
eigens gebündelt, damit die Internetnutzer nicht durch juristische oder andere
Passagen abgelenkt wurden.
Wie sind die deutschen Medien, das Fernsehen, mit den Clinton-Videos
umgegangen? CNN hat weltweit, auch in Deutschland, das Video veröffentlicht,
obwohl der genaue Inhalt der Videobänder noch keinem Sender bekannt war.
Sie wurden also ungeprüft auf die Ausstrahlungsmaschinen gelegt. Ein unglaublicher
Vorgang, ein Vorstoß gegen eine journalistische Grundregel. Phoenix, der ARD-ZDFEreignis-Kanal, hatte ursprünglich die Veröffentlichung angekündigt, dann aufgrund
laut gewordener Proteste nur Ausschnitte gezeigt.
In Frankreich hat der ehemalige Kultusminister Jack Lang von "audiovisuellem Mord"
gesprochen.
RTL hat aus dem Material den meisten Profit gemacht. In einer ExplosivSondersendung mit dem Titel "Das Verhör " Präsident Clinton in der Sex-Falle"
wurden am 21.9.1998 von 19:10 Uhr bis 19:40 nach eigenen Angaben des Senders
"die wichtigsten und für den Präsidenten wohl peinlichsten Auszüge" aus der
Befragung gezeigt. Doch damit nicht genug, das Video wurde bei RTL mit
zwischengeschnittenen, gestellten Szenen angereichert. Da hat ein Mann seine
Hose geöffnet und lässt sie auf die Füße rutschen, da kommen streichelnde Frauen
ins Bild, da schiebt sich jemand genüsslich eine Zigarre in den Mund, da grapschen
Pornodarsteller, die Clinton und Lewinsky ähnlich sehen, aneinander herum.
Das Erschreckende war eigentlich, dass unsere Gesellschaft einen solchen Vorgang
einfach hinnahm. Wir haben sichtlich gelernt, ein solches Verhalten als normal
anzusehen. Mit dieser Sendung erreichte RTL am 22.9.1998 4,33 Millionen
Zuschauer oder einen Marktanteil von 19,8%.
Arbeitsregeln für Journalisten.
D:\68636281.doc
Seite 16 von 16
Ich zitiere abschließend aus den medienethischen Grundsätzen des WDR:
Nachrichten und Berichte dürfen keinen Einzelinteressen dienen.
Die Journalisten/Journalistinnen sollen sich kompromisslos bemühen, unabhängig
und objektiv zu berichten.
Quellen müssen überprüft werden, und auch der Zwang zur schnellen Nachricht
unter Konkurrenzdruck mit den Privaten darf die journalistische Sorgfalt nicht
beeinträchtigen.
Missstände in der Gesellschaft sollten angesprochen und aufgedeckt werden. Der
öffentlich-rechtliche Rundfunk hat jedoch nicht die Rolle eines Richters einzunehmen
und sollte sich vorübereilten Urteilen hüten.
Menschen dürfen nicht herabgewürdigt und ausgegrenzt werden
Kommentare sind persönliche Meinungsäußerungen und müssen als solche
erkennbar sein.
Bei der Kriegs- und Krisenberichterstattung ist ganz besonders darauf zu achten,
dass sich Journalisten/ Journalistinnen nicht für fremde Zwecke instrumentalisieren
lassen.
Bei der Kriminalitäts-Berichterstattung muss darauf geachtet werden, dass Opfer von
Straftaten oder Unfällen und Tatverdächtige ein Recht auf Anonymität haben.
Bei Talk- und Spielshows dürfen keine voyeuristischen Tendenzen bedient werden.
Teilnehmer/innen von Spielshows und Talks sind vor der Selbstentblößung zu
bewahren.
Der Schutz der Privatsphäre der Teilnehmer ist höher zu bewerten als das öffentliche
Interesse an Enthüllungen.“
Ethik und Journalismus: ein Widerspruch? Nicht, wenn sich die Medienleute an die
genannten Grundsätze halten, ja, wenn sie den vielen Versuchungen, denen sie
immer wieder ausgesetzt sein werden, widerstehen.
Dr. Walter Flemmer, Busssardstraße 1 , 85716 Unterschleißheim.
Herunterladen