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Dr. Reinhard Marx
Mainzer Landstr. 127a
60327 Frankfurt am Main
T.
0049-69-24271734
F.
0049-69-24271735
[email protected]
www.ramarx.de
Grundkurs
zum
Ausländer- und Asylrecht
1
Gliederung:
A.
I.
II.
III.
IV.
Erteilung, Verlängerung und Verfestigung von Aufenthaltstiteln
Seite 9
Arten der Aufenthaltstitel
9
Duldung (§ 60a AufenthG)
10
Erteilung des Aufenthaltstitels
10
1.
Funktion des Prüfungsschemas
10
2.
Erlaubnisfreier und genehmigungsbedürftiger Aufenthalt
11
a)
Allgemeines
11
b)
Erlaubnisfreier Aufenthalt
11
c)
Genehmigungsbedürftiger Aufenthalt
12
d)
Gegenstandbereich des Aufenthaltstitels
13
aa)
Funktion des Aufenthaltzwecks
13
bb)
Zweckwechsel
13
3.
Zeitpunkt des Antrags und der Behördenentscheidung
14
a)
Zweck des zweiten Prüfungsschritts
14
b)
Antragstellung nach der Einreise
15
c)
Antragsbedürftigkeit des Verwaltungsverfahrens
15
d)
Kein formelles Anragserfordernis
15
e)
Antrag vor der Einreise
15
aa)
Zuständige Behörde
15
bb)
Vorabzustimmungsverfahren
17
Muster: Antrag auf Erteilung der
Vorabzustimmung (§ 31 Abs. 3 AufenthV) 17
cc)
Rechtsmittel
18
Muster: Remonstration gegen die Versagung
des Visums
18
Muster: Verpflichtungsklage und einstweilige
Anordnung nach § 123 VwGO auf
Erteilung des Visums
19
4.
Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen (§ 5 AufenthG)
20
a)
Funktion der Erteilungsvoraussetzungen
20
b)
Begriff des Regelfalles
20
c)
Die einzelnen Regelerteilungsvoraussetzungen
nach § 5 Abs. 1 AufenthG
20
aa)
Sicherung des Lebensunterhaltes (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 in
Verb. mit § 2 Abs. 3 AufenthG)
20
bb)
Geklärte Identität und Staatsangehörigkeit (§ 5 Abs. 1
Nr. 1a AufenthG)
21
cc)
Ausweisungsgrund (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG)
21
dd)
Interessen der Bundesrepublik (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) 23
ee)
Passpflicht (§§ 3, 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG)
24
ff)
Versagungsgrund nach (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG)
25
gg)
Sperrwirkung der Ausweisung und Abschiebung (§ 11 Abs. 1
Satz 2 AufenthG)
26
hh)
Sperrwirkung der Ausweisung und Abschiebung (§ 11 Abs. 1
Satz 2 AufenthG)
27
Verlängerung des Aufenthaltstitels
29
1.
Fortbestand der Ersterteilungsvoraussetzungen (§ 8 Abs. 1 AufenthG)
29
2.
Ausnahmen vom Erfordernis der Ersterteilungsvoraussetzungen
31
2
V.
VI.
B.
3.
Rechtzeitige Antragstellung
32
4.
Ausschluss der Verlängerung (§ 8 Abs. 2 AufenthG)
32
5.
Geltungsdauer des Aufenhthaltstitels
32
Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG)
34
1.
Funktion der Niederlassungserlaubnis
34
2.
Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis (§ 9 Abs. 2
bis 4 AufenthG)
36
a)
Allgemeines
36
b)
Besitz der Aufenthaltserlaubnis (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) 36
c)
Sicherung des Lebensunterhaltes (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 in Verb. mit §
2 Abs. 3 AufenthG)
38
d)
Kein Ausweisungsgrund (§ 5 Nr. 2 AufenthG)
39
e)
Altersvorsorge (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG)
40
aa)
Anwndungsbereich der Vorschrift
40
bb)
Umfang der Altersvorsorge
40
f)
Straffällig gewordene Antragsteller (§ 9 Abs. 2
Satz 1 Nr. 4 AufenthG)
41
g)
Ordnungsgemäße Beschäftigung (§ 9 Abs. 2
Satz 1 Nr. 5 AufenthG)
42
h)
Sonstige Berufsausübungserlaubnis (§ 9 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 AufenthG)
42
i)
Sprachliche Integrationsvoraussetzungen (§ 9 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 AufenthG)
42
j)
Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung (§ 9 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 AufenthG)
42
k)
Wohnraumerfordernis (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
in Verb. mit § 2 Abs. 4 AufenthG)
45
l)
Anfrage bei den Sicherheitsbehörden bei konkreten Zweifeln (§ 73 Abs.
2 Satz 2 AufenthG)
46
Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (§ 9a bis § 9 c AufenthG)
46
1.
Funktion der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten
46
2.
Voraussetzungen für die Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig
Aufenthaltsberechtigten
47
a)
Allgemeine Erteilungsvorazussetzungen
47
aa)
Allgemeine Grundsätze
47
bb)
Fünfjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet mit Aufenthaltstitel
(§ 9a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 AufenthG)
48
cc)
Anrechnungsverbote
50
dd)
Sicherung des Lebensunterhaltes
(§ 9a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG)
51
ee)
Integrationsvoraussetzungen
(§ 9a Abs. 1 Nr. 3 und 4 AufenthG)
52
ff)
Ausschlussgrund der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung
(§ 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG)
53
3.
Umfang derErlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (§ 9a Abs. 1 AufenthG)
53
4.
Erlöschensgründe (§ 51 Abs. 9 AufenthG)
55
5.
Aufenthaltserlaubnis für langfristig Aufenthaltsberechtigte aus anderen
Mitgliedstaaten (§ 38a AufenthG)
55
Vorläufiger Rechtsschutz gegen die Versagung der Erteilung oder Verlängerung
des Aufenthaltstitels
56
3
I.
II.
III.
C.
I.
II.
III.
IV.
D.
I.
II.
III.
Antrag auf Anorndung der aufschiebenden Wirkung des Widespruchs gegen die
Versagungsverfügung nach § 80 nAbs. 5 VwGO
56
1.
Zulässigkeit des Eilrechtsschutzantrags
56
a)
Verfahrensrechtliche Funktion des Antrags auf Erteilung oder
Verlängerung des Aufenthaltstitels
56
b)
Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 81 Abs. 3
AufenthG)
57
d)
Antrag auf Verlängerung oder Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels
(§ 81 Abs. 4 AufenthG)
59
aa)
Funktion der Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4AufenthG59
bb)
Anwendungsbereich der Fortgeltungsfiktion
60
cc)
Verspätete Antragstellung
61
dd)
Ausschluss der Fortgeltungsfiktion
63
e)
Form des Eilrechtsschutzantrags (§ 80 Abs. 5 VwGO)
63
Muster: Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des
Rechtsbehelfs gegen die Versagungsverfügung
63
f)
Antrag auf Erlass eines Hängebeschlusses
64
Muster: Antrag auf Erlass eines Hängebeschlusses
65
2.
Begründetheit des Antrags
65
a)
Gemeinschaftsrecht
65
Muster: Eilrechtsschutz gegen die Versagungsverfügung
gegenüber Unionsbürgern
66
b)
Keine eingeschränkte Prüfungsbefugnis
67
c)
Allgemeine Entscheidungskriterien
67
3.
Wirkung des stattgebenden Beschlusses
68
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VGO
69
1.
Zulässigkeit des Antrags
69
Muster: Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung und Hilfsweise – auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
69
2.
Begründetheit des Antrags
70
Hauptsacheverfahren
70
Struktur des Asylverfahrens
71
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
71
Ausländerbehörde
72
Bundespolizei
73
Aufnahmeeinrichtung
73
Einleitung des Asylvefahrens
74
Antragsabhängiges Verfahren
74
Muster: Asylrechtlicher Antragsschriftsatz mit Begründung
75
Persönliche Meldepflicht (§ 23 Abs. 1 AsylVfG)
76
Ausschluss vom Asylverfahren
78
1.
Allgemeines
78
2.
Zuständigkeit eines Dublin II-Staates (§ 27a AsylVfG)
79
a)
Vorbemerkung
79
b)
Kein Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens nach Art. 3 Abs.
1 Dublin II-VO
79
c)
Zuständigkeitskriterien nach der Dublin II-VO
80
d)
Berücksichtigung des Grundsatzes der Familieneinheit
82
e)
Versäumung der Überstellungsfrist nach
Art. 19 Abs. 4 Dublin II – VO
83
4
f)
E.
I.
II.
III.
F.
I.
II.
III.
Keine Anwendung der Dublin II-VO bei Abschiebungshindernissen
nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG
83
g)
Ausschluss des Eilrechtsschutzes
83
3.
Asylfolgeangtrag nach erneuter Einreise
84
Sachverhaltsaufklärung
84
Grundrechtsverwirklichung durch Verfahrensschutz
84
Umfang des Untersuchungsgrundsatzes
85
Persönliche Anhörung des Antragstellers
86
1.
Funktion der Anhörung nach § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG
86
2.
Umfang der Darlegungslast
87
a)
Persönliche Umstände und Tatsachen
87
b)
Allgemeine Verhältnisse im Herkunftsland
87
c)
Verhandlungsleitung und verfahrensrechtliche Fürsorge
87
d)
Behördliche Verpflichtung zu Vorhalten
88
e)
Praktische Empfehlungen zur persönlichen Anhörung
89
Materielle Entscheidungsgrundlagen
90
Praktische Bedeutung im Asylverfahren
90
Gegenstandsbereich des Asylverfahrens
91
1.
Allgemeines
91
2.
Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie)
92
3.
Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs
93
a)
Verhältnis der Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs zu denen des
subsidiären Schutzes
93
b)
Funktion des Flüchtlingsbegriffs
94
c)
Prüfstruktur des Flüchtlingsbegriffs
94
aa)
Verfolgungshandlung + Wegfall des nationalen Schutzes +
Verfolgungsgründe
94
bb)
Abweichungen der Flüchtlingseigenschaft vom Begriff der
„politischen“ Verfolgung
96
Begriff des Flüchtlings nach Art. 2 Buchst. c) RL2004/83/EG
(Qualifikationsrichtlinie)
97
1.
Begriff der Verfolgungshandlung (Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie)
97
a)
Vorbemerkung
97
b)
Begriff der Verfolgungshandlung (Art. 9 Abs. 1 der
Qualifikationsrichtlinie)
97
c)
Funktion der in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichneten
Regelbeispiele
99
2.
Wegfall des nationalen Schutzes
101
a)
Vorbemerkung
101
b)
Verfolgungsakteure (Art. 6 RL 2004/83/EG)
102
aa)
Allgemeines
102
bb)
Nichstaatliche Akteure (Art 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG, § 60
Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG)
103
cc)
Prüfung bei Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure 105
dd)
Schutzversagen
106
ee)
Maßgeblichkeit der Schutzlehre
107
d)
Zumutbarkeit der Beantragung nationalen Schutzes (Art. 7 RL
2004/83/EG)
109
aa)
Prüfungsstrukturen
109
Umfang der Darlegungslasten bei Verfolgung durch den Staat
oder diesem vergleichbare Organisationen
109
5
cc)
3.
Ratio der Darlegungslast bei Verfolgung durch nichtstaatliche
Akteure
111
dd)
Umfang der Darlegungslast bei Verfolgung durch nichtsaatliche
Akteure
112
ee)
Wirksamer nationaler Schutz vor der Ausreise (Art. 7 Abs. 2 RL
2004/83/EG)
113
ff)
Zumutbarkeit der Schutzbeantragung
114
gg)
Schutzgewährung durch de facto-Autoritäten (Art. 7 Abs. 1
Buchst. b) RL 2004/83/EG)
116
hh)
Schutzgewährung durch internationale Organisationen
117
d)
Individuelle Schutzgewährung nach Rückkehr
117
aa)
Allgemeine Grundsätze
117
bb)
Verfahrensrechtliche Funktion der Vorverfolgung (Art. 4 Abs. 4
RL 2004/83/EG)
118
e)
Prognoserechtlicher Schutzstandard (Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83EG) 120
aa)
Funktion der generellen Schutzgewährleistung
120
bb)
Abgrenzung zwischen ernsthaften und lediglich entfernt
liegenden Möglichkeiten
122
cc)
Individueller Zugang zum nationalen Schutzsystem
122
f)
Interner Schutz (Art. 8 RL 2004/83/EG)
123
aa)
Begriff der internen Schutzalternative
123
bb)
Voraussetzungen des internen Schutzes
124
(1)
Prüfungsschema
124
(2)
Ungefährdeter Zugang zum Ort der internen
Schutzalternative
124
(3)
Praktische Hindernisse im Sinne von Art. 8 RL
2004/83/EG
125
(4)
Zumutbarkeit des Aufsuchens des Ortes des internen
Schutzes
126
(5)
Sicherheit vor dem Zugriff der Verfolger
126
(6)
Zumutbarkeit der Lebensverhältnisse am Ort der
internen Schutzalternative
127
(7)
Keine Aufrechnung zwischen den am Herkunftsort und
am Ort des internen Schutzes bestehenden allgemeinen
Gegebenheiten
127
Verfolgungsgründe (Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie)
130
a)
Zuschreibung geschützter Merkmale (Art. 10 Abs. 2 RL 2004/83) 130
b)
Verfolgung wegen der Rasse (Art. 10 Abs. 1 Buchst. a) RL
2004/83/EG)
131
c)
Verfolgung wegen der Religion (Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL
2004/83/EG)
131
aa)
Umfang des Schutzbereichs
131
bb)
Prüfungsstufen
133
cc)
Prognoserechtliche Folgerungen aus dem weiten
Religionsbegriff
133
dd)
Glaubenswechsel
135
d)
Verfolgung wegen der Nationalität (Art. 10 Abs. 1 Buchst. c) RL
2004/83/EG)
136
e)
Verfolgung wegen des Geschlechts (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) RL
2004/83/EG)
137
aa)
Allgemeines
137
6
Begriff der „bestimmten sozialen Gruppe“ (Art. 1 A Nr. 2 GFK) 137
(1)
Kein innerer Zusammenhalt der Gruppe
137
(2)
Geschützte Merkmale (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 erster
Spiegelstrich RL 2004/83/EG)
138
(3)
Erfordernis einer fest umrissenen Identität (Art. 10 Abs. 1
Buchst. d) Abs. 1 zweiter Spiegelstrich RL 2004/83/EG
138
(4)
Verschränkung des externen und internen Ansatzes
140
cc)
Verfolgung wegen der sexuellen Ausrichtung (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d)
Abs. 2 Satz 2 RL 2004/83/EG
141
(1)
Begriffsbestimmung der sozialen Gruppe
141
(2)
Sexuelle Ausrichtzung als identitätsbestimmendes Merkmal 143
(3)
Glaubhaftmachung individueller sexueller Praktiken
144
cc)
Verfolgung aufgrund des Geschlechts (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2
Satz 2 zweiter Halbsatz RL 2004/83/EG)
145
(1)
Allgemeines
145
(2)
Bestimmung des Begriffs des Geschlechts (Gender)
146
f)
Verfolgung wegen der politischen Überzeugung (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) RL
2004/83/EG)
148
Subsidiärer Schutz (Art. 15 RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG)
148
1.
Allgemeines
148
2.
Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe (Art. 15 Buchst. a) RL
2004/83/EG)
149
3.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung
(Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG)
150
a)
Absolute Schutzwirkung des Folterverbotes
150
b)
Begriff der Folter
151
c)
Begriff der unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder
Bestrafung
151
d)
Verfahrensrechtliche Anforderungen
153
4.
Ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit (Art. 15
Buchst. c) RL 2004/83/EG; § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG
154
a)
Allgemeines
154
b)
Tatbestandliche Voraussetzungen von Art. 15 Buchst. c) RL
2004/83/EG
154
aa)
Begriff des internationalen bewaffneten Konfliktes
154
bb)
Begriff der „willkürlichen Gewalt“
156
cc)
Begriff der „ernsthaften individuellen Bedrohung“
157
dd)
Begriff der Zivilperson
160
c)
Verbot der Anwendung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3
AufenthG
161
aa)
Allgemeines
161
bb)
Bedeutung des Erwägungsrundes Nr. 26 RL 2004/83/EG 161
5.
Nationaler subsidiärer Schutz (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) 163
a)
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verb. mit Art. 3
EMRK
163
b)
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verb. mit Art. 9
EMRK (Verletzung der Religionsfreiheit)
164
c)
Refoulementschutz wegen Kriegsdienstverweigerung
165
d)
Refoulementschutz wegen Verletzung des Rechts auf ein faires
Verfahren (Art. 6 EMRK)
166
e)
Subsidiärer Schutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
168
bb)
IV.
7
aa)
bb)
cc)
dd)
ee)
ff)
Allgemeines
Betroffene Rechtsgüter
Erfordernis der erheblichen Gefahr
Begriff der konkreten Gefahr
Keien Anwendung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3
AufenthG bei Gesundheitsgefährdungen
Einwand der Nachsorge
168
168
169
169
171
171
8
A.
Erteilung, Verlängerung und Verfestigung von Aufenthaltstiteln
I.
Arten der Aufenthaltstitel
4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zählt abschließend die Aufenthaltstitel auf:
Aufenthaltserlaubnis (§ 7 AufenthG)
Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG)
das Visum (§ 6 AufenthG)
die Erlaubnis zum Daueraufenthalt (§ 9a AufenthG)
Das Gesetz nennt die Aufenthaltserlaubnis:
- zum Zwecke der Studienbewerbung und des Studiums (§ 16 Abs. 1 Satz 1 AufenthG)
- zum Zwecke der Teilnahme an Sprachkursen, die nicht der Studienvorbereitung dienen
(§ 16 Abs. 5 AufenthG)
- zum Zwecke des Schulbesuchs in Ausnahmefällen (§ 16 Abs. 5 AufenthG)
- zum Zwecke der betrieblichen Aus- und Weiterbildung (§ 17 AufenthG)
- zum Zwecke der Erwerbstätigkeit (Abschnitt 4)
- aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen (Abschnitt 5)
- zum Zwecke der Familienzusammenführung (Abschnitt 6).
In begründeten Fällen kann eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen im AufenthG nicht
vorgesehenen Aufenthaltszweck erteilt werden (§ 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG).
Der Prüfung der einzelnen materiellen Voraussetzungen, unter denen ein Aufenthaltstitel
erteilt werden kann, voran geht zunächst stets die formelle Prüfung. Jemand kann einen
materiellen Anspruch haben, kann diesen aber unter Umständen nicht durchsetzen, weil
Regelerteilungsgründe nicht oder Versagungsgründe vorliegen. Illustrativ hierfür sind etwa
die Vorschriften gegen die Umgehung der Einreisevorschriften, die allerdings nach § 5 Abs. 2
Satz 2 AufenthG geheilt werden kann, sowie die Sperrwirkung der Ausweisung. Solange die
Sperrwirkung nicht befristet worden ist, ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch dann
gesperrt (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), wenn ein Rechtsanspruch auf die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis besteht. Deshalb ist stets eine sehr sorgfältige und präzise Prüfung der
formellen Erteilungsvoraussetzungen geboten.
Das AufenthG unterscheidet in Rechtsansprüche auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (z.B. §
24 Abs. 1, § 25 Abs. 1 und 2, § 26 Abs. 3, § 28 Abs. 1 Satz 1, § 30 Abs. 1, § 31 Abs. 1, § 32
Abs. 1 bis 3, § 33, § 35, § 37 Abs. 1, § 38 Abs. 1 AufenthG), in Regel- oder Sollansprüche
(§ 25 Abs. 3 Satz 1, § 25 Abs. 5 Satz 2, § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) und in
Ermessenstatbestände. Ein Anspruch liegt vor, wenn die Ausländerbehörde nach einer
Rechtsvorschrift eine gebundene Entscheidung zu treffen hat. In diesem Fall werden nach der
auf die Regelerteilungs- und Versagungsgründe bezogenen formellen Prüfung lediglich die
anspruchsbegründenden Voraussetzungen der Rechtsvorschrift geprüft und findet
gegebenenfalls eine volle inhaltliche und rechtliche Kontrolle durch das Verwaltungsgericht
statt.
Nach überwiegender Auffassung liegt ein Anspruch auch dann vor, wenn das Gesetz einen
Regelanspruch festlegt. Auch in diesem Fall ist „im Regelfall“ eine gebundene Entscheidung
zu treffen, ohne dass Raum für eine Ermessensausübung besteht. Die Beurteilung, ob ein
Regel- oder Ausnahmefall vorliegt, obliegt der Ausländerbehörde und unterliegt der
uneingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Diese Grundsätze gelten auch für den
Sollanspruch (vgl. § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Auch in diesem Fall ist im Regelfall so zu
verfahren, wie es das Gesetz bestimmt. Ob im atypischen Ausnahmefall im
9
Anwendungsbereich der Norm und auf ihren Inhalt bezogen automatisch Ermessen auszuüben
ist, ergibt sich jeweils aus dem materiellen Recht und der Systematik des Gesetzes. Bei dieser
Beurteilung handelt es sich um die Auslegung einer Sollnorm. So wird etwa in den
Nachzugsfällen, in denen ein gesetzlicher Anspruch vorliegt und zugleich eine atypische
Fallkonstellation im Blick auf die Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG
glaubhaft gemacht wird, nicht nach Ermessen entschieden.
Die Mehrzahl der Erteilungsgründe des AufenthG sind als Ermessensnormen ausgestaltet
(vgl. z. B. § 16 bis § 21 AufenthG). Hier hat die Ausländerbehörde zunächst die
tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermessensnorm zu ermitteln und anschließend im
Rahmen der Ermessensausübung die maßgebenden öffentlichen und individuellen Belange
und Interesse festzustellen, ihr Gewicht zu bestimmen und gegeneinander abzuwägen. Die
gerichtliche Kontrolle ist auf Ermessensfehler (§ 114 VwGO), also Ermessensmangel,
Ermessensfehlgebrauch oder Ermessensüberschreitung sowie auf die Überprüfung der
tatsächlichen Voraussetzungen der Ermessensnorm beschränkt. Eine Ermessensreduzierung
(auf Null) ist nicht mit einem gesetzlichen Anspruch identisch. Sofern das Gesetz den Begriff
des gesetzlichen Anspruchs verwendet (z.B: § 10 Abs. 1 AufenthG), ist die
Ermessensreduzierung deshalb nicht eingeschlossen, wohl aber, wenn der Begriff Anspruch
verwendet wird, wie etwa in § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Alt., § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG), da nur
eine Entscheidungsalternative besteht.1
II. Duldung (§ 60a AufenthG)
Bei der Duldung handelt es sich um die „zeitweise Aussetzung der Abschiebung“ (§ 60a
Abs. 2 AufenthG), also nicht um einen besonderen Aufenthaltstitel. Vielmehr dokumentiert
die Duldung einen nicht rechtmäßigen Aufenthalt und beseitigt nicht die Ausreisepflicht nach
§ 50 Abs. 1 AufenthG. Allerdings ist der geduldete Aufenthalt als solcher nicht strafbar (vgl.
§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Wird die Duldungsbescheinigung (§ 60a Abs. 4 AufenthG)
nicht als Ausweisersatz ausgestellt, erfüllt der Duldungsinhaber indes den Straftatbestand
nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (vgl.§ 58 Nr. 2 AufenthV).2 Die Duldung erlischt mit der
Ausreise (vgl. § 60a Abs. 5 Satz 1 AufenthG).
III.
Erteilung des Aufenthaltstitels
1.
Funktion des Prüfungsschemas
Die Rechtsvorschriften über die Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels sollen
sicherstellen, dass die Zuwanderung politisch gesteuert werden kann. In der
Verwaltungspraxis kommt daher der strikten Einhaltung der entsprechenden Vorschriften für
die Begründung und Fortführung eines rechtmäßigen Aufenthaltes eine besondere Funktion
zu. Bei jedem ausländerrechtlichen Sachverhalt sind die Vorschriften über die Erteilung und
Verlängerung des Aufenthaltstitels von Bedeutung. Da die Fallgestaltungen in ihrem
zeitlichen Ablauf, ihrer faktischen Komplexität und ihrer materiell-rechtlichen Ausprägung
häufig sehr kompliziert sind, empfiehlt sich für die anwaltliche Beratung und Vertretung die
Verwendung eines Prüfungsschemas, wie es in Schaubild 1 graphisch dargestellt und in
diesem Abschnitt im Einzelnen erläutert wird.
Für die Bearbeitung ausländerrechtlicher Verfahren soll das Prüfungsschema dem Anwalt die
rechtliche Durchdringung des zur Prüfung gestellten Sachverhalts erleichtern. Es empfiehlt
1
A.A. Hans-Peter Welte, InfAuslR 2006, 50 (52).
10
sich deshalb, jeden ausländerrechtlichen Sachverhalt anhand dieses Schemas zu untersuchen.
Wegen der sehr formalen und aufeinander abgestimmten Einreise- und
Verlängerungsvorschriften kann die Verwendung des Prüfungsschemas einerseits dazu
führen, dass erfolglose Prozesse vermieden werden und die Verhandlungslösung mit der
Ausländerbehörde gesucht wird. Andererseits soll es dem Anwalt Hilfestellungen in den
Fällen geben, in denen nicht zwingend Vorschriften der Durchführung des
Verwaltungsverfahrens im Inland im Wege stehen.
2.
Erlaubnisfreier und genehmigungsbedürftiger Aufenthalt
a) Allgemeines
Das AufenthG unterscheidet den erlaubnisfreien vom genehmigungsbedürftigen
Aufenthalt. § 4 Abs. 1 AufenthG bekräftigt den traditionellen Erlaubnisvorbehalt, dass
Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels
bedürfen, sofern nicht durch Gemeinschaftsrecht, Assoziationsrecht zwischen der EWG und
Türkei (vgl. § 4 Abs. 5 AufenthG) oder durch Rechtsverordnung ein Aufenthaltsrecht besteht.
b) Erlaubnisfreier Aufenthalt
Die AufenthV regelt im Abschnitt 2 die Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels.
Nach § 15 AufenthV richtet sich die Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels für die
Einreise und den Aufenthalt von Ausländern für Kurzaufenthalte nach Gemeinschaftsrecht,
insbesondere nach dem SDÜ. Dieses trägt der Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes
und insbesondere der EU-Visum-Verordnung Nr. 539/2001 (EUVisaVO) Rechnung. Die
Verordnung bewirkt eine weitgehende Verdrängung des nationalen Rechts und regelt in § 1
Abs. 2, dass sichtvermerksfreie Drittstaatsangehörige (EUVisaVO Anhang II) für einen
Aufenthalt, der drei Monate nicht überschreitet, nicht der Visumpflicht unterliegen. Zeitlich
über diese Dauer hinausgehende Aufenthalte werden nicht von der Verordnung erfasst und
unterliegen damit auch nicht dem gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang, sodass die
nationalen Vorschriften des AufenthG sowie der AufenthV Anwendung finden.
Allerdings regelt die Verordnung entsprechend der international üblichen Praxis nur die
Einreise über die EU-Außengrenzen und nicht die Einreise über die EU-Binnengrenzen und
nicht den Aufenthalt nach der Einreise. Der Aufenthalt nach dem Übertritt über eine EUAußengrenze wird vielmehr durch Art. 20 Abs. 1 SDÜ geregelt.3 Dieser macht das Recht
sichtvermerksfreier Drittstaatsangehöriger auf Bewegungsfreiheit im gesamten SchengenRaum von den Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Buchst. a), c) bis e) SDÜ abhängig. Art. 20
SDÜ begründet somit im Blick auf die Aufenthaltsvoraussetzungen die notwendige
Ergänzung zur EUVisaVO und deren Einreisebestimmungen. Art. 20 SDÜ und EUVisaVO
zusammen gewährleisten damit, dass aus der Einreise über eine EU-Außengrenze und dem
anschließenden Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ein rechtseinheitlicher
Vorgang entstehen kann.4 Inzwischen wird sogar davon ausgegangen, dass Art. 20 SDÜ den
Charakter von unmittelbar geltendem Gemeinschaftsrecht aufweist und dementsprechend
durch EUVisaVO und Art. 20 SDÜ ein verbindliches, in sich geschlossenes System der
Sichtvermerksfreiheit von Drittstaatsangehörigen nach Anhang II der EUVisaVO bei
Kurzaufenthalten begründen.5 Maßgebend für das den erlaubnisfreien Aufenthalt regelnde
Gemeinschaftsrecht ist der Begriff des Kurzaufenthaltes. Ein Kurzaufenthalt ist nach § 1
3
Volker Westphal Edgar Stoppa, InfAuslR 2001, 309 (309 f.), Dirk Ostgathe/ Christian Nowicke, ZAR
2005, 360.
4
Dirk Ostgathe/ Christian Nowicke, ZAR 2005, 360 (361 f.).
5
Dirk Ostgathe/ Christian Nowicke, ZAR 2005, 362, mit Hinweisen.
11
Abs. 2 AufenthV ein Aufenthalt im gemeinsamen Gebiet der Schengen-Staaten von
höchstens drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten vom Tag der ersten
Einreise an.6
Nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ können sich sichtvermerksfreie Drittstaatsausländer im
Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten frei bewegen, höchstens jedoch drei Monate innerhalb
einer Frist von sechs Monaten vom Datum der ersten Einreise an. Nach Ablauf der Frist von
sechs Monaten können sie erneut die ihnen nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ zustehenden Rechte auf
einen genehmigungsfreien Aufenthalt von drei Monaten innerhalb eines Zeitraumes von sechs
Monaten wahrnehmen. Für das Gemeinschaftsgebiet ordnet Art. 1 Abs. 2 EUVisaVO an, dass
Staatsangehörige der in der Liste in Anhang II aufgeführten Drittländer von der Visumpflicht
für einen Aufenthalt, der insgesamt drei Monate nicht überschreitet, befreit sind. Maßgebend
für die Frage der erlaubnisfreien Einreise ist danach die Liste in Anhang II der EUVisaVO.
Diese Liste gilt sowohl für die EUVisaVO wie auch für Art. 20 Abs. 1 SDÜ. Die
erlaubnisfreie Einreise wie auch der erlaubnisfreie Aufenthalt sind also zunächst davon
abhängig, ob der Drittstaatsausländer auf der Anlage II der EUVisaVO verzeichnet ist.
Darüber hinaus steht der Aufenthalt unter dem Vorbehalt, dass es sich um einen
Kurzaufenthalt handelt. Nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ ist der Aufenthalt für drei Monate innerhalb
von sechs Monaten erlaubt. Hingegen ist nach Art. 1 Abs. 2 EUVisaVO nur ein Aufenthalt
von drei Monaten erlaubt.
Darüber hinaus wird vorausgesetzt, dass keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Während SDÜ
und die EUVisaVO die Frage der Erwerbstätigkeit nicht regeln, bestimmt § 17 Abs. 1
AufenthV, dass die Befreiung entfällt, sofern im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausgeübt
wird. Da nach § 17 Abs. 1 AufenthV „für die Einreise“ ein Aufenthaltstitel erforderlich ist,
wenn die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit geplant ist, führt die bereits bei der Einreise
bestehende Erwerbsabsicht zur unerlaubten Einreise. Lag die entsprechende Absicht bei der
Einreise nicht nachweislich vor, führt dies allerdings nicht zu einer gleichsam rückwirkend
unerlaubten Einreise. Konsequenz ist, dass der Betreffende wegen unerlaubter Einreise
zurückgewiesen (§ 15 Abs. 1 AufenthG) und zurückgeschoben (§ 57 Abs. 1 Satz 1 AufenthG)
wird. Ihm kann mangels Vorliegens der entsprechenden Erteilungsvoraussetzungen kein
Aufenthaltstitel erteilt werden (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Nach § 5 Abs. 2 Satz 2
AufenthG kann dieser Rechtsversagungsgrund jedoch beseitigt werden.
c).
Genehmigungsbedürftiger Aufenthalt
Liegen die Voraussetzungen für einen erlaubnisfreien Aufenthalt nicht vor, bedürfen auch
visumsfreie Drittstaatsausländer der Genehmigung der Einreise und des Aufenthalts.
Beabsichtigen sie mithin einen längeren Aufenthalt oder die Aufnahme einer
Erwerbstätigkeit, bedürfen ansonsten sichtvermerksfreie Drittstaatsausländer für die Einreise
und den Aufenthalt einer behördlichen Genehmigung (vgl. auch Art. 4 Abs. 3 EUVisaVO).
Darüber hinaus bedürfen visumpflichtige Drittstaatsausländer auch für einen Kurzaufenthalt
der vorherigen Genehmigung (§ 4 Abs. 1 AufenthG, Art. 21 SDÜ, Art. 1 Abs. 1 EuVisaVO).
Nach Art. 1 Abs. 1 der EUVisaVO benötigen die Drittstaatsausländer, die in Anhang I dieser
Verordnung aufgeführt sind, beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten ein
Visum. Eine Regelung, wonach im Anschluss an die Einreise auch für den Aufenthalt ein
Aufenthaltstitel erforderlich ist, enthält die Visum-Verordnung nicht. Insoweit ist nationales
Recht zu beachten. Danach fordert § 4 Abs. 1 AufenthG für den Aufenthalt den Besitz eines
Aufenthaltstitels.
6
S. hierzu auch Dirk Ostgathe/ Christian Nowicke, ZAR 2005, 360.
12
d)
Gegenstandsbereich des Aufenthaltstitels
aa)
Funktion des Aufenthaltszwecks
Drittstaatsausländer bedürfen unabhängig davon, ob sie sichtvermerksfrei einreisen dürfen
oder nicht, für einen längerfristigen Aufenthalt oder für einen Aufenthalt zur Ausübung einer
Erwerbstätigkeit eines nationalen Aufenthaltstitels. Der Aufenthaltstitel wird zu den im
AufenthG bezeichneten unterschiedlichen Aufenthaltszwecken (Kapitel 2 Abschnitt 3 bis 7)
erteilt (§ 7 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Das AufenthG allein enthält 54 unterschiedliche
Aufenthaltszwecke (vgl. Nr. 7.1.1.1 bis Nr. 7.1.1.2 VAH), von denen zehn zu einer
Niederlassungserlaubnis führen können (Nr. 7.1.1.2 VAH) und die übrigen zu einer
Aufenthaltserlaubnis. Der Zweck ist aus dem Aufenthaltstitel ersichtlich. Der Erteilungsgrund
wird in das Klebeetikett eingetragen. Damit wird neben dem Erteilungsgrund auch Art und
Umfang der Berechtigung zur Erwerbstätigkeit erkennbar (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG).
Je nach dem verfolgten Aufenthaltszweck ergeben sich aus dem Aufenthaltstitel
unterschiedliche Rechtsfolgen, etwa hinsichtlich der Möglichkeiten der Verfestigung, des
Familiennachzugs, der Erwerbstätigkeit oder des Zugangs zu sozialen Leistungen. Die strikte
Unterteilung der Aufenthaltstitel nach Aufenthaltszwecken schließt weder ein anfängliches
noch ein späteres Überlagern oder Zusammentreffen mehrerer Aufenthaltszwecke aus.7 Zwar
ist das Verhältnis mehrerer nacheinander oder gleichzeitig verfolgter Aufenthaltszwecke nicht
allgemein geregelt. Sie schließen sich teilweise aus (vgl. § 16 Abs. 2 AufenthG), sind jedoch
teilweise auch nebeneinander zulässig (vgl. § 16 Abs. 3 AufenthG). Teilweise werden mit
dem Aufenthalt notwendigerweise zwei Zwecke, z.B. Familienzusammenführung oder
Wiederkehr und Erwerbstätigkeit, verfolgt.
Der Antragsteller ist gehalten, sei es im Antragsverfahren gegenüber der deutschen
Auslandsvertretung oder gegenüber der Ausländerbehörde den Erteilungsgrund präzis zu
bezeichnen. Dieser bestimmt den Umfang der Prüfung. Der Antragsteller mag während des
anhängigen Verfahrens die Angabe des Aufenthaltszwecks ändern. Ändert er den
Aufenthaltszweck nach Erteilung des Aufenthaltstitels, liegt ein Zweckwechsel vor. Häufig
mag darüber hinaus der Zweckwechsel während des Antragsverfahrens negative
Auswirkungen auf die behördliche Entscheidung haben, so etwa, wenn anstelle des zunächst
beantragten Visums zur Familienzusammenführung ein Visum zu Besuchszwecken beantragt
wird.
bb)
Zweckwechsel
Wird ein Aufenthaltstitel zu einem anderen Zweck, als der dem Aufenthaltstitel bislang
zugrunde liegende, erteilt, handelt es sich um einen Zweckwechsel. Die Ausländerbehörde
prüft, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für den nunmehr geltend gemachten
Erteilungsgrund vorliegen, keine Ausschlussgründe eingreifen und übt, soweit erforderlich,
Ermessen aus. Gibt sie dem den Zweckwechsel erstrebenden Antrag statt, wird eine neue
Aufenthaltserlaubnis erteilt. Im Falle der Versagung gilt die bisherige Aufenthaltserlaubnis
bis zum Ablauf ihrer Geltungsdauer weiter (Nr. 7.1.2.2 Satz 1 bis 3 VAH). Ein Zweckwechsel
7
Günter Renner, AuslR, 8. Aufl., § 7 AufenthG Rd. 8.
13
ist grundsätzlich während des Studiums (§ 16 Abs. 2 AufenthG) sowie während einer
betrieblichen Aus- oder Weiterbildung ausgeschlossen.
Ein Zweckwechsel liegt auch vor, wenn zu dem bisherigen Aufenthaltszweck eine weiterer
hinzutritt oder von mehreren einer wegfällt. Nach der Eheschließung eines Erwerbstätigen
dient der Aufenthalt gleichzeitig zwei Zwecken. Nach der Auflösung der ehelichen
Lebensgemeinschaft entfällt der Zweck der Herstellung und Wahrung der familiären
Lebensgemeinschaft (§ 27 Abs. 1 AufenthG) oder er geht in ein selbständiges
Aufenthaltsrecht über (§ 31 AufenthG). Einen Zweckwechsel stellt es nicht dar, wenn das
zum Zwecke des Kindernachzugs ausgestellte Visum nach Einreise in eine
Aufenthaltserlaubnis umgewandelt wird. Es handelt sich hierbei auch nicht um einen Antrag
auf Ersterteilung, sondern um einen Verlängerungsantrag.8
Die Berufung auf eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen hat jedoch zur Folge,
dass die Behörde einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach jeder in
Betracht kommenden Vorschrift des 5. Abschnitts des AufenthG zu prüfen hat.9 Hat der
Antragsteller etwa die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 oder Abs.
5 AufenthG beantragt und wird nachträglich eine Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG
erlassen, so ist bei noch anhängigem Antragsverfahren von Amts wegen zu prüfen, ob der
Antragsteller auch die Voraussetzungen nach der Anordnung erfüllt.
3.
Zeitpunkt des Antrags und der Behördenentscheidung
a) Zweck des zweiten Prüfungsschritts
Den ausländerrechtlichen Regelungen ist der Grundsatz zu entnehmen, dass der
Aufenthaltstitel grundsätzlich vor der Einreise in Form des Sichtvermerks (Visums) zu
beantragen ist. Lassen die Rechtsvorschriften die Antragstellung nach der Einreise nicht zu,
ist der Antrag stets zwingend vor der Einreise zu stellen. Der zweite Prüfungsschritt hat den
Zeitpunkt des Antrags, also die Frage zum Gegenstand, ob der Antrag vor oder nach der
Einreise zu stellen ist. Dies darf nicht mit der Frage verwechselt werden, ob Einreise und
Aufenthalt erlaubnisfrei sind. Wer etwa zu einem Kurzaufenthalt erlaubnisfrei einreisen darf,
muss weder vor noch nach der Einreise einen Antrag stellen. Beabsichtigt er hingegen einen
längerfristigen Aufenthalt oder die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, darf er grundsätzlich
nicht erlaubnisfrei einreisen, sondern muss den Antrag vor der Einreise stellen. Einige
Personengruppen können allerdings den Antrag nach der Einreise stellen.
Sichtvermerkspflichtige Drittstaatsausländer müssen auch bei einem beabsichtigten
Kurzaufenthalt den Antrag stets vor der Einreise stellen. Ein sichtvermerkspflichtiger
Drittstaatsausländer, der ohne Visum einreist, reist illegal ein und erfüllt einen Ausweisungssowie einen Straftatbestand (§§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 14 Abs. 1
AufenthG). Auch der weitere Aufenthalt kann ausweisungs- und strafrechtliche
Konsequenzen haben (§§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 4 Abs. 1 AufenthG). Ist
der Antrag vor der Einreise zu stellen, sind Rechtsmittel gegen die Versagungsverfügung oder
andere behördliche Maßnahmen regelmäßig erfolglos, wenn keine Heilungsmöglichkeiten
über § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bestehen.
8
9
Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726.
BVerwG, NVwZ 2006, 1418 = InfAuslR 2006, …; OVG NW, InfAuslR 2007, 109.
14
b)
Antragstellung nach der Einreise
Unter bestimmten Voraussetzungen kann der Antrag nach der Einreise in das Bundesgebiet
gestellt werden. Der Gesetzgeber hat diese Fälle in § 5 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 AufenthG
sowie in § 39 bis § 41 AufenthV geregelt.
c) Antragsbedürftigkeit des Verwaltungsverfahrens
Die Gewährung des Aufenthaltstitels setzt einen Antrag voraus (mitwirkungsbedürftiger
Verwaltungsakt).10 Gegenstand des behördlichen Verfahrens bildet ein konkreter, auf einen
bestimmten Aufenthaltszweck gerichteter Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels.11 Der
Antrag ist sowohl für die Ersterteilung wie für die Verlängerung des Aufenthaltstitels
erforderlich (§§ 4 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1, 81 Abs. 4 AufenthG). Ergänzend ist die Vorschrift
des § 22 Satz 2 Nr. 1 des VwVfG des jeweiligen Landes heranzuziehen. Insbesondere bei
handschriftlichen Eintragungen des ausländischen Antragstellers auf den amtlichen
Vordrucken muss die Behörde stets den wirklichen Sinn des Antragsbegehrens ermitteln. Das
folgt aus der auch im öffentlichen Recht anzuwendenden Vorschrift des § 133 BGB, dem
zufolge bei der Auslegung von Willenserklärungen der wirkliche Wille zu erforschen und
nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdruckes zu haften ist. Die Behörde hat den Antragsteller
zu diesem Zweck zu belehren, zu beraten und persönlich anzuhören (§§ 25, 28 VwVfG). Den
Antragsteller treffen andererseits besondere Mitwirkungspflichten (vgl. § 82 AufenthG).
d)
Kein formelles Antragserfordernis
Den Regelungen in §§ 4 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1, 80 Abs. 4, 81 AufenthG kann kein formelles
Antragserfordernis entnommen werden. Nach der Verwaltungspraxis ist der Antrag auf
Erteilung des Aufenthaltstitels dagegen durch Verwendung von Formblattmustern bei der
Auslandsvertretung bzw. der zuständigen Ausländerbehörde zu stellen. Allein der persönlich
in mündlicher oder schriftlicher Form oder schriftsätzlich durch den Rechtsanwalt gestellte
Antrag wird regelmäßig ohne persönliche, formblattmäßige Antragstellung nicht bearbeitet.
Die Rechtswirksamkeit des gestellten Antrags, insbesondere die Frage der Rechtzeitigkeit des
gestellten Antrags für den Eintritt der Fiktionswirkungen nach § 81 Abs. 3 Satz 1 und
Abs. 4 AufenthG ist indes nicht von der Verwendung von Formblättern abhängig. Vielmehr
hat die Behörde jedes irgendwie geäußerte schriftliche, mündliche oder sonstwie geäußerte
Begehren als Antrag auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels zu behandeln,
wenn sich hieraus mit hinreichender Klarheit ein Antragsbegehren ergibt. Die Verwendung
von Vordrucken dient der effektiven Bearbeitung des Antrags und kann dem Antragsteller
nachträglich im Rahmen seiner ihm nach § 82 AufenthG obliegenden Mitwirkungspflichten
auferlegt werden. Jedenfalls wird durch das formlose Begehren rechtswirksam ein Antrag
gestellt.
d)
Antrag vor der Einreise
aa)
Zuständige Behörde
10
BVerwG, AuAS 1999, 218 (219).
Richter, NVwZ 1999, 726.
11
15
Der Antrag vor der Einreise ist bei der zuständigen diplomatischen oder berufskonsularischen
Vertretung (Auslandsvertretung), d.h. der Auslandsvertretung, in deren Amtsbezirk der
Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, zu stellen (§ 71 Abs. 2 AufenthG). Es wird
sich in aller Regel, muss aber nicht zwingend das Herkunftsland des Antragstellers, sein. Für
die Erteilung von Schengen-Visa ist der Staat zuständig, in dem das Hauptreiseziel liegt (Art.
12 Abs. 2 Satz 1 SDÜ; Nr. II 1, 1.1). Für die Verlängerung eines Visums nach der Einreise ist
die Ausländerbehörde zuständig (§ 6 Abs. 3 AufenthG). Unterhält die Bundesrepublik in
einem Staat keine Auslandsvertretung oder kann sie vorübergehend keine Visa erteilen,
richtet sich die Zuständigkeit für die Visaerteilung nach der Vertretungsregelung der
Schengen-Staaten (Nr. 71.2.1. Satz 4 VAH). Die Antragstellung hat persönlich oder durch den
legitimierten Vertreter zu erfolgen. Die Antragstellung setzt die Anwesenheit des
Antragstellers im jeweiligen Staat voraus, sie kann aber bereits während des
Besuchsaufenthaltes vom Bundesgebiet aus vorbereitet und begleitet werden. Die
erforderliche persönliche Vorsprache bei der Botschaft ist in diesem Fall nach der Rückkehr
in den Heimatstaat geboten. Die Zuständigkeit der Auslandsvertretung entfällt allerdings,
wenn der Antragsteller mit dem Ziel in das Bundesgebiet eingereist ist, hier seinen
Daueraufenthalt zu begründen.12
Das Visum kann mit Ermächtigung der zuständigen Auslandsvertretung oder des Auswärtigen
Amtes ausnahmsweise auch von einer anderen als der für den gewöhnlichen Aufenthalt des
Antragstellers zuständigen Auslandsvertretung, zumeist also einer grenznahen
Auslandsvertretung erteilt werden (Nr. 71.2.2 VAH). Das Auswärtige Amt kann auch durch
Weisung nach § 71 Abs. 2 AufenthG eine örtlich unzuständige Auslandsvertretung
ermächtigen, ein Visum zu erteilen. Allerdings enthält das geltende Recht über das frühere
Recht (vgl. § 9 Abs. 1 AuslG 1990; § 9 Abs. 2 DVAuslG) weit hinausgehende Ausnahmen
von der Anwendung der Voraussetzungen nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Danach kann
ungeachtet der Nichterfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 2
Satz 1 AufenthG der Aufenthaltstitel erteilt werden, wenn die Voraussetzungen eines
Rechtsanspruchs erfüllt sind oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles nicht
zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen (§ 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). In der
Gesetzesbegründung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nach der zweiten
Alternative in besonders gelagerten Einzelfällen, in denen bisher eine grenznahe
Auslandsvertretung zur Visumerteilung ermächtigt wurde, auf die Nachholung des
Visumverfahrens verzichtet werden kann.
Sofern kein bloßer Kurzaufenthalt geplant ist, hat die Auslandsvertretung grundsätzlich die
Zustimmung der für den vorgesehenen Aufenthaltsort zuständigen Ausländerbehörde
einzuholen (§ 31 AufenthV). Die Auslandsvertretung entscheidet ungeachtet dessen in eigener
Verantwortung über das Visum aufgrund der jeweils maßgebenden materiellen Vorschriften
der §§ 5 ff. AufenthG. Die Zustimmung der Ausländerbehörde für einen Aufenthalt von
länger als drei Monaten oder zu Erwerbszwecken ist zwingende Voraussetzung für die
Erteilung des Visums. Wird sie verweigert, muss der Antrag abgelehnt werden.13 Andererseits
liegt es im grundsätzlich weiten Ermessen der Auslandsvertretung, ob sie einen Sichtvermerk
erteilt, auch wenn die Ausländerbehörde bereits zugestimmt hat.14 Die Auslandsvertretung
12
OVG Berlin, InfAuslR 2004, 200 = AuAS 2004, 122.
13
BVerwG, InfAuslR 1990, 326 (327); Teipel, ZAR 1995, 163 (164).
BVerwG, InfAuslR 1990, 326 (327).
14
16
muss nachträglich ihr bekannt werdende Tatsachen, welche die Ausländerbehörde noch nicht
kennt, berücksichtigen. Sie hat entweder die Ausländerbehörde erneut mit dem Vorgang zu
befassen oder sie kann ihr Ermessen ohne erneute Beteiligung der Ausländerbehörde mit der
Folge ausüben, dass der Antrag abgelehnt wird.15 Diese Rechtsprechung ist freilich auf
Rechtsansprüche nicht anwendbar.
Das Zustimmungsverfahren bleibt ein behördeninternes Verfahren, auch wenn in der
Verwaltungspraxis die Einholung der Zustimmung oft vom Antragsteller selbst beantragt wird
oder die Ausländerbehörde eine Vorabzustimmung erteilt oder versagt. Unterbleibt das
vorgesehene Zustimmungsverfahren, kann es bis zur Klageerhebung nachgeholt werden.
Weder die Zustimmung noch deren Versagung ist ein Verwaltungsakt und deshalb nicht
selbständig anfechtbar. Es fehlt insoweit an der gebotenen Außenwirkung (§ 35 VwVfG). Im
Verwaltungsprozess hat die obligatorische Mitwirkung der Ausländerbehörde nach § 31
AufenthV die notwendige Beiladung der entsprechenden Körperschaft zur Folge (§ 65 Abs. 2
VwGO). Die Zustimmung ist bis zur Visumerteilung rücknehmbar oder widerrufbar, falls die
für sie maßgebenden Voraussetzungen nicht vorlagen oder nachträglich wegfallen. Nach
diesem Zeitpunkt ist die Rücknahme ausgeschlossen.16
bb)
Vorabzustimmungsverfahren
Die Ausländerbehörde kann auf Antrag des einreisewilligen Antragstellers oder eines Dritten
in dringenden Fällen, im Falle eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, eines
öffentlichen Interesses oder im Falle des § 18 oder § 19 AufenthG der Visumerteilung vor der
Beantragung des Visums bei der Auslandsvertretung zustimmen (Vorabzustimmung).17 In der
Verwaltungspraxis wurde bereits früher von dieser Möglichkeit in den Fällen Gebrauch
gemacht, in denen wegen der Anwendung zwingender Versagungsgründe der Antrag nicht im
Bundesgebiet gestellt werden konnte. Aufgrund der Vorschrift des § 5 Abs. 2 Satz 2
AufenthG wird die Bedeutung der Vorabzustimmung in der Praxis abnehmen. In der
Verwaltungspraxis wurde die Praxis der Vorabzustimmung zunehmend restriktiver
gehandhabt. Zunächst wurde früher lediglich bei Rechtsansprüchen von der
Vorabzustimmung Gebrauch gemacht. Schließlich mussten für die Erteilung der
Vorabzustimmung zusätzlich besondere humanitäre Gründe nachgewiesen werden. Nach dem
Wortlaut des § 31 Abs. 3 AufenthV kann diese Verwaltungspraxis keinen Bestand mehr
haben. Vielmehr ist eine großzügige Handhabung angezeigt.
Regelmäßig erteilt die zuständige Auslandsvertretung nach Vorlage der Vorabzustimmung
das Visum. Es bleibt aber eine Entscheidung der Auslandsvertretung (§ 71 Abs. 2 AufenthG).
In seltenen Ausnahmefällen lehnt die Auslandsvertretung allerdings ungeachtet der
Vorabzustimmung den Antrag ab. Der beratende Rechtsanwalt kann diese Fälle nicht
vorhersehen. Er sollte sich dennoch auf das Verfahren der Vorabzustimmung einlassen und
den Mandanten auf die regelmäßig lediglich theoretische Möglichkeit der deutschen
Auslandsvertretung hinweisen, der Vorabzustimmung nicht Folge zu leisten.
Muster:
Antrag auf Erteilung der Vorabzustimmung (§ 31 Abs. 3 AufenthV)
Landrat des Kreises…
15
16
17
Oliver Maor, ZAR 2005, 185 (189).
Günter Renner, AuslR, 8. Auflage, 2005, § 6 AufenthG Rd. 45.
S. hierzu Teipel, ZAR 1995, 163 (164).
17
Ausländerbehörde
Betr.: Erteilung der Vorabzustimmung
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich beziehe mich auf die Ihnen vorliegende Vollmacht sowie das mit Ihnen am … geführte
fernmündliche Gespräch und beantrage,
dem Antragsteller zum Zwecke der Visumerteilung gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
AufenthG durch das deutsche Generalkonsulat in Istanbul eine Vorabzustimmung zu
erteilen bzw. dem Generalkonsulat per Faxschreiben mitzuteilen, dass der Erteilung
des Visums zugestimmt wird.
cc)
Rechtsmittel
Wird das beantragte Visum abgelehnt, ist die Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland,
vertreten durch das Auswärtige Amt, zu richten. Ein Widerspruchsverfahren findet nicht statt.
Zuständiges Verwaltungsgericht ist das Verwaltungsgericht Berlin (§ 52 Nr. 2 Satz 4 VwGO).
Der Rechtsweg ist bei der Versagung eines Visums zu touristischen Zwecken allerdings
ausgeschlossen (§ 83 Satz 1 AufenthG). Interessengerecht ist die gerichtliche
Auseinandersetzung über die Versagung eines Visums zu touristischen Zwecken ohnehin
nicht. Hier kann der außerrechtliche Behelf der Remonstration erhoben werden, um von der
Behörde die für die Versagung maßgebenden Gründe zu erfahren und durch sach- und
fallbezogenen Gegenvortrag auf die behördliche Entscheidung Einfluss nehmen zu können
Visumentscheidungen bedürfen der Schriftform (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Sie werden
jedoch weder begründet noch mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen (§ 77 Abs. 2
AufenthG). In der Verwaltungspraxis wird teilweise eine kurze standardisierte Begründung
gegeben. Der Antragsteller erfährt selten die maßgeblichen Versagungsgründe. Ist lediglich
ein Besuchervisum beantragt worden, kann gegen die Versagung kein Rechtsmittel eingelegt
werden (§ 83 Satz 1 AufenthG). Aus diesem Grund wird in der Verwaltungspraxis der
außerrechtliche Rechtsbehelf der Remonstration erhoben. In der Verwaltungspraxis wird dem
Bevollmächtigten im Beteiligungsverfahren nach § 31 AufenthV nach schriftlicher
Zustimmung durch die zuständige Auslandsvertretung durch die Ausländerbehörde
Akteneinsicht gewährt.
Auf die Remonstration hin hat die Behörde die Gründe für die Ablehnung mitzuteilen. Da
regelmäßig neue Gründe und Nachweise vorgelegt werden, kann die Remonstration auch als
neuer Antrag behandelt werden. Durch Erhebung der Remonstration erfährt der Antragsteller
die Ablehnungsgründe und kann im Rahmen des Remonstrationsverfahrens
Gegenvorstellungen erheben. Ob der Bevollmächtigte in diesem Stadium des
Verwaltungsverfahrens ein Akteneinsichtsrecht hat, ist umstritten. Ist die Visumentscheidung
anfechtbar und entschließt der Antragsteller sich zur Klageerhebung, ist diese wegen der
fehlenden Rechtsbehelfsbelehrung innerhalb eines Jahres nach Zustellung zu erheben (vgl.
§ 58 Abs. 2 VwGO).
Muster :
Remonstration gegen die Versagung des Visums
Botschaft der Bundesrepublik Deutschland
18
– Visaabteilung –
Betr.:
Sehr geehrte Damen und Herren,
unter Vollmachtsvorlage bitte ich
im Rahmen der Remonstration um Überprüfung Ihrer Verfügung vom sowie um
Mitteilung der diese tragenden Gründe.
Scheitern außergerichtliche Einigungsbemühungen in den Fallen eines beantragten
Daueraufenthaltes, kann Verpflichtungsklage beim zuständigen Verwaltungsgericht Berlin
gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben werden. Die angefochtene Verfügung ist die
Versagungsentscheidung
in
Gestalt
des
Remonstrationsbescheides.
Beim
Remonstrationsbescheid handelt es sich nicht um einen Widerspruchsbescheid. Dieser ersetzt
vielmehr die ursprüngliche Versagungsentscheidung. Das früher zuständige Obergericht hatte
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dem Rechtssuchenden selbstredend auch im Falle der
Visumversagung die Möglichkeit der Beantragung des Erlasses einer einstweiligen
Anordnung nach § 123 VwGO eröffnet wird.18
Muster:
Verpflichtungsklage und einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO auf
Erteilung des Visums
An das
Verwaltungsgericht Berlin
Verpflichtungsklage und
Eilrechtsschutzantrag nach § 123 VwGO
der türkischen Staatsangehörigen
– Klägerin/Antragstellerin –
gegen
die Bundesrepublik Deutschland, endvertreten durch das Auswärtige Amt
– Beklagte/Antragsgegnerin –
wegen Visumserteilung
Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich die Klage und werde beantragen:
Die Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung der Verfügung des Generalkonsulats der
Bundesrepublik Deutschland Izmir vom , zugestellt am , der Klägerin ein Visum zur
Durchführung des Ehetermins vor dem Standesamt Frankfurt am Main am zu erteilen.
Des Weiteren wird beantragt,
im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO die Antragsgegnerin zu
verpflichten, zur Durchführung des Ehetermins vor dem Standesamt Frankfurt am Main
am und ausschließlich auf diesen Zweck begrenzt ein Visum für die Dauer von einer
Woche zu erteilen.
18
OVG NW, Beschl. v. 28.7.1999–17 B 1409/99.
19
4.
Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen (§ 5 AufenthG)
a) Funktion der Erteilungsvoraussetzungen
Die Vorschrift des § 5 AufenthG fasst die Erteilungs- und Versagungsvorschriften der §§ 6–9
AuslG 1990 in vereinfachter Form zusammen. Die Differenzierung des früheren Rechtes in
zwingende Versagungsgründe nach § 8 AuslG 1990 für Rechtsansprüche und in – bei
Ermessenstatbeständen zusätzlich zu prüfenden – Regelversagungsgründen (§ 7 Abs. 2 AuslG
1990) hatte sich in der Praxis nicht bewährt.75 Daher unterscheidet § 5 AufenthG mit
Ausnahme von Abs. 1 Nr. 3 nicht mehr danach, ob ein Rechtsanspruch auf Erteilung eines
Aufenthaltstitels besteht oder nach Ermessen entschieden werden kann. In dieser Vorschrift
werden die Erteilungsvoraussetzungen von grundlegendem staatlichen Interesse festgelegt.
Abweichende Regelungen finden sich in § 5 Abs. 3 AufenthG und in den spezialgesetzlichen
Erteilungsvorschriften. Während nach bisherigem Recht die Versagungsgründe regelmäßig
zwingender Natur waren (vgl. §§ 8 Abs. 1, 17 Abs. 2, 24 Abs. 1 Nr. 6, 27 Abs. 1 Nr. 5 AuslG
1990), löst das geltende Recht diese Rigidität auf und legt in § 5 Abs. 1 AufenthG
Regelerteilungsvoraussetzungen für alle Aufenthaltstitel und in § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG
Erteilungsvoraussetzungen für die Aufenthaltserlaubnis und die Niederlassungserlaubnis fest.
Zwar sind die Erteilungsgründe des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ebenso wie die des § 8 Abs. 1
AuslG 1990 zwingender Natur. Das Gesetz enthält jedoch in § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
Ausnahmen hiervon.
b)
Begriff des Regelfalles
Die Worte „in der Regel“ in § 5 Abs. 1 1. Hs. AufenthG stellen einen unbestimmten
Rechtsbegriff dar, dessen Anwendung durch die Behörde der vollen gerichtlichen
Überprüfung unterliegt. Danach beziehen sich die in § 5 Abs. 1 AufenthG genannten Gründe
auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender
Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind durch einen „atypischen Geschehensablauf“
gekennzeichnet, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht
des gesetzlichen Regelversagungsgrundes beseitigt.19 Danach liegt etwa dann ein
Ausnahmefall vor, wenn der Versagung des Aufenthaltstitels höherrangiges Recht
entgegensteht, insbesondere die Versagung mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen
(Ehe und Familie, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) unvereinbar ist.20
c) Die einzelnen Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG
aa)
Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG)
Die Erteilung des Aufenthaltstitels setzt in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt
gesichert ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Mit dieser Regel-Erteilungsvoraussetzung soll die
Inanspruchnahme
öffentlicher
Mittel
verhindert
werden.
Zweck
dieser
Erteilungsvoraussetzung ist es daher, die öffentlichen Haushalte davor zu bewahren, den
Lebensunterhalt eines Ausländers mit öffentlichen Mitteln sichern zu müssen.21 Der
19
20
21
BVerwGE 94, 35 (43, 44) = EZAR 028 Nr. 2.
BVerwGE 102, 12 (17) = InfAuslR 1997, 16; BVerwG, InfAuslR 1997, 240 (241); 1999, 332 (333).
OVG Berlin, InfAuslR 2006, 277 (278).
20
tatsächliche Bezug von Sozialleistungen stellt bereits einen Regelversagungsgrund nach § 5
Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 55 Nr. 6 AufenthG dar. Der Sozialleistungsbezug des deutschen
Ehegatten rechtfertigt allerdings nicht die Ausweisung nach § 55 Nr. 6 AufenthG und damit
nicht die Annahme des Regelversagungsgrundes nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Dies mag
anders sein, wenn der Sozialleistungsbezug des deutschen Ehepartners gerade auf der
Unterhaltspflichtverletzung des ausländischen Ehepartners beruht.22
Für die Berechnung des Lebensunterhaltes werden folgende Daten zugrundegelegt:
-
-
für Haushaltsvorstände oder Alleinstehende mit Euro 345,-- für die alten
Bundesländer mit Euro 331,-- für die neuen Bundesländerbeziffert (§ 20 Abs. 2 SGB
II) bestimmt.
Für den Partner ab Beginn des 19. Lebensjahres betragen die entsprechenden Werte
Euro 311,--/298,--,
für nicht erwerbsfähige Angehörige der Bedarfsgemeinschaften (§ 7 Abs. 3 SGB II)
bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres Euro 207,--/199,-und ab Beginn des 15. Lebensjahres Euro 276.--/265,--.
Zu den Einzelheiten dieses Regelerteilungsgrundes wird verwiesen auf
Marx, Aufenhalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 3. Auflage, 2007, S. 151 bis 158
bb)
Geklärte Identität und Staatsangehörigkeit (§ 5 Abs. 1a AufenthG)
Nach § 5 Abs. 1a AufenthG wird für die Erteilung des Aufenthaltstitels regelmäßig
vorausgesetzt, dass die Identität des Antragstellers und, falls er nicht zur Rückkehr in einen
anderen Staat berechtigt ist, die Staatsangehörigkeit geklärt ist. Identität und
Staatsangehörigkeit sind im Regelfall durch die Vorlage eines gültigen Passes (§ 3 in Verb.
mit § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) nachzuweisen. Praktische Bedeutung hat dieser
Regelerteilungsgrund vorrangig für die Erteilung des Aufenthaltstitels vor der Einreise. Da
der Antragsteller nicht im Besitz eines Passes ist (s. aber Art. 28 StlÜb), greift § 5 Abs. 1
Nr. 1a AufenthG ein. Sowohl für die Erteilung wie für die Verlängerung des Aufenthaltstitels
muss die Identität des Antragstellers geklärt sein.
Die zweite Alternative der Vorschrift zielt auf Staatenlose. Sofern diese einen Reiseausweis
eines anderen Staates, zumeist des Staates des gewöhnlichen Aufenthaltes, besitzen, muss
dieser im Zeitpunkt der Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels noch eine
Rückkehrberechtigung enthalten. Die Staatenlosigkeit als solche stellt kein gegenüber der
Ausländerbehörde feststellungsfähiges Rechtsverhältnis dar, weil sich aus dieser nicht
unmittelbar Rechte und Pflichten des Antragstellers und der Behörde ergeben. Vielmehr stellt
sie allein ein Tatbestandsmerkmal für unterschiedliche, sich aus verschiedenen Rechtsnormen
ergebende Rechtsbeziehungen dar. Die Staatenlosigkeit kann zwar ein tatsächliches
Abschiebungshindernis vermitteln, muss es aber etwa bei Übernahmebereitschaft eines
anderen Staates nicht.23
Sofern ein gültiger Pass oder Passersatz nicht nachgewiesen werden kann, sind die Identität
und Staatsangehörigkeit durch andere geeignete Mittel nachzuweisen (z.B. Geburtsurkunde,
andere amtliche Dokumente). Als Drittstaatsangehörige sind auch Personen zu behandeln, bei
denen noch nicht geklärt ist, ob sie Deutsche oder Unionsbürger sind (Nr. 5.1.1.3 Satz 3
22
23
OVG NW, InfAuslR 1999, 67 (68).
OVG Hamburg, InfAuslR 2005, 311
21
VAH). Die zur Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit erforderlichen Maßnahmen
nach § 49 Abs. 1 und 2 AufenthG veranlasst grundsätzlich die Ausländerbehörde (§ 71 Abs. 4
AufenthG). Eine Aufenthaltserlaubnis, die vom Antragsteller unter Angabe falscher
Personalien erwirkt worden ist und die auf den falschen Namen lautet, ist jedenfalls dann
nicht nach § 44 VwVfG nichtig, wenn sie mit einem Passfoto des Betroffenen verbunden und
diesem zuzuordnen ist.24
cc)
Ausweisungsgrund (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG)
Die Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis setzt nach § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt. Es reicht die Erfüllung
eines Ausweisungstatbestandes aus. Ob die Ausweisung im Einzelfall fehlerfrei verfügt
werden könnte, ist hingegen unerheblich. Daher ist keine hypothetische Prüfung
durchzuführen, ob der Antragsteller ausgewiesen werden könnte oder würde, und ob der
Ausweisung Schutzvorschriften entgegenstehen. Bei der Feststellung, ob ein
Ausweisungsgrund vorliegt, ist daher unbeachtlich, ob die Ausweisungsbeschränkungen des §
56 AufenthG gegeben sind (Nr. 5.1.2.1 VAH). Hat die Behörde aber bei einem Ausländer, der
nach Art. 3 Abs. 3 ENA besonderen Ausweisungsschutz genießt, auf die Ausweisung
verzichtet, kann sie sich nachträglich nicht auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG berufen.
Grundsätzlich liegt nach Nr. 5.1.2.1 VAH auch dann ein Ausweisungsgrund vor, wenn das im
EFA für den dort begünstigten Personenkreis geregelte Verbot der Ausweisung wegen
Sozialhilfebedürftigkeit vorliegt. Begründet wird dies damit, dass das EFA lediglich der
Ausweisung wegen Sozialhilfebedürftigkeit, nicht aber der Versagung der Erteilung und
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis aus diesem Grund entgegenstehe. Das geltende Recht
weicht indes von der früheren Rechtslage ab. Nach der früheren Rechtslage lag ein
Ausweisungsgrund vor, wenn der Unterhaltsberechtigte Sozialhilfe tatsächlich in Anspruch
nahm oder – zwar nicht in Anspruch nahm, aber – in Anspruch nehmen musste (vgl. § 46
Nr. 6 AuslG 1990). Lag das Einkommen des Unterhaltsverpflichteten unter der Grenze, die
nach dem Regelsatz bei Berücksichtigung aller Unterhaltsberechtigten erreicht werden
musste, lag ein Ausweisungsgrund vor, so dass die Aufenthaltsgenehmigung regelmäßig
weder erteilt noch verlängert wurde. Nach geltendem Recht liegt nur noch dann ein
Ausweisungsgrund vor, wenn ein Unterhaltsberechtigter tatsächlich Sozialhilfe in Anspruch
nimmt (vgl. § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG). Die zweite Alternative ist weggefallen, so dass ein
zu geringes Einkommen bezogen auf alle Unterhaltsberechtigten dem Antragsteller nicht
mehr entgegengehalten werden kann.
Der Ausweisungsgrund muss jedoch noch aktuell vorliegen, darf also nicht verbraucht sein.
Es muss dadurch also aktuell eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
oder sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland zu befürchten sein (Nr.
5.1.2.2 (VAH). Je gewichtiger jedoch der Ausweisungsgrund ist, umso weniger strenge
Voraussetzungen sind an die Prüfung des aktuellen Vorliegens einer Gefährdung zu stellen.
Ausweisungsgründe nach § 53, § 54 und § 55 Nr. 1 bis 3 AufenthG liegen solange vor, wie
eine Gefährdung fortbesteht. Längerfristige Obdachlosigkeit, Sozialhilfebezug und
Inanspruchnahme von Erziehungshilfe (§ 55 Nr. 5 2. Alt., Nr. 6 und 7 AufenthG) können
demgegenüber keine Grundlage für die Versagung bilden, wenn diese Umstände
zwischenzeitlich weggefallen sind. Ein Ausweisungsgrund ist unter dem Gesichtspunkt des
Vertrauensschutzes auch dann unbeachtlich, wenn er aufgrund einer Zusicherung der
Ausländerbehörde verbraucht ist (Nr. 5.1.2.2 VAH).
24
VGH BW, AuAS 2004, 245 (246).
22
Da es sich um einen Regelerteilungsgrund handelt, sind atypische Ausnahmefälle zu
berücksichtigen. Dabei sind die Dauer der Aufenthaltszeit, in der keine Straftaten begangen
wurden, im Verhältnis zur Gesamtaufenthaltsdauer zu setzen. Ein langjähriger Aufenthalt im
Bundesgebiet und die damit regelmäßig einhergehende Integration kann unter
Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine atypische Fallgestaltung in
der Weise begründen, dass schutzwürdige Belange des Antragstellers im Bundesgebiet zu
berücksichtigen sind und ein Aufenthaltstitel je nach dem Grad der Entfremdung vom
Herkunftsland grundsätzlich nur noch zur Gefahrenabwehr aus wichtigem Grund versagt
werden darf (Nr. 5.1.4.1 VAH). Hat der Antragsteller die Inanspruchnahme
sozialhilferechtlicher Leistungen etwa wegen unverschuldeter Arbeitslosigkeit oder eines
unverschuldeten Unfalls nicht zu vertreten und hält er sich seit vielen Jahren rechtmäßig im
Bundesgebiet auf, ist dieser Umstand insbesondere dann zu seinen Gunsten zu gewichten,
wenn er aufgrund seiner Sondersituation dem deutschen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung
steht oder die Minderung der Erwerbsfähigkeit einen ergänzenden Bezug von Leistungen
nach SGB II oder SGB XII erforderlich macht ((Nr. 5.1.4.2 VAH). Dies gilt auch bei der
Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG (Nr. 5.1.4.2 VAH). Bei
langjährigem Aufenthalt ist auch zu berücksichtigen, ob diese Leistungen nur in geringer
Höhe oder nur für eine Übergangszeit in Anspruch genommen werden (Nr. 5.1.4.3 VAH). Bei
Obdachlosigkeit kann eine Abweichung von der Regel gerechtfertigt sein, wenn es sich um
einen Ausländer handelt, der zusammen mit seinen Familienangehörigen seit längerer Zeit im
Bundesgebiet lebt, beschäftigt ist und folglich seine Existenzgrundlage und die seines
Ehegatten sowie seiner minderjährigen Kinder verlieren würde, wenn er mangels
Aufenthaltstitel das Bundesgebiet verlassen müsste und ihm unter Berücksichtigung seines
Lebensalters im Heimatstaat der Aufbau einer Existenzgrundlage nicht mehr ohne weiteres
zumutbar wäre (Nr. 5.1.4.4 VAH).
dd)
Interessen der Bundesrepublik (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG)
Soweit kein Anspruch auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht, darf der Aufenthalt
des Ausländers nicht aus einem sonstigen Grund Interessen der Bundesrepublik Deutschland
beeinträchtigen oder gefährden. Für das Vorliegen eines Anspruchs kommt es nicht allein
darauf an, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Anspruchsnorm erfüllt sind. Ein
Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ist vielmehr grundsätzlich nicht gegeben, wenn
trotz Vorliegens der anspruchsbegründenden Tatbestandsvoraussetzungen einer
Anspruchsnorm eine der allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen, z.B. die Sicherung des
Lebensunterhalts, nicht vorliegen und hiervon nur nach behördlichem Ermessen abgewichen
werden kann.25 In einem solchen Fall findet § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG mithin Anwendung.
Der Regelversagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG stellt eine Art Auffangtatbestand
für die Ermessensverwaltung dar. Die Ausländerbehörde hat unter Berücksichtigung des
bisherigen Werdegangs des Antragstellers eine Prognoseentscheidung zu treffen Nr. 5.1.3.0,
Satz 5 VAH). Der Begriff der Interessen der Bundesrepublik Deutschland umfasst in einem
weiten Sinne sämtliche öffentlichen Interessen. Die Regelerteilungsvoraussetzung erfordert
nicht die Beeinträchtigung eines „erheblichen“ öffentlichen Interesses. Eine Gefährdung
öffentlicher Interessen ist anzunehmen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der
Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet öffentliche Interessen mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit beeinträchtigen wird (Nr. 5.1.3.0 VAH). Unverändert gehört das
öffentliche Interesse an der Einhaltung des Aufenthaltsrechts einschließlich der
Einreisevorschriften zu den öffentlichen Interessen. Dieses Interesse ist verletzt, wenn der
Antragsteller in das Bundesgebiet einreist und sich die Art des von ihm angestrebten und
25
OLG Sachsen, AuAS 2006, 242 (243).
23
danach erteilten Aufenthaltstitels mit dem tatsächlich angestrebten Aufenthaltstitel oder –
Zweck nicht deckt. Auch im Visumverfahren findet der Regelerteilungsgrund bereits im
Stadium der Gefährdung Anwendung, ohne dass sich die Gefahr in einer tatsächlich
feststehenden Interessenbeeinträchtigung verwirklicht haben muss (Nr. 5.1.3.1.1 VAH).
§ 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bestimmt als Voraussetzung für die Erteilung eines
längerfristigen oder dauerhaften Aufenthaltstitels, dass das Visumverfahren nicht nur
ordnungsgemäß, sondern auch unter vollständiger Angabe insbesondere des
Aufenthaltszwecks durchgeführt worden ist. Mit § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG wird die
Funktion des Visumverfahrens als wichtigstes Steuerungsinstrument der Zuwanderung
gewährleistet (Nr. 5.2.1 VAH). Dieser Versagungsgrund trägt mithin dem öffentlichen
Interesse Rechnung, die Einreise auf dem gesetzlich vorgesehenen Weg zu steuern und zu
kontrollieren. Dies verbietet es grundsätzlich, den ohne das ordnungsgemäße Visum
begründeten Aufenthalt nachträglich im Wege der Erteilung eines Aufenthaltstitels zu
legalisieren.
Im Blick auf die Ermessensverwaltung findet dieses öffentliche Interesse bereits und
zusätzlich im Regelversagungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG seinen Ausdruck. Die
Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kommt nur zum Tragen, wenn ein
Visum erforderlich ist. Dies ist nicht der Fall, soweit der Antragsteller nach § 39 bis § 41
AufenthV den Aufenthaltstitel nach der Einreise einholen darf. Darüber hinaus sind die
Ausnahmen nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu beachten. Dem Antragsteller, der bereits eine
Aufenthaltserlaubnis besitzt und deren Verlängerung oder die Erteilung eines Aufenthaltstitels
zu einem anderen Zweck begehrt, kann bei dieser Gelegenheit ein früherer Visumverstoß
nicht mehr vorgehalten werden (§ 39 Abs. 1 Nr. 1 AufenthV).
Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG wird für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder einer
Niederlassungserlaubnis vorausgesetzt, dass die Einreise mit dem erforderlichen Visum
erfolgte (Nr. 1) und die für die Erteilung des Visums maßgeblichen Angaben bereits im
Visumantrag gemacht wurden (Nr. 2). Diese Vorschrift entspricht § 8 Abs. 1 Nr. 1 und 2
AuslG 1990. Die Versagungsgründe nach § 8 AuslG 1990 hatten zwingenden Charakter und
standen der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung aus Rechtsgründen entgegen. Das galt
nicht nur für Rechtsansprüche, sondern erst recht für Ermessensentscheidungen. An diese
Rechtslage knüpft § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG an. Regelfall dieser Norm ist mithin, dass die
Zustimmung der Ausländerbehörde nicht eingeholt wurde (vgl. § 31 AufenthV). Nach ihrem
Zweck, eine wirksame Einreisekontrolle bereits vor der Einreise zu gewährleisten, erfasst die
Norm indes auch den Fall, dass die Ausländerbehörde aufgrund der Angaben des
Antragstellers im Visumantrag einem Visum zugestimmt hat, das den nach der Einreise
hervorgetretenen Aufenthaltszweck gar nicht erlaubt (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG).
Bei der Prüfung des Versagungsgrundes ist bezogen auf den konkreten Antrag stets die Frage
zu beantworten, ob der Antragsteller ausnahmsweise den von ihm beantragten Aufenthaltstitel
erst nach der Einreise einholen darf. Dies richtet sich nach § 39 bis § 41 AufenthG. In diesem
Fall greift der Versagungsgrund nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht ein. Ist dies nicht der
Fall, liegt der besondere Versagungsgrund nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vor, weil
24
insoweit nach § 4 Abs. 1 AufenthG Sichtvermerkszwang besteht. Für den nunmehr
beantragten Aufenthaltstitel fehlt das „erforderliche Visum“. Allerdings kann der Verstoß
gegen den Versagungsgrund des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nach Maßgabe des § 5 Abs. 2
Satz 2 AufenthG geheilt werden.
ee)
Passpflicht (§§ 3, 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG)
Nach § 3 Abs. 1 AufenthG besteht Passpflicht, also die Pflicht zum Besitz eines gültigen und
anerkannten Passes. Die Erfüllung dieser Pflicht erstreckt sich einerseits auf die Einreise (§ 14
Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und andererseits auf die Erteilung und Verlängerung eines
Aufenthaltstitels (§ 5 Abs. 1 Nr. 4, § 8 Abs. 1 AufenthG). Pass ist ein Ausweisdokument, das
als Identitätsnachweis dient und zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt. Die
andauernde Geltungsdauer des Passes und die Rückkehrberechtigung sind danach zentrale
Erteilungsvoraussetzungen. Die Geltungsdauer des Passes ist für die Festsetzung der
Geltungsdauer des Aufenthaltstitels maßgebend. Auf § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG beruht der
Grundsatz, dass die Geltungsdauer des befristeten Aufenthaltstitels nicht die Gültigkeitsdauer
des Passes überschreiten darf.
Die Passpflicht besteht unabhängig von der Pflicht zur Mitführung des Passes oder
Passersatzes beim Grenzübertritt (§ 13 Abs. 1 AufenthG) und den ausweisrechtlichen
Pflichten nach § 48 AufenthG, § 56, § 57 AufenthV. Durch den Besitz eines gültigen Passes
wird den Behörden die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a
AufenthG) sowie die Rückkehrberechtigung seines Inhabers ohne weiteres ermöglicht. Ein
gültiger Pass, den ein Staat an seine Angehörigen ausstellt, beinhaltet die völkerrechtlich
verbindliche Erklärung des ausstellenden Staates, dass der Inhaber sein Staatsangehöriger ist
(Nr. 3..0.8 VAH). Diesen Staat trifft deshalb nach allgemeinem Völkerrecht gegenüber dem
Aufenthaltsstaat eine Verpflichtung auf Rückübernahme des Passinhabers.
Da ausschließlich der Staat, dessen Staatsangehörigkeit ein Ausländer besitzt, rechtlich zur
Feststellung der Namensführung berechtigt ist, gilt der in einem solchen Pass eingetragene
Name des Inhabers als rechtlich verbindlich festgestellt. Aufgrund dessen erübrigt sich eine
Identitätsfeststellung nach § 49 AufenthG (Nr. 3.0.8 VAH). Stellt hingegen ein Staat einen
Passersatz an eine Person aus, die dieser nicht als eigenen Staatsangehörigen in Anspruch
nimmt, wird die Feststellungsbefugnis zur Namensführung nicht ausgeübt, sondern nur der
Inhaber bezeichnet. Wie weit die Indizwirkung der Eintragungen im Passersatz reicht, hängt
vom jeweiligen Einzelfall ab (Nr. 3.0.9 VAH).
Der Regelerteilungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG erfordert, dass der Antragsteller
passpflichtig ist und weder einen Pass noch einen Passersatz besitzt. Er betrifft also nicht die
nach §§ 5 ff. AufenthV von der Passpflicht befreiten Personen. Ausländer, die nach § 2 Abs. 2
Nr. 1 AufenthG von der Anwendung des AufenthG ausgenommen sind, unterliegen gemäß §
8 FreizügG/EU nur einer dort geregelten Ausweispflicht. Ein Verstoß gegen diese führt für
sich allein nicht zu einer die Freizügigkeit beschränkenden Maßnahme. Die Passpflicht
erstreckt sich nicht auf die Ausländer, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG von der
Anwendung des AufenthG ausgenommen sind. Ein Verstoß gegen die Passpflicht ist nach §
95 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG strafbewehrt. Ein Verstoß gegen die Passpflicht liegt
nicht vor, wenn der Pass in Verwahrung genommen wird (Nr. 3.1.4 VAH). Verstößt ein
Unionsbürger gegen die Passpflicht, handelt er lediglich ordnungswidrig (vgl. § 10
FreizügG/EU). Ein Verstoß gegen die Pass- und Visumpflicht liegt nicht vor, wenn der
Ausländer einen gültigen Aufenthaltstitel besitzt, aus einem seiner Natur nach lediglich
vorübergehenden Grund mit einem gültigen Pass das Bundesgebiet verlässt, diesen im
25
Ausland verliert und innerhalb der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels mit einem neuen Pass
in das Bundesgebiet einreist (Nr. 3.0.3 VAH). Es ist jedoch § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG zu
berücksichtigen.
ff)
Versagungsgrund nach § 5 Abs. 4 AufenthG
Der Versagungsgrund nach § 5 Abs. 4 AufenthG findet Anwendung, wenn ein
Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 5 oder Nr. 5a AufenthG vorliegt. Der Versagungsgrund gilt
uneingeschränkt sowohl für Aufenthaltstitel, die im Ermessenswege erteilt werden können,
wie auch für solche, auf die ein gesetzlicher Anspruch besteht (Nr. 5.4.2 VAH). Ebenso wie
bei § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist es nicht erforderlich, dass der Antragsteller auch
ermessensfehlerfrei ausgewiesen werden könnte. Insoweit wird auf die entsprechenden
Ausführungen zum Regelerteilungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG verwiesen.
Der Aufenthaltstitel ist nach § 5 Abs. 4 AufenthG zu versagen, wenn die Voraussetzungen des
§ 54 Nr. 5 AufenthG erfüllt sind. Danach reichen Tatsachen aus, welche die Schlussfolgerung
rechtfertigen, dass der Antragsteller einer Vereinigung angehört, die den Terrorismus
unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat. Auf
zurückliegende Mitgliedschaften oder Unterstützungshandlungen kann die Versagung indes
nur gestützt werden, soweit diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründet. Mit dem
Hinweis auf „sicherheitsgefährdendes Handeln“ in § 5 Abs. 4 Satz 2 AufenthG hat der
Gesetzgeber für die Rechtsanwendung hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er
keinen substanzlosen Unterstützungsbegriff schaffen wollte, sondern einen an
schwerwiegende Straftaten und darauf beruhender individueller Verantwortlichkeit
ausgerichteten Handlungsbegriff. Die Definition des Befreiungstatbestandes ist deshalb
bereits bei der Auslegung und Anwendung des Versagungsgrundes erheblich.
Durch den Verweis auf § 54 Nr. 5a AufenthG knüpft der Gesetzgeber an die
Vorgängervorschrift des § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG 1990 an, die durch das
Terrorismusbekämpfungsgesetz mit Wirkung zum 1. Januar 2002 eingeführt worden war, um
die Einreise von Personen zu verhindern, die terroristische oder gewaltbereite Aktivitäten
begehen oder unterstützen. Dieser Versagungsgrund bezweckt die „Abwehr von
Sicherheitsgefährdungen durch Gewaltanwendung“. Schutzgut ist „insbesondere auch die
Fähigkeit des Staates, Beeinträchtigungen und Störungen seiner Sicherheit nach innen und
außen abzuwehren.“ Der Verdacht der Gefährdung der freiheitlich demokratischen
Grundordnung, einer Beteiligung an Gewalttätigkeiten bei Verfolgung politischer Ziele oder
eines öffentlichen Aufrufs zur Gewaltanwendung reicht nicht aus, selbst wenn die Annahme
sich auf Tatsachen stützt.
Nach § 73 Abs. 2 Satz 1 AufenthG können die Ausländerbehörden vor der Erteilung oder
Verlängerung eines Aufenthaltstitels die bei ihr gespeicherten personenbezogenen Daten an
die dort bezeichneten Sicherheitsbehörden übermitteln. Nach Nr. 73.2.1 VAH enthält diese
Vorschrift darüber hinaus auch eine Rechtsgrundlage für Anfragen der Ausländerbehörden
bei den Sicherheitsbehörden. Ebenso wie vor der Visumerteilung müsse auch vor
aufenthaltsrechtlich wichtigen Entscheidungen die Möglichkeit gegeben sein, das Wissen
aller mit der Bekämpfung des Terrorismus befassten staatlichen Stellen für die Feststellung
des Versagungsgrundes nach § 5 Abs. 4 AufenthG heranzuziehen. Für eine Regelanfrage in
Ansehung bestimmter Herkunftsländer stellt die Vorschrift indes keine Rechtsgrundlage dar.
26
Dagegen spricht bereits der Gesetzeswortlaut („können“). Es muss daher für die Übermittlung
wie für die Anfrage ein konkreter Anlass bestehen.
In begründeten Fällen können Ausnahmen vom Versagungsgrund des § 5 Abs. 4 Satz 1
AufenthG zugelassen werden (§ 5 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Die Ausnahmevorschrift bezieht
sich auf beide Fallvarianten des § 5 Abs. 4 Satz 1 AufenthG und setzt voraus, dass die
Antragsteller sich gegenüber den zuständigen Behörden offenbart und glaubhaft von seinem
sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand nimmt. Insoweit obliegt die Beurteilung den
Sicherheitsbehörden.
gg)
Sperrwirkung der Ausweisung und Abschiebung (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG)
Ausweisung und Abschiebung bewirken ein Einreise- und Aufenthaltsverbot (gesetzliche
Sperrwirkung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Das gilt auch für Maßnahmen nach altem
Recht (vgl. § 102 Abs. 1 AufenthG). Sie führen zudem zu einer Ausschreibung zur
Einreiseverweigerung im SIS (Art. 96 Abs. 3 SDÜ) und bewirken damit eine Einreisesperre
für das gesamte Gebiet der Schengen-Staaten. Die Wirkungen von Ausweisung und
Abschiebung betreffen auch Gemeinschaftsangehörige. Es liegt daher ein zwingender
Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) vor, der durch antragsgemäße Befristung
aufgehoben werden kann (§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Ausnahmen sind nach §§ 23a Abs. 1
Satz 1, 25 Abs. 1–5 AufenthG zulässig.
Der Zweck der Sperrwirkung, eine effektive Kontrolle der Wiedereinreise sicherzustellen,
wird insbesondere an der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG deutlich. Während nach
der früheren Rechtsprechung des BVerwG eine der Ausweisung beigefügte Frist bereits vor
26
der Ausreise ablaufen konnte,
sodass ohne zwischenzeitliche Ausreise der Aufenthalt
legalisiert werden konnte, beginnt nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG die Frist erst mit dem
Tag der Ausreise oder Abschiebung zu laufen,27 sdass eine Ausweisung nicht durch
Befristung des Versagungsgrundes während des Inlandsaufenthaltes unterlaufen werden kann.
Ist der Antragsteller indes erneut eingereist, bedarf es für den Fristbeginn nicht der erneuten
Ausreise.28 Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts darf die Aufhebung
der Sperrwirkung nicht von der Ausreise abhängig gemacht werden.29
Die Sperrwirkung der Ausweisung tritt unmittelbar kraft Gesetzes (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1
AufenthG) ein. Umstritten ist, ob für den Eintritt der Sperrwirkung der Ausweisung
Vollziehbarkeit vorauszusetzen ist. Bei der Abschiebung tritt die Sperrwirkung mit dem
tatsächlichen Vollzug ein. Die Abschiebungsandrohung reicht nicht.
26
BVerwGE 60, 284 (285); 69, 137 (141).
27
28
OVG Bremen, InfAuslR 1998, 442 (443); VGH BW, InfAuslR 1998, 433 (434).
OVG Hamburg, InfAuslR 1992, 250 (251); BVerwG, InfAuslR 2000, 176 (180) = AuAS 2000, 74.
29
Vgl. auch EuGH, NJW 1983, 1250 (1251).
27
hh)
Sperrwirkung des abgelehnten Asylantrags (§ 10 Abs. 3 AufenthG)
§ 10 Abs. 3 AufenthG legt eine abgestufte Sperrwirkung fest: Ist der Asylantrag unanfechtbar
abgelehnt oder vom Antragsteller zurückgenommen worden, darf vor der Ausreise nur nach
dem humanitären Vorschriften (§ 22 bis § 26 AufenthG) ein Aufenthaltstitel erteilt werden,
d.h. der Zugang zu anderen Aufenthaltstiteln ist versperrt. Ist hingegen der Aufenthaltstitel
nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt worden, darf überhaupt kein Aufenthaltstitel erteilt
werden, d.h. es findet nicht lediglich eine eingeschränkte, sondern eine absolute Sperrwirkung
Anwendung. § 10 Abs. 3 AufenthG bezweckt, dass Antragsteller, deren Asylantrag
unanfechtbar abgelehnt worden ist, nur eingeschränkt die Möglichkeit erhalten, einen
Aufenthaltstitel zu erlangen. Die eingeschränkte wie absolute Sperrwirkung findet für den
Fall des Verzichts (§ 14a Abs. 3 AsylVfG) sowie in den Fällen, in denen ein Anspruch auf
Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht (§ 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG), keine Anwendung.
Die obergerichtliche Rechtsprechung räumt dem Betroffenen wegen der Sperrwirkung des §
10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG die prozessuale Befugnis ein, einen als offensichtlich abgelehnten
Asylantrag mit dem Ziel der Aufhebung des Offensichtlichkeitsausspruchs isoliert
anzufechten. Da diese Möglichkeit vor dem 1. Januar 2005 nicht bestanden habe, könne die
Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht auf Altfälle angewendet werden.
Insoweit würden sich aus der Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs. 4 GG Bedenken gegen die
Anwendbarkeit des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auf vor dem 1. Januar 2005 als
offensichtlich unbegründet abgelehnte Asylanträge ergeben.30
Die Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG hindert auch die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach § 22 bis § 26 AufenthG. Dies ist, wie der Vergleich zwischen § 23a
Abs. 1 Satz 1 und § 25 Abs. 5 AufenthG verdeutlicht, ungereimt. Während über die
Aufenthaltserlaubnis nach § 23a AufenthG in Abweichung von allen gesetzlichen
Erteilungsvoraussetzungen entschieden wird, ist etwa den Sollansprüchen nach § 25 Abs. 3
Satz 1 und Abs. 5 Satz 2 AufenthG die Sperrwirkung entgegenzuhalten. Dadurch wird ein
rechtmäßiger Aufenthalt unmöglich gemacht.
Der Bescheid des Bundesamtes muss ausdrücklich auf die Norm des § 30 Abs. 3 AsylVfG
verweisen. Eine qualifizierte Asylablehnung nach § 30 Abs. 1 und 2 AsylVfG begründet nur
die eingeschränkte Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Nicht durchdacht
erscheint, dass der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eines Kind, dessen
Asylantrag nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt wird,
die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auch dann entgegenzuhalten ist, wenn der
Antrag der Eltern bzw. des personensorgeberechtigten Elternteil nicht gesperrt wird. Hier
kann eine Ermessensreduzierung auf Null (Rdn…) aus verfassungsunmittelbaren Gründen
(Art. 6 Abs. 1 und 2 GG) und damit eine Durchbrechung der Sperrwirkung angenommen
werden.
Lässt der asylrechtliche Statusbescheid die maßgebliche Rechtsgrundlage der qualifizierten
Asylablehnung offen, kann die Ausländerbehörde dem Antrag auf Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis nicht die absolute Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG
entgegenhalten. In diesem Fall findet aber die eingeschränkte Sperrwirkung Anwendung, d.h.
der Aufenthaltstitel darf nur nach Maßgabe des humanitären Abschnitts des AufenthG erteilt
werden. Wird ein Klageverfahren durchgeführt und die Klage abgewiesen, kann die absolute
30
Hess.VGH, U. v. 1. 9. 2006 – 9 UE 1650/06, mit Hinweisen.
28
Sperrwirkung keine Anwendung finden.31 Das Verwaltungsgericht prüft nämlich im
Hauptsacheverfahren nicht die Rechtmäßigkeit des Offensichtlichkeitsurteils. Jedenfalls in
den Fällen, in denen im Eilrechtsschutzverfahren die aufschiebende Wirkung der Klage
angeordnet wird, liegt dem die gerichtliche Einschätzung zugrunde, dass die Voraussetzungen
für das Offensichtlichkeitsurteil nicht vorliegen. Die absolute Sperrwirkung findet deshalb
keine Anwendung.
Hat der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (z. B. § 28 Abs. 1,
§ 30 Abs. 1, § 32 Abs. 2 und 3 AufenthG), ist über diesen durch die Ausländerbehörde eine
Entscheidung herbeizuführen. Die Sperrwirkung findet weder in der eingeschränkten noch in
der absoluten Form Anwendung (§ 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Der Ermessensreduzierung
auf Null ist dem Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtlich gleichgestellt.32
Dafür spricht, dass § 10 Abs. 1 AufenthG den Begriff „gesetzlicher Anspruch“, § 10 Abs. 3
Satz 3 AufenthG hingegen den Begriff „Anspruch auf Erteilung“ verwendet. Die
Rechtsprechung des BVerwG hatte sich zunächst nur im Blick auf gesetzliche Ansprüche
gegen die Einbeziehung der Ermessensreduktion gewandt.33 Im Blick auf § 9 Abs. 1 Nr. 2
AuslG 1990, der ebenfalls den Begriff „Anspruch auf Erteilung“ verwendet, hat das BVerwG
sich indes ebenfalls gegen die Einbeziehung der „Ermessensreduzierung auf Null“
ausgesprochen. Es hat dies damit begründet, die Ermessensreduzierung begründe keinen
gesetzlichen Anspruch. Insoweit gelte nichts anderes als in den Fällen eines gesetzlichen
Anspruchs.34
Im Falle eines „Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels“ (§ 10 Abs. 3 Satz 3
AufenthG) steht damit § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bei krankheitsbedingten oder sonstigen
Härtegründen der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. In diesem Falle kann der
Antrag im Bundesgebiet bearbeitet werden (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. AufenthG). Im Falle
eines Ermessenstatbestandes (z. B. § 16 Abs. 4, 30 Abs. 2, § 32 Abs. 4 AufenthG) muss der
Antragsteller indes ausreisen und ein Visumverfahren durchführen. Im Hinblick auf Art. 15,
18 und 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist die Anwendung der Sperrwirkung unvereinbar mit
Gemeinschaftsrecht. Dementsprechend wird nach § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG die
Sperrwirkung durchbrochen, wenn der Antragsteller den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis
nach § 25 Abs. 3 AufenthG für subsidiär Schutzberechtigte anstrebt. Die obergerichtliche
Rechtsprechung ging unter Hinweis auf den Sollcharakter des § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG
von einem strikten Rechtsanspruch im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG aus, sofern es
der Ausländerbehörde nicht ausnahmsweise gelang, eine atypische Interessenlage
darzulegen.35 § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG macht im Hinblick auf § 25 Abs. 3 AufenthG eine
derartige Einschränkung nicht. Sie wäre auch mit Art. 15, 18 und 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG
unvereinbar. Im Hinblick auf § 25 Abs. 5 AufenthG ist die Anwendung der Sperrwirkung
jedenfalls insoweit ungereimt, soweit dringende inlandsbezogene Härtegründe für die
Entscheidung maßgebend sind.
IV.
Verlängerung des Aufenthaltstitels
31
Günter Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005, § 10 AufenthG Rdn. 14.
VG Freiburg, InfAuslR 2005,388 (390), für den gleich gelagerten Fall des § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Alt.
AufenthG; wohl auch Klaus Dienelt, ZAR 206, 120 (122 f.); so auch Nieders.MdI, Informations- und
Schulungsmaterial zum ZuwG, August 2004, S. 19; dagegen Frank Wenger, Kommentar zum ZuwG, § 10
AufenthG Rdn. 5.; Nr. 10.3.1 VAH, anders jedoch Nr. 5.2.3 VAH. Nr. 10.3.1 VAH; offen gelassen Jochen
Zühlke, ZAR 2006, 280..
33
BVerwGE 101, 265 (271) = EZAR 011 Nr. 9 = InfAuslR 1997, 21; BVerwG, NVwZ-RR 2004, 687 =
EZAR 017 Nr. 21.
34
BVerwG, NVwZ-RR 2004, 687 (688).
35
Hess.VGH, U. v. 1. 9. 2006 – 9 UE 1650/06.
32
29
1. Fortbestand der Ersterteilungsvoraussetzungen (§ 8 Abs. 1 AufenthG)
Bei der Verlängerung des Aufenthaltstitels geht es um die weitere Aufenthaltsgewährung im
Anschluss an einen genehmigten Aufenthalt ohne Wechsel des Aufenthaltstitels. Dabei
gelten nach § 8 Abs. 1 AufenthG bei der Verlängerung des Aufenthaltstitels im Rechts- wie
im Ermessensbereich grundsätzlich dieselben Rechtsvorschriften wie bei der Ersterteilung. Es
sind aber gesetzliche Erleichterungen zu berücksichtigen. Eine Zweckänderung wird nicht als
Verlängerungs-, sondern als Erstantrag mit allen verfahrensrechtlichen Konsequenzen
behandelt. Einen Zweckwechsel stellt es aber nicht dar, wenn das zum Zweck des
Kindernachzugs ausgestellte Visum nach Einreise in eine Aufenthaltserlaubnis umgewandelt
wird. Es handelt sich hierbei auch nicht um einen Antrag auf Ersterteilung, sondern um einen
Verlängerungsantrag.36
Die Erteilung der Niederlassungserlaubnis befreit von den aufgezeigten verfahrensrechtlichen
Einschränkungen. Der befristete Aufenthaltstitel darf hingegen nur für einen Zeitraum erteilt
werden, für den die Erteilungsvoraussetzungen vorliegen und gesetzliche Versagungsgründe
nicht gegeben sind. Daher ist die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels stets abhängig von der
Geltungsdauer des Reiseausweises (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG). Die Geltungsdauer der
Verlängerung ist grundsätzlich so zu bestimmen, dass sie am Tage nach dem Ablauf der
Geltungsdauer der bisherigen Geltungsdauer beginnt. Das gilt auch dann, wenn die Behörde
erst zu einem späteren Zeitpunkt über die Verlängerung der Geltungsdauer entscheidet (Nr.
8.1.4 Satz 1 und 2 VAH). Erfüllt der Antragsteller die zeitlichen Voraussetzungen für die
Erteilung der Niederlassungserlaubnis, soll die Ausländerbehörde ihn auf die Möglichkeit der
Antragstellung hinweisen (§ 82 Abs. 3 AufenthG). Werden die entsprechenden Nachweise
nicht vorgelegt, darf die Aufenthaltserlaubnis befristet verlängert werden (Nr. 8.1.3 VAH).
Eine zu einem früheren Aufenthaltstitel erteilte Zustimmung der Arbeitsverwaltung zu einer
Beschäftigung gilt im Rahmen ihrer zeitlichen Begrenzung fort, sofern das
Beschäftigungsverhältnis andauert (§ 14 Abs. 2 BeschVerfV).
Die Behörde hat vor der Verlängerung insbesondere den Zweck nach Kapitel 2 Abschnitt 3, 4,
5 oder 6 des AufenthG, die Erteilungsvoraussetzungen und Versagungsgründe nach §§ 5
Abs. 2 Satz 1 und 10 AufenthG zu prüfen. Bei der Verlängerung findet die Sperrwirkung nach
§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG keine Anwendung, weil diese bereits vor der Ersterteilung
zwingend zu beseitigen war. Die Gewährung eines befristeten Aufenthaltsrechts im Rahmen
der Ermessensverwaltung gibt dem Antragsteller zwar grundsätzlich keinen Anspruch auf
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Über die Verlängerung ist jedoch unter
Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und des
Vertrauensschutzes zu entscheiden. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass während
des bisherigen Aufenthaltes schutzwürdige persönliche, wirtschaftliche oder sonstige
Bindungen zum Bundesgebiet entstanden sein können. In solchen Fällen ist im Rahmen einer
Güter- und Interessenabwägung zu prüfen, ob die Beendigung des Aufenthaltes zumutbar ist
(z.B. Dauer des Aufenthalts, Grad der Verwurzelung, beanstandungsfreier Aufenthalt) und
sind darüber hinaus auch die in § 55 Abs. 3 AufenthG bezeichneten Belange zu
berücksichtigen.
Nicht um die Verlängerung des bisherigen Aufenthaltstitels, sondern um die Beantragung
eines neuen Aufenthaltstitels handelt es sich, wenn der Antragsteller die Verlängerung zu
36
Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726.
30
einem anderen Aufenthaltszweck beantragt.37 Ein Übergang vom Deutschkurs zum
Überbrückungsstudium und Studium beinhaltet indes keinen Wechsel des
Aufenthaltszwecks.153 Ist die Verlängerung des Aufenthaltstitels nicht ausgeschlossen
worden (vgl. § 8 Abs. 2 AufenthG), kann die Zweckänderung nach Ermessen genehmigt
werden. Dabei können auch im Gesetz nicht vorgesehene Aufenthaltszwecke berücksichtigt
werden (§ 7 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Für die Prüfungsphase findet die Fiktionswirkung nach
§ 81 Abs. 4 AufenthG Anwendung.
Nach § 8 Abs. 3 AufenthG hat die Ausländerbehörde die Verletzung der nach § 44a Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 AufenthG bestehenden Pflicht zur Teilnahme am Integrationskurs bei der
Verlängerungsentscheidung zu berücksichtigen. Die Gründe, aus denen die Verpflichtung
hervorgeht, sind aktenkundig zu machen. Der Erlass eines gesonderten Bescheides über die
Teilnahmeverpflichtung ist nicht erforderlich, da die Behörde lediglich eine bereits
bestehende Pflicht rein verwaltungstechnisch berücksichtigt und keine eigenständige
Regelung – auch nicht in Form eines feststellenden Verwaltungsaktes – trifft (Nr. 8.3.2
VAH). Auf die nicht ordnungsgemäßen Teilnahme kann etwa durch die Bestimmung einer
kürzeren Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis im Rahmen der Verlängerungsentscheidung
reagiert werden (Nr. 8.3.5 VAH). Gegen die Versagung der Verlängerung dürfte regelmäßig
der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sprechen.
Die Verlängerungsversagung ist ausgeschlossen, wenn auf die Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis ein Rechtsanspruch besteht (s. aber § 8 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). § 8
Abs. 3 Satz 2 AufenthG bestimmt, dass bei einer im behördlichen Ermessen stehenden
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis die „wiederholte und gröbliche Verletzung“ der
Teilnahmepflicht der Antrag abgelehnt werden soll. Unter diesen Voraussetzungen kann die
Aufenthaltserlaubnis auch dann versagt werden, wenn ein Anspruch auf Verlängerung
lediglich nach dem AufenthG besteht. Im Hinblick auf Asylberechtigte, Flüchtlinge und
subsidiär Schutzberechtigte steht dem Art. 24 RL 2004/83/EG entgegen, weil dort eine
derartige Einschränkung nicht gemacht wird. Dies gilt auch die Familienangehörigen dieses
Personkreises (vgl. Art. 23 RL 2004/83/EG).
Es muss sich um eine gröbliche Verletzung der Teilnahmepflicht handeln. Gröblich ist mehr
als „grobe Fahrlässigkeit“ (vgl. hierzu § 20 Abs. 2 Satz 1, § 22 Abs. 3 Satz 2, § 23 Abs. 2 Satz
1 AsylVfG). Der Gesetzgeber hat bewusst den Begriff „grobe Fahrlässigkeit“ nicht
verwendet, weil ihm dies angesichts der gravierenden Folgen einer Versagungsentscheidung
nicht als verhältnismäßig erscheint. Der Betroffene muss also bewusst und gewollt sowie in
Kenntnis seiner entsprechenden Teilnahmeverpflichtung und darüber hinaus nach den
erkennbaren Umständen auch in einer Weise gegen seine Verpflichtung verstoßen, dass der
Vorwurf der gröblichen Pflichtverletzung berechtigt ist. Dies setzt voraus, dass er zuvor durch
die Behörde auf den Umfang seiner Verpflichtung und die Folgen einer Pflichtverletzung
hingewiesen worden ist. Aus den Gesamtverhalten des Betroffenen muss erkennbar sein, dass
er sich uneinsichtig, beharrlich, hartnäckig und wiederholt geweigert hat, der
Teilnahmeverpflichtung nachzukommen.
2.
Ausnahmen vom Erfordernis der Ersterteilungsvoraussetzungen
Der Grundsatz, dass bei der Verlängerung dieselben Vorschriften wie bei der Ersterteilung zu
beachten sind, findet etwa dann keine Anwendung, wenn ungeachtet der Einreise ohne
37
OVG NW, EZAR 014 Nr. 11; OVG NW, InfAuslR 2001, 212 = AuAS 2001, 86.
31
erforderliches Visum ein Aufenthaltstitel erteilt worden ist.38 Ebenso ist im Rahmen der
Verlängerung des Aufenthaltstitels der Rückgriff auf einen Ausweisungsgrund unzulässig,
wenn dieser bei der Ersterteilung oder vorangegangenen Verlängerungsentscheidung der
Behörde bekannt war und nicht zuungunsten des Antragstellers gewertet wurde. 39 Sieht die
Behörde im Rahmen des § 5 Abs. 3 AufenthG von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ab, kann sie
darauf hinweisen, dass eine Ausweisung wegen einzeln zu bezeichnender
Ausweisungsgründe, die Gegenstand eines noch nicht abgeschlossenen Straf- oder anderen
Verfahrens sind, möglich ist (§ 5 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Macht die Ausländerbehörde in
derartigen
Fällen
nach
Verfahrensabschluss
nicht
unverzüglich
von
den
Ausweisungsmöglichkeiten Gebrauch, kann sie die entsprechenden Ausweisungsgründe nicht
dem Verlängerungsantrag entgegenhalten.
Darüber hinaus macht das Gesetz einige bedeutsame Ausnahmen: Bei Ehegatten kann die
Aufenthaltserlaubnis abweichend vom Unterhaltssicherungserfordernis (§ 5 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG) und vom Wohnraumerfordernis (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) verlängert werden
(§ 30 Abs. 3 AufenthG). Es dürfen aber ernsthafte Bemühungen um die Sicherstellung des
Lebensunterhaltes gefordert werden. Die Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG ist anwendbar. Bei Kindern kann die Aufenthaltserlaubnis verlängert werden,
solange die Voraussetzungen für die Niederlassungserlaubnis noch nicht vorliegen (§ 34
Abs. 3 AufenthG). Demgegenüber bestimmte früher § 20 Abs. 4 AuslG 1990, dass die
Aufenthaltserlaubnis abweichend vom Unterhalts- und Wohnraumerfordernis zu verlängern
ist. In der Verwaltungspraxis wurde indessen bei Sozialhilfebedürftigkeit regelmäßig die
Verlängerung versagt (vgl. Nr. 20.6.2.3 AuslG-VwV). Das geltende Recht wandelt den
Rechtsanspruch auf Verlängerung in einen Ermessenstatbestand um. Die Altergrenzen nach
§ 32 Abs. 1 bis 4 AufenthG sind bei der Verlängerung nicht mehr zu berücksichtigen.40
Solange kein eigenständiges Aufenthaltsrecht besteht (§ 34 Abs. 2 AufenthG), setzt die
Verlängerung die Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft mit mindestens einem
Elternteil voraus. Bei Wegfall des Zwecks (§ 27 Abs. 1 AufenthG) wegen der Ausreise der
Eltern ist die Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe des § 37 AufenthG zu verlängern (§ 34
Abs. 2 Satz 2 AuslG). Sind beide Elternteile nach Erteilung und Verlängerung des
Aufenthaltstitels verstorben, kommt eine Verlängerung nach § 34 AufenthG nicht in Betracht.
Im Falle der Aufnahme bei oder der Betreuung durch Verwandte kommt aber wohl eine
Lösung nach § 36 AufenthG in Betracht. Solange die Voraussetzungen für die Erteilung der
Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG nicht gegeben sind, kann die
Aufenthaltserlaubnis bei Volljährigen nach Ermessen unter Berücksichtigung der
Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG verlängert werden.
3.
Rechtzeitige Antragstellung
Wesentlich für die Aufenthaltsverfestigung ist die rechtzeitige Antragstellung, da andernfalls
der für die Verfestigung erforderliche ununterbrochene rechtmäßige Aufenthalt unterbrochen
wird (s. aber § 26 IV AufenthG). Fraglich ist, ob die verspätete Antragstellung die
38
39
VGH BW, InfAuslR 1995, 104 (105); VGH BW, InfAuslR 1988, 471 (472).
Hess. VGH, EZAR 030 Nr. 5.
40
Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726.
32
Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes unterbricht. Nach § 81 Abs. 4 AufenthG wird auch im Falle
der verspäteten Antragstellung vom Zeitpunkt der Antragstellung an die Erlaubnisfiktion
begründet. Dies spricht dafür, dass keine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit eintritt.
Jedenfalls kann die Behörde über § 85 AufenthG die Unterbrechung heilen. Stellt der
Antragsteller am Tag nach Ablauf der Geltungsdauer den Verlängerungsantrag, tritt keine
Unterbrechung ein, da der Antrag auf den Beginn des Tages zurückwirkt. 41 Der Antragsteller
erhält eine Fiktionsbescheinigung (§ 81 Abs. 5 AufenthG). Da es sich indes um ein
gesetzliches Aufenthaltsrecht handelt, hat die Geltungsdauer der Bescheinigung keine
Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des verfahrensabhängigen Aufenthaltrechtes.
Beantragt der Antragsteller deshalb verspätet die Verlängerung der Geltungsdauer der
Bescheinigung, ist dies insoweit unschädlich (vgl. § 81 Abs. 4 AufenthG). Erst mit
Bekanntgabe der Versagungsverfügung wird die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts
unterbrochen (§ 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Im Falle der verspäteten Antragstellung bleibt es
aber bei der Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes. Unterbrechungen bis zu
einem Jahr können indes außer Betracht bleiben (vgl. § 85 AufenthG). Wird die
Behördenentscheidung durch die Behörde selbst oder durch das Gericht aufgehoben, tritt
keine Unterbrechung ein (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Auch hier kann im Falle des
verspäteten Antrags § 85 AufenthG weiterhelfen.
4.
Ausschluss der Verlängerung (§ 8 Abs. 2 AufenthG)
§ 8 Abs. 2 AufenthG eröffnet der Ausländerbehörde die Möglichkeit, die Verlängerung der
Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis durch eine Nebenbestimmung (§ 36 VwVfG)
auszuschließen. Dies betrifft z.B. kurzfristige Arbeitsverhältnisse, bei denen eine
Verfestigung nicht zulässig ist (Saisonarbeitnehmer, Werkvertragsarbeitnehmer), oder
Aufenthalte
aufgrund
spezifischer
Postgraduiertenprogramme
der
Entwicklungszusammenarbeit, bei denen die Geförderten sich verpflichtet haben, nach
Abschluss der Hochschulförderung zurückzukehren. Auf diese Weise soll die
Ausländerbehörde von vornherein Klarheit über die fehlende Perspektive der
Aufenthaltsverfestigung schaffen (Nr. 8.2.1 VAH).
Die Rechtsfolge der Nichtverlängerbarkeit tritt entgegen Nr. 8.2.2 VAH nicht kraft Gesetzes
ein. § 8 Abs. 2 AufenthG ist auch keine Nebenbestimmung (so Nr. 8.2.3 VAH), sondern eine
materielle Rechtsgrundlage für die Sperrung der Verfestigung. Hat die Behörde die Form der
auflösenden Bedingung gewählt, erlischt die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis
unabhängig von § 8 Abs. 2 AufenthG mit Eintritt der auflösenden Bedingung (§ 51 Abs. 1 Nr.
2 AufenthG). § 8 Abs. 2 AufenthG gibt der Ausländerbehörde vielmehr die Möglichkeit, von
vornherein den Zugang zur Verfestigung zu sperren. Stellt der Antragsteller gleichwohl den
Verlängerungsantrag, greifen die Wirkungen des § 81 Abs. 4 AufenthG ein. In der Sache steht
der Verlängerung der Geltungsdauer allerdings der Hinweis auf die Nichtverlängerbarkeit bei
der Ersterteilung hingewiesen hat. Erweist sich im Nachhinein, dass die Behörde den Hinweis
auf die Nichtverlängerbarkeit nicht hätte geben dürfen, steht § 8 Abs. 2 AufenthG der
Verlängerung nicht entgegen.
5.
Geltungsdauer des Aufenthaltstitels
41
OVG Hamburg, InfAuslR 2000, 71 (72); a.A. OVG NW, InfAuslR 1999, 451 (452); OVG NW,
InfAuslR 2000, 115 (116); s. auch OVG Rh-Pf, InfAuslR 2004, 106 = AuAS 2004, 61.
33
Der erstmals erteilte Aufenthaltstitel wird grundsätzlich befristet erteilt (§ 7 Abs. 1 Satz 1
AufenthG). Ausnahmen gelten für hoch qualifizierte Ausländer, denen unter den
Voraussetzungen des § 19 Abs. 1 AufenthG bereits bei der Einreise eine
Niederlassungserlaubnis erteilt werden kann. Für die Gestaltung der Befristung der
Aufenthaltserlaubnis ist der beabsichtigte Aufenthaltszweck maßgebend (§ 7 Abs. 2 Satz 1
AufenthG). Grundsätzlich wird die bisherige Verwaltungspraxis wohl fortgeführt werden,
wonach die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels zunächst auf zwei Jahre, in besonders
gelagerten Fällen auf ein Jahr befristet wird, bis nach Ablauf von fünf Jahren des Besitzes der
Aufenthaltserlaubnis der Anspruch auf die Erteilung des Niederlassungserlaubnis entsteht
(vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Das Gesetz gibt für besondere Fallgruppen
bestimmte Fristen vor: So kann nach Abschluss des Studiums die Aufenthaltserlaubnis bis zu
einem Jahr verlängert werden (§ 16 Abs. 4 AufenthG). Das eigenständige Aufenthaltsrecht
des Ehegatten entsteht zunächst für die Dauer eines Jahres (§ 31 Abs. 1 AufenthG). Bei
selbständig Erwerbstätigen wird die Aufenthaltserlaubnis auf längstens drei Jahre befristet
(§ 21 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Anschließend entsteht unter den Voraussetzungen des § 21
Abs. 4 Satz 2 AufenthG ein Anspruch auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis.
Die Aufenthaltserlaubnis kann in der Regel nicht verlängert werden, wenn die zuständige
Behörde dies bei einem seiner Zweckbestimmung nach nur vorübergehenden Aufenthalt bei
der Erteilung oder der zuletzt erfolgten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen
hat (§ 8 Abs. 2 AufenthG). Die Rechtsfolge der Nichtverlängerbarkeit tritt kraft Gesetzes ein.
§ 8 Abs. 2 AufenthG hat im früheren Recht keine direkte Entsprechung. Sie dürfte sich aber
im Wesentlichen auf Fälle beziehen, in denen nach früherem Recht eine
Aufenthaltsbewilligung (§ 28 AuslG 1990) erteilt wurde. Sie soll dementsprechend bei
kurzfristigen Aufenthalten, bei denen eine Aufenthaltsverfestigung nicht beabsichtigt ist, oder
bei
Aufenthalten
aufgrund
spezifischer
Postgraduiertenprogramme
der
Entwicklungszusammenarbeit, bei denen sich die Geförderten verpflichtet haben, nach
Abschluss der Hochschulfortbildung zurückzukehren, Anwendung finden.
Studenten haben demgegenüber nach Abschluss des Studiums unter den Voraussetzungen des
§ 16 Abs. 4 AufenthG grundsätzlich die Möglichkeit, innerhalb eines Jahres einen
Arbeitsplatz zu suchen und anschließend den Aufenthalt zu verfestigen. Zwar kann die
Behörde die Nichtverlängerbarkeit auch erst bei der Verlängerungsentscheidung anordnen. Es
muss sich aber um Fälle handeln, in denen für die Beteiligten von Anfang an der nur
vorübergehende Zweck des Aufenthaltes klar war. Andernfalls wäre eine derartige Praxis mit
dem verfassungskräftigen Grundsatz des Vertrauensschutzes kaum vereinbar.
Die Nichtverlängerbarkeit wird durch Nebenbestimmung angeordnet (§ 12 Abs. 2 Satz 1
AufenthG). Die Rechtsfolge der Nichtverlängerbarkeit tritt nach der gesetzlichen Begründung
kraft Gesetzes ein. Dem kann nicht gefolgt werden. Die Fristsetzung ist eine
Nebenbestimmung im Sinne von § 36 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG. Die Form der auflösenden
Bedingung ist auf Fristsetzungen nicht anwendbar. Ist die Frist abgelaufen und hat der
Betroffene rechtzeitig den Verlängerungsantrag gestellt, gilt der Aufenthalt zunächst als
rechtmäßig fort (§ vgl. § 81 Abs. 4 AufenthG). § 8 Abs. 2 AufenthG ordnet an, dass nach
Fristablauf in der Regel die Nichtverlängerbarkeit eintritt. Das Gesetz geht damit selbst davon
aus, dass die Nichtverlängerbarkeit nicht kraft Gesetzes eintritt. Vielmehr wird der Behörde
für den Regelfall die Möglichkeit der Versagung eingeräumt. Damit wird dem Antragsteller
allerdings nicht der Rechtsschutz genommen. Nach § 26 Abs. 2 AufenthG darf die
Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert werden, wenn das Ausreisehindernis oder die sonstigen
einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden Gründe entfallen sind.
34
V. Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG)
1.
Funktion der Niederlassungserlaubnis
Das AufenthG wandelt die Verfestigungsregelungen des alten Rechts grundlegend um. Das
geltende Recht kennt nur noch die Aufenthaltserlaubnis und die Niederlassungserlaubnis. Neu
hinzugekommen ist aufgrund der Umsetzung der Richtlinie 2003/109/EG die Erlaubnis zum
Daueraufenthalt-EG nach §§ 9a ff. AufenthG, die gegenüber der Niederlassungserlaubnis
nach § 9 AufenthG weitergehende Recht im Gemeinschaftsgebiet und auch einen stärkeren
Ausweisungsschutz vermittelt. Grundsätzlich können alle Aufenthaltstitel des AufenthG in
das Verfestigungsstadium gelangen, wenn nicht im Einzelfall die Aufenthaltserlaubnis
entsprechend ihrer Zweckbestimmung nur einen vorübergehenden Aufenthalt zulässt (§§ 8
Abs. 2, 26 Abs. 2 AufenthG). Darüber hinaus erlaubte das alte Recht nicht den direkten
Sprung in die Verfestigung. Vielmehr setzte die stärkste Verfestigungsform, die
Aufenthaltsberechtigung, regelmäßig einen achtjährigen Besitz der Aufenthaltserlaubnis
voraus (vgl. § 27 Abs. 2 Nr. 1 AuslG 1990). Nunmehr erlaubt § 19 Abs. 1 AufenthG,
Hochqualifizierten unmittelbar zu Beginn des Aufenthalts im Bundesgebiet die
Niederlassungserlaubnis zu erteilen, vermittelt den besonderen Ausweisungsschutz aber erst
nach einem fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Im
Grundsatz setzt die höchste Verfestigungsstufe indes den fünfjährigen Besitz der
Aufenthaltserlaubnis voraus (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Sämtliche Voraussetzungen für die
Erteilung der Niederlassungserlaubnis müssen im Zeitpunkt der letzten mündlichen
Verhandlung vorliegen.42
Die Niederlassungserlaubnis fasst die früheren Verfestigungsstufen „unbefristete
Aufenthaltserlaubnis“ (§ 24 AuslG 1990) und „Aufenthaltsberechtigung“ (§ 27 AuslG 1990)
zusammen und regelt einen einheitlichen Verfestigungstitel, der grundsätzlich nach fünf
Jahren Besitz der Aufenthaltserlaubnis unter den Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG
auf Antrag erworben wird. Das frühere Stufensystem ist damit aufgehoben. Die
Niederlassungserlaubnis gilt unbefristet. Die Geltungsdauer ist damit nicht begrenzt und kann
auch nicht durch nachträgliche Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) befristet werden.
Ebenso wenig dürfen der Niederlassungserlaubnis zwecks Befristung aufschiebende oder
auflösende Bedingungen beigegeben werden, da die Anordnung von Nebenbestimmungen
grundsätzlich unzulässig ist (§ 9 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Die Niederlassungserlaubnis
berechtigt kraft Gesetzes zur Ausübung jeder nichtselbständigen und selbständigen
Erwerbstätigkeit (§ 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt., § 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs. AufenthG) und darf mit
Ausnahme eines Verbotes bzw. einer Beschränkung der politischen Betätigung nach § 47
AufenthG (§ 9 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) und einer wohnsitzbeschränkenden Auflage im Falle
des § 23 Abs. 2 Satz 2 AufenthG grundsätzlich nicht mit Nebenbestimmungen versehen
werden, es sei denn, das AufenthG ordnet diese ausdrücklich an (§ 9 Abs. 1 Satz 2
AufenthG).
Die Niederlassungserlaubnis verleiht immer ein eigenständiges Aufenthaltsrecht (Nr. 9.1.1
Satz 3 VAH). Damit löst sich die Akzessorietät des bisherigen Aufenthaltstitels auf. § 8 Abs.
1 AufenthG ist nicht mehr anwendbar. Unklar ist allerdings, ob die Niederlassungserlaubnis
nach § 26 Abs. 3 AufenthG ein dauerhaftes eigenständiges Aufenthaltsrecht vermittelt oder
konzeptionell an den asylrechtlichen Status gebunden bleibt. Der Fortfall der
42
BVerwG, InfAuslR 2002, 281 (282).
35
Erteilungsvoraussetzungen führt nicht zur Zurückstufung zur befristeten Aufenthaltserlaubnis.
Vielmehr kann die Niederlassungserlaubnis nur unter den Voraussetzungen des § 52
AufenthG widerrufen werden. Der Wegfall der Erteilungsvoraussetzungen ist kein
Widerrufsgrund. Die Erlöschensgründe des § 51 AufenthG gelten allerdings auch für die
Niederlassungserlaubnis. Durch Ausweisung (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) erlischt danach die
Niederlassungserlaubnis. Es ist allerdings der erhöhte Ausweisungsschutz zu beachten (§ 56
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Wer einen längeren, sechs Monate übersteigenden
Auslandsaufenthalt beabsichtigt und nicht die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 AufenthG
erfüllt, muss zur Vermeidung des Verlusts des Aufenthaltsrechts den Antrag nach § 51 Abs. 1
Nr. 7AufenthG stellen, auf den er einen Sollanspruch hat (§ 51 Abs. 4 AufenthG). Gegen
derartige Verlustfolgen schützt letztendlich nur die Einbürgerung. Andererseits setzt die
Einbürgerung kein Stufenverhältnis dergestalt voraus, dass vor der Einbürgerung zunächst
eine Niederlassungserlaubnis erworben werden müsste (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG).
Die Niederlassungserlaubnis wird zumeist aufgrund eines gesetzlich geregelten
Rechtsanspruchs erworben. In einigen Sonderfällen steht ihre Erteilung im behördlichen
Ermessen (§ 19, § 21 Abs. 4 Satz 2, § 26 Abs. 4 AufenthG). In allen Fällen sind die
allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG neben den spezifischen
Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG zu erfüllen. Für Flüchtlinge, Asylberechtigte und
subsidiär Schutzberechtigte greift jedoch die Ausnahmevorschrift des § 5 Abs. 3 Satz 1
AufenthG ein. Von den allgemeinen Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG werden in
einer Reihe von Fällen bedeutsame Ausnahmen von den einzelnen Voraussetzungen oder
insgesamt (vgl. z.B. § 26 Abs. 3 AufenthG) zugelassen.
2.
Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis (§ 9 Abs. 2 bis 4
AufenthG
a)
Allgemeines
Die in § 9 Abs. 2 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen sind zusätzlich zu den
Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG zu prüfen. Anders als § 5 Abs. 1
Satz 1 1. Hs. AufenthG erkennt § 9 Abs. 2 AufenthG keine atypischen Ausnahmesituationen
an, lässt jedoch bedeutsame Ausnahmen im Blick auf einzelne Voraussetzungen kraft
Gesetzes zu (§ 19, § 21 Abs. 4, § 23 Abs. 2, § 28 Abs. 2, § 35, § 38 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG).
Die Erteilung der Niederlassungserlaubnis richtet sich in diesen Fällen ausschließlich nach
den dort genannten Voraussetzungen und den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5.
§ 9 Abs. 2 AufenthG ist hingegen auf die Sonderfälle nicht anwendbar (Nr. 9.1.2 Satz 2 und 3
VAH).
Für die unbefristete Aufenthaltserlaubnis des alten Rechts hatte das BVerwG entschieden, es
bestehe nicht lediglich ein Anspruch auf Erteilung „zu einem beliebigen Zeitpunkt“, sondern
auch auf Legalisierung des aufenthaltsrechtlichen Status für die Vergangenheit. 43 Daher
konnte ein Antragsteller, der auf seinen Antrag eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis mit
Wirkung für die Zukunft erhalten hatte, bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen die
unbefristete Erlaubnis auch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der
43
BVerwG, NVwZ 1996, 1225 (1226) = EZAR 017 Nr. 9; BVerwG, NVwZ 1998, 191 (192) = EZAR 015
Nr. 15; BVerwG, NVwZ 1999, 306 = InfAuslR 1999, 69 = AuAS 1999, 26; VGH BW, InfAuslR 1998, 485;
ebenso Richter, NVwZ 1999, 726 (727); dagegen Renner, NVwZ 1993, 729 (733).
36
Antragstellung beanspruchen, wenn er ein schutzwürdiges Interesse hieran hatte.44 An dieser
Rechtsprechung ist auch für die Niederlassungserlaubnis festzuhalten. Notfalls ist für den
Fall, dass über den rechtzeitig mit den gesetzlich geforderten Nachweisen gestellten Antrag
nicht unverzüglich entschieden worden ist, auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis ex tunc
zu klagen.45 Die rückwirkende Erteilung hat zur Folge, dass der Antragsteller so zu behandeln
ist, dass er seit dem Zeitpunkt der Rückwirkung im Besitz der Niederlassungserlaubnis ist.
b) Besitz der Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG)
Grundlegende Voraussetzung für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis ist der
ununterbrochene Besitz der Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren. Hochqualifizierten kann
von vornherein eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden (§ 19 Abs. 1 AufenthG). Für
Asylberechtigte und Flüchtlinge, selbständig Erwerbstätige sowie deutsch-verheiratete
Antragsteller reicht der dreijährige Besitz der Aufenthaltserlaubnis aus. Dabei wird im ersten
Fall vorausgesetzt, dass das Bundesamt mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den
Widerruf oder die Rücknahme nicht vorliegen (§§ 26 Abs. 3, 21 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Für
die anderen Personen, die aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis besitzen (vgl.
§ 25 Abs. 3 und 5 AufenthG), sind sieben Jahre Besitz der Aufenthaltserlaubnis gefordert
(§ 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Insoweit sind die Anrechnungsregeln des § 26 Abs. 4 Satz 2
und § 102 Abs. 2 AufenthG zu beachten. Bei mehreren Asylverfahren wird nur die Dauer des
der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unmittelbar vorangegangenen Asylverfahrens
berücksichtigt.46
Im Zeitpunkt der Entscheidung muss der Besitz der Aufenthaltserlaubnis noch andauern.
Gefordert wird ein ununterbrochener Besitz von fünf Jahren. § 85 AufenthG findet auch im
Rahmen des § 9 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG Anwendung.47 Damit wird allerdings nicht die
zeitliche Lücke, die durch die kurzfristige Unterbrechung entstanden ist, angerechnet. 48 Denn
angerechnet werden können nur rechtmäßige Aufenthaltszeiten. Nicht unterbrochen wird der
Besitz der Aufenthaltserlaubnis bei rechtzeitiger Verlängerung der Geltungsdauer wegen der
Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG. Im Falle der Versagung der Verlängerung der
Geltungsdauer tritt dann keine Unterbrechung ein, wenn die Behörde von sich aus oder
aufgrund gerichtlicher Verpflichtung die Geltungsdauer verlängert (§ 84 Abs. 2 Satz 3
AufenthG). Zeiten des Besitzes eines nationalen Visums werden angerechnet (§ 6 Abs. 4 Satz
3 AufenthG). Unterbrochen wird der Besitz der Aufenthaltserlaubnis durch einen
Auslandsaufenthalt, der nach Maßgabe des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG zum Erlöschen
der Aufenthaltserlaubnis führt. Reist der Betroffene erneut ein und erhält er eine
Aufenthaltserlaubnis, werden auf den anschließend gestellten Antrag auf Erteilung der
Niederlassungserlaubnis die Zeit des früheren Besitzes der Aufenthaltserlaubnis oder
Niederlassungserlaubnis, wenn der Antragsteller im Zeitpunkt der Ausreise im Besitz einer
Niederlassungserlaubnis war, abzüglich der Zeit der dazwischen liegenden
Auslandsaufenthalte, die zum Erlöschen der Niederlassungserlaubnis führten, angerechnet.
44
BVerwG, NVwZ 1999, 306 = InfAuslR 1999, 69 = AuAS 1999, 26; VGH BW, InfAuslR 1998, 485
(486).
45
BVerwG, NVwZ 1999, 306 = InfAuslR 1999, 69 = AuAS 1999, 26; VGH BW, InfAuslR 1998, 485
(486).
46
BVerwG, InfAuslR 1998, 10 (12) = NVwZ 1998, 191 = EZAR 015 Nr. 15.
47
OVG Hamburg, InfAuslR 2000, 71 (73) zur identischen Vorläufernorm des § 97 AuslG 1990; a.A.
VGH BW, EZAR 017 Nr. 3; Renner, NVwZ 1993, 729 (733).
48
Günter Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, § 9 AufenthG 11; a.A. Kay Hailbronner, AuslR, § 9 AufenthG
Rdn. 6.
37
Angerechnet werden höchstens vier Jahre (§ 9 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG). Ist die Zeit des
Auslandsaufenthaltes länger als die Voraufenthaltszeit, werden danach keine Zeiten
angerechnet (Nr. 9.4.3.1 Satz 3 VAH). Ist für die Erlangung der Niederlassungserlaubnis eine
kürzere Dauer als fünf Jahre erforderlich, kann bei entsprechend langer Voraufenthaltszeit
bereits unmittelbar nach der Einreise die Niederlassungserlaubnis erteilt werden (Nr. 9.4.3.1
Satz 4 VAH).
Führt der Auslandsaufenthalt nicht zum Erlöschen des Aufenthaltsrechts, werden höchstens
sechs Monate für jeden Auslandsaufenthalt, der nicht zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis
führte, angerechnet (§ 9 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG). Die Anrechnung ist nur möglich,
wenn der Antragsteller während des Auslandsaufenthaltes im Besitz der Aufenthaltserlaubnis
war. War die Aufenthaltserlaubnis während des Auslandsaufenthaltes wegen Ablauf der
Geltungsdauer erloschen, kann die Zeit danach nicht angerechnet werden (Nr. 9.4.2 VAH).
Daraus folgt, dass ein nur vorübergehender Auslandsaufenthalt, der nicht nach § 51 Abs. 1
Nr. 6 oder Nr. 7 AufenthG zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis führt, auf die
erforderliche Zeit des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
AufenthG angerechnet wird. Läuft während eines derartigen Auslandsaufenthaltes, der als
solcher nicht zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis führt, die Geltungsdauer der
Aufenthaltserlaubnis ab, wird die Zeit danach nicht angerechnet. Die Behörde kann aber nach
§ 85 AufenthG die Unterbrechung heilen, sodass die Zeit ab Verlängerung der Geltungsdauer
berücksichtigt wird.
Den Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis stehen diejenigen Zeiten gleich, in denen
der Antragsteller zwar keinen Aufenthaltstitel besessen, aber nach der von der
Ausländerbehörde oder dem Verwaltungsgericht inzident vorzunehmenden Prüfung einen
Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis gehabt hat.49 Nicht angerechnet werden Zeiten
der Untersuchungshaft und anschließenden Strafhaft, der fiktiven Abschiebungsaussetzung
nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG und der Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG). Demgegenüber sind nach § 85 AufenthG außer Betracht gebliebene
Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes unschädlich, d.h., diese Zeiten sind
auf die geforderte Zeit des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis anzurechnen.
Auf die Art und Rechtsgrundlage der Aufenthaltserlaubnis kommt es grundsätzlich nicht an.
Für generelle Ausnahmen fehlt es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmungen.50
Deshalb eröffnet eine nach dem AufenthG erteilte Aufenthaltserlaubnis unabhängig von dem
ihr zugrunde liegenden Erteilungsgrund den Zugang zur Verfestigung. Für die
Aufenthaltsbefugnis enthalten § 26 Abs. 4, § 102 Abs. 2, § 104 Abs. 2 AufenthG spezielle
Übergangsregelungen. Daraus folgt, dass Zeiten des Besitzes der Aufenthaltsbefugnis nach §
9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht berücksichtigt werden können, da die Verfestigung
insoweit über § 26 Abs. 4 AufenthG speziell geregelt wird.
Unklar war, ob Zeiten des Besitzes der Aufenthaltsbewilligung vor dem 31. Dezember 2004
angerechnet werden können. Die Verwaltungspraxis lehnte dies bislang ab. Der Gesetzgeber
hatte zwar zunächst lediglich für die Fortgeltung der Aufenthaltsbewilligung über § 101 Abs.
2 AufenthG eine Übergangsregelung getroffen. Daraus konnten keine Anhaltspunkte für die
Anrechnung bei der Verfestigung entnommen werden. Die frühere Rechtsprechung hatte
entscheidungserheblich darauf abgestellt, ob der Antragsteller im Zeitpunkt der
Behördenentscheidung im Besitz einer verlängerungsfähigen Aufenthaltserlaubnis war. Unter
dieser Voraussetzung wurden auch Zeiten einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 4 AAV
49
50
BVerwGE 118, 166 (169), mit Verweis auf BVerwGE 115, 352 (356).
Günter Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, § 9 AufenthG 13.
38
angerechnet, obwohl nach § 4 Abs. 6 AAV die Erteilung einer unbefristeten
Aufenthaltserlaubnis gesperrt war. Als maßgebend für die Anrechung wurde angesehen, dass
„eine Aufenthaltsverfestigung durch jede Eingliederung des Ausländers in das wirtschaftliche
und soziale Leben der Bundesrepublik Deutschland“ eintrete. Die für die Fünfjahresfrist
maßgebende „Integrationskomponente“ werde auch dadurch erfüllt, dass der Betroffene sich
zunächst nur befristet im Bundesgebiet hätte aufhalten dürfen. Eine Unterscheidung nach
verschiedenen Aufenthaltszwecken sei mithin nicht geboten.51
Dies spricht dafür, alle Formen der früheren Aufenthaltsgenehmigung bei der Anrechnung
unter der Voraussetzung zu berücksichtigen, dass der Betroffene im Zeitpunkt der
Entscheidung im Besitz einer verlängerungsfähigen Aufenthaltsgenehmigung war. Nunmehr
hat der Gesetzgeber indes bestimmt, dass die Zeit eines rechtmäßigen Aufenthaltes zum
Studium oder zur Ausbildung nur zur Hälfte angerechnet wird (§ 9 Abs. 4 Nr. 3 AufenthG).
Ursprünglich ließen sich dem AufenthG keine Regelungen entnehmen, die eine
Berücksichtigung der Aufenthaltserlaubnis nach § 16 AufenthG im Rahmen des § 9 Abs. 2
Satz 1 Nr. 1 AufenthG ausschlossen.52 Die Vorschrift des § 9 Abs. 4 Nr. 3 AufenthG ist so
gefasst, dass er sowohl die Aufenthaltsbeweilligung des § 28 AuslG 1990 wie auch die
Aufenthaltserlaubnis nach § 17, § 17 AufenthG erfasst.
c)
Sicherung des Lebensunterhalts (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 in Verb. mit § 2 Abs. 3
AufenthG)
Der Gesetzgeber erachtet die Unterhaltssicherung für derart zentral, dass er dieses Erfordernis
wiederholt, obwohl bereits § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG dies verlangt und bei der Entscheidung
über die Niederlassungserlaubnis die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen ohnehin zu
beachten sind. Maßgebend für den Begriff der Unterhaltssicherung ist die Legaldefinition in
§ 2 Abs. 3 AufenthG. Für Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder
seelischen Krankheit oder Behinderung keine Altersvorsorge leisten können, entfällt die
Nachweispflicht (§ 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG).
d)
Kein Ausweisungsgrund (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG)
Grundsätzlich sind zusätzlich zu den besonderen Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG
auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu berücksichtigen. Daher ist bei der
Entscheidung über die Niederlassungserlaubnis auch zu prüfen, ob der Antragsteller für seine
Familienangehörigen oder für sonstige Haushaltsangehörige Sozialleistungen in Anspruch
nimmt (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2 in Verb. mit § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG). Dabei hat die
Ausländerbehörde aber zusätzlich zu prüfen, ob der Sozialleistungsbezug von
Familienangehörigen den mit dem abstrakten Regelerteilungsgrund verbundenen Zweck
überhaupt berührt. Das kommt dann in Betracht, wenn die begehrte Aufenthaltsverfestigung
auch tatsächlich die mit dem Regelerteilungsgrund geschützten fiskalischen Interessen der
Bundesrepublik beeinträchtigt. Das ist regelmäßig und typischerweise der Fall, wenn der
Ehegatte und die minderjährigen ledigen Kinder des Antragstellers Sozialleistung beziehen,
weil deren aufenthaltsrechtlicher Status mit dem Aufenthaltsrecht des Vaters und Ehemannes
zusammenhängt und nach § 9 Abs. 3 Satz 1 AufenthG verfestigt wird, falls diesem ein
Niederlassungserlaubnis erteilt wird.53
51
52
Nieders.OVG, AuAS 2002, 26 (27).
Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, § 9 AufenthG 14; a.A. Nr. 9.2.1.2 VAH.
53
BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142).
39
Eine in diesen Fällen mit der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis notwendigerweise
verbundene „Verfestigung“ auch des Sozialleistungsbezugs der Familienangehörigen
widerspricht den fiskalischen Interessen der Bundesrepublik. Das muss für alle
Fallkonstellationen gelten, in denen die Aufenthaltsverfestigung zugleich Auswirkungen auf
die Aufenthaltsrechte von Familienangehörige und andere Personen hat, deren
Sozialhilfebezug sich der Antragsteller im Sinne eines abstrakten Regelerteilungsgrundes
entgegen halten lassen muss. In allen anderen Fällen jedoch, in denen der
aufenthaltsrechtliche Status dieses Personenkreises – und damit auch der den
ausländerrechtlichen Anforderungen zuwiderlaufende Sozialleistungsbezug – von der
Rechtsstellung des Antragstellers unabhängig ist, werden die fiskalischen Interessen der
Bundesrepublik tatsächlich nicht nachteilig betroffen und steht eine teleologische Auslegung
der Berücksichtigung des Sozialleistungsbezugs entgegen.54
Das gilt beispielsweise auch, wenn ein deutscher Familienangehöriger des Antragstellers
Sozialleistungen in Anspruch nimmt. Unter solchen Umständen kann der nach dem abstrakten
Gesetzeswortlaut vorliegende Ausweisungsgrund des „Sozialleistungsbezugs“ in seiner
Funktion als Regelerteilungsgrund einer Aufenthaltsverfestigung nicht entgegenstehen. Leiten
die ausländischen Eltern ihr Aufenthaltsrecht in keiner Weise von dem Antragsteller ab und
hat die Erteilung der Niederlassungserlaubnis weder auf das Aufenthaltsrecht der Eltern des
Antragstellers noch auf deren Sozialleistungsbezug Auswirkungen, hat die dem Antragsteller
erteilte Niederlassungserlaubnis keine rechtlich oder tatsächlich erhebliche Rückwirkung auf
die Situation der Eltern.55
e)
Altersvorsorge (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG)
aa)
Anwendungsbereich der Vorschrift
§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG lehnt sich an § 27 Abs. 2 Nr. 3 AuslG 1990 an. Neu ist die
Anrechnungsregel nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 2. Hs. AufenthG. Im Gesamtergebnis bedeutet
diese Regelung aber eine Verschärfung der Verfestigungsregelungen. Da die Zwischenstufe
der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis abgeschafft worden ist, für die das Erfordernis der
Altersvorsorge nicht galt, wird den Antragstellern, die keine 60 Monate Pflichtbeiträge oder
vergleichbare Aufwendungen nachweisen können, die Verfestigung verweigert mit der Folge,
dass bis zum Nachweis der Altersvorsorge bei jeder Verlängerung die
Ersterteilungsvoraussetzungen nachgewiesen werden müssen (vgl. § 8 Abs. 1 AufenthG). Da
der Einbürgerungsanspruch nicht den Nachweis der Altersvorsorge voraussetzt (vgl. § 10
Abs. 1 Satz 1 StAG), kann anstelle der Niederlassungserlaubnis die Einbürgerung beantragt
Für Asylberechtigte und Flüchtlinge sowie selbständig Erwerbstätige gilt dieses Erfordernis
nicht (vgl. § 26 Abs. 3, § 21 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Antragsteller, die vor dem 1. Januar
2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis waren, müssen nicht den
Nachweis der Altersvorsorge erbringen (§ 104 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dies gilt auch für
Antragsteller, die sich in einer Ausbildung befinden, die zu einem anerkannten schulischen
oder beruflichen Bildungsabschluss führt (§ 9 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Maßgebend ist, dass
die Schulausbildung mit einem Abschluss endet. Deshalb wird auch der Besuch der
Berufsfachschule berücksichtigt, nicht aber ein Praktikum, Volontariat oder
54
55
BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142).
BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142 f.).
40
Berufsvorbereitungsmaßnahmen. Die Ausbildung muss sich allgemein für den Abschluss
eignen und das Erreichen des Abschlusses darf nicht von vornherein unmöglich sein. Es ist
aber keine individuelle Erfolgsprognose anzustellen.56 Ebenso entfällt die Nachweispflicht für
Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder
Behinderung keine Altersvorsorge leisten können (§ 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG).
bb)
Umfang der Altersvorsorge
Die Versorgung im Alter braucht anders als der laufende Unterhalt nicht gesichert sein.
Anwartschaften müssen aber in der vorgeschriebenen Form und Höhe nachgewiesen werden.
Die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG geforderten Beiträge zur gesetzlichen
Rentenversicherung ergeben eine Anwartschaft auf Leistungen bei Erwerbs- oder
Berufsunfähigkeit sowie Erreichen des Rentenalters. Die ersatzweise zugelassene private
Vorsorge muss nach Art und Höhe ähnliche Leistungen gewährleisten. „Vergleichbar“ sind
alle Werte. Die private Altersvorsorge muss nach den gegenwärtigen Verhältnissen und
Berechnungsmethoden Bezüge erwarten lassen, die ähnlich wie die gesetzliche Rente dem
bisherigen Lebenszuschnitt angemessen sind. Die weitere Entrichtung von Beiträgen wird
unterstellt, indes nicht verlangt und geprüft. Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung
führen zum Erwerb eines Anspruchs auf Rente, einerseits für den Zeitpunkt des Ausscheidens
aus dem Erwerbsleben mit Erreichen der entsprechenden Altersgrenze sowie andererseits im
Falle eines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben infolge Erwerbs- oder
Berufsunfähigkeit. Diese beiden Ansprüche bilden den Maßstab für die Vergleichbarkeit der
gesetzlichen mit der privaten Altervorsorge (Nr. 9.3.2.1 Satz 4 VAH).
Der Nachweis von Aufwendungen für einen Anspruch auf Versicherungsleistungen, die
denen aus der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar sind, setzt nicht voraus, dass der
Antragsteller im Zeitpunkt der Erteilung der Niederlassungserlaubnis einen
Versorgungsanspruch erworben hat, der den Lebensunterhalt ausreichend sichert.
Entscheidend ist, ob unter der Voraussetzung, dass die private Altersvorsorge weitergeführt
wird, Ansprüche in gleicher Höhe erworben werden, wie sie entstehen würden. wenn der
Antragsteller sechzig Monatsbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet hätte und
künftig weitere Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichten würde (Nr. 9.2.3.1
Satz 1 und 2 VAH). Ist der Rentenfall bereits eingetreten, kommt es nur auf die Entrichtung
der Beiträge für 60 Monate in der Vergangenheit an. Die Höhe der tatsächlichen
Rentenleistungen hat allerdings für die Sicherung des Lebensunterhalts Bedeutung.
Grundlage für die Ermittlung sowohl im Blick auf die gesetzliche wie auch auf die private
Altersvorsorge ist ein Einkommen, mit dem der Lebensunterhalt des Antragstellers gesichert
ist (Nr. 9.2.3.1 Satz 5 VAH). Danach reicht es für den Nachweis der Altersvorsorge aus, dass
der
Antragsteller
im
fraglichen
Zeitraum
ein
sozialversicherungspflichtiges
Beschäftigungsverhältnis ausgeübt hat, dessen monatliche Einkünfte oberhalb des
sozialhilferechtlichen Regelsatzes liegen. Entsprechendes gilt für die private Altersvorsorge.
Anzurechnen sind Zeiten der Kinderbetreuung und der häuslichen Pflege. Voraussetzung ist,
dass Ausfallzeiten aufgrund einer Erwerbstätigkeit oder aus sonstigen Gründen
versicherungsrechtlich überhaupt anzusetzen sind. Rentenrechtliche Zeiten, die allein durch
Kindererziehung angerechnet werden, genügen dann nicht, wenn überhaupt keine
Versicherungsansprüche aufgrund eigener Beitragsleistungen im Rahmen einer
Erwerbstätigkeit erlangt werden, weil der Antragsteller niemals im Inland aufgrund einer
Erwerbstätigkeit Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder an berufsständische
56
Günter Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, § 9 AufenthG 24
41
Versorgungseinrichtungen entrichtet hat oder entsprechend in geeigneter Weise privat
Vorsorge getroffen hat (Nr. 9.2.3.2 VAH).
f)
Straffällige Antragsteller (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG)
Der Erteilung der Niederlassungserlaubnis dürfen keine Gründe der öffentlichen Sicherheit
oder Ordnung unter Berücksichtigung der Schwere oder der Art des Verstoßes gegen die
öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder eine vom Antragsteller ausgehende Gefahr
entgegenstehen. Abzuwägen sind diese Gründe mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts und
den im Bundesgebiet bestehenden Bindungen. Damit hat der Gesetzgeber die früheren klaren
Regelungen durch eine offene Klausel ersetzt. Es besteht allerdings die Gefahr, dass nunmehr
die Ausländerbehörden sich von den früheren Maßstäben lösen werden und auch bei lediglich
geringfügiger Straffälligkeit die Niederlassungserlaubnis versagen werden. Dies wäre mit
dem Zweck der Neuregelung aber nicht vereinbar.
Der Gesetzgeber begründet die neue offene Klausel mit den früheren Unklarheiten. Mit der
früheren Regelung habe ein Signal gesetzt werden sollen, dass „erhebliche Straftaten“ den
Zugang zur Verfestigung sperrten. Neben der Berücksichtigungsregel bezogen auf
geringfügige Straftaten hätte allerdings noch der Regelerteilungsgrund des Vorliegens eines
Ausweisungsgrundes geprüft werden müssen. Das Vorhandensein von Ausweisungsgründen
hätte danach in der Regel und erhebliche Straftaten oberhalb der in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4
AufenthG a.F. aufgezeigten Grenze stets der Erteilung der Niederlassungserlaubnis
entgegengestanden. Anforderungen, die für jede Aufenthaltserlaubnis gegolten hätten, hätten
erst recht für die Niederlassungserlaubnis Anwendung finden müssen. Dem habe indes die
Rechtsprechung entgegengestanden. Nunmehr werde nach dem Vorbild der
Daueraufenthaltsrichtlinie anstelle eines starren Kriteriums eine Abwägung vorgeschrieben.
Dadurch würde die Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG der nach § 9a AufenthG
angeglichen.
g)
Ordnungsgemäße Beschäftigung (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG)
Arbeitnehmer müssen den Nachweis führen, dass ihre Beschäftigung erlaubt ist. § 18
AufenthG regelt die entsprechenden Voraussetzungen. Arbeitnehmer müssen über einen
Aufenthaltstitel verfügen, der ihnen die Beschäftigung erlaubt (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AufenthG).
Die Erlaubnis muss unbefristet (z.B. aufgrund einer Vorschrift des AufenthG oder aufgrund
des § 46 Abs. 2 BeschV oder § 9 BeschVerfV) vorliegen. Arbeitnehmer im Sinne des § 9
Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG ist jeder, der eine Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs. 2
AufenthG ausübt. Für Ehegatten und Partner einer lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft
genügt es, wenn einer der Partner diese Voraussetzung erfüllt (§§ 9 Abs. 3 Satz 1, 27 Abs. 2
AufenthG). Zwar verweist § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG nicht auf § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5
AufenthG. Das Erfordernis der ordnungsgemäßen Beschäftigung gilt jedoch nur, soweit die
an einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung leidenden
Antragsteller Arbeitnehmer sind. Diese Auslegung des Gesetzes liegt in der Ratio der
Ausnahmeregelungen für diesen Personenkreis.
h)
Sonstige Berufsausübungserlaubnisse (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 AufenthG)
Wie § 24 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1990 verlangt § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 AufenthG, dass der
Antragsteller im Besitz der sonstigen für eine dauerhafte Beschäftigung erforderlichen
Erlaubnisse ist. Diese Regelung betrifft selbständig erwerbstätige Antragsteller (vgl. auch
§ 21 AufenthG). Sofern in diesem Zusammenhang für die Ausübung bestimmter Berufe
besondere Erlaubnisse (z.B. Notare, Rechtsanwälte, Ärzte, Heilpraktiker, Zahnärzte, Tierärzte
und Apotheker, gewerberechtliche Eraubnisse) vorgeschrieben sind, ist der entsprechende
42
Nachweis zu führen. Die Antragsteller müssen danach im Besitz der jeweils erforderlichen
besonderen Berufsausübungserlaubnisse für eine dauernde Tätigkeit sein. Einer
Dauererlaubnis zur selbständigen Erwerbstätigkeit steht es gleich, wenn die Berufsausübung
wie etwa im Einzelhandel ohne Genehmigung erlaubt ist. Die Berufsausübungserlaubnis muss
dem Antragsteller eine dauerhafte Berufsausübung erlauben. Ungeachtet einer etwaigen
Befristung liegt eine Erlaubnis zur dauernden Berufsausübung vor, wenn durch die Befristung
lediglich bezweckt wird, die Berufstauglichkeit erneut zu prüfen (Nr. 9.2.6.2 Satz 1 VAH).
Einer Dauererlaubnis zur selbständigen Erwerbstätigkeit steht es gleich, wenn die
Berufsausübung wie etwa im Einzelhandel ohne Genehmigung erlaubt ist (Nr. 9.2.6.2 Satz 2
VAH).
Für Ehegatten und Partner einer lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft genügt es, wenn
einer der Partner diese Voraussetzung erfüllt (§§ 9 Abs. 3 Satz 1, 27 Abs. 2 AufenthG). Zwar
wird in § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG nicht auf § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 AufenthG hingewiesen.
Den Nachweis sonstiger Berufsausübungserlaubnisse haben jedoch nur die an einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung leidenden Antragsteller
zu erbringen, die einer entsprechenden Erwerbstätigkeit nachgehen. Diese Auslegung des
Gesetzes liegt in der Ratio der Ausnahmeregelungen für diesen Personenkreis.
i)
Sprachliche Integrationsvoraussetzungen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG)
Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG setzt die Erteilung der Niederlassungserlaubnis
voraus, dass der Antragsteller „über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt“.
Die Neuregelung bedeutet eine gravierende Verschärfung gegenüber dem alten Recht. Danach
setzte die Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Antragsteller über
Deutschkenntnisse verfügte, die eine mündliche Verständigung auf einfache Art ermöglichten
(vgl. § 24 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990). Für die Aufenthaltsberechtigung wurden keine weiteren
Voraussetzungen gefordert. Dazu wurde allgemein die persönliche Vorsprache bei der
Behörde verlangt (§ 70 Abs. 4 Satz 1 AuslG 1990). Der Antragsteller brauchte die deutsche
Sprache weder zu beherrschen noch Deutsch lesen oder schreiben können. Vorausgesetzt
wurde allerdings, dass sich der Antragsteller im Alltagsleben ohne nennenswerte
Schwierigkeiten verständigen konnte. Eine schriftliche Sprachprüfung war nicht zulässig.
Nunmehr verlangt § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG den Nachweis ausreichender
Sprachkenntnisse und gleicht damit die Nachweispflichten den entsprechenden
Voraussetzungen im Einbürgerungsverfahren an (§ 11 Nr. 1 StAG). Die Fähigkeit, sich auf
einfache Weise mündlich verständigen zu können, reicht nicht aus.185 Der Gesetzgeber
bewertet ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache als „wesentliche
Integrationsvoraussetzung“ und als Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen
Leben. Danach liegen ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache vor, wenn sich der
Antragsteller im täglichen Leben einschließlich der Kontakte mit Behörden in seiner
deutschen Umgebung sprachlich zurechtzufinden vermag und mit ihm ein seinem Alter und
Bildungsstand entsprechendes Gespräch geführt werden kann. Dazu gehört nach § 3 Abs. 2
IntV auch, dass der Antragsteller einen deutschsprachigen Text des alltäglichen Lebens lesen,
verstehen und die wesentlichen Inhalte mündlich wiedergeben kann (Leseprobe). Ein Text des
täglichen Lebens ist z.B. ein Zeitungsartikel oder eine Werbebroschüre. Die Definition des zu
fordernden Sprachniveaus orientiert sich an dem gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen
43
für Sprachen und wird auf der Stufe B 1 der selbständigen Sprachanwendung festgelegt (Nr.
9.2.7 Satz 6 AufenthG)
Die Leseprobe wird durch das Zeugnis über den erfolgreichen Abschluss eines
Integrationskurses ersetzt (§ 9 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. §§ 43–45 AufenthG). Allerdings haben
nur nach dem In-Kraft-Treten des AufenthG erstmals einreisende Antragsteller Anspruch auf
Teilnahme am Integrationskurs (§ 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Bei den anderen
Antragstellern wird wie im Einbürgerungsverfahren eine Leseprobe durchgeführt werden. Ist
vor dem 1. Januar 2005 ein Antrag auf Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis
(§§ 24 ff. AuslG 1990) oder Aufenthaltsberechtigung (§ 27 AuslG 1990) gestellt worden,
reicht der Nachweis aus, dass die Verständigung in deutscher Sprache mündlich auf einfache
Art (vgl. § 24 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990) möglich ist (vgl. § 104 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Im
Falle der Entscheidung gilt der Aufenthaltstitel als Niederlassungserlaubnis (§ 104 Abs. 1
Satz 2 i.V.m. § 101 Abs. 1 AufenthG). Ebenso reicht bei den Antragstellern, die am 1.1.2005
im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, die Fähigkeit aus, sich
auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen zu können (§ 104 Abs. 2
AufenthG). Darüber hinaus wird von der erhöhten Sprachkompetenz abgesehen, wenn der
Antragsteller sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen kann und
zugleich entweder nur einen geringen Integrationsbedarf hat (§ 44a Abs. 3 Nr. 2 AufenthG)
oder dessen Teilnahme am Integrationskurs auf Dauer unmöglich oder unzumutbar ist (§ 44a
Abs. 2 Nr. 3 AufenthG).
Eine zwingende Ausnahmeregelung enthält § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG für Antragsteller, die
wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung
ausreichende Sprachkenntnisse nicht nachweisen können. Die Art der Krankheit oder
Behinderung muss ursächlich für die fehlende Sprachkompetenz sein. Dieser Vorschrift liegt
der Gedanke zugrunde, dass auch behinderten Antragstellern eine Aufenthaltsverfestigung
möglich sein muss. In der Gesetzesbegründung wird darauf hingewiesen, dass insoweit Fälle
vorkommen, in denen auch durch die sinnvolle Berücksichtigung der spezifischen
Einschränkungen bei Art und Inhalt der Prüfungen nicht geholfen werden könne, weil
Behinderte überhaupt nicht in der Lage seien, Deutsch zu sprechen oder Kenntnisse der
deutschen Gesellschaft zu erwerben. Im Übrigen kann zur Vermeidung einer Härte eine
Ausnahme zugelassen werden (§ 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Eine Härte kann z.B. vorliegen,
wenn eine körperliche, geistige oder seelische Erkrankung oder Behinderung die Erfüllung
oder Voraussetzung zwar nicht unmöglich macht, aber dauerhaft wesentlich erschwert, wenn
der Antragsteller bei der Einreise bereits über 50 Jahre alt war, wenn wegen der
Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen der Besuch eines Integrationskurses auf Dauer
unmöglich oder unzumutbar war. In Betracht kommen auch Fälle nach § 44a Abs. 2 Nr. 3
AufenthG, in denen sich der Antragsteller nicht auf einfache Art in deutscher Sprache
mündlich verständigen kann, sodass die Ausnahmeregelung nach § 9 Abs. 2 Satz 5 AufenthG
nicht greift. Aus den geltend gemachten nachzuweisenden Gründen muss sich unmittelbar
nachvollziehen lassen, dass im Einzelfall eine Erschwernis vorliegt (Nr. 9.2.10.2 VAH).
j)
Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8
AufenthG)
Der Nachweis wird durch Vorlage des Zeugnisses über den erfolgreichen Abschluss eines
Integrationskurses geführt (§ 9 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Allerdings haben nur nach dem InKraft-Treten des AufenthG erstmals einreisende Antragsteller Anspruch auf Teilnahme am
Integrationskurs (§ 44 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Unklar ist, welche Nachweiserfordernisse im
44
Blick auf die anderen Antragsteller bestehen. Auch hier gelten die zwingenden und die nach
Ermessen anzuwendenden Ausnahmeregelungen des § 9 Abs. 2 Satz 3–5 AufenthG). Nach
§ 9 Abs. 2 Satz 2 AufenthG sind die Voraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8
AufenthG nachgewiesen, wenn ein Integrationskurs erfolgreich abgeschlossen wurde. Zur
Teilnahme an einem Integrationskurs berechtigt sind jedoch nur die Antragsteller, die
erstmals eine Aufenthaltserlaubnis zu den in § 44 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bezeichneten
Zwecken oder eine Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2 AufenthG erhalten. Damit
entfällt die Berechtigung für die im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Gesetzes rechtmäßig
im Bundesgebiet lebenden Ausländer. Für die Niederlassung reicht deshalb die Verständigung
in deutscher Sprache mündlich auf einfache Art aus, wenn wegen erkennbar geringen
Integrationsbedarfs (§ 44 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG) oder wegen Nachweises der Teilnahme an
vergleichbaren Bildungsangeboten im Bundesgebiet (§ 44a Abs. 2 Nr. 2 AufenthG) kein
Anspruch auf Teilnahme am Integrationskurs besteht (§ 9 Abs. 2 Satz 5 AufenthG). Darüber
hinaus findet auf alle Antragsteller, die am 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, der herabgestufte Maßstab Anwendung (§ 104 Abs. 2
AufenthG).
Deutsch-verheiratete Antragsteller erhalten die Niederlassungserlaubnis abweichend von § 9
Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG, wenn sie sich auf einfache Art in deutscher Sprache
verständigen können (§ 28 Abs. 2 Satz 1 2. Hs. AufenthG). Eine zwingende
Ausnahmeregelung enthält § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG für Antragsteller, die wegen einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung ausreichende
Sprachkenntnisse nicht nachweisen können. Im Übrigen kann zur Vermeidung einer Härte
eine Ausnahme zugelassen werden (§ 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Die Ausländerbehörde kann
den Antragsteller jedoch unter den Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zur
Teilnahme am Integrationskurs auffordern und von der erfolgreichen Teilnahme die Erteilung
der Niederlassungserlaubnis abhängig machen. In den Fällen der zwingenden
Ausnahmeregelungen der Vorschriften der §§ 9 Abs. 2 Satz 3, 26 Abs. 3, 28 Abs. 2 Satz 1 2.
Hs. und 104 Abs. 2 AufenthG hat die Behörde die Aufforderung zu unterlassen und die
Niederlassungserlaubnis zu erteilen. Im Übrigen bleibt abzuwarten, wie das
Spannungsverhältnis zwischen der humanitären Härteregelung nach § 9 Abs. 2 Satz 4
AufenthG und der Aufforderungsmöglichkeit nach § 44a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG sich in der
Verwaltungspraxis gestalten wird. Dies wird sicherlich auch von den verfügbaren und
zumutbar erreichbaren Kursplätzen abhängen (§ vgl. § 44a Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 1. Hs.
AufenthG).
Geht die Ausländerbehörde nach § 44a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor und kommt der
Antragsteller aus von ihm zu vertretenden Gründen seiner Verpflichtung, am Integrationskurs
teilzunehmen, nicht nach, hat dies nicht nur eine zehnprozentige Leistungsverkürzung zur
Folge (§ 44a Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Vielmehr wird in diesem Fall die
Niederlassungserlaubnis nicht erteilt und kann auch die Verlängerung der befristeten
Aufenthaltserlaubnis versagt werden (§ 44a Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 8 Abs. 3 AufenthG). Die
Behörde hat den Antragsteller auf diese Folgen seiner verschuldeten Nichtteilnahme
hinzuweisen (§ 44a Abs. 3 Satz 1 1. Hs. AufenthG).
k)
Wohnraumerfordernis (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 i.V.m. § 2 Abs. 4 AufenthG)
Der Antragsteller hat den Nachweis zu führen, dass er über ausreichenden Wohnraum für sich
und seine Familienangehörigen verfügt (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 AufenthG). Als ausreichender
Wohnraum wird nicht mehr gefordert als für die Unterbringung eines Wohnungssuchenden in
einer öffentlich geförderten Sozialmietwohnung. Der Wohnraum ist nicht ausreichend, wenn
45
er den auch für Deutsche geltenden Rechtsvorschriften hinsichtlich Beschaffenheit und
Belegung nicht genügt (§ 2 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG). Es bleibt damit bei der bisherigen
Verwaltungspraxis. Danach muss der Wohnraum einer menschenwürdigen Unterbringung
dienen. Eine abgeschlossene Wohnung wird aber nicht verlangt. Eine Gemeinschafts- oder
Obdachlosenunterkunft hat allerdings lediglich den Zweck, vorübergehend Abhilfe zu
schaffen und wird deshalb als nicht ausreichend angesehen.
Eine abgeschlossene Wohnung mit Küche, Bad und WC wird in der Verwaltungspraxis stets
als ausreichend angesehen, wenn für jede Person über sechs Jahre zwölf Quadratmeter und
für jede Person unter sechs Jahre zehn Quadratmeter zur Verfügung stehen. Eine
Unterschreitung der maßgeblichen Wohnungsgröße um bis zu 10 % ist unschädlich. Kinder
unter zwei Jahren werden nicht berücksichtigt (§ 2 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). Der Wohnraum
insgesamt ist maßgebend. Alle in der Wohnung dauerhaft in familiärer Lebensgemeinschaft
lebenden Angehörigen sind in Betracht zu ziehen. Zu berücksichtigen sind nur die tatsächlich
mit dem Antragsteller zusammenlebenden Familienangehörigen, nicht jedoch der getrennt
lebende Ehegatte sowie das volljährige Kind mit eigener Wohnung. Die Nachweispflicht
entfällt für Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit
oder Behinderung keine Altersvorsorge leisten können (§ 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Dies hat
der Gesetzgeber zwar nicht ausdrücklich geregelt, dürfte aber in der Ratio der
Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG liegen.
l)
Anfrage bei den Sicherheitsbehörden bei konkreten Zweifeln (§ 73 Abs. 2 Satz 2
AufenthG)
Nach § 73 Abs. 2 Satz 2 AufenthG haben die Ausländerbehörden die bei ihnen gespeicherten
personenbezogenen Daten an den BND, den MAD, das Zollkriminalamt, an das Landesamt
für Verfassungsschutz, das Landeskriminalamt oder die zuständigen Behörden der Polizei zu
übermitteln, wenn dies zur Feststellung von Versagungsgründen gemäß § 5 Abs. 4 AufenthG
oder zur Prüfung von Sicherheitsbedenken geboten ist. Nach Nr. 73.2.2 VAH ist diese
Vorschrift so zu verstehen, dass vor der Erteilung der Niederlassungserlaubnis zwingend die
Nachfrage durchzuführen ist.
Diese Interpretation des § 72 Abs. 2 Satz 2 AufenthG steht mit dem Gesetzeswortlaut nicht im
Einklang. Danach muss die Datenübermittlung geboten sein. Hätte der Gesetzgeber die
Regelanfrage einführen wollen, hätte er dies deutlich z.B. durch Verwendung der
Formulierung „in der Regel“ oder durch eine zwingende Anweisung wie in § 37 Abs. 2 StAG
für die Einbürgerungsbehörden angeordnet. Der Wortlaut von § 73 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
lässt nur die Auslegung zu, dass konkrete Anhaltspunkte die Anfrage rechtfertigen müssen.
Konkrete Anhaltspunkte können nicht aus der bloßen Staatsangehörigkeit des Antragstellers
erschlossen werden.
VI.
1.
Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (§ 9a bis § 9c AufenthG)
Funktion der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten
.
46
Mit § 9a bis § 9c AufenthG werden die Vorgaben der Richtlinie 2003/109/EG
(Daueraufenthaltsrichtlinie), insbesondere die in Art. 4 bis 8 RL 2003/109/EG enthaltenen
Regelungen, umgesetzt. Neben der Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG wird mit § 9a
AufenthG die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten eingeführt, die bei
Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen erteilt wird. In die Aufenthaltstitel von
Drittstaatsangehörigen, welche im Bundesgebiet diese Rechtsstellung besitzen, ist die
Bezeichnung „Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG“ einzutragen (vgl. auch § 2 Abs. 7 Satz 2
AufenthG, Art. 8 Abs. 3 Satz 3 RL 2003/109/EG). Die Daueraufenthaltsrichtlinie führt mit
dem Titel „Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG“ einen europäischen Aufenthaltstitel ein.57
Während einerseits Drittstaatsangehörigen, welche den Titel „Erlaubnis zum DaueraufenthaltEG“ im Bundesgebiet erworben haben, damit Mobilität im Gemeinschaftsgebiet vermittelt
wird, wird andererseits langfristig Aufenthaltsberechtigten, denen in einem anderen
Mitgliedstaat die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilt wurde, nach
§ 38a AufenthG im Bundesgebiet Mobilität nach Maßgabe der Bestimmungen in Kapitel III
der Richtlinie 2003/109/EG gewährt.
Die Richtlinie knüpft an die Entstehung eines Daueraufenthaltsrechts andere, zumeist engere
Voraussetzungen als sie für die Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG vorgeschrieben
sind. Nach der gesetzlichen Begründung soll die Umsetzung der Daueraufenthaltsrichtlinie
einerseits nicht zur Folge haben, dass eine Niederlassungserlaubnis nach deutschem Recht
unter wesentlich anderen Voraussetzungen als bisher erteilt wird. Der Status eines langfristig
Aufenthaltsberechtigten ist nach den Vorgaben der Richtlinie hinsichtlich der mit ihm
verbundenen Rechtsfolgen durchweg mindestens so günstig gestaltet wie die Rechtsstellung
eines Inhabers einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG. Es würde deshalb
andererseits keinen Sinn machen, wenn Drittstaatsangehörige, die nach der
Daueraufenthaltsrichtlinie den Status eines langfristig Daueraufenthaltsberechtigten
beanspruchen könnten, diesen unter wesentlich leichteren Voraussetzungen erhalten könnten
als die Niederlassungserlaubnis, die nur gleiche oder weniger Rechte vermittele.
Daher nutzt der Gesetzgeber mit der Ausgestaltung des § 9a bis § 9c AufenthG die
Möglichkeiten, die den Mitgliedstaaten nach der Daueraufenthaltsrichtlinie optional zur
Verfügung stehen, um über die Mindestanforderungen hinaus Voraussetzungen an die
Verleihung der Rechtsstellung des langfristig Daueraufenthaltsberechtigten festzulegen,
insoweit, als diese solchen Bedingungen im Wesentlichen entsprechen, die auch bisher an die
Erteilung einer Niederlassungserlaubnis geknüpft wurden. Bei der Umsetzung der Richtlinie
sei auch berücksichtigt worden, dass nach Art. 13 Satz 1 RL 2003/109/EG die Mitgliedstaaten
für die Ausgestaltung dauerhafter oder unbefristeter Aufenthaltstitel günstigere
Voraussetzungen als in der Richtlinie vorgesehen einräumen könnten. Die bisher, teils
großzügigen Erteilungstatbestände für die Niederlassungserlaubnis (§ 19, § 21 Abs. 4, § 23
Abs. 2, § 26 Abs. 3 und 4, § 28 Abs. 2, § 31 Abs. 3, § 35 und § 38 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG)
könnten damit aufrechterhalten werden. Bei den an Ehegatten anknüpfenden Privilegierungen
(§ 9c Abs. 4 Satz 2 AufenthG) wird deshalb die lebenspartnerschaftliche Gemeinschaft (vgl. §
27 bs. 2 AufenthG) nicht berücksichtigt.
2.
Voraussetzungen für die Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig
Aufenthaltsberechtigten
a)
Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen
57
Christoph Hauschild, ZAR 2003, 350 (353).
47
aa)
Allgemeine Grundsätze
In § 9a Abs. 2 und 4, § 9b und § 9c AufenthG werden die allgemeinen
Erteilungsvoraussetzungen für die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten
festgelegt. Nach § 9a Abs. 1 AufenthG ist die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG ein
unbefristeter Aufenthaltstitel. Hinsichtlich der entsprechenden Berechtigung finden die
Vorschriften über die Erteilung der Niederlassungserlaubnis entsprechend Anwendung (§ 9a
Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG wird im Wesentlichen der
Niederlassungserlaubnis gleichgestellte (§ 9a Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Erst nach Erteilung
der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten hat der Berechtigte den
entsprechenden Status (Art. 4 Abs. 1 RL 2003/109/EG). In der Anwendungspraxis soll die
Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten regelmäßig mit der
Erteilung eines Aufenthaltstitels mit der Zusatzbezeichnung „Erlaubnis zum DaueraufenthaltEG“ einhergehen. Die Erteilungstatbestände des § 19, § 21 Abs. 4, § 23 Abs. 2, § 26 Abs. 3
und 4, § 28 Abs. 2, § 31 Abs. 3, § 35 und § 38 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG werden durch die
Einführung der Daueraufenthalt-EG nicht berührt. Inhaber einer Niederlassungserlaubnis nach
§ 9 AufenthG können die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erwerben,
wenn sie zugleich die Voraussetzungen für die Gewährung der Rechtsstellung eines
langfristig Aufenthaltsberechtigten erfüllen.
Die Daueraufenthaltsrichtlinie enthält lediglich drei Mindestvoraussetzungen, die von allen
Mitgliedstaaten einzuhalten sind: Der Nachweis eines ununterbrochenen fünf Jahre dauernden
rechtmäßigen Aufenthaltes (Art. 4 Abs. 1), der Nachweis fester und regelmäßiger Einkünfte
(Art. 5 Abs. 1 Buchst. a)) sowie der Nachweis einer Krankenversicherung (Art. 5 Abs. 1
Buchst. b)). Die weiteren in Art. 4, 5, 6 und 7 der Richtlinie erwähnten
Erteilungsvoraussetzungen sind optional ausgestaltet, werden aber in § 9a bis § 9c AufenthG
überwiegend zur Voraussetzung für die Gewährung der Rechtsstellung eines langfristig
Aufenthaltsberechtigten gemacht.
bb)
Fünfjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet mit Aufenthaltstitel (§ 9a Abs. 1 Nr. 1 und
Abs. 3 AufenthG)
Nach § 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG muss sich der Antragsteller seit fünf Jahren im
Bundesgebiet aufhalten. Dies entspricht Art. 4 Abs. 1 RL 2003/109/EG, wonach der
Antragsteller sich während dieses Zeitraums ununterbrochen rechtmäßig im Mitgliedstaat
aufgehalten haben muss. § 9b AufenthG enthält besondere Regelungen über die Anrechnung
von Aufenthaltszeiten. Sofern die Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG bereits vor
Ablauf der Fünfjahresfrist erworben wird, kann diese nicht zugleich die Rechtsstellung eines
langfristig Aufenthaltsberechtigten vermitteln. Nach Ablauf der Fünfjahresfrist können nach
deutschem Recht privilegierte Antragsteller diese Rechtsstellung allerdings erwerben, sofern
die Aufenthaltszeiten anrechenbar (vgl. § 9b AufenthG) sind.
Nach der Richtlinie bedeutet „ununterbrochen“, dass Zeiten, in denen der
Drittstaatsangehörige sich nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates aufgehalten hat, die
geforderte Aufenthaltsdauer nicht unterbrechen und in die Anrechnung einfließen, wenn sie
sechs aufeinander folgende Monate nicht überschreiten und insgesamt zehn Monate innerhalb
des Zeitraums von fünf Jahren nicht überschreiten (Art. 4 Abs. 3 Abs. 1 RL 2003/109/EG).
Dementsprechend werden nach § 9b Satz 1 Nr. 1a AufenthG Zeiten eines
Auslandsaufenthaltes angerechnet, in denen der Antragsteller einen Aufenthaltstitel besaß und
in denen er sich wegen einer Entsendung aus beruflichen Gründen im Ausland aufgehalten
hat, soweit ihre Dauer jeweils sechs Monate nicht überschritten oder die Ausländerbehörde
48
eine Frist nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG bestimmt hat. Alternativ werden nach § 9a Satz 1
Nr. 1b AufenthG Zeiten eines Auslandsaufenthaltes ohne Beschränkung auf berufliche
Gründe angerechnet, wenn sie sechs aufeinander folgende Monate und innerhalb eines
Zeitraumes von fünf Jahren insgesamt zehn Monate nicht überschreiten.
Für die Fälle, in denen der Auslandsaufenthalt aus beruflichen Gründen erforderlich war,
macht der Gesetzgeber nicht von Art 4. Abs. 3 Satz 2 RL 2003/109/EG Gebrauch und
beschränkt die Anrechnungsfähigkeit von Auslandsaufenthalten wie Art 4. Abs. 3 Satz 1 RL
2003/109/EG auf eine Zeit von insgesamt zehn Monaten. Abweichend von Art 4. Abs. 3 Satz
2 RL 2003/109/EG verlangt § 9b Satz 1 Nr. 1 AufenthG, dass der Antragsteller während des
Auslandsaufenthaltes im Besitz eines Aufenthaltstitels gewesen sein muss und macht auch
nicht von der auf „spezifische Gründe oder zeitlich begrenzte Ausnahmesituationen“
erweiterten Öffnungsklausel des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 RL 2003/109/EG Gebrauch, sondern
schränkt diese Möglichkeit ausschließlich auf „berufliche Gründe“ ein. Solche beruflich
bedingten Auslandsaufenthalte führten vor allem höher qualifizierte Ausländer, wie etwa
Wissenschaftler, qualifizierte Dienstleister oder Führungskräfte der Wirtschaft durch.
Voraussetzung für die Anrechnung sei einerseits, dass berufliche und nicht private Gründe
den Hauptanlass für den Auslandsaufenthalt bildeten. Andererseits werde klargestellt, dass die
Ausländerbehörde eine verlängerte Wiedereinreisefrist nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG
bestimmt haben müsse oder die Dauer jedes einzelnen anzurechnenden Auslandsaufenthaltes
sechs Monate nicht überschritten haben dürfe, was die Bestimmung der Wiedereinreisefrist
nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG entbehrlich mache.
Die Anknüpfung an die Entscheidung der Ausländerbehörde nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG
sei erforderlich, um klarzustellen, dass Auslandsaufenthalte, die nach dieser Vorschrift zum
Erlöschen des Aufenthaltstitels führen würden, zumindest nach § 9b Satz 1 Nr. 1 AufenthG
vollständig anrechnungsfähig seien. Dementsprechend unterbrechen Zeiten eines
Auslandsaufenthaltes, die danach nicht angerechnet werden, die Fünfjahresfrist nicht, wenn
dieser nicht zum Erlöschen des Aufenthaltstitels geführt hat. Sie werden andererseits aber
auch nicht angerechnet (§ 9b Satz 3 2. Hs. AufenthG). Die gesetzliche Begründung ist
missverständlich und erweckt den Eindruck, § 9b Satz 1 Nr. 1 AufenthG gehe über § 51 Abs.
1 Nr. 6 und 7 AufenthG hinaus. Dies trifft jedoch nicht zu, weil die Vorschrift den
Auslandsaufenhalt auf eine sechs Monate nicht übersteigende Frist (§ 51 Abs. 1 Nr. 6
AufenthG) oder auf einen darüber hinausgehenden behördlich genehmigten
Auslandsaufenthalt (§ 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG) beschränkt.
Der Gesetzgeber will aus beruflichen Gründen bedingte Auslandsaufenthalte gegenüber aus
anderen Gründen bedingten Auslandsaufenthalten privilegieren. Selbstverständlich
unterbindet § 9b Satz 1 Nr. 1a AufenthG nicht das Recht des Antragstellers die
Unterbrechung der Rechtmäßigkeit durch einen Antrag nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG
abzuwenden. Angerechnet auf die Frist nach § 9b Satz 1 Nr. 1b AufenthG werden bei nicht
beruflich bedingten Auslandsaufenthalten allerdings höchstens zehn Monate, auch wenn im
Übrigen der länger als sechs Monate dauernde Aufenthalt wegen der antragsgemäßen
behördlichen Genehmigung die Frist von zehn Monaten überschreitet. Lediglich im Hinblick
auf die Anrechnung von Auslandsaufenthalten unterscheiden sich damit beruflich bedingte
von anders begründeten Auslandsaufenthalten. In beiden Fällen ist allerdings § 51 Abs. 1 Nr.
6 und 7 AufenthG zu beachten, sodass ein längerer als sechs Monate dauernder und nicht
behördlich genehmigter Aufenthalt zur Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes
führt, die allerdings nach § 85 AufenthG geheilt werden kann. In allen übrigen Fällen endet
die Anrechenbarkeit eines Aufenthaltes mit der Ausreise aus dem Bundesgebiet (§ 9b Satz 4
AufenthG).
49
Zeiten eines rechtmäßigen Aufenthalts zum Zweck des Studiums (§ 16 AufenthG) oder der
Berufsausbildung (§ 17 AufenthG) werden nur zur Hälfte auf die Fünfjahresfrist nach § 9a
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG angerechnet (§ 9b Satz 1 Nr. 4 AufenthG). Damit
berücksichtigt der Gesetzgeber die Regelung in Art. 4 Abs. 2 2. Unterabschnitt RL
2003/109/EG. Aus § 9b Satz 1 Nr. 4 AufenthG folgt, dass der Antragsteller im Zeitpunkt der
Entscheidung über den Antrag nicht lediglich im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16
AufenthG sein darf. Vielmehr muss er im Besitz eines nicht den Anwendungsverboten des §
9a Abs. 3 AufenthG zuzuordnenden Aufenthaltstitels sein. Dieses Anwendungsverbot hat
seine Rechtsgrundlage in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a) RL 2003/109/EG.
Hat der Antragsteller nach Abschluss des Studiums oder der Ausbildung einen nicht dem
Anwendungsverbot unterfallenden Aufenthaltstitel erhalten, wird die Zeit, in der er im Besitz
einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 oder § 17 AufenthG war, zur Hälfte angerechnet (§ 9b
Satz 1 Nr. 4 AufenthG). Die gesetzliche Begründung weist darauf hin, dass zwar an Studenten
die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nicht verliehen werden dürfe.
Hingegen könnten sie diese beanspruchen, wenn sie nicht mehr Studenten seien, aber sich zu
einem anderen Zweck (vgl. § 16 Abs. 4 in Verb. mit §§ 18 ff. AufenthG) im Bundesgebiet
aufhielten.
Nach § 9b Satz 1 Nr. 2 AufenthG werden Zeiten des früheren Besitzes einer
Aufenthaltserlaubnis und einer Niederlassungserlaubnis, in denen der Antragsteller sich im
Bundesgebiet aufgehalten hat, bis zu höchstens vier Jahren angerechnet, wenn er im Zeitpunkt
der Ausreise im Besitz einer Niederlassungserlaubnis oder im Bundesgebiet langfristig
aufenthaltsberechtigt war, wenn die Niederlassungserlaubnis oder die Rechtsstellung eines
langfristig Aufenthaltsberechtigten allein wegen eines Aufenthaltes außerhalb des
Bundesgebietes oder außerhalb von Mitgliedstaaten oder wegen des Erwerbs der
Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem anderen Mitgliedstaat
erloschen ist. Ehemaligen Inhabern einer Niederlassungserlaubnis, deren Aufenthaltstitel
erloschen ist, wird mit der Anrechnungsvorschrift des § 9b Satz 1 Nr. 2 AufenthG der
Wiedererwerb der Rechtsstellung unter erleichterten Voraussetzungen ermöglicht. Dasselbe
gilt für Antragsteller, die zwar früher keine Niederlassungserlaubnis, wohl aber die
Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besessen hatten. Zugleich wird damit
nach der gesetzlichen Begründung Art. 9 Abs. 4 RL 2003/109/EG umgesetzt, wonach im
Falle eines unverschuldeten Verlustes der Rechtsstellung eines dauerhaft
Aufenthaltsberechtigten ein vereinfachtes Verfahren vorzusehen ist. Danach ist es für die
Wiedererlangung der Rechtsstellung- sofern im Übrigen die allgemeinen Voraussetzungen
erfüllt sind – nicht erforderlich, dass die Mindestaufenthaltszeit im Bundesgebiet erneut
vollständig zurück gelegt wird, sondern dass bis zu vier Jahre angerechnet werden. Art. 9
Abs. 4 RL 2003/109/EG lässt allerdings eine Einschränkung nach Maßgabe eines
Verschuldens nicht zu.
Diese Erleichterung betrifft insbesondere Antragsteller, die nur deshalb ihre Rechtsstellung
eines im Bundesgebiet langfristig Aufenthaltsberechtigten verloren haben, weil sie sich länger
als zwölf Monate außerhalb des Gemeinschaftsgebietes aufgehalten haben (vgl. Art. 9 Abs. 1
Buchst. c) RL 2003/109/EG), oder weil sie in einem anderen Mitgliedstaat langfristig
Daueraufenthaltsberechtigter geworden sind (vgl. Art. 9 Abs. 4 RL 2003/109/EG). Auch
Inhaber einer Niederlassungserlaubnis, die vor Umsetzung der Daueraufenthaltsrichtlinie
erloschen ist, werden nach § 9b Satz 1 Nr. 2 AufenthG mit erfasst, weil sie bereits nach § 9
Abs. 4 Nr. 1 AufenthG eine vergleichbare Vergünstigung im Blick auf die
Niederlassungserlaubnis beanspruchen können.
50
cc)
Anrechnungsverbote (§ 9a Abs. 3 bis 5 AufenthG)
Die Vorschrift des § 9a Abs. 3 bis 5 AufenthG enthält Anwendungsverbote. Dabei beziehen
sich die Anwendungsverbote auf den Aufenthaltstitel. Diese Regelungen setzen Art. 3 Abs. 2
RL 2003/109/EG um. Die betroffenen Personen können aber nachträglich einen anderen,
nicht einem Awendungsverbot zuzuordnenden Aufenthaltstitel erlangt haben. Nach § 9a Abs.
3 Nr. 1 AufenthG darf die Rechtsstellung nicht erteilt werden, wenn der Antragsteller einen
Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des AufenthG oder eine
vergleichbare Rechtsstellung in einem anderen Mitgliedstaat besitzt. Von diesem
Anrechnungsverbot ausgenommen ist die Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2
AufenthG. Der Gesetzgeber sperrt damit auch den Übergang von der nicht akzessorischen
Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG zur Rechtsstellung eines langfristig
Aufenthaltsberechtigten. Begründet wird dies damit, dass humanitäre Aufenthaltstitel keine
geeignete Grundlage für die Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig
Aufenthaltsberechtigten bildeten. Da die Qualifikationsrichtlinie (RL 2004/83/EG) erst nach
der Daueraufenthaltsrichtlinie erlassen worden sei und keine abschließenden Kriterien für den
subsidiären Schutz vorsehe, könne sie nicht zu einer gegenteiligen Auslegung führen.
§ 9a Abs. 3 Nr. 5 AufenthG enthält ein Anwendungsverbot für Aufenthaltstitel, die zu einem
lediglich vorübergehenden Zweck den Aufenthalt im Bundesgebiet erlauben. Hierbei handelt
es sich um Aufenthaltstitel nach § 18 AufenthG in Verb. mit z.B. § 2, § 6, § 7, § 11, § 12, §
18, § 19, § 20, § 21, § 22, § 26 BeschV (vgl. § 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. a) AufenthG),
um nicht verlängerungsfähige Aufenthaltstitel nach § 8 Abs. 2 AufenthG sowie um
Aufenthaltstitel, die zur Familienzusammenführung an einen sich lediglich vorübergehend im
Bundesgebiet aufhaltenden Stammberechtigten (vgl. § 9a Abs. 3 Nr. bc Buchst. c) AufenthG)
erteilt werden. Nicht jeder zur Ausübung einer von vornherein zeitlich beschränkten
Beschäftigung erlangte Aufenthaltstitel wird nach Maßgabe des § 8 Abs. 2 AufenthG erteilt,
sodass der Gesetzgeber ein eigenständiges Anwendungsverbot in § 9a Abs. 3 Nr. 5b
AufenthG für erforderlich erachtet.
dd)
Sicherung des Lebensunterhaltes (§ 9a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG)
Nach § 9a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG muss der Antragsteller den Lebensunterhalt für sich und
seine mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Angehörigen, denen er Unterhalt zu
leisten hat, durch feste und regelmäßige Einkünfte sichern (Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) RL
2003/109/EG). Beziehen der Antragsteller oder ein Familienangehöriger Sozialleistungen,
steht dies der Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten
entgegen.58 Die weitergehende nationale Vorschrift des § 55 Abs. 2 Nr. 6 in Verb. mit § 5
Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, die auch den Sozialleistungsbezug „sonstiger Haushaltsangehöriger“
berücksichtigt, darf nicht herangezogen werden. Vielmehr regelt § 9a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG
in Umsetzung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) RL 2003/109/EG abschließend diese Frage.
Bei der Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ist weiter
gehend als bei der Einräumung vorübergehender Aufenthaltsrechte besonders auf die
Dauerhaftigkeit und Regelmäßigkeit der Einkünfteerzielung und auf die Sicherung des
Lebensunterhaltes der gesamten in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familie als durch
Unterhaltspflichten miteinander verbundene Wirtschaftsgemeinschaft und nicht lediglich auf
den einzelnen Antragsteller abzustellen. Dies wird durch die gesetzliche Formulierung
58
OVG Hamburg, NVwZ 2006, 229 (230).
51
hervorgehoben. Nach der Systematik der Daueraufenthaltsrichtlinie kann das System
eigenständiger und unabhängiger Tatbestandsvoraussetzungen, wie es in § 9 Abs. 2 AufenthG
vorgesehen ist, nicht auf § 9a bis § 9c AufenthG übertragen werden. Die Regelungen in § 9a
Abs. 2 Nr. 2 in Verb. mit § 9c AufenthG legen im Einzelnen in Form einer
Erteilungsvoraussetzung fest, wann der Lebensunterhalt gesichert ist. Sind diese
Voraussetzungen nicht erfüllt, ist davon auszugehen, dass der Lebensunterhalt nicht
hinreichend gesichert ist.
Danach muss der Antragsteller seine regelmäßigen Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit
beziehen und hierfür die erforderlichen Erlaubnisse besitzen (§ 9c Nr. 4 AufenthG). Bei in
ehelicher Lebensgemeinschaft lebenden Ehegatten genügt es, wenn diese Voraussetzung
durch einen Ehegatten erfüllt wird (§ 9c Satz 1 AufenthG). Der Antragsteller muss darüber
hinaus seine steuerlichen und sonstigen abgabenrechtlichen Verpflichtungen nach den
Abgabegesetzen erfüllen (§ 9c Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Dies ist anhand einer Bescheinigung
des zuständigen Wohnsitzfinanzamtes nachzuweisen. Derartige Bescheinigung stellen die
Finanzämter im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge und mit
gewerberechtlichen Verfahren aus („Auskunft in Steuersachen“). Steuerrechtliche
Unregelmäßigkeiten stellen nach der gesetzlichen Begründung erfahrungsgemäß ein frühes
Indiz für eine mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit dar, sodass das Erfordernis der
Erfüllung abgabenrechtlicher Verpflichtungen für die Prüfung einer dauerhaften
Leistungsfähigkeit des Antragstellers besonders geeignet ist. In Art. 5 RL 2003/109/EG fehlt
für dieses Erfordernis eine Rechtsgrundlage. Lediglich nach Erwägungsgrund Nr. 7 können
die Mitgliedstaaten Faktoren wie die Erfüllung steuerlicher Verpflichtungen berücksichtigen.
Nach § 9c Satz 1 Nr. 2 AufenthG muss der Antragsteller für sich und seinen mit ihm in
häuslicher Gemeinschaft lebenden Ehegatten im In- oder Ausland Beiträge oder
Aufwendungen für eine angemessene Alterversorgung geleistet haben, etwa in der
gesetzlichen Rentenversicherung, in der privaten Altersversicherung, durch eine betriebliche
Altersversorgung, oder durch einen grundsätzlich erst im Alter auszahlbaren Sparplan. In Art.
5 RL 2003/109/EG fehlt für dieses Erfordernis eine Rechtsgrundlage. Lediglich nach
Erwägungsgrund Nr. 7 können die Mitgliedstaaten Faktoren wie das Alterssicherungssystem
berücksichtigen. Anders als § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG regelt § 9c Nr. 2 AufenthG
nicht den präzisen Umfang der Altersvorsorge, sondern erfordert lediglich eine angemessene
Vorsorge. Die entsprechenden Anforderungen dürfen dem Umfang nicht über § 9 Abs. 2 Satz
1 Nr. 3 AufenthG hinausgehen.
Nach der gesetzlichen Begründung ist im Rahmen der Prognoseentscheidung zu prüfen, ob
eine im Hinblick auf das Lebensalter und die bisherige Aufenthaltszeit im Bundesgebiet
angemessene Altersvorsorge aufgrund des bisherigen Versicherungsverlaufs zu erwarten ist.
Zur Vermeidung von Missverständnissen führt das Gesetz verschiedene denkbare
Altersvorsorgesysteme auf, in denen die Alterssicherung auch kumulativ erfolgen kann. Da
die Altersvorsorge nach der Daueraufenthaltsrichtlinie ein zwar zulässiges, aber nicht
zwingendes Bewertungselement für die Sicherung des Lebensunterhaltes ist, entfällt das
Erfordernis der angemessenen Altersversorgung, soweit der Antragsteller aufgrund einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit diese Voraussetzung nicht erfüllen kann (§
9c Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Hinsichtlich der Lebensunterhaltssicherung insgesamt ist nach
Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) RL 2003/109/EG eine derartige Ausnahme allerdings nicht
vorgesehen.
Der Antragsteller muss darüber hinaus für sich und die mit ihm in häuslicher Gemeinschaft
lebenden Angehörigen den Nachweis einer Krankenversicherung sowie einer
52
Pflegeversicherung führen (§ 9 c Satz 1 Nr. 3 AufenthG). Diese Regelung setzt Art. 5 Abs. 1
Buchst. b) RL 2003/109/EG um. Qualitativ muss der Krankenversicherungsschutz im
Wesentlichen der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen, wobei
Abweichungen hinsichtlich einzelner Leistungsdetails unschädlich sind. Der
Versicherungsschutz muss unbefristet sein oder sich automatisch verlängern. Der Gesetzgeber
will hiermit den Nachweis des Krankenversicherungsschutzes durch neuere
Versicherungsprodukte ausschließen, die gezielt an jüngere Zuwanderer zu niedrigen Preisen
veräußert werden und eine Krankenversicherung vorsehen, deren Schutz nach zehn oder
fünfzehn Jahren automatisch endet.
Schließlich muss der Antragsteller für sich und die mit ihm in häuslicher Gemeinschaft
lebenden Angehörigen den Nach weis ausreichenden Wohnraums führen (§ 9a Abs. 2 Satz 1
Nr. 6 AufenthG). Es handelt sich um ein fakultatives Erfordernis (vgl. Art. 7 Abs. 1 2.
Unterabsatz RL 2003/109/EG) und ist nach der Systematik der Richtlinie Teil des Nachweises
der Lebensunterhaltsicherung nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) RL 2003/109/EG, wird aber nach
§ 9a Abs. 2 AufenthG als Erteilungsvoraussetzungen geregelt.
ee)
Integrationsvoraussetzungen (§ 9a Abs. 1 Nr. 3 und 4 AufenthG)
Nach § 9a Abs. 2 Satz Nr. 3 und 4 AufenthG sind ausreichende Sprachkenntnisse und das
Vorhandensein von Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der
Lebensverhältnisse nachzuweisen. Die Anforderungen richten sich nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr.
7 und 8 AufenthG. Es handelt sich um fakultative Voraussetzungen nach Art. 5 Abs. 2 RL
2003/109/EG. Die Vorschriften des § 9 Abs. 2 Satz 2 bis 5 AufenthG finden entsprechende
Anwendung (§ 9a Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Der Nachweis eines erfolgreich abgeschlossenen
Integrationskurses reicht danach aus (§ 9a Abs. 2 in Verb. mit § 9 Abs. 2 Satz 2 AufenthG).
Soweit der Antragsteller aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit
diese Voraussetzungen nicht erfüllen kann, entfällt danach der Nachweis (§ 9a Abs. 2 in Verb.
mit § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Ferner wird von dem Nachweis abgesehen, wenn der
Antragsteller sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen kann und er
keinen Anspruch auf Teilnahme am Integrationskurs hatte oder hierzu nicht verpflichtet
wurde (§ 9a Abs. 2 in Verb. mit § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG).
ff)
Ausschlussgrund der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung (§ 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5
AufenthG)
Die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten wird nicht erteilt, wenn Gründe
der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung unter Berücksichtigung der Schwere des Verstoßes
gegen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder der vom Antragsteller ausgehenden
Gefahr unter Berücksichtigung der Dauer des bisherigen Aufenthalts und dem Bestehen von
Bindungen im Bundesgebiet entgegenstehen (§ 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG). Der
Ausschlussgrund beruht auf der in Art. 6 RL 2003/109/EG vorgesehenen Öffnungsklausel.
Dort ist auch der in der Vorschrift aufgenommene Abwägungsmaßstab geregelt (Art. 6 Abs 1
2. Unterabsatz RL 203/109/EG). Ausdrücklich wird den Mitgliedstaaten aber untersagt, den
Ausschluss auf wirtschaftliche Gründe zu stützen (Art. 6 Abs. 2 RL 2003/109/EG). Dies
spricht dagegen, die Ausweisungsgründe in § 55 Abs. 2 Nr. 6 und 7 AufenthG in diesem
Zusammenhang heranzuziehen. Allerdings können wirtschaftliche Gründe bei der Sicherung
des Lebensunterhalts (Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) RL 2003/109/EG) berücksichtigt werden.
53
Nach Erwägungsgrund Nr. 8 kann der Begriff der öffentlichen Ordnung die Verurteilung
wegen der Begehung einer schweren Straftat umfassen. Dies spricht dafür, dass nicht jeder
geringfügige strafrechtliche Verstoß die Anwendung des Ausschlussgrundes rechtfertigt.
Vielmehr muss der Verstoß ein erhebliches Gewicht haben. Insofern kann der in § 9 Abs. 2
Satz 1 Nr. 4 AufenthG a.F. enthaltene Maßstab allenfalls als Mindestgrenze herangezogen
werden, dürfte in der Regel die Anwendung des Ausschlussgrundes aber nicht rechtfertigen.
3.
Umfang der Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (§ 9a Abs. 1 AufenthG)
Dem Antragsteller wird die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG als unbefristeter
Aufenthaltstitel erteilt. Die Vorschrift setzt Art. 8 Abs. 2 RL 2003/109/EG um. Maßgebend
für die Anwendung von § 9a Abs. 1 AufenthG ist der gesamte Regelungskontext von Art. 8
RL 2003/109/EG. Danach ist vorbehaltlich der Entziehungs- und Verlustgründe des Art. 9 der
Richtlinie die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten dauerhaft (Art. 8 Abs.
1 RL 2003/109/EG). Deshalb wird Anspruchsberechtigten eine „langfristige
Aufenthaltsberechtigung-EG“ erteilt. Dieser Aufenthaltstitel ist mindestens fünf Jahre gültig
und wird – erforderlichenfalls auf Antrag – ohne weiteres verlängert (Art. 8 Abs. 2 RL
2003/109/EG).
Die „Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG“ kann in Form eines Aufklebers oder eines
besonderen Dokumentes ausgestellt werden (Art. 8 Abs. 3 Satz 1 RL 2003/109/EG). Im
Eintragungsfeld „Art des Aufenthaltstitels“ fügen die Mitgliedstaaten die Bezeichnung
„(Erlaubnis zum) Daueraufenthalt-EG“ ein (Art. 8 Abs. 3 Satz 3 RL 2003/109/EG). Die
Bescheinigung hat entsprechend der Rechtsprechung des EuGH59 zur Freizügigkeit von
Unionsbürgern deklaratorischen Charakter. Diese Rechtsprechung ist deswegen auf
langfristig Daueraufenthaltsberechtigte anwendbar, weil nach Erwägungsgrund Nr. 2 der RL
2003/109/EG die Rechtsstellung langfristig Aufenthaltsberechtigter an diejenige der
Unionsbürger angenähert werden soll und nach Art. 11 RL 2003/109/EG langfristig
Aufenthaltsberechtigte auf einer Reihe von Gebieten wie eigene Staatsangehörige behandelt
werden.60 Ein Indiz für die lediglich deklaratorische Wirkung der Bescheinigung enthält Art.
9 Abs. 6 RL 2003/109/EG, wonach der Ablauf der Geltungsdauer der Bescheinigung nicht
den Entzug oder Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zur
Folge hat.
Die Aufenthaltserlaubnis berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ 9a Abs. 1 Satz 2
in Verb. mit § 9 Abs. 1 2 1. Hs. AufenthG, Art. 11 Abs. 1 Buchst.a) RL 2003/109/EG). Der
Gesetzgeber hat damit nicht von der fakultativen Möglichkeit nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. a)
RL 2003/109/EG Gebrauch gemacht und den Zugang zum Arbeitsmarkt den entsprechenden
Rechten eigener Staatsangehöriger und Unionsbürger nachgeordnet. Es handelt sich bei der
Vorschrift des § 9a Abs. 1 Satz 2 AufenthG um einen Fall nach § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt.
AufenthG.
Allerdings hat der Gesetzgeber die gebotene Umsetzung des in Art. 11 RL 2003/109/EG)
enthaltenen enumerativen, auf dem Grundsatz der Gleichbehandlung beruhenden Katalogs
der Rechte von langfristig Aufenthaltsberechtigten61 nur unzulänglich durchgeführt. Mit der
Verweisung in § 9a Abs. 1 Satz 3 AufenthG an die an den Besitz einer
Niederlassungserlaubnis anknüpfenden Rechte wird der umfassende Katalog des Art. 11 Abs.
59
60
61
EuGHE 1976, 497; EuGHE 1980, 2171.
Wohl a.A. Welte, InfAuslR 2007, 45 (47).
S. hierzu auch Hauschild, ZAR 2003, 305 (352).
54
1 RL 2003/109/EG ebenfalls nicht vollständig umgesetzt. Die danach zwingend zu
gewährenden Rechte gehen weit über den Zugang zum Arbeitsmarkt hinaus und umfassen
u.a. auch Rechte im Bereich der Bildung und Ausbildung, der sozialen Sicherheit sowie der
Anerkennung bestimmter Zeugnisse (Art. 11 Abs. 1 RL 2003/109/EG). Zwar enthält Art. 11
Abs. 2 RL 2003/109/EG Einschränkungsmöglichkeiten. Diese beziehen sich indes nicht auf
langfristig Aufenthaltsberechtigte, deren Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im
Bundesgebiet liegt. Allerdings dürfen die Mitgliedstaaten Sozialhilfe und Sozialschutz auf
Kernleistungen beschränken (vgl. Art. 11 Abs. 4 RL 2003/109/EG).
Der langfristig Aufenthaltsberechtigte hat freien Zugang zum Bundesgebiet (Art. 11 Abs. 1
Buchst. h) RL 2003/109/EG) Nach Kapitel III hat er das Recht auf Aufenthalt in anderen
Mitgliedstaaten nach Maßgabe der dort vorgegebenen Regelungen. Danach erwirbt der
Begünstigte mit Verleihung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten das
Recht, sich zur Ausübung einer nichtselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit, zur
Absolvierung eines Studiums oder einer Berufsausbildung sowie für sonstige Zwecke länger
als drei Monate im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten aufzuhalten (Art. 14 Abs. 1 und 2
RL 2003/109/EG). Die Mitgliedstaaten können den Zugang zum Arbeitsmarkt indes einer
Arbeitsmarktprüfung unterwerfen und die Vorrangprüfung entsprechend ihrer nationalen
Verfahren durchführen (Art. 14 Abs. 3 RL 2003/109/EG). Darüber hinaus können langfristig
Aufenthaltsberechtigte für sich und ihre Familienangehörige nach Maßgabe der Regelungen
in Art. 15 und 16 RL 2003/109/EG einen Aufenthaltstitel in einem zweiten Mitgliedstaat
erwerben.
4.
Erlöschensgründe (§ 51 Abs. 9 AufenthG)
Die Erlaubnis zum Daieraufenthalt-EG erlischt ausschließlich nach Maßgabe der in § 51 Abs.
9 AufenthG festgelegten Gründe. § 51 Abs. 9 AufenthG setzt Art. 9 RL 2003/109/EG um.
Zwingende Verlustgründe sind die Täuschung über die Erteilungsvoraussetzungen, die
Ausweisung nach Art. 12 Abs. 1 RL 2003/109/EG sowie ein die Dauer von zwölf
hintereinander folgenden Monaten übersteigender
Aufenthalt
außerhalb des
Gemeinschaftsgebietes (§ 51 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 bis 3 AufenthG, Art. 9 Abs. 1 RL
2003/109/EG). Der Hinweis auf die Abschiebungsanordnung in § 51 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2
AufenthG ist mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar, weil nur die Ausweisung nach Art. 12 RL
2003/109/EG den Verlust der Rechtsstellung bewirkt und die Daueraufenthaltsrichtlinie für
eine so weitreichende Maßnahme keine Rechtsgrundlage enthält. Sie wurde zu einem
Zeitpunkt verabschiedet, in dem § 58a AufenthG noch nicht einmal Gegenstand des
Zuwanderungsdiskurses in Deutschland war. Auch der in Art. 9 Abs. 3 RL 2003/109/EG
vorgesehene Verlustgrund, der unterhalb der in Art. 12 Abs. 1 RL 2003/109/EG bestimmten
materiellen Ausweisungsschwelle liegt, ist nicht deckungsgleich mit § 58a AufenthG, weil er
eine konkrete schwere, vom Berechtigten begangene Straftat voraussetzt.
Die Regelung in § 51 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist Spezialregelung gegenüber § 51 Abs. 1
Nr. 6 und 7 AufenthG. Ein längerer als sechs Monate dauernder, nicht behördlich
genehmigter Auslandsaufenthalt führt danach nicht zum Erlöschen des Aufenthaltstitels. Hält
sich der langfristig Aufenthaltsberechtigte für einen unbestimmten Zeitraum außerhalb des
Bundesgebietes, aber innerhalb des Gemeinschaftsgebietes auf, verliert er nicht den
Aufenthaltstitel, es sei denn, er hält sich länger als sechs Jahre außerhalb des Bundesgebietes
auf (§ 51 Abs. 9 Satz 1 Nr. 4 AufenthG, Art. 9 Abs. 4 2. Unterabs. RL 2003/109/EG) oder
ihm ist in einem anderen Mitgliedstaat nach Maßgabe der Art. 23 RL 2003/109/EG die
Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten verliehen worden (§ 51 Abs. 9 Satz 1
Nr. 5 AufenthG, Art. 9 Abs. 4 RL 2003/109/EG).
55
5.
Aufenthaltserlaubnis für langfristig Aufenthaltsberechtigte aus anderen
Mitgliedstaaten (§ 38a AufenthG)
Nach § 38a Abs. 1 AufenthG wird dem Antragsteller, der in einem anderen Mitgliedstaat die
Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt, eine Aufenthaltserlaubnis
erteilt, wenn er sich länger als drei Monate im Bundesgebiet aufhalten will. Mit der
Einführung dieses Rechtsanspruchs setzt der Gesetzgeber die Regelungen in Art. 14 und 15
der Daueraufenthaltsrichtlinie um. Da Art. 14 Abs. 2 Buchst. c) RL 2003/109/EG auch
„sonstige Zwecke“ erfasst, erlaubt die Aufenthaltserlaubnis nach § 38a Abs. 1 AufenthG
jeden denkbaren Aufenthaltszweck. Art. 22 RL 2003/109/EG steht der Anwendung von § 8
Abs. 2 AufenthG entgegen, d.h. die Verfestigung des Aufenthaltsrechts darf nicht
unterbunden werden (vgl. § 38a Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Kurzaufenthalte bis zu drei
Monaten werden von der Daueraufenthaltsrichtlinie nicht erfasst. Für die Schengen-Staaten
deckt das Recht aus Art. 21 SDÜ die Einreise in das Bundesgebiet für einen kurzfristigen
Aufenthalt ab, wenn der Betroffene einen Aufenthaltstitel eines Mitgliedstaates besitzt. Im
Blick auf Nichtvertragsstaaten des SDÜ ist für Kurzaufenthalte für die Einreise ein Visum
erforderlich.
Die Aufenthaltserlaubnis berechtigt nur zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit, wenn die in den
§ 18 Abs. 2, § 19, § 20 oder § 21 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen erfüllt sind (§ 38a
Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Art. 14 Abs. 3 RL 2003/109/EG erlaubt den Mitgliedstaaten, eine
Arbeitsmarktprüfung vorzunehmen. Wird die Aufenthaltserlaubnis für ein Studium oder für
sonstige Aufenthaltszwecke erteilt, finden die § 16 und § 17 AufenthG jeweils mit der
Maßgabe entsprechende Anwendung, dass in Fällen des § 17 AufenthG die
Aufenthaltserlaubnis ohne Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit erteilt werden kann (§
38a Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Eine Zustimmung kann nach Art. 14 Abs. 3 RL 2003/109/EG
nur für Erwerbsaufenthalte, nicht aber für Aufenthalte zum Studium oder zur Ausbildung
festgelegt werden (§ 38a Abs. 3 Satz 2 AufenthG).
Nur für einen Zeitraum von zwölf Monaten darf die Aufenthaltserlaubnis mit einer
Nebenbestimmung nach § 39 Abs. 4 AufenthG versehen werden (§ 38a Abs. 4 Satz 1
AufenthG). Die Nebenbestimmung bezieht sich auf die von der Ausländerbehörde nach § 4
Abs. 2 Satz 2 AufenthG vorzunehmende Eintragung. Der Zeitraum beginnt mit der
erstmaligen Erlaubnis einer Beschäftigung bei der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis (§ 38a
Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Diese Vorschrift berücksichtigt Art. 21 Abs. 2 RL 2003/109/EG.
Danach sind Nebenbestimmungen nach § 39 Abs. 4 AufenthG zur Erwerbstätigkeit nur für
einen Zeitraum von zwölf Monaten erlaubt. Nach Ablauf der Frist muss kein neuer
Aufenthaltstitel erteilt werden, sofern in der betreffenden Nebenbestimmung von vornherein
festgelegt wurde, dass die Beschränkung zwölf Monate Anwendung findet
B. Vorläufiger Rechtsschutz gegen die Versagung der Erteilung oder Verlängerung des
Aufenthaltstitels
I.
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die
Versagungsverfügung nach § 80 Abs. 5 VwGO
1.
Zulässigkeit des Eilrechtsschutzantrags
56
a) Verfahrensrechtliche Funktion des Antrags auf Erteilung oder Verlängerung des
Aufenthaltstitels
Das vorläufige Rechtsschutzsystem im Blick auf die Erteilung und Verlängerung eines
Aufenthaltstitels beruht auf den in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG näher beschriebenen
aufenthaltsrechtlichen Wirkungen des verwaltungsrechtlichen Antrags. Dementsprechend
beurteilt sich insbesondere auch die Zulässigkeit des Eilrechtsschutzantrags nach Maßgabe
dieser Wirkungen. Obwohl im Ausgangspunkt ein Verpflichtungsbegehren, ist der Antrag
nach § 80 Abs. 5 VwGO das richtige Rechtsmittel, weil dem Antragsteller durch die
behördliche Antragsversagung die Vergünstigung der bis dahin bestehenden Aussetzungsoder Erlaubnisfiktion entzogen wird.62 Diese Wirkung lebt nicht wieder auf. Deshalb bezieht
der Eilrechtsschutz sich nach Wegfall der aufschiebenden Wirkung (§ 84 Abs. 1 AufenthG)
nur auf die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht. An der Zuordnung zum Verfahren nach § 80
Abs. 5 VwGO ändert dies nichts.63 Daher kann nach übereinstimmender Ansicht nur dann,
wenn der Antragsteller noch im Besitz des fiktiven Aussetzungs- oder Aufenthaltsrechtes ist,
vorläufiger Rechtsschutz durch einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der
aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels und auf Aussetzung der Vollziehbarkeit erreicht
werden.64 Daher ist im Rahmen der Zulässigkeit stets zu prüfen, ob der verwaltungsrechtliche
Ersterteilungs- oder Verlängerungsantrag aufenthaltsrechtliche Wirkungen ausgelöst hat.
Anders als das frühere Recht, das in Duldungsfiktion (§ 69 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990) und in
Erlaubnisfiktion (§ 69 Abs. 3 AuslG 1990) unterschied und zwischen dem Antrag auf
Ersterteilung und Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung keinen Unterschied machte (vgl.
§ 69 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AuslG 1990), unterscheidet das geltende Recht bei der
Erlaubnisfiktion zwischen dem Antrag auf Ersterteilung (§ 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) und
dem Antrag auf Verlängerungsentscheidung oder Zweckänderung (§ 81 Abs. 4 AufenthG).
Beim Antrag auf Ersterteilung differenziert das Gesetz zwischen dem während des
rechtmäßigen Aufenthaltes gestellten Antrag, der die Erlaubnisfiktion begründet (§ 81 Abs. 3
Satz 1 AufenthG), und dem verspätet gestellten Antrag, durch den die Aussetzungsfiktion
bewirkt wird (§ 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Eine derartige Unterscheidung wird beim
Verlängerungsantrag nicht gemacht. Vielmehr begründen alle Verlängerungsanträge, und
damit auch die verspätet gestellten, die Erlaubnisfiktion (§ 81 Abs. 4 AufenthG).
b) Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 81 Abs. 3 AufenthG)
Beantragt ein Antragsteller, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen
Aufenthaltstitel zu besitzen, die Erteilung eines Aufenthaltstitels, gilt sein Aufenthalt bis zur
Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt (§ 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Die
Voraussetzungen für die Begründung der Erlaubnisfiktion sind damit die rechtmäßige
Einreise und der rechtmäßige Aufenthalt sowie der fehlende Besitz eines Aufenthaltstitels.
62
Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); Hess. VGH, EZAR 030 Nr. 5; VGH BW,
InfAuslR 1992, 168; VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (297); Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384) = NVwZ-Beil. 2003, 90;
VG Wiesbaden, Hess. VGRspr. 1998, 87; Hess.VGH, NVwZ 2006, 111, VGH BW, InfAuslR 2007, 59 (61); beide für § 81
Abs. 4 AufenthG.
63
Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384) = NVwZ-Beil. 2003, 90.
Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; 22 Nr. 5; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); Hess. VGH, EZAR
030 Nr. 5; Hess. VGH, InfAuslR 1999, 189 (190); VGH BW, EZAR 024 Nr. 7; VGH BW, InfAuslR 1992, 168;
1992, 352; VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (297); OVG Hamburg, NVwZ-RR 1996, 709; OVG NW, EZAR
030 Nr. 2; OVG MV, NVwZ-RR 1997, 256; VG Wiesbaden, Hess. VGRspr. 1998, 87; Hailbronner, AuslR, § 69
AuslG Rn 51; Funke-Kaiser, in: GK-AuslR, § 69 AuslG Rn 50.
64
57
Erfasst werden damit ausschließlich die Fälle nach § 15 bis § 30 AufenthV. Der mit einem
Visum einreisende Antragsteller, das einen dauerhaften Aufenthalt erlaubt, reist hingegen mit
einem Aufenthaltstitel ein. Der anschließend im Inland gestellte Antrag auf Erteilung des
Aufenthaltstitels ist rechtlich ein Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels bzw. auf
Zweckänderung, welcher die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG auslöst. Da der
Gesetzgeber das Visum ausdrücklich als Aufenthaltstitel bezeichnet, ist in diesem Fall in der
Antragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ein Verlängerungsantrag zu sehen (vgl.
auch § 39 Nr. 1 AufenthV). Auch der sichtvermerkspflichtige Drittstaatsausländer, der mit
einem Besuchervisum einreist, reist mit einem Aufenthaltstitel ein (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2
Nr. 1 AufenthG). In diesem Fall löst unabhängig von den damit verbundenen materiellen
Folgen der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zunächst die Fiktionswirkung nach
§ 81 Abs. 4 AufenthG aus. Es handelt sich um einen Antrag auf Erteilung eines anderen
Aufenthaltstitels (Zweckänderung).
Nach § 81 Abs. 4 AufenthG werden beide Anträge einheitlichen Rechtswirkungen
unterworfen. Der Gesetzgeber wollte mit den Neuregelungen bewusst die überdifferenzierten
Regelungen des früheren Rechts aufheben. Die Fälle, in denen ein Aufenthaltstitel nach der
Einreise eingeholt werden kann, sind in § 39 bis 41 AufenthV geregelt. Danach handelt es
sich um Antragsteller, die ohne ein Visum einreisen und nach der Einreise den Antrag stellen
dürfen. Der Streit in der früheren Rechtsprechung, ob die Einreise ohne das erforderliche
Visum unerlaubt ist und deshalb keine Erlaubnisfiktion begründet, ist nach geltendem Recht
überholt. Die Wirkungen eines derartigen Antrags regelt § 81 Abs. 4 AufenthG. Der
Gesetzgeber will, dass allen Antragstellern, die ohne Visum rechtmäßig einreisen und
anschließend den Antrag auf Ersterteilung des Aufenthaltstitels stellen dürfen, unabhängig
von ihren subjektiven Vorstellungen bei der Einreise hinsichtlich ihres weiteren Aufenthaltes,
die Erlaubnisfiktion zugute kommt. Insbesondere visumfreie Drittstaatsausländer nach
Anhang II der EUVisaVO reisen rechtmäßig ein, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen. Für
den Eintritt der Fiktionswirkung ist allein maßgebend, dass der Antragsteller sich rechtmäßig
im Bundesgebiet aufhält. Dies ist für die Geltungsdauer des visumfreien Aufenthaltes (vgl.
Art. 20 SDÜ) der Fall. Im Übrigen ist der Antrag „unverzüglich“ (vgl. § 81 Abs. 2 Satz 1
AufenthG), also ohne schuldhaftes Verzögern, zu stellen. Für die Fälle des § 41 Abs. 1 und 2
AufenthV ist der Antrag innerhalb von drei Monaten nach der Einreise zu beantragen (§ 41
Abs. 3 AufenthV). Wird der Antrag verspätet gestellt, greift die Aussetzungsfiktion nach § 81
Abs. 3 Satz 2 AufenthG ein.
Der Aufenthalt gilt bis zur behördlichen Entscheidung als erlaubt (§ 81 Abs. 3 Satz 1
AufenthG). Der Eintritt der Fiktionswirkung ist nicht davon abhängig, dass der Antrag bei der
für den Antragsteller örtlich zuständigen Ausländerbehörde gestellt wird.65 Im zeitlichen
Rahmen ihrer Geltung ist die Erlaubnisfiktion räumlich unbeschränkt und berechtigt den
Antragsteller zur Wiedereinreise. Der Antragsteller erhält eine Fiktionsbescheinigung (§ 81
Abs. 5 AufenthG). Die Geltungsdauer der Bescheinigung hat keinen Einfluss auf den kraft
Gesetzes bis zur behördlichen Entscheidung (vgl. § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) als erlaubt
geltenden Aufenthalt. Vielmehr hat die Bescheinigung lediglich deklaratorische Funktion.66
Versäumt der Antragsteller innerhalb des zeitlichen Rahmens der Erlaubnisfiktion die
Beantragung der Verlängerung der Fiktionsbescheinigung, ist dies ohne Einfluss auf die
Rechtmäßigkeit seines Aufenthaltes. Die Fiktionswirkung ist antragsbezogen. Entscheidet die
Ausländerbehörde nicht über den Antrag und lehnt stattdessen einen zu einem früheren
Zeitpunkt gestellten Antrag ab, beseitigt dies nicht die eingetretene Fiktionswirkung.67
65
66
67
OVG NW, InfAuslR 2001, 515 (516).
OVG Bremen, InfAuslR 2004, 154 (155); s. auch VG Potsdam, AuAS 2004, 54.
VG Aachen, InfAuslR 2001, 22.
58
Wird der Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels abgelehnt, wird dem Antragsteller damit
eine ihn aufenthaltsrechtlich begünstigende Position genommen, so dass er den Antrag nach
§ 80 Abs. 5 VwGO stellen kann. Fraglich ist, ob die Behörde dem visumfrei einreisenden
Drittstaatsausländer in materiell-rechtlicher Hinsicht die Umgehung der Visumvorschriften
entgegenhalten darf. Verfahrensrechtlich ist ihr dies wegen der eindeutigen Regelung des § 81
Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht erlaubt. Materiell-rechtlich kann sie nach § 5 Abs. 2 Satz 2
AufenthG vorgehen und nach Ermessen entscheiden, ob der Verweis auf das Visumverfahren
angemessen ist. Von § 81 Abs. 3 AufenthG nicht erfasst sind Antragsteller, die unerlaubt
eingereist, z. B. sichtvermerkspflichtige Drittstaatsangehörige ohne Sichtvermerk, oder
aufgrund eines vollziehbaren Verwaltungsaktes ausreisepflichtig sind, weil in diesen Fällen
kein rechtmäßiger Aufenthalt (§ 81 Abs. 3 AufenthG), aber auch kein Aufenthaltstitel (§ 81
Abs. 4 AufenthG) vorliegt. Der Fall, dass der Antragsteller nach der Ablehnung seines
Antrages vor der Ausreise einen weiteren, den früheren Antrag bloß wiederholenden Antrag
stellt (vgl. § 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AuslG 1990), fällt nicht unter den Schutzgehalt der
Erlaubnisfiktion (Nr. 81.3.4 VAH). Bei einem bloß wiederholenden Antrag kann daher die
Fiktionsbescheinigung nicht ausgestellt werden.
c) Antrag auf Verlängerung oder Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels (§ 81 Abs. 4
AufenthG)
aa)
Funktion der Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG
Nach § 81 Abs. 4 AufenthG gilt der bisherige Aufenthalt des Antragstellers vom Zeitpunkt
des Ablaufs der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels bis zur ausländerbehördlichen
Entscheidung als fortbestehend. Die Vorschrift geht davon aus, dass für den Eintritt der
Fiktionswirkung der Besitz eines Aufenthaltstitels maßgebend ist. Dies folgt aus der
Formulierung „seines Aufenthaltstitels“ und „bisheriger Aufenthaltstitel“. Wer ohne
Aufenthaltstitel, etwa als sichtvermerksfreier Drittstaatsausländer, erlaubnisfrei einreisen darf,
dessen Antrag entfaltet eine der in § 81 Abs. 3 AufenthG geregelten Fiktionswirkungen. Wer
mit Aufenthaltstitel einreist und anschließend den Antrag stellt, kann sich auf die
Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG berufen. Wer ohne Erlaubnis und ohne
Aufenthaltstitel einreist, reist illegal ein. Der nachträglich gestellte Antrag entfaltet keine
Fiktionswirkung. Unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG und § 39 Nr. 5
AufenthV kann die Ausländerbehörde jedoch über diesen Antrag entscheiden.
Der Wortlaut des § 81 Abs. 4 stellt allein auf den Besitz des Aufenthaltstitels ab,
unterscheidet damit nicht zwischen dem Visum zu Besuchszwecken und dem Visum zu einem
längerfristigen Aufenthalt. Auch der Antrag des Antragstellers, der zwar mit einem Visum,
jedoch nicht mit dem für den angestrebten Aufenthaltszweck erforderlichen Visum (vgl. § 5
Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 31 AufenthV) einreist, entfaltet die Fiktionswirkung nach § 81
Abs. 4 AuslG. Zwar ist die Einreise mangels erforderlichen Aufenthaltstitels unerlaubt (§ 14
Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Der Gesetzeswortlaut des § 81 Abs. 4 AufenthG ist indes eindeutig.
Der Eintritt der Fiktionswirkung ist allein davon abhängig, dass der Antragsteller mit einem
Aufenthaltstitel eingereist ist und anschließend dessen Verlängerung oder Zweckänderung
beantragt.68 Damit ist die frühere Rechtsprechung überholt, die verneinte, dass der im
68
Hess.VGH, NVwZ 2006, 111 (111 f.) = InfAuslR 2005, 304 = EZAR 28 Nr. 1 = AuAS 2005, 134.
59
Bundesgebiet zu einem anderen Aufenthaltszweck gestellte Antrag die Erlaubnisfiktion
auslöste.69 Die Rechtsprechung berief sich auf den Ausschlussgrund der unerlaubten Einreise
(§ 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AuslG 1990), der auch auf die Erlaubnisfiktion Anwendung fand
(vgl. § 69 Abs. 3 Satz 3 AuslG 1990). Demgegenüber verbietet der eindeutige Wortlaut des
§ 81 Abs. 4 AufenthG eine derart einschränkende Auslegung.
Der Gesetzgeber hat für diese Fälle jedoch das Verteilungsverfahren nach § 15a AufenthG
eingeführt. Danach werden unerlaubt eingereiste Antragsteller vor der Entscheidung über die
Aussetzung der Abschiebung oder die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf die Länder verteilt
(§ 15a Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Eine Weiterleitung ist in den Fällen des § 15a Abs. 1 Satz 6
AufenthG ausgeschlossen. Im Übrigen ist vor einer Weiterleitungsentscheidung eine
Ermessensentscheidung zu treffen.70 In der Sache steht dem Verlängerungsantrag jedoch
regelmäßig die fehlende allgemeine Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 2 Satz 1
AufenthG entgegen. Allerdings kann dieser Mangel nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG geheilt
werden. In aussichtslosen Verfahren sollte zur Vermeidung einer Durchführung des
Verteilungsverfahrens das Antragsverfahren vom Ausland aus durchgeführt werden.
Der Gesetzgeber erachtet die Einführung der bloßen Erlaubnisfiktion in den Fällen des § 81
Abs. 4 AufenthG nicht für ausreichend, da damit insbesondere die Frage der Berechtigung zur
Ausübung einer Erwerbstätigkeit offen bliebe. Durch die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4
AufenthG gilt vielmehr der bisherige Aufenthaltstitel mit allen sich daran anschließenden
Rechtswirkungen bis zur behördlichen Entscheidung als fortbestehend (Nr. 814.1 VAH). Eine
Erlaubnisfiktion wäre in diesen Fällen nicht ausreichend, da damit insbesondere die Frage der
Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit offen bliebe. Sonderregelungen, die diese
Frage im sozialrechtlichen Bereich punktuell klären müssten, werden hierdurch entbehrlich.
Vielmehr ist die Frage damit für das gesamte Sozialrecht geklärt (Nr. 81.4.1 S. 2 und 3 VAH).
Der Aufenthaltstitel bleibt fiktiv, mit dem aktuellen Inhalt, auch hinsichtlich etwaiger
Beschränkungen bestehen und ist daher Veränderungen ebenso zugänglich wie zuvor. So sind
z.B. nachträgliche Nebenbestimmungen nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zulässig.
bb)
Anwendungsbereich der Fortgeltungsfiktion
Die Wirkungen der Fortgeltungsfiktion treten nicht nur im Falle der beantragten Verlängerung
des bisherigen Aufenthaltstitels, sondern auch bei der Beantragung eines Aufenthaltstitels zu
einem anderen Zweck ein. Entweder soll die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels ohne
Veränderung des Erteilungsgrundes verlängert (Verlängerung) oder es soll der
Erteilungsgrund verändert (Zweckänderung) werden. Ein Wechsel des Aufenthaltstitels findet
einerseits bei einer Änderung des Erteilungsgrundes, aber auch bei einem Formwechsel, z.B.
vom Visum zur Aufenthaltserlaubnis oder von der Aufenthaltserlaubnis zur
Niederlassungserlaubnis statt.
Der Antragsteller erhält eine Fiktionsbescheinigung (§ 81 Abs. 5 AufenthG). Da es sich indes
um ein gesetzliches Aufenthaltsrecht handelt, hat die Geltungsdauer der lediglich
deklaratorischen Bescheinigung keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des
verfahrensabhängigen Aufenthaltrechtes. Beantragt der Antragsteller deshalb verspätet die
69
Hess. VGH, InfAuslR 1993, 67 (69); Hess. VGH, InfAusR 1993, 71 (72 f.); Hess. VGH, EZAR 622
Nr. 18; OVG Hamburg, EZAR 622 Nr. 12; OVG NW, NVwZ 1991, 910; OVG NW, InfAuslR 1991, 232; OVG
NW, InfAuslR 1994, 138; OVG SH, InfAuslR 1992, 125; a.A. Nr. 58.1.1.3.2 AuslG-VwV; Hofmann, InfAuslR
1991, 351; Ott, ZAR 1994, 76 (78 f.); Pfaff, ZAR 1992, 117 (120); Hailbronner, AuslR, § 58 AuslG Rn 18;
offen gelassen BVerwGE 100, 287 (290) = NVwZ 1997, 189 = InfAuslR 1996, 294.
70
Hess.VGH, AuAS 2006, 158 (159).
60
Verlängerung der Geltungsdauer der rechtzeitig beantragten Bescheinigung, ist dies insoweit
unschädlich (vgl. § 81 Abs. 4 AufenthG). Erst mit Bekanntgabe der Versagungsverfügung
wird die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts unterbrochen (§ 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Wird
dem Antrag stattgegeben, erhält der Antragsteller den neuen Aufenthaltstitel mit den dazu
gehörigen Berechtigungen oder wird der Aufenthaltstitel mit den bestehenden Berechtigungen
verlängert. In beiden Fällen ist keine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit eingetreten.
Die Fortgeltungsfiktion hat zur Folge, dass der Antragsteller so behandelt wird, als bestehe
der Aufenthaltstitel
mit den konkreten Nebenbestimmungen auch hinsichtlich der
Erwerbstätigkeit fort. Bei einem Verlängerungsantrag ändert sich die Rechtsstellung damit
nicht und setzt diese sich bei einer Antragsstattgabe ohne Veränderung fort. Begehrt der
Antragsteller hingegen einen anderen Aufenthaltstitel, so gilt der bisherige Aufenthaltstitel bis
zu Bescheidung über den Antrag auch dann fort, wenn der Antragsteller ihn tatsächlich wegen
Veränderung der Verhältnisse nicht nutzen kann, z.B. nach Verlust des Arbeitsplatzes und der
Aussicht auf eine andere Stelle oder nach Beendigung einer Ausbildung und bei Aussicht auf
eine Anstellung. Den erst beantragten Titel mit seinen Berechtigungen besitzt der
Antragsteller erst nach Antragsstattgabe.71
cc)
Verspätete Antragstellung
Im Falle der verspäteten Antragstellung bleibt es aber bei der Unterbrechung der
Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes. Umstritten ist, ob der verspätete Antrag nach § 81 Abs. 4
AufenthG die Fortgeltungsfiktion auslöst. In der Endphase des Vermittlungsverfahrens wurde
die für den verspäteten Antrag ursprünglich vorgesehene Aussetzungsfiktion gestrichen. Für
die Interpretation, der Gesetzgeber habe damit ausdrücklich festhalten wollen, dass es zu den
Obliegenheiten der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländer gehöre,
rechtzeitig eine Verlängerung des Antrags zu beantragen (Nr. 81.4.2.2 Satz 2 VAH), kann den
Gesetzesmaterialien nichts entnommen werden. Der Gesetzeswortlaut ist nicht eindeutig.
Zwar legt er nahe, dass die durch Antrag ausgelöste Fortgeltungsfiktion an einen im Zeitpunkt
der Antragstellung noch gültigen Aufenthaltstitel anknüpft.72 Der Gesetzeswortlaut lässt aber
auch die Auslegung zu, dass der bisherige Aufenthaltstitel vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis
zur behördlichen Entscheidung als fortbestehend gilt, wenn der Antragsteller die
Verlängerung oder Zweckänderung beantragt. Das ist auch bei verspäteter Antragstellung der
Fall,73 sodass in diesem Fall die Antragstellung rückwirkend die Fortgeltungsfiktion an den
Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels anknüpft.
Die Richtigkeit dieser Auslegung folgt nicht nur aus dem Wortlaut, wonach das Fortbestehen
des Aufenthaltstitels allein davon abhängt, dass der Antragsteller denselben oder einen
anderen Aufenthaltstitel beantragt, sondern folgt auch aus der Gesetzessystematik und der
Entstehungsgeschichte des Gesetzes.74 Zu unterscheiden ist insoweit zwischen den
verfahrens- und materiell-rechtlichen Wirkungen des verspäteten Antrags: Die an die
Verspätung anknüpfenden differenzierenden Regelungen in § 81 Abs. 3 AufenthG in
Verbindung mit der Nichtdifferenzierung in den Fällen der bereits förmlich erteilten
Aufenthaltserlaubnis in § 81 Abs. 4 AufenthG indiziert, dass alle Anträge – die rechtzeitigen
wie die verspäteten – die selben Wirkungen auslösen sollen. Auch erscheint es sachlich kaum
nachvollziehbar, solchen säumigen Antragstellern kein vorläufiges Aufenthaltsrecht und nicht
71
72
73
Günter Renner, AuslR, § 81 AufenthG Rdn. 17.
Günter Renner, AuslR, § 81 AufenthG Rdn. 18.
OVG NW, AuAS 2006, 143; OVG NW, InfAuslR 2006, 448 (449 f.); VG Darmstadt, InfAuslR 2005,
467.
74
VG Darmstadt, InfAuslR 2005, 467.
61
einmal den Duldungsstatus zuzuerkennen, die schon viele Jahre im Bundesgebiet leben und
hier integriert sind, hingegen säumige Antragsteller mit vorläufigen Verbleibsrechten
auszustatten, die nur über den vergleichsweise schwachen Aufenthaltsstatus des visumfrei
einreisenden Touristen verfügen.75
Durch Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels wird der Aufenthalt unrechtmäßig (§ 50
Abs. 1 AufenthG). Kraft der Regelung des § 84 Abs. 4 AufenthG wird der unrechtmäßige
Aufenthalt mit der Antragstellung erneut rechtmäßig.76 Die nach Ablauf der Geltungsdauer
des bisherigen Aufenthaltstitels eintretende Unsicherheit kann der Antragsteller damit
jederzeit durch die Antragstellung beseitigen. Die Probleme erheblich befristeter
Verlängerungsanträge können dadurch gelöst werden, dass die beantragte Verlängerung noch
einen unmittelbaren Bezug zum abgelaufenen Aufenthaltstitel haben muss, d.h. die
Verspätung darf nur so geringfügig sein, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem
Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels und der Antragstellung gewahrt ist.77. Ein
Antrag auf Verlängerung, der erst Wochen oder sogar Monate nach Ablauf des
ursprünglichen Titels gestellt wird, wäre dann ein Antrag auf Erteilung eines neuen
Aufenthaltstitels.78 Weder die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 AufenthG noch die
Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG kann bei verspäteter Antragstellung durch
einen Wiedereinsetzungsantrag erlangt werden.79
In materiell-rechtlicher Sicht tritt keine Unterbrechung ein, wenn die Behördenentscheidung
durch die Behörde selbst oder durch das Gericht aufgehoben wird (§ 84 Abs. 2 Satz 3
AufenthG). Im Falle des verspäteten Antrags hilft § 85 AufenthG weiter. Danach können
Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes bis zu einem Jahr außer Betracht
bleiben. Dies hatte die frühere Rechtsprechung im Hinblick auf den verspäteten Antrag unter
Bezugnahme auf die identische Vorschrift des § 97 AuslG 1990 entschieden.80
Nach den vorläufigen Anwendungshinweisen kann säumigen Antragstellern für die Fälle, in
denen die verspätete Antragstellung aus bloßer Nachlässigkeit und nur mit einer kurzen
Zeitüberschreitung erfolgt, in entsprechender Anwendung des § 81 Abs. 5 AufenthG eine
Fiktionsbescheinigung mit der Rechtsfolge des § 81 Abs. 4 AufenthG ausgestellt werden. Der
Antragsteller habe dazu Tatsachen vorzutragen und glaubhaft zu machen, die belegen, warum
ihm eine rechtzeitige Antragstellung nicht möglich war. Damit könnten die vom Gesetzgeber
nicht beabsichtigten Rechtsfolgen eines sofortigen Beschäftigungsverbotes in den Fällen
vermieden werden, in denen bereits eine längerfristige Zustimmung zur Beschäftigung erteilt
worden sei, also nur der aufenthaltsrechtliche Teil des Aufenthaltstitels eine kürzere
Befristung enthielt, oder in den Fällen, in denen z.B. nach § 6 BeschVerfV (Fortsetzung der
Beschäftigung) oder § 9 BeschVerfV (Vorbeschäftigungszeiten/längerfristiger Voraufenthalt)
ohne Arbeitsmarktprüfung (nur „Lohnprüfung“) eine Zustimmung zur Fortsetzung der bisher
ausgeübten Beschäftigung erfolgen könne (Nr. 81.4.2.3 VAH).
Zu Recht wird gegen diese Lösung auf die Titelfunktion des § 81 Abs. 4 AufenthG
hingewiesen. Die Fiktionsbescheinigung ist unmittelbare Folge der gesetzlichen Regelung
75
VG Darmstadt, InfAuslR 2005, 467 (468); ebenso Klaus Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139).
Klaus Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139).
77
OVG NW, InfAuslR 2006, 448 (449 f.) = AuAS 2006, 143.
78
Klaus Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139).
79
OVG NW, AuAS 2006, 143.
80
Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 16; Hess. VGH, InfAuslR 1996, 133 (134); Hess. VGH, InfAuslR 2002,
426 (428); a.A. OVG NW, AuAS 2006, 143; s. auch BVerwG, InfAuslR 1997, 391 (394).
76
62
und hat deshalb rein deklaratorischen Charakter. Ihr Eintritt kann nicht von der Ausübung des
behördlichen Ermessens abhängig gemacht werden.81 Dogmatisch überzeugender ist deshalb
die Lösung über die Rückwirkung verspäteter Anträge. Da der Gesetzgeber im
Vermittlungsverfahren die für § 81 Abs. 3 wie für Abs. 4 AufenthG gleichermaßen
vorgesehene differenzierende Lösung für die Fortgeltungsfiktion aufgehoben hat und
entsprechend dem Charakter des Vermittlungsverfahrens keine Gesetzesmaterialien
Aufschluss über den Grund für die gesetzgeberische Entscheidung liefern, bedarf es einer an
der Titelfunktion des § 81 Abs. 4 AufenthG orientierten Auslegung. Die Rückwirkung
verspäteter Anträge widerspricht nicht dem Wortlaut des Gesetzes, ist gesetzessystematisch
(vgl. § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) wie auch insbesondere durch eine zweckgerichtete
Auslegung gefordert.
Ist der Betroffene im Besitz einer assoziationsrechtlichen Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1
ARB 1/80 haben Aufenthaltserlaubnis (§ 4 Abs. 5 AufenthG) wie Beschäftigungserlaubnis
lediglich deklaratorische Funktion. Bei geringfügigen Zuwiderhandlungen gegen
verfahrensrechtliche Obliegenheiten dürfen die Mitgliedstaaten keine unverhältnismäßigen
Sanktionen treffen, welche eine Beeinträchtigung der assoziationsrechtlichen Rechtsstellung
zur Folge hätte.82 Auf eine verspätete Antragstellung kann es deshalb nicht ankommen.
dd)
Ausschluss der Fortgeltungsfiktion
Ist der Antragsteller bereits ausgewiesen oder aufgrund eines sonstigen Verwaltungsaktes
ausreisepflichtig geworden und noch nicht ausgereist, ist mit Bekanntgabe des entsprechenden
Verwaltungsaktes die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes erloschen (vgl. § 51 Abs. 1
AufenthG). Damit kann der bisherige Aufenthaltstitel die von § 81 Abs. 4 AufenthG
vorausgesetzte Möglichkeit der Begründung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes nicht mehr
vermitteln. Das gilt auch, wenn der Antragsteller nach der Ablehnung seines Antrags und vor
der Ausreise einen neuen Antrag stellt. Mit der Versagungsverfügung endet die
Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG und der Antragsteller wird ausreisepflichtig (vgl.
§ 50 Abs. 1 AufenthG), so dass dem nachträglich vor der Ausreise gestellten Antrag keine
verfahrensrechtlichen Wirkungen mehr zukommen können. Der Fall, dass der Antragsteller
nach der Ablehnung seines Antrages vor der Ausreise einen weiteren, den früheren Antrag
bloß wiederholenden Antrag stellt (vgl. § 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AuslG 1990), fällt damit
nicht unter den Schutzgehalt der Fortgeltungsfiktion (Nr. 81.3.4 VAH). Bei einem bloß
wiederholenden Antrag kann daher die Fiktionsbescheinigung nicht ausgestellt werden.
e)
Form des Eilrechtsschutzantrags (§ 80 Abs. 5 VwGO)
Gegen die behördliche Versagung der beantragten Ersterteilung oder Verlängerung des
Aufenthaltstitels ist vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig. Denn durch
die Verfügung wird dem Antragsteller – wie ausgeführt – die Vergünstigung der bis dahin
bestehenden Aussetzungs- oder Erlaubnisfiktion entzogen.83 Da der Rechtsbehelf keinen
Suspensiveffekt entfaltet (vgl. § 84 Abs. 1 AufenthG), kann der Gefahr der Vollziehung für
81
Günter Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, § 81 AufenthG Rdn. 24; Klaus Dienelt, InfAuslR 2005, 136
(139).
82
OVG NW, InfAuslR 2007, 96 (97); VG Karlsruhe, NVwZ-RR 2007, 202.
Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); Hess. VGH, EZAR 030 Nr. 5;
VGH BW, InfAuslR 1992, 168; VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (297); Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384)
= NVwZ-Beil. 2003, 90; VG Wiesbaden, Hess. VGRspr. 1998, 87.
83
63
den Fall, dass die Behörde die bundesweit üblichen Stillhalteabkommen84 nicht einhalten will,
mit einem Antrag auf Erlass eines Hängebeschlusses begegnet werden.
Muster :
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen die
Versagungsverfügung
An das
Verwaltungsgericht
Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO
des türkischen Staatsangehörigen
– Antragsteller –
gegen
den Oberstadtdirektor
– Antragsgegner –
wegen Ausländerrecht
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Ablehnung des Antrags auf
Erteilung der Aufenthaltserlaubnis anzuordnen.
Zugleich wird beantragt,
dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur
einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt
ist (Stillhaltezusage).
f) Antrag auf Erlass eines Hängebeschlusses
Es ist in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannt, dass im Eilrechtsschutzverfahren
eine Zwischenentscheidung beantragt werden kann, mit dem Ziel, bis zur endgültigen
Eilrechtsentscheidung eine befristete vorläufige Aussetzung des angefochtenen
Verwaltungsaktes zu erlassen.85 Im Ausländerrecht kann daher der Antrag gestellt werden, der
Behörde aufzugeben, bis zur gerichtlichen Entscheidung von aufenthaltsbeendenden
Maßnahmen abzusehen.86 Der Antrag ist zulässig, wenn auf andere Weise der durch Art. 19
Abs. 4 Satz 1 GG geforderte wirksame Rechtsschutz nicht gewährleistet ist. Materielle
Voraussetzung ist, dass nicht eine offensichtliche Aussichtslosigkeit des
Eilrechtsschutzantrags zu bejahen ist und dem Antragsteller ein Sicherungsbedürfnis zur Seite
steht.87 Das Sicherungsbedürfnis ist zu bejahen, wenn zu befürchten ist, dass die Behörde vor
dem gerichtlichen Eilrechtsbeschluss vollendete Tatsachen schaffen wird.88 Die in der Praxis
regelmäßig üblichen Stillhalteabkommen89 sind nicht bindend und stehen der Zulässigkeit des
84
85
OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479; OVG Saarlouis, NVwZ-RR 1993, 391; OVG SA, InfAuslR 1999,
344; OVG SA, InfAuslR 2005, 421Schoch, in: Schoch/Schmitt-Aßmann/Pfitzner, VwGO-Kommentar, § 80
Rn 242 ff.; Redeker/v. Oertzen, VwGO-Kommentar, § 80 Rn 54.
86
OVG SA, InfAuslR 1999, 344.
87
OVG Saarlouis, NVwZ-RR 1993, 391; OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479.
88
OVG Saarlouis, NVwZ-RR 1993, 391.
89
OVG Hamburg, NVwZ-RR 1999, 73..
64
Hängebeschlusses nicht entgegen, wenn dargelegt wird, dass die Ausländerbehörde in
Abweichung von einer derartigen Praxis die Vollziehung eingeleitet hat.
Hat die oberste Landesbehörde einen generellen Hinweis an die untergeordneten Behörden
gegeben, dem zufolge keine Verpflichtung besteht, ohne entsprechenden gerichtlichen
Beschluss von der Abschiebung abzusehen, ist es Zweck einer gerichtlichen vorläufigen
Regelung, eventuell für den endgültigen Beschluss noch fehlende Sachverhaltsumstände
aufzuklären oder die rechtliche Problematik aufzuarbeiten.90 Auch im Verfahren vor dem
Beschwerdegericht besteht eine derartige gerichtliche Befugnis. 91 Lassen sich die
Erfolgsaussichten
des
Eilrechtsschutzantrags
ohne
nähere
Aufklärung
des
Gesundheitszustandes des Antragstellers nicht beurteilen und ist wegen Überlastung der
Gesundheitsämter die Durchführung eines Untersuchungstermins nicht absehbar, bedarf es
allerdings keines Hängebeschlusses. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht in diesem Fall in
der Sache zu entscheiden.92 Hat der Antragsteller ärztliche Atteste vorgelegt, die seine
Reiseunfähigkeit bescheinigen oder eine schwerwiegende gesundheitliche Erkrankung
belegen, ist dem Antrag daher auch ohne amtsärztliche Bestätigung stattzugeben.
Muster :
Antrag auf Erlass eines „Hängebeschlusses“
An das
Verwaltungsgericht
Antrag auf Erlass eines „Hängebeschlusses“
des türkischen Staatsangehörigen
– Antragsteller –
gegen
den Oberstadtdirektor
– Antragsgegner –
wegen Ausländerrecht
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
bis zur endgültigen Entscheidung über den am gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO
– Az. – die Behörde einstweilen zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen
abzusehen.
Zugleich wird beantragt,
dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur
einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt
ist (Stillhaltezusage).
Der Antragsteller hat beim beschließenden Verwaltungsgericht Eilrechtsschutz gegen die ihm
drohende Abschiebung durch den Antragsgegner beantragt. Ich verweise auf das Verfahren .
Die Behörde hat telefonisch ausdrücklich erklärt, sie werde ungeachtet des anhängigen
90
OVG SA, InfAuslR 1999, 344.
91
OVG SA, InfAuslR 1999, 344; a.A. Schoch, in: Schoch/Schmitt-Aßmann/Pfitzner, VwGO-Kommentar,
§ 80 Rn 243.
92
OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479.
65
Verfahrens die Abschiebung vollziehen. Der Antragsteller ist schwer traumatisiert. Ich
verweise auf die im Eilrechtsschutzverfahren eingereichten zahlreichen psychiatrischen und
psychologischen Atteste. Die Behörde wendet ein, ohne amtsärztliche Bestätigung erkenne sie
das vorgebrachte Abschiebungshindernis nicht an. Eine Untersuchung beim städtischen
Gesundheitsamt werde wegen Überlastung indes erst in zwei Monaten durchgeführt. Solange
sei ein Zuwarten angesichts des öffentlichen Vollzugsinteresses nicht zumutbar. Sollte das
Verwaltungsgericht sich ungeachtet der zahlreichen vorgelegten Atteste nicht zu einer
Entscheidung in der Sache in der Lage sehen, besteht Anspruch auf Erlass einer
Zwischenentscheidung.
2. Begründetheit des Antrags
a) Gemeinschaftsrecht
Der Widerspruch eines Unionsbürgers wie der des einem Drittstaat angehörenden Ehegatten
hat nach § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung, da § 84 Abs. 1 AufenthG keine
Anwendung findet (vgl. § 11 FreizügG/EU).93 Dies gilt nicht bei Verlustfeststellungen nach §
6 freizugG/EU (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU). Ebenso begründet die Versagung der
deklaratorischen Aufenthaltserlaubnis eines türkischen Assoziationsberechtigten nach § 4
Abs. 5 AufenthG keine vollziehbare Ausreisepflicht. Es bedarf deshalb im Falle der
Versagungsverfügung keines Eilrechtsschutzes. Dies kann durch entsprechenden
Feststellungsantrag im Eilrechtsschutzverfahren festgestellt werden.94
Zwar bedürfen Unionsbürger für die Einreise und für den Aufenthalt keines Visums. Die
Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, bedürfen nach deutschem Recht indes
eines Visums, sofern dies durch Rechtsvorschriften vorgesehen ist (§ 2 Abs. 4 FreizügG/EU).
Demgegenüber hat der EuGH zwar das Recht der Mitgliedstaaten anerkannt, von mit einem
Unionsbürger verheirateten Drittstaatsangehörigen für die Einreise den Besitz eines Visums
zu fordern. In Anbetracht der Bedeutung, die das Gemeinschaftsrecht dem Schutz des
Familienlebens beigemessen hat, ist indes die Zurückweisung unverhältnismäßig und damit
untersagt, wenn der mit einem Unionsbürger verheiratete Drittstaatsangehörige seine Identität
und die Ehe nachweisen kann. Ebenso wird durch die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis
und erst recht durch die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates, die
ausschließlich darauf gestützt werden, dass der Betroffene gesetzliche Formalitäten im Blick
auf die Ausländerüberwachung nicht erfüllt hat, der Kern des unmittelbar durch
Gemeinschaftsrecht verliehenen Aufenthaltsrechts angetastet, was in keinem Verhältnis zur
Schwere der Zuwiderhandlung steht.95
Ergibt sich aus den Umständen, dass die Behörde den Suspensiveffekt nicht beachtet, ist in
entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO der Antrag auf Feststellung, dass der
Widerspruch aufschiebende Wirkung hat, zulässig.96 Denn in Fällen, in denen die Behörde die
aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs nicht anerkennt, kann gerichtlicher Rechtsschutz
in Form der Feststellung der aufschiebenden Wirkung als Weniger zur Anordnung bzw.
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung erlangt werden.97
93
S. hierzu auch VG Potsdam, InfAuslR 2004, 57.
VG Karlsruhe, NVwZ-RR 2007, 202; ebenso OVG NW, InfAuslR 2007, 96 (97).
95
EuGH, InfAuslR 2002, 417(419) – MRAX v. Belgien; EuGH, AuAS 2003, 38 (39 f.) = InfAuslR 2002,
417 = EZAR 814 Nr. 8.
94
96
97
OVG Hamburg, AuAS 2000, 63; VG Darmstadt, InfAuslR 1999, 391 (392).
VG Cottbus, AuAS 2004, 77.
66
Muster:
Eilrechtsschutz gegen die Versagungsverfügung gegenüber Unionsbürgern
An das
Verwaltungsgericht
In dem
Verwaltungsstreitverfahren
…
wird unter Vollmachtsvorlage beantragt,
analog § 80 Abs. 5 VwGO festzustellen, dass der Widerspruch vom… gegen die
Verfügung der Stadt … vom… aufschiebende Wirkung hat.
Zugleich wird beantragt,
dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur
einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt
ist (Stillhaltezusage).
b) Keine eingeschränkte Prüfungsbefugnis
Eine der früheren Regelung des § 71 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990 ähnliche Regelung ist dem
geltenden Recht fremd. Nach dem früheren Recht konnten Rechtsbehelfe gegen die
Versagung der Aufenthaltsgenehmigung vor der Ausreise nur darauf gestützt werden, dass der
Versagungsgrund (§ 8 AuslG 1990) nicht vorliegt.98 Folglich wurde durch die Umgehung der
Visumbestimmungen durch Täuschung über den wahren Einreisezweck der Einwand
ausgeschlossen, dass eine Ausnahme oder Befreiung zu Unrecht nicht gewährt oder aus
anderen Gründen die Aufenthaltserlaubnis hätte erteilt werden müssen.99 Nach allgemeiner,
freilich nicht unbestrittener Ansicht war damit die Rüge fehlerhafter Ermessensausübung
nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG 1990 im Rechtsbehelfsverfahren nicht zulässig.100
Nach geltendem Recht überprüft das Verwaltungsgericht im Eilrechtsschutzverfahren die
Versagungsverfügung im vollen Umfang in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Beruft die
Ausländerbehörde sich in der Versagungsverfügung auf den Mangel der
Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, zielt die gerichtliche Kontrolle
zunächst auf die tatsächlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift. Im Übrigen ist die Prüfung
darauf beschränkt, ob der Ausländerbehörde bei der Verweigerung, nach § 5 Abs. 2 Satz 2
AufenthG vorzugehen, Ermessensfehler unterlaufen sind. Zur Ermessenskontrolle gehört auch
die Überprüfung der von der Behörde zugrunde gelegten Tatsachen.
98
BVerwGE 75, 20 (25) = InfAuslR 1987, 1.
VGH BW, InfAuslR 1992, 168 (170); s. auch OVG Bremen, InfAuslR 1995, 107 (109).
100
OVG Rh-Pf, InfAuslR 1993, 124 (125); VGH BW, InfAuslR 1992, 168 (170); 1993, 14 (15);
Hess. VGH, InfAuslR 1993, 67 (69); Hailbronner, AuslR, § 9 AuslG Rn 6; Renner, AuslR, S. 295; a.A. VGH
BW, EZAR 020 Nr. 1; OVG Bremen, InfAuslR 1998, 107 (108); Nieders. OVG, Beschl. v. 4.5.1999–13 M
1664, 2014/99: Kontrolle der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig; ebenso VG
Stuttgart, InfAuslR 1999, 201 (203).
99
67
c) Allgemeine Entscheidungskriterien
Das Verwaltungsgericht überprüft bei Rechtsansprüchen summarisch im vollen Umfang die
Versagungsverfügung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Bei Ermessensentscheidungen
überprüft das Verwaltungsgericht zunächst, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen der
Ermessensentscheidung von der Behörde vollständig und hinreichend zuverlässig festgestellt
worden sind. Für die weitere Prüfung finden die Grundsätze zur umfassenden
Interessenabwägung Anwendung. Das öffentliche Interesse gebietet danach den sofortigen
Vollzug nicht, wenn die Klage offensichtlich begründet ist.101 Umgekehrt besteht kein
überwiegendes privates Interesse, wenn die angefochtene Verfügung voraussichtlich
rechtmäßig ist. Lassen sich im summarischen Eilrechtsschutzverfahren die Erfolgsaussichten
nicht eindeutig beurteilen, muss unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse des
Einzelfalls eine Abwägung der gegenseitigen Interessen vorgenommen werden: „Die
Entscheidung des Gerichts nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO beruht gleichermaßen auf einer
Interessenabwägung. Das Gericht prüft mithin im Falle einer gesetzlich vorgesehenen
sofortigen Vollziehbarkeit, ob wegen der Besonderheit des Einzelfalles ein privates Interesse
an der aufschiebenden Wirkung vorliegt, das gegenüber den im Gesetz in diesen Fällen
unterstellten öffentlichen Interessen an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes
überwiegt.“102
Dabei haben die individuellen Interessen im Rahmen einer Verlängerungsentscheidung
regelmäßig stärkeres Gewicht als bei der erstmaligen Beantragung eines Aufenthaltstitels.
Auch im Falle der erstmaligen Beantragung können indes wegen der Schwierigkeiten und
hohen Kosten der Wiedereinreise die privaten Interessen überwiegen. Die gesetzliche
Anordnung des Wegfalls der aufschiebenden Wirkung (vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in Verb.
mit § 84 Abs. 1 AufenthG) führt nicht dazu, dass grundsätzlich ein Überwiegen der
öffentlichen Interessen anzunehmen ist.103 Auch im Eilrechtsschutzverfahren kann im
Übrigen die Gehörsrüge geltend gemacht werden, wobei das Beruhenserfordernis entfällt.104
3. Wirkung des stattgebenden Beschlusses
Die gerichtliche Anordnung der Aussetzung der Vollziehung bewirkt nicht ein
Wiederaufleben der Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG (vgl. § 84 Abs. 2 Satz
1 AufenthG).105 Vielmehr wird durch die behördliche Antragsablehnung die Rechtmäßigkeit
des Aufenthaltes unterbrochen (vgl. § 51 Abs. 1 AufenthG) und besteht Ausreiseverpflichtung
(§ 50 Abs. 1 AufenthG). Die gerichtliche Anordnung setzt lediglich die Vollziehbarkeit (§ 58
Abs. 2 AufenthG) aus,106 d.h., die Ausreisefrist wird unterbrochen. Diese Unterbrechung
101
102
Hess. VGH, EZAR 022 Nr. 5.
OVG SH, InfAuslR 1991, 340.
103
BVerfGE 69, 220 (229); OVG SH, InfAuslR 1991, 340 (341); Funke-Kaiser, in: GK-AuslR, § 69
AuslG Rn 72; Hailbronner, § 69 AuslG Rn 63; Renner, Ausländerrecht in Deutschland, S. 914.
104
VGH BW, InfAuslR 1999, 337 wegen Verwertung von Erkenntnisquellen zu Bosnien und
Herzegowina, die nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt worden waren.
105
VG Stuttgart, NVwZ-RR 2000, 250 (251); VG Aachen, InfAuslR 2006, 456 (457).
Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); OVG Hamburg, NVwZ-RR 1995, 709 (710): Entscheidung
für die Vollziehbarkeitstheorie; Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 53; a.A. VG Stuttgart, InfAuslR 2000, 77
(78) = NVwZ-RR 2000, 250: Die Anordnung bewirkt nur, dass Vollziehungsmaßnahmen unzulässig sind.
106
68
entbindet den Betroffenen zwar nicht von seiner Ausreiseverpflichtung, hindert indes, dass die
zur Abschiebung berechtigenden und verpflichtenden Wirkungen des § 50 Abs. 2 AufenthG
eintreten. Überdies eröffnet sie für den Betroffenen den weiteren Vorteil, dass die
Ausreisefrist nach Wiedereintritt der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht erneut zu laufen
beginnt.107
Die Wiederherstellung der früheren aufenthaltsrechtlichen Position kann erst im
Hauptsacheverfahren erreicht werden (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Allerdings führt die
Antragststattgabe zur Fiktion des Fortbestehens des zuvor innergehabten Aufenthaltstitels für
Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ vgl. § 84 Abs. 2 Satz 2
AufenthG). Die aufenthaltsrechtliche Fortgeltungsfiktion lebt indes nicht wieder auf.108 Dem
Bettroffenen ist eine Bescheinigung über die ihm nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
zustehenden Rechte auszustellen.109
II. Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO
1. Zulässigkeit des Antrags
Liegen die Voraussetzungen für eine der drei Fiktionswirkungen nach § 81 Abs. 3 und 4
AufenthG nicht vor, kann einstweiliger Rechtsschutz nicht über § 80 Abs. 5 VwGO, sondern
nur über § 123 VwGO erreicht werden.110 Die Umdeutung eines nach § 80 Abs. 5 VwGO
gestellten Antrags in einen Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig.111 Es ist jedoch zu
bedenken, dass die Gerichte bei anwaltlich vertretenen Rechtsuchenden häufig eine
Umdeutung des Antrags ablehnen. Der Antrag nach § 123 VwGO kann dahin gehen, die
Ausländerbehörde zu verpflichten, im Hinblick auf einen Anspruch auf Erteilung des
Aufenthaltstitels oder auf Duldung die Abschiebung zeitweise bis zur Entscheidung über den
verwaltungsrechtlichen Antrag auszusetzen und eine Duldungsbescheinigung (§ 60a Abs. 4
AufenthG) auszustellen.112 Im Hinblick auf den Streit in der Rechtsprechung und das Risiko,
dass die Umdeutung des fehlerhaft gestellten Antrags abgelehnt wird, ist gegebenenfalls die
hilfsweise Antragstellung empfehlenswert.
Muster :
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung und – hilfsweise – auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung
An das
Verwaltungsgericht
107
108
109
VGH BW, AuAS 2003, 220 (221).
VG Aachen, InfAuslR 2006, 456 (457).
OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62);VG Aachen, InfAuslR 2006, 456 (457):
110
Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (779); Hess. VGH, InfAuslR 1993, 67; 1991, 272 (273); VGH BW,
InfAuslR 1992, 352; OVG Hamburg, EZAR 622 Nr. 12; OVG MV, NVwZ-RR 1997, 256; VG Darmstadt,
InfAuslR 1999, 391 (393); Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 66; Funke-Kaiser, in: GK-AuslR, § 69 AuslG
Rn 77; offengelassen: VGH BW, NVwZ-RR 1995, 294.
111
OVG Hamburg, InfAuslR 1999, 447 (448); a.A. OVG Berlin, AuAS 2004, 138 (139).
112
Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 9; Hess.VGH, AuAS 2006, 158 (159); OVG Hamburg, EZAR 622 Nr. 12.
69
Antrag
des türkischen Staatsangehörigen
– Antragsteller –
gegen
den Oberstadtdirektor
– Antragsgegner –
wegen Ausländerrecht
Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom gegen die Ablehnung des Antrags auf
Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vom anzuordnen.
hilfsweise:
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu
verpflichten, bis zur Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis vom von Abschiebungsmaßnahmen abzusehen.
Zugleich wird beantragt,
dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur
einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt
ist (Stillhaltezusage).
2. Begründetheit des Antrags
Im Rahmen der Begründetheit fehlt es hinsichtlich des behaupteten Anspruchs auf Erteilung
eines Aufenthaltstitels regelmäßig bereits am Anordnungsanspruch, weil der Aufenthaltstitel
nicht nach der Einreise während eines illegalen Aufenthalts beantragt werden kann und gegen
die ablehnende Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG keine
Ermessensfehler geltend gemacht werden können. Ob dies auch dann gilt, wenn die
Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels offensichtlich erfüllt sind,113
erscheint fraglich. Denn die Heilungsmöglichkeit nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG setzt
keinen rechtmäßigen Aufenthalt voraus. Da diese im Vergleich zum früheren Recht weitaus
flexibler gestaltet ist und pragmatische Lösungen ermöglicht, erscheint die frühere
restriktivere Rechtsprechung überholt. Allerdings ist der Einwand des grundsätzlichen
Verbotes der Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung überzeugend auszuräumen.
Sicherungsfähig kann jedenfalls ein Anspruch auf Erteilung der Duldungsbescheinigung sein,
wenn das Vorliegen eines Duldungsgrundes nach § 60a Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG
glaubhaft gemacht werden kann. Die bloße Möglichkeit der Duldung genügt nicht. 114
113
So zum früheren Recht Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 18; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (779); VG
Darmstadt, InfAuslR 1999, 391 (393); Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 69; Funke-Kaiser, in: GK-AuslR,
§ 69 AuslG Rn 83:
114
Hess. VGH, EZAR 019 Nr. 1; 622 Nr. 18; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (779); OVG Hamburg,
InfAuslR 1999, 447 (448); OVG NW, NVwZ-Beil. 1999, 99 = InfAuslR 1999, 451; Hailbronner, AuslR, § 69
AuslG Rn 70.
70
III.
Hauptsacheverfahren
Wird während des anhängigen Verfahrens der gewöhnliche Aufenthalt in den Bezirk eines
anderen Rechtsträgers verlegt und stimmt die nunmehr zuständige Behörde der Fortführung
des Verfahrens durch die bisherige Behörde nach § 3 Abs. 3 VwVfG (des Landes) nicht zu,115
kommt die isolierte Anfechtungsklage in Betracht, weil mit der Aufhebung die
Fiktionswirkung wieder auflebt.116 Das Begehren auf Erteilung des Aufenthaltstitels ist nach
Durchführung des Vorverfahrens (§ 68 VwGO) mit der Verpflichtungsklage zu verfolgen.
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Frage, ob die für die Erteilung des
Aufenthaltstitels maßgebenden Rechtsvoraussetzungen vorliegen, ist der Zeitpunkt der
gerichtlichen Entscheidung.117 Dieser Zeitpunkt ist auch im Falle der Ermessensreduzierung
maßgebend.118335 Umstritten ist der Beurteilungszeitpunkt bei Ermessensentscheidungen
insbesondere auch in Ansehung von § 114 Satz 2 VwGO: Fraglich ist, ob die auf die letzte
Verwaltungsentscheidung abstellende Rechtsprechung119 in Anbetracht der Auflösung fester
verwaltungsprozessualer Formen in den letzten Jahren noch Anwendung finden kann.
Jedenfalls hat das Verwaltungsgericht bei einer Ermessensreduzierung auch nach dem
Widerspruchsbescheid eintretende Umstände zu berücksichtigen.120338
C.
Struktur des Asylverfahrens
I. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Im Asylverfahren hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), das bis zum
In-Kraft-Treten der entsprechenden Vorschriften des ZuwG Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge hieß, eine Monopolzuständigkeit für asyl- und ausländerrechtliche
Entscheidungen im Asylverfahren. Es prüft die Voraussetzungen für die Asylanerkennung
nach Art. 16a Abs. 1 GG, § 1 Abs. 1 AsylVfG, den Flüchtlingdschutz nach § 3 Abs. 4
AsylVfG in Verb. mit § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 in Verb. mit § 13
AsylVfG) und den subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG und trifft die
entsprechende Sachentscheidung (§ 31 AsylVfG). Die asylrechtliche Sachentscheidung erlässt
nicht mehr wie früher ein insoweit weisungsunabhängiger Bediensteter des Bundesamtes (§ 5
Abs. 2 Satz 1 AsylVfG a. F.). Vielmehr wird durch § 5 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der jetzt
geltenden Fassung bestimmt, dass das Bundesamt als solches die Entscheidung nach Art. 16a
Abs. 1 GG und § 3 Abs. 4 AsylVfG trifft. Für die Entscheidung über den subsidiären
Schutzstatus nach § 60 Abs. 2 bis 7 AsylVfG bestand bereits nach früherem Recht keine
Weisungsunabhängigkeit.
Zuständig für die Bearbeitung ist in aller Regel die nach dem Gesetz zuständige Außenstelle
des Bundesamtes (§ 14 Abs. 1 AsylVfG). In der Verwaltungspraxis wird auch in den Fällen
115
Vgl. hierzu BVerwGE 98, 313 (315) = InfAuslR 1995, 287 = NVwZ 1995, 1131 = EZAR 012 Nr. 2.
116
BVerwG, Buchholz 402. 24 § 2 AuslG Nr. 35; VGH BW, EZAR 601 Nr. 3; Funke-Kaiser, in: GKAuslR, § 69 AuslG Rn 86; Hailbronner, AuslR § 69 AuslG Rn 72.
117
BVerwGE 56, 246 (249); 94, 35 (40 f.); BVerwG, InfAuslR 2003, 50 (51) = NVwZ 2002, 1512; VGH
BW, InfAuslR 1984, 271.
118
BVerwG, NVwZ 1992, 1211 (1212).
119
120
Vgl. BVerwGE 94, 35 (40 f.); BVerwG, EZAR 610 Nr. 16.
Kemper, NVwZ 1993, 746 (747).
71
des § 14 Abs. 2 AsylVfG die Akte regelmäßig der örtlich nahe gelegenen Außenstelle
zugewiesen. Im Rahmen des Asylfolgeantragsverfahrens ist grundsätzlich die Außenstelle
zuständig, die auch im Erstverfahren für die Bearbeitung zuständig war (§ 71 Abs. 2 Satz 1
AsylVfG). Das gilt selbst dann, wenn der Folgeantragsteller während des vorangegangenen
Asylverfahrens im Rahmen der nachträglichen Umverteilung (§ 51 Abs. 1 AsylVfG) einem
anderen Bundesland zugewiesen worden ist. Die in der Verwaltungspraxis des Bundesamtes
eingeführte elektronische Akte hat dazu geführt, dass häufig nach der Anhörung die Akte an
eine andere Außenstelle zur Entscheidung abgegeben wird.
Im Rahmen der asylverfahrensrechtlichen Sachentscheidung erlässt das Bundesamt darüber
hinaus auch die Abschiebungsandrohung (§ 34, § 35 AsylVfG) Demgegenüber ist die
Ausländerbehörde für den bloßen Vollzug aller im Rahmen des Asylverfahrens getroffenen
ausländerrechtlichen Entscheidungen zuständig. Sie ist darüber hinaus während des
Asylverfahrens – nach Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung – für die ausländerrechtliche
Behandlung des ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich zugewiesenen Asylsuchenden
zuständig (vgl. § 60 Abs. 3 AsylvfG) Das Asylverfahren wird damit durch den Grundsatz der
Trennung von anordnender und vollziehender Behörde geprägt. Dies ist dem Gedanken der
Verfahrensbeschleunigung geschuldet, der in Art. 16a Abs. 4 GG seinen
verfassungsrechtlichen Ort gefunden hat. Die Konzentration aller auch ausländerrechtlichen
Entscheidungen beim Bundesamt kann im Rahmen des Asylfolgeantragsverfahrens zu
verzwickten verfahrensrechtlichen Problemen sowie Rechtsschutzproblemen führen (vgl. § 71
Abs. 5 AsylVfG).
Auch bei der Behandlung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2–7 AufenthG
(subsidiärer Schutzstatus) kann es zu Abgrenzungsproblemen kommen, weil das Bundesamt
für die Entscheidung über zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse zuständig ist und die
Ausländerbehörde inlandsbezogene Vollstreckungshemmnisse zu beachten hat und die
gebotene präzise Differenzierung nicht stets mit der erforderlichen Klarheit möglich ist.
Gegenseitige Unterrichtungspflichten zwischen Bundesamt und Ausländerbehörde (§§ 40, 54
AsylVfG) sollen die Effektivität des Vollzugs sicherstellen, führen aber häufig zu
Reibungsverlusten.
Der für die Sachkompetenz des Bundesamtes maßgebende asylrechtliche Antragsbegriff des
§ 13 Abs. 1 AsylVfG bezieht sich nicht auf die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes
(Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG). Dem Bundesamt obliegt die
Prüfung dieser Abschiebungshindernisse jedoch nach Stellung eines Asylantrags (§ 24 Abs. 2
AsylVfG). Es hat darüber hinaus festzustellen, ob im Einzelfall derartige Hindernisse
vorliegen (§ 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Dies ist der Grund dafür, dass in allen Fällen, in
denen zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse nach Abschluss eines Asylverfahrens
geltend gemacht werden, das Bundesamt für die Prüfung und Entscheidung zuständig ist.
Derartige Abschiebungshindernisse können aber auch unabhängig von einem Asylantrag
geltend gemacht werden. In diesen Fällen ist die Ausländerbehörde zuständig, weil nach § 24
Abs. 2 AsylVfG die Zuständigkeit des Bundesamtes für die Prüfung von
Abschiebungshindernissen nur begründet wird, wenn diese im Zusammenhang mit einem
Asylantrag geltend gemacht werden. Allerdings bestimmt § 72 Abs. 2 AufenthG, dass die
Ausländerbehörde nur nach vorheriger Beteiligung des Bundesamtes über das Vorliegen von
Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG entscheidet.
II. Ausländerbehörde
72
Die Ausländerbehörde ist – wie ausgeführt – für den bloßen Vollzug aller im Rahmen des
Asylverfahrens getroffenen ausländerrechtlichen Entscheidungen zuständig. Sie ist darüber
hinaus während des Asylverfahrens – nach Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung – für die
ausländerrechtliche Behandlung des ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich zugewiesenen
Asylsuchenden zuständig (§ 58, § 60 Abs. 3 AsylVfG). Begrenzt der Antragsteller sein
Schutzbegehren auf die Abschiebungshindernisse des § 60 Abs. 2–7 AufenthG (subsidiärer
Schutz) und enthalten seine Behauptungen keinen Hinweis auf Verfolgungsgründe, ist nicht
von einem Asylantrag auszugehen.121 Nach der Gegenmeinung ist demgegenüber von einer
ausländerbehördlichen Zuständigkeit auch dann auszugehen, wenn mit dem auf § 60 Abs. 2
bis 7 AufenthG zielenden Antrag in der Sache Verfolgung geltend gemacht wird. Diese
Ansicht dürfte mit dem asylrechtlichen Antragsbegriff nach § 13 Abs. 1 AsylVfG und der
darauf beruhenden Monopolzuständigkeit des Bundesamtes indes kaum zu vereinbaren sein.
Die Sachkompetenz für einen Antrag nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, der nicht im
Zusammenhang mit einem Asylantrag gestellt wird, liegt bei der zuständigen
Ausländerbehörde (§ 72 Abs. 2 AufenthG). Wegen der weitreichenden Folgen ist in
Zweifelsfällen durch die Ausländerbehörde näher aufzuklären, ob der Antragsteller
tatsächlich um Asyl nachsucht, d. h. sich gegenüber einer drohenden Abschiebung nicht
lediglich auf humanitäre und andere verfolgungsunabhängige Gründe beruft, sondern die
Gefahr einer ihm drohenden Verfolgung geltend macht.122 Sie hat in jedem Fall eines
Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG das Bundesamt zu beteiligen (§
72 Abs. 2 AufenthG). Bei der Stellungnahme des Bundesamtes handelt es sich um eine nicht
selbständig anfechtbare verwaltungsinterne Stellungnahme.
III. Bundespolizei
Die Bundespolizei ist eine Polizeibehörde und deshalb nicht für asylrechtliche
Entscheidungen zuständig. Sie entscheidet aber in eigener Zuständigkeit über die
Einreiseverweigerung gegenüber Asyl begehrenden Antragstellern (§ 18 Abs. 2 AsylVfG)
und ist nach dem Gesetz nicht verpflichtet, das Bundesamt hierbei zu beteiligen. Im Rahmen
des Flughafenverfahrens ist die Bundespolizei Herrin des ausländerrechtlichen Verfahrens
(§ 18a AsylVfG), während das Bundesamt die Sachherrschaft im asylrechtlichen Verfahren
hat (§ 18a Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 AsylVfG). Die Kompetenzen der Bundespolizei folgen den
asylrechtlichen Entscheidungen. Als zwingende Folge der qualifizierten Asylablehnung hat
die Bundespolizei die Einreise zu verweigern (§ 18a Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Umgekehrt hat
die Bundespolizei die Einreise zu erlauben, wenn das Bundesamt mitteilt, dass über den
Asylantrag kurzfristig nicht entschieden werden kann (§ 18a Abs. 6 Nr. 1 AsylVfG).
IV. Aufnahmeeinrichtung
Für die Erstaufnahme ist die Aufnahmeeinrichtung zuständig (§§ 44 ff. AsylVfG). Sie nimmt
den Asylsuchenden, der nach § 14 Abs. 1 AsylVfG zur Stellung des Asylantrags bei der
Außenstelle des Bundesamtes verpflichtet ist, auf oder leitet ihn an die für ihn zuständige
Aufnahmeeinrichtung weiter (§ 22 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Erst mit der persönlichen
Meldung des Asylsuchenden bei der für die Bearbeitung seines Asylantrags zuständigen
121
122
OVG Rh-Pf, AuAS 1995, 118 (119); a. A. VGH BW, AuAS 1994, 104.
OVG Rh-Pf, AuAS 1995, 118 (119).
73
Außenstelle des Bundesamtes wird der Asylantrag rechtswirksam gestellt. Vorher spricht das
Gesetz nicht von einem Asylantrag, sondern von einem Asylersuchen (vgl. §§ 18 Abs. 1
1. Hs., 18 a Abs. 1 Satz 1 1. Hs., 19 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG).
Eine schriftliche Antragstellung ist daher in den Fällen des § 14 Abs. 1 AsylVfG nicht
möglich. Im Falle anwaltlicher Vertretung sollte dem Asylsuchenden der anwaltliche
Schriftsatz zwecks Übergabe bei der Meldung nach § 22 AsylVfG mitgegeben werden. Vor
der persönlichen Meldung nach § 22 AsylVfG liegt zwar noch kein Asylantrag vor, die
Behörden haben jedoch zwingend den Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG und aus
völkerrechtlichen Gründen auch den Schutz nach § 60 Abs. 2, 3 und 6 AufenthG zu beachten
und dürfen deshalb gegenüber dem „Asylsuchenden“ keine aufenthaltsbeendenden oder verhindernden Maßnahmen ergreifen, sondern haben diesen an die zuständigen Behörden
weiterzuleiten. Darüber hinaus entsteht das gesetzliche Aufenthaltsrecht nach § 55 Abs. 1
Satz 1 AsylVfG nicht erst mit der wirksamen Asylantragstellung, sondern bereits mit dem
Nachsuchen um Asyl bei einer amtlichen Stelle.123
Auch wenn der um Asyl Ersuchende seiner dementsprechenden Verpflichtung aus § 22 Abs.
1 Satz 1 AsylVfG nicht Folge leistet, dürfen Abschiebungsmaßnahmen nicht ohne weiteres
durchgeführt werden. Vielmehr sieht das Gesetz hierfür das Verfahren nach § 66 AsylVfG
vor (vgl. auch § 67 Abs. 2 AsylVfG). Damit kann die frühere Rechtsprechung, wonach auch
fernmündlich oder per Telefax gestellte Anträge als wirksamer Antrag zu behandeln waren,124
nicht mehr uneingeschränkt Anwendung finden. Auf diesem Weg übermittelte Erklärungen
sind zwar nach wie vor von allen in Betracht kommenden Behörden (Bundes-, allgemeine
Polizei- und Ausländerbehörden) zu beachten. Ein Asylantrag setzt jedoch die persönliche
Meldung bei der Aufnahmeeinrichtung und die anschließende Antragstellung bei der
zuständigen Außenstelle des Bundesamtes voraus. An die Verletzung der unverzüglichen
Meldepflicht knüpfen die Regelungen des §§ 20 ff. AsylVfG einschneidende
verfahrensrechtliche Sanktionen (s. unten).
D. Einleitung des Asylverfahrens
I. Antragsabhängiges Verfahren
Ungeachtet zwingender verfassungs- und völkerrechtlicher Verpflichtungen (vgl. Art. 16a
Abs. 1 GG, Art. 33 GFK, Art. 3 EMRK, Art. 3 Übereinkommen gegen Folter, Art. 7 IPbpR,
§ 60 Abs. 1, Abs. 2 bis 7 AufenthG) wird das Asylverfahren nur aufgrund eines Antrags
eingeleitet (§§ 1 Abs. 1, 14, 23 Abs. 1 AsylVfG). Es handelt sich damit um ein
antragsabhängiges Verfahren im Sinne von § 22 Satz 2 Nr. 1 VwVfG. Nach § 13 Abs. 1
AsylVfG liegt ein Asylantrag vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise
geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet
Verfolgungsschutz nach Art. 16a Abs. 1 GG oder Flüchtlingsschutz im Sinne von § 3 Abs. 4
AsylVfG sucht. Die Bundespolizei und andere Behörden haben demnach jede schriftlich,
mündlich oder sonst wie geäußerte Erklärung, der sich ein Wille des Antragstellers auf
Schutzsuche entnehmen lässt, als Asylantrag zu behandeln.
123
BayObLG, NVwZ 1993, 811; Marx, Kommentar zum AsylVfG, § 13 Rn 8.
124
VG Wiesbaden, InfAuslR 1990, 177; VG Karlsruhe, NJW 1988, 664.
74
Nach der Legaldefinition des Asylantrags kommt es also darauf an, ob sich dem in welcher
Weise auch immer geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er
Verfolgungsschutz sucht. Das anzuwendende VwVfG des Bundes schreibt weder einen
bestimmten Mindestinhalt noch eine Begründung vor. Der Antragsteller muss weder den
Begriff „Asyl“ verwenden noch reicht es aus, wenn allein dieses Wort benutzt wird.125 Im
Zweifel ist jedoch davon auszugehen, dass Asyl begehrt wird, wenn dieser Begriff in den
Erklärungen des Antragstellers enthalten ist.126 Denn für die Auslegung von
Willenserklärungen gilt im Verwaltungsrecht § 133 BGB entsprechend. Danach ist bei der
Auslegung von Willenserklärungen der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am
buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Eines Rückgriffs auf den Antragsbegriff bedarf
es ohnehin nur in Zweifelsfällen.127 Es versteht sich von selbst, dass ein wirksamer Antrag
auch durch die Abgabe fremdsprachiger Erklärungen begründet werden kann.
Die Behörden haben insbesondere im Hinblick auf bestehende Sprachprobleme sowie die
häufig beim ersten Kontakt mit Behörden auftretenden psychischen Hindernisse bei der
Erforschung des wirklichen Willens keine zu hohen Anforderungen zu stellen.128 Nur dann,
wenn ausnahmsweise aufgrund der Erklärungen Zweifel am Antragsziel entstehen, haben die
angesprochenen Behörden durch eine sorgfältige Anhörung zu überprüfen, ob der
Antragsteller inhaltlich um Verfolgungsschutz nachsucht. Dies kann nur dann verneint
werden, wenn außer Zweifel steht, dass das Vorbringen bei verständiger Würdigung und
Berücksichtigung der gesamten Umstände des Falles inhaltlich kein Asylbegehren darstellt.129
Genaue Kenntnis der rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Asylrecht oder
Flüchtlingsschutz ist nicht erforderlich. Es reicht vielmehr aus, wenn sich aus den
erkennbaren Umständen ergibt, dass der Antragsteller Furcht vor Verfolgung hat.
Für die Ausländerbehörden und die Bundespolizei ist es regelmäßig unschwer erkennbar, mit
welchem Ziel ein Ausländer um Schutz nachsucht. Insbesondere bei unmittelbar einreisenden
Ausländern verengt sich schon aufgrund der äußeren Umstände die Bandbreite der möglichen
in Betracht kommenden Anträge auf das Antragsziel der Schutzsuche vor Verfolgung. Die
Situation im Herkunftsland des Einreisenden qualifiziert sein Begehren in aller Regel als
Asylantrag.130 Daher ist zur Qualifizierung des Schutzbegehrens als Antrag im Sinne von § 13
Abs. 1 AsylVfG in aller Regel ein Mindestmaß an Begründung nicht erforderlich. Zwar
befreit § 13 Abs. 1 AsylVfG vom Formerfordernis. Dies bedeutet indes nicht, dass auf das
Vorhandensein eines hinreichend erkennbaren und bestimmten Willens des Antragstellers
verzichtet werden könnte.
Für miteingereiste ledige Kinder, die noch nicht das 16. Lebensjahr vollendet haben und
nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels sind, wird die Antragstellung unabhängig vom Willen
des gesetzlichen Vertreters fingiert (§ 14a Abs. 1 AsylVfG). Reist ein derartiges Kind
nachträglich ein oder wird es hier geboren, trifft die gesetzlichen Vertreter wie die
Ausländerbehörde eine unverzügliche Anzeigepflicht (§ 14a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG).
Mit Zugang der Anzeige beim Bundesamt gilt der Antrag unabhängig vom entgegenstehenden
Willen der gesetzlichen Vertreter als gestellt (§ 14a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG).
Muster:
125
126
127
128
129
130
Asylrechtlicher Antragsschriftsatz mit Begründung
OVG NW, NVwZ-RR 1989, 390.
OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 1110.
VG Düsseldorf, InfAuslR 1988, 273
VG Wiesbaden, Beschl. v. 20.12.1991 – II/1 G 21435/91.
OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 1110.
OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 1110.
75

An das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
– zuständige Außenstelle –
wird persönlich durch Antragsteller übergeben 13122
Ahmed Azizi, geb. 2.5.1967, Paktia/Afghanistan
Sehr geehrte Damen und Herren,
unter Vollmachtsvorlage wird beantragt,
den Antragsteller als Asylberechtigten anzuerkennen. 13223
I.
Zunächst wird darauf hingewiesen, dass die nachfolgende Begründung lediglich die tatsächlichen
Schlüsselelemente des Kernvorbringens beschreibt, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit im Hinblick auf
sämtliche erheblichen Sachverhaltselemente, auf die zeitliche Abfolge der dargelegten Ereignisse sowie auf
sonstige tatsächliche Umstände zu erheben. Die nachfolgende Begründung soll die persönliche Anhörung
vorbereiten, jedoch nicht ersetzen. Die Anhörung ist der Ort, an dem durch konkrete Befragung der genaue
Sachverhalt aufzuklären ist. Auf die Glaubhaftigkeit der konkreten Schilderung des asylrechtlich erheblichen
Sachverhalts während der persönlichen Anhörung kommt es entscheidend an (BVerfGE 94, 166 (200 f.) = EZAR
632 Nr. 25 = NVwZ 1976, 678). Die Art der persönlichen Einlassung des Antragstellers während seiner
persönlichen Anhörung, seine Persönlichkeit, insbesondere seine Glaubwürdigkeit spielen bei der Würdigung
und Prüfung der Tatsache, ob er gute Gründe zur Gewissheit der Behörde dargetan hat, eine entscheidende
Rolle (BVerwG, DVBl. 1963, 145). Dementsprechend kann durch das Gespräch zwischen dem Antragsteller und
dem Einzelentscheider während der Anhörung am besten sichergestellt werden, dass der Sachverhalt umfassend
aufgeklärt, die Stichhaltigkeit des Asylgesuchs überprüft und etwaigen Unstimmigkeiten oder Widersprüchen im
Sachvorbringen auf der Stelle nachgegangen wird (Hess.VGH, ESVGH 31, 259). Aus fehlenden
Sachverhaltselementen, Ungenauigkeiten und etwaigen Ungereimtheiten in der nachfolgenden Begründung
können deshalb für die Bewertung der Glaubhaftigkeit der Sachangaben des Antragstellers keine diesem
nachteilige Schlussfolgerungen gezogen werden.
Dem Antragsteller wurde diese Gesetzeslage sowie die entsprechende Rechtsprechung im Rahmen des
anwaltlichen Beratungsgesprächs erläutert. Er wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der anwaltliche
Schriftsatz nur die Kernelemente seines asylrechtlichen Sachvorbringens beschreibt und deshalb in diesem nicht
erwähnte Einzelheiten in der Anhörung von ihm vorzutragen sind, das Bundesamt andererseits aber von Amts
wegen verpflichtet ist, entsprechend seiner verfahrensrechtlichen Fürsorgepflicht ihm erkennbare mögliche
Widersprüche, Ungereimtheiten und sonstige Unklarheiten von Amts wegen aufzuklären und sich insbesondere
nicht lediglich auf die Entgegennahme des Sachvorbringens beschränken darf. Der Antragsteller wurde darüber
hinaus darüber belehrt, dass es wesentlich für eine verfahrensrechtlich einwandfreie Gestaltung der Anhörung
ist, dass er nicht nur zu Beginn der Anhörung, sondern sachbezogen auch während der Anhörung je nach
Sachlage in einer seiner Person gemäßen Art und Weise über das ins Bild gesetzt wird, worauf es für ihn und die
Entscheidung über sein Ersuchen ankommt, und dass er deshalb darauf vertrauen darf, dass das Bundesamt die
Anhörung loyal sowie verständnisvoll führt (s. zu den entsprechenden Amtspflichten BVerfGE 94, 166 (204) =
EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678). Der Antragsteller wurde insbesondere darüber belehrt, dass das
Bundesamt ihm das Recht einzuräumen hat, zunächst den Sachverhalt von sich aus zusammenhängend
darzustellen, und es die Pflicht des Bundesamtes ist, anschließend durch gezielte Nachfragen und Vorhalte den
Sachverhalt im Einzelnen aufzuklären und den Antragsteller auf Widersprüche und Ungereimtheiten
hinzuweisen.
II.
131
Im Zeitpunkt der Antragsformulierung ist die zuständige Außenstelle nicht bekannt. Der Mandant ist
darauf hinzuweisen, dass er bei seiner Vorsprache Sorge dafür zu tragen hat, dass der – in einem verschlossenen
Umschlag enthaltene – Antragsschriftsatz zur Akte des Bundesamtes gelangt und nicht bei der
Aufnahmeeinrichtung verbleibt
132
Der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ Abs. 4 AsylvfG) wird damit automatisch
geltend gemacht (§ 13 Abs. 2 1. Hs. AsylVfG), wie auch die Feststellung von Abschiebungshindernissen (§§ 24
Abs. 2, 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG).
76
Der Antragsteller hat am Paktia verlassen und reiste am aus Afghanistan aus. Er ist am in das Bundesgebiet
eingereist.24 Der Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit. Er hat
sich an oppositionellen Aktivitäten gegen die afghanischen Behörden beteiligt Der Antragsteller ist drei Mal für
die Dauer von jeweils ca. drei Wochen durch die afghanischen Behörden festgehalten worden. Nähere
Darlegungen erfolgen während der Anhörung. Nach der letzten Festnahme verdichteten sich die Anzeichen,
dass die Behörden gegen den Antragsteller Beweise für seine oppositionellen Aktivitäten gesammelt hatten. Am
wurde er durch einen Schulfreund, der bei den Behörden im Sicherheitsbereich tätig ist, über seine
bevorstehende Festnahme informiert. Er tauchte deshalb sofort unter und ließ seine Familie durch Dritte über
seine Situation informieren. Nachdem der Antragsteller die Fluchtvorbereitung abgeschlossen hatte, reiste er ca.
zwei Wochen danach nach Pakistan aus.

II. Persönliche Meldepflicht (§ 23 Abs. 1 AsylVfG)
Nach § 23 Abs. 1 AsylVfG ist der Antragsteller, der in der für ihn zuständigen
Aufnahmeeinrichtung aufgenommen worden ist, verpflichtet, persönlich zur
Asylantragstellung zu erscheinen. Diese persönliche Meldepflicht setzt voraus, dass der
Antragsteller verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen (§§ 14 Abs. 1, 47 Abs.
1 Satz 1 AsylVfG). Für Antragsteller, die ihr Asylbegehren nicht bei der Außenstelle des
Bundesamtes, sondern unmittelbar beim Bundesamt geltend machen müssen (§ 14 Abs. 2
AsylVfG), gilt dagegen die Wohnpflicht des § 47 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht.
Dementsprechend trifft diese Personen auch nicht die persönliche Meldepflicht nach § 23
Abs. 1 AsylVfG. Sie haben den Antrag nach § 14 Abs. 2 AsylVfG vielmehr unmittelbar
schriftlich bei der Zentrale des Bundesamtes zu stellen. Aber auch diese Personengruppe ist
vom Bundesamt persönlich anzuhören (§ 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Es wird vorher
schriftlich geladen (§ 25 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG).
Der Zweck von § 23 Abs. 1 AsylVfG ist die unverzügliche Einleitung des Asylverfahrens bei
unmittelbar einreisenden Asylsuchenden (§ 14 Abs. 1 AsylVfG), um ebenso unverzüglich die
Direktanhörung (§ 25 Abs. 4 AsylVfG) durchführen und das Verwaltungsverfahren zum
Abschluss bringen zu können. Dementsprechend soll der Asylsuchende auch unverzüglich
seiner Meldepflicht nachkommen. Eine besondere Ladung zur Anhörung erfolgt bei
Durchführung der Anhörung nicht (§ 25 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG). Die Vorschriften über die
Direktanhörung werden heute nicht mehr so streng gehandhabt wie im Zeitpunkt ihrer
Entstehung 1992.
Demgegenüber sind Antragsteller nach § 14 Abs. 2 AsylVfG ausnahmslos vorher rechtzeitig
zu laden (vgl. § 25 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG). Die Vorschrift begründet eine sofortige
Meldepflicht. Nur in den Fällen, in denen die Aufnahmeeinrichtung dem Antragsteller einen
besonderen Termin zur Meldung bei der Außenstelle des Bundesamtes gibt, entfällt die
unverzügliche Meldepflicht. An ihre Stelle tritt die Meldepflicht zum genannten Termin (§ 23
Abs. 1 2. Hs. 2. Alt. AsylVfG). Das ist die Regelpraxis. Die in § 23 Abs. 1 AsylVfG
vorgesehene Verwaltungspraxis trägt den Besonderheiten Rechnung, die sich aus der
Bestimmung der zuständigen Aufnahmeeinrichtung und den Bearbeitungskapazitäten des
Bundesamtes ergeben.
77
Danach regelt sich die persönliche Meldepflicht des Asylantragstellers nach § 14 Abs. 1
AsylVfG wie folgt: Zuständig für die Aufnahme des Asylsuchenden ist grundsätzlich die
Aufnahmeeinrichtung, bei der er sich meldet (§ 46 Abs. 1 Satz 1, § 22 Abs. 1 Satz 2
AsylVfG).
In
Fällen,
in
denen
genügend
Aufnahmekapazitäten
und
Bearbeitungsmöglichkeiten des Bundesamtes für das Herkunftsland des Antragstellers
verfügbar sind (§ 46 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) und dieser in der Aufnahmeeinrichtung, bei der
er sich zunächst gemeldet hat, zu wohnen hat, besteht unverzügliche Meldepflicht bei der
Außenstelle des Bundesamtes. Einer besonderen Terminssetzung bedarf es nicht. Aber auch
in diesen Fällen wird dem Asylsuchenden regelmäßig ein Termin zur Meldung bei der
Außenstelle des Bundesamtes von der Aufnahmeeinrichtung genannt.
Wird die Anhörung im Asylverfahren am Tag der Meldung durchgeführt, entfällt die
Benachrichtigungspflicht des Asylsuchenden durch die Außenstelle (§ 25 Abs. 4 Satz 3
AsylVfG). In den anderen Fällen, in denen der Antragsteller einer anderen
Aufnahmeeinrichtung zugewiesen wird (§ 46 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 AsylVfG), wird ihm nach
der Meldung bei der für ihn zuständigen Aufnahmeeinrichtung von dieser ein besonderer
Termin zur Asylantragstellung bei der Außenstelle des Bundesamtes genannt. Zuständige
Aufnahmeeinrichtung für die Bekanntgabe des Termins ist die für den Asylsuchenden
zuständige Aufnahmeeinrichtung, die nach Maßgabe der Vorschriften der §§ 46 Abs. 1 und 2,
22 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG bestimmt wird. Bei der Terminsbekanntgabe sind die
Umstände des Einzelfalles, insbesondere die Transportwege und -möglichkeiten, gebührend
zu berücksichtigen. Die Wochenfrist nach § 66 Abs. 1 AsylVfG gibt jedoch einen
gewichtigen Anhalt für die Fristsetzung nach § 23 Abs. 1 AsylVfG.
§ 23 Abs. 1 AsylVfG begründet eine persönliche Meldepflicht des Antragstellers zur
wirksamen Antragstellung bei der für ihn zuständigen Außenstelle des Bundesamtes.
Demgegenüber begründet § 22 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die persönliche Meldepflicht bei der
Aufnahmeeinrichtung. Erst mit der persönlichen Meldung bei der zuständigen Außenstelle
des Bundesamtes wird das Asylverfahren eingeleitet. Macht der Antragsteller sein Begehren
bei der Bundespolizei oder einer Ausländerbehörde geltend, sucht er nach dem Wortlaut
dieser Vorschriften lediglich um Asyl nach. Diese Behörden leiten den Antragsteller an die
nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung zur Meldung weiter (§ 18 Abs. 1 2. Hs., § 19 Abs. 1 2.
Hs., § 22 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Ist diese zugleich zuständige Aufnahmeeinrichtung im
Sinne von § 46 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, ist der Antragsteller neben seiner Meldepflicht nach
§ 22 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zusätzlich zur persönlichen Meldung bei der dortigen
Außenstelle des Bundesamtes zwecks Antragstellung verpflichtet (§ 23 Abs. 1 AsylVfG).
Wird er einer anderen Einrichtung zugewiesen (§ 46 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, § 22 Abs. 1 Satz 2
AsylVfG), wird die persönliche Meldepflicht nach § 23 Abs. 1 AsylVfG durch Fristsetzung
geregelt. Erst mit der Meldung bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes nach
Erreichen der zugewiesenen Aufnahmeeinrichtung wird das Asylverfahren eingeleitet.
III. Ausschluss vom Asylverfahren
1. Allgemeines
Nicht jeder Asylantrag verpflichtet das Bundesamt, das Verfahren auf inhaltliche Prüfung der
Asylgründe einzuleiten. Bei Einreise aus einem sicheren Drittstaat (Art. 16a Abs. 2 GG,
§ 26a AsylVfG) prüft es lediglich den Reiseweg und erlässt unter den Voraussetzungen des
§ 34a Abs. 1 AsylVfG die Abschiebungsanordnung, wenn der sichere Drittstaat festgestellt
werden kann. Zugleich stellt das Bundesamt fest, dass dem Antragsteller aufgrund seiner
Einreise durch den sicheren Drittstaat kein Asylrecht zusteht (§ 31 Abs. 4 AsylVfG). Da in
78
der Verwaltungspraxis in aller Regel der Reiseweg nicht identifiziert werden kann,
andererseits ohne inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens eine Abschiebung in den
Verfolgerstaat unzulässig ist,133 läuft die Drittstaatenregelung weitgehend ins Leere. Sie ist
nunmehr durch die vollständige rechtliche Gleichstellung der Rechtsstellung der Flüchtlinge
mit denen der Asylberechtigten auch historisch überholt und hat nur noch Bedeutung, wenn
der Reiseweg identifiziert werden kann und der sichere Drittstaat den Antragsteller
übernimmt.
Das Gesetz kennt darüber hinaus den unbeachtlichen Asylantrag. Im Falle der offensichtlichen Verfolgungssicherheit in einem „sonstigen Drittstaat“ (§ 27 Abs. 1 AsylVfG) wird
zwar ein Asylverfahren eingeleitet. Der Antrag ist indes unbeachtlich (§ 29 Abs. 1 AsylVfG).
Die Prüfung erstreckt sich lediglich auf die Frage der offensichtlichen Verfolgungssicherheit.
Ist die Rückführung in den sonstigen Drittstaat innerhalb von drei Monaten nicht möglich,
wird das Verfahren fortgesetzt, freilich auch hier – wie bei der Drittstaatenregelung – auf den
Gegenstandsbereich des § 3 Abs. 4 AsylVfG beschränkt.
Gesetzessystematisch ist der Asylfolgeantrag zwar im Rahmen der Vollzugsphase nach
unanfechtbarer Sachentscheidung oder vollziehbarer Abschiebungsandrohung zu behandeln.
Ist der Antragsteller in den Herkunftsstaat zurückgekehrt und reist er erneut ein, um Asyl zu
suchen, wird sein Begehren indes als Folgeantrag behandelt. Dem äußeren Anschein nach
handelt es sich damit zwar um ein Asylbegehren unmittelbar nach Einreise (vgl. § 14 Abs. 1
AsylVfG). Es finden jedoch die Sondervorschriften des § 71 AsylVfG Anwendung. In der
Verwaltungspraxis wird in diesen Fällen häufig auf die persönliche Anhörung verzichtet, die
anders als im Erstverfahren (vgl. § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG) im Folgeantragsverfahren nicht
zwingend ist (§ 71 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG).
Schließlich regelt § 27a AsylVfG den unzulässigen Asylantrag. Dabei handelt es sich um
Asylanträge, für deren Behandlung ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist. In aller Regel
handelt es sich hierbei um Fälle nach der Dublin II-Verordnung (Verordnung (EG) Nr.
343/2003). Früher wurden diese Anträge als unbeachtliche Asylanträge behandelt (vgl. § 29
Abs. 3 AsylVfG a.F.). Durch die Einstufung der Dublin II-Fälle als unzulässige Asylanträge
will der Gesetzgeber den Eilrechtsschutz aufheben. Denn die unzulässigen Asylanträge haben
den Erlass einer Abschiebungsanordnung (§ 34a Abs. 1 AsylVfG) und damit den Ausschluss
des Eilrechtsschutzes (vgl. § 34a Abs. 2 AsylVfG) zur Folge.
2. Zuständigkeit eines Dublin II-Staates (§ 27a AsylVfG)
a) Vorbemerkung
Die Drittstaatenregelung (Art. 16a Abs. 2 GG) wird durch völkerrechtliche
Zuständigkeitsvereinbarungen nach Art. 16a Abs. 5 GG verdrängt. Daher bildet allein
Art. 16a Abs. 5 GG die Grundlage für die Verweisung eines Asylsuchenden an einen anderen
Vertragsstaat. Scheitert die Rückführung und ist die Bundesrepublik dadurch zuständig
geworden, kann diese sich nicht mehr auf Art. 16a Abs. 2 GG berufen, weil das
völkerrechtliche Zuständigkeitsabkommen nach Art. 16a Abs. 5 GG die Drittstaatenregelung
nach Art. 16a Abs. 2 GG auch verfassungsrechtlich verdrängt.134 Demgegenüber ist bei
133
134
BVerfGE 94, 49 (97) = NVwZ 1997, 700 = EZAR 208 Nr. 7.
BVerfGE 94, 49 (97) = NVwZ 1997, 700 = EZAR 208 Nr. 7.
79
zwischenzeitlicher Ausreise in einen anderen Vertragsstaat und anschließender Rückkehr die
Berufung auf Art. 16a Abs. 2 GG versperrt.135
Die Regelungen in Art. 16a Abs. 1 bis 4 GG stehen nach Art. 16a Abs. 5 GG
völkerrechtlichen Verträgen von EU-Mitgliedstaaten untereinander und mit dritten Staaten
nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus der GFK und der EMRK
Zuständigkeitskriterien für die Prüfung von Asylbegehren treffen (multilaterale
Zuständigkeitsabkommen). § 27a AsylVfG ist die einfachgesetzliche Umsetzungsvorschrift
dieser verfassungsrechtlichen Norm. Derartige Abkommen stellten das Dubliner
Übereinkommen (DÜ) vom 15. Juni 1990 (BGBl. II 1994, S. 792) und das Schengener
Durchführungsübereinkommen (SDÜ) vom 19. Juni 1990 (BGBl. II 1993, S. 1010) dar.
Darauf weist auch das BVerfG in diesem Zusammenhang hin. Die Dubliner Konvention war
mit Wirkung vom 1. Septe,ber 1997 für die früheren zwölf EU-Staaten in Kraft getreten
(BGBl. II, S. 1462). Inzwischen ist mit Wirkung zum 1. September 2003 die EUAsylzuständigkeitsVO, verkürzt als Dublin II – VO bezeichnet, in Kraft und an die Stelle
multilateraler Abkommen getreten. Art. 16a Abs. 5 GG kann für gemeinschaftsrechtliche
Instrumente nicht als Rechtsgrundlage dienen. Hatte der Gesetzgeber früher die Dublin-Fälle
als unbeachtliche Asylanträge (vgl. § 29 Abs. 3 AsylVfG a. F.) behandelt, bezeichnet er diese
nach geltendem Recht als unzulässige Asylanträge (vgl. § 27a AsylVfG) mit der Folge, dass
wie bei der Einreise aus einem sicheren Drittstaat die Abschiebungsanordnung (§ 34a Abs. 1
AsylVfG) ergeht und der Eilrechtsschutz ausgeschlossen (vgl. § 34a Abs. 2 AsylVfG)
ausgeschlossen wird.
b) Kein Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens nach Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO
Streit herrschte früher darüber, ob das SDÜ einen einklagbaren Rechtsanspruch auf
Durchführung des Asylverfahrens gewährte. Wegen der identischen Ausgangslage hat dieser
Streit nach wie vor auch Bedeutung für die Interpretation von Art. 3 Abs. 1 Dublin II - VO.
Nach dieser Norm verpflichten sich die Vertragsstaaten, jeden Asylantrag zu prüfen, den ein
Ausländer an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates stellt. Es wird
behauptet, die inhaltsgleiche Norm des Art. 29 Abs. 1 SDÜ begründe nicht nur
völkerrechtliche Verpflichtungen zwischen den Vertragsparteien, sondern auch einen
einklagbaren Verfahrensanspruch.136 Dagegen wird eingewandt, Adressaten dieser Norm
seien allein die Vertragsstaaten. Auch durch Transformation des DÜ in innerstaatliches Recht
sei kein subjektives Recht entstanden, da subjektive Rechte nur begründet werden könnten,
wenn der Vertrag dies bereits vorsehe.137 Der Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 Dublin II ist
insoweit offen. Da die Dublin II – VO allein den Rechtsverkehr unter den Mitgliedstaaten
regelt, dürfte auch im Hinblick auf diese fraglich sein, ob dadurch subjektive Rechtsansprüche
begründet werden.
135
Thür. OVG, EZAR 208 Nr. 10 = NVwZ-Beil. 1997, 44; s. auch VG Oldenburg, NVwZ-Beil. 2000, 71
(72).
73
136
Huber, NVwZ 1996, 1069 (1073); s. jetzt aber Huber, NVwZ 1998, 150; wohl auch Achermann,
Schengen und Asyl, S. 114; a. A. Hailbronner/Thiery, ZAR 1997, 55 (59); Marx, EJML 2001, 79.
OVG NW, Beschl. v. 14.4.1999 – 11 A 2666/99.A; VG Freiburg, NVwZ-RR 2002, 227 = AuAS 2002,
23; VG Gießen, NVwZ-Beil. 1996, 27 f. = AuAS 1996, 70; VG Schwerin, AuAS 1996, 227 (228); VG Münster,
AuAS 2001, 36.
137
80
Ist die Bundesrepublik für die Behandlung des Asylgesuchs zuständig, ist der Asylantrag
beachtlich. § 27a AsylVfG findet keine Anwendung. Wegen der Vorschrift des § 26 a Abs. 1
Satz 3 Nr. 2 AsylVfG ist die Berufung auf das Asylrecht nicht versagt.138 Vielmehr steht dem
Asylsuchenden, der über einen sicheren Drittstaat eingereist und für dessen Asylbegehren die
Bundesrepublik aufgrund der Dublin II - VO zuständig ist, ein einfach-gesetzlich gewährtes
Recht auf Asyl zu.139
c)
Zuständigkeitskriterien nach der Dublin II - VO
Die Dublin II - VO regelt die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur
Behandlung des Asylbegehrens nach Maßgabe des Verursacherprinzips. Zielsetzung der VO
ist, dass immer nur ein Staat für die Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Damit soll
verhindert werden, dass der Asylsuchende von einem Mitgliedstaat in den anderen
abgeschoben wird, ohne dass sich einer dieser Staaten für zuständig erklärt. An dieser
Zielsetzung hat sich die Interpretation der Zuständigkeitskriterien der Art. 3 ff. Dublin II - VO
und damit auch die Auslegung und Anwendung von § 27a AsylVfG auszurichten. Es kommt
allein darauf an, dass der zuständige Mitgliedstaat tatsächlich die Zuständigkeit übernimmt.
Eine Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine Übernahme zu Recht bejaht wurden, hat nach
dem Gesetzeswortlaut nicht zu erfolgen.
Bei der Prüfung ob ein Asylantrag unbeachtlich ist, weil ein anderer Mitgliedstaat die
Zuständigkeit übernimmt, kommt es nach der Rechtsprechung nicht darauf an, ob der
übernehmende Staat die Bestimmungen der Dublin II – VO eingehalten hat.140 Dem
Antragsteller, für dessen Asylbegehren die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates
besteht, ist die Ausreise in diesen Staat zu ermöglichen. Eine Abschiebung in den
Herkunftsstaat ist untersagt.141 Reist der Asylsuchende, nachdem er im Bundesgebiet Asyl
beantragt und damit die Zuständigkeit der Bundesrepublik begründet hat, während des
Asylverfahrens in einen Mitgliedstaat und reist er anschließend von dort wieder in das
Bundesgebiet ein, so führt dies nicht dazu, dass er sich wegen Art. 16 a Abs. 2 GG nicht mehr
auf das Asylrecht berufen kann.142
Entsprechend dem Verursacherprinzip errichten die Zuständigkeitskriterien der Dublin II VO einen hierarchisch gestaffelten Kriterienkatalog. Handelt es sich um einen unbegleiteten
Minderjährigen, ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem sich ein Angehöriger seiner Familie
rechtmäßig aufhält (Art. 6 Abs. 1 Dublin II - VO). Es soll unter allen Umständen eine
räumliche Nähe zwischen einem unbegleiteten Minderjährigen und einem sich bereits in
einem Mitgliedstaat aufhaltenden erwachsenen Familienangehörigen geschaffen werden.
Darüber hinaus soll die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylbegehrens dem Mitgliedstaat
übertragen werden, der im Rahmen eines regulären Verfahrens den Asylantrag eines vorher
eingereisten Familienangehörigen prüft, über den noch nicht in erster Instanz entschieden
worden ist (Art. 8 Dublin II - VO).
Generell soll der Einheit der Familiengemeinschaft besser Rechnung getragen werden als
nach dem geltenden Vertragsrecht: Stellen mehrere Mitglieder einer Familie in demselben
138
139
140
141
142
Nieders. OVG, AuAS 2001, 152 (153).
So auch Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, § 29 Rn 23.
VG Schwerin, NVwZ-Beil. 2002, 95 = AuAS 2002, 177.
VG Oldenburg, NVwZ-Beil. 2000, 71 (72).
Thür. OVG, EZAR 208 Nr. 10 = NVwZ-Beil. 1997, 44 = AuAS 1997, 47.
81
Mitgliedstaat gleichzeitig oder in großer zeitlicher Nähe einen Asylantrag, dass die Verfahren
zur Zuständigkeitsbestimmung gemeinsam durchgeführt werden können, und könnte die
Anwendung der in Dublin II - VO bezeichneten Zuständigkeitskriterien ihre Trennung zur
Folge haben, so ist für die Prüfung der Anträge sämtlicher Angehöriger der Mitgliedstaat
zuständig, der nach diesen Kriterien für die Aufnahme des größten Teils der
Familienmitglieder zuständig ist. Andernfalls obliegt die Prüfung dem Mitgliedstaat, der nach
den Zuständigkeitskriterien für die Prüfung des von dem ältesten Familienmitglied
eingereichten Asylantrags zuständig ist (Art. 14 Dublin II - VO).
Reist der Asylsuchende mit dem Visum eines anderen Mitgliedstaates in das Bundesgebiet
ein, ist dieser zuständig (Art. 9 Abs. 2 Satz 1 1. Hs. Dublin II - VO).143 Der Asylantrag ist
nach § 27a AsylVfG unzulässig. Das gilt namentlich für ein von einem anderen Mitgliedstaat
erteiltes Schengen-Visum.144 Für die Frist von sechs Monaten nach Art. 9 Abs. 4 Satz 2
Dublin II - VO ist auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung abzustellen.145 Hat die
Bundesrepublik das Visum erteilt, ist sie danach völkerrechtlich zuständig. Dem tragen die
Vorschriften in §§ 18 Abs. 4 Nr. 1, 26 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG Rechnung. Die Dublin
II - VO regelt darüber hinaus die Zuständigkeit für die Fälle, in denen das Visum mit
Zustimmung eines anderen Mitgliedstaates erteilt worden ist. In diesem Fall ist der
Vertragsstaat zuständig, der das Visum erteilt hat (Art. 9 Abs. 2 Satz 1 1. Hs. Dublin II - VO).
Haben mehrere Mitgliedstaaten ein Visum erteilt, ist der Staat zuständig, dessen Visum
zuletzt erlischt (Art. 9 Abs. 3 Buchst. a) bis c) Dublin II - VO).
Von praktisch erheblicher Bedeutung ist der Fall der illegalen Einreise. In diesem Fall ist der
Staat für die Behandlung des Asylgesuchs zuständig, über dessen Grenze der Asylsuchende
eingereist ist (Art. 10 Abs. 2 Dublin II - VO). Ein Anspruch des illegal in das Bundesgebiet
eingereisten Asylsuchenden auf Weiterreise in einen anderen Mitgliedstaat besteht nicht. Die
Zuständigkeit des an sich zuständigen Mitgliedstaates erlischt jedoch, wenn sich der
Asylsuchende nach Einreise nachweislich sechs Monate in einem anderen Vertragsstaat
aufgehalten hat.
Nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II - VO behält jeder Mitgliedstaat das Recht, bei Vorliegen
besonderer Umstände, insbesondere des nationalen Rechts, ein Asylbegehren auch dann zu
behandeln, wenn die Zuständigkeit bei einem anderen Mitgliedstaat liegt. Es handelt sich um
ein gemeinschaftsrechtlich gewährtes Recht des Mitgliedstaates. Der an sich zuständige
Mitgliedstaat kann der Ausübung des Selbsteintrittsrechtes nicht widersprechen. Dem
Selbsteintrittsrecht korrespondiert nach der Rechtsprechung freilich kein subjektives Recht
des Asylsuchenden.14689 Die Ausübung des Selbsteintrittsrechts bewirkt mithin einen
gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeitswechsel. Der bislang zuständige Staat wird durch die
Ausübung dieses Rechts von seiner Verpflichtung befreit.
Ist die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylbegehrens auf die Bundesrepublik
übergegangen, so kann das Bundesamt sich nicht mehr auf die Drittstaatenregelung berufen,
143
BayVGH, NVwZ-Beil. 2001, 13 (14); VG Gießen, NVwZ-Beil. 1996, 27 = AuAS 1996, 70; VG Berlin,
Beschl. v. 25.4.1996 – VG 33 X 138/96.
144
BayVGH, NVwZ-Beil. 2001, 13 (14).
145
146
VG Ansbach, NVwZ-Beil. 2001, 61 = InfAuslR 2001, 247.
VG Freiburg, AuAS 2003, 11 (12).
82
weil Zuständigkeitsabkommen nach Art. 16 a Abs. 5 GG und somit auch die
gemeinschaftsrechtliche Nachfolgeregelung die Drittstaatenregelung des Art. 16 a Abs. 2 GG
auch verfassungsrechtlich verdrängen.147 Hat daher das Bundesamt einen Asylantrag, für
dessen Behandlung ursprünglich ein anderer Mitgliedstaat zuständig war, in der Sache
entschieden, so ist damit die Zuständigkeit auf die Bundesrepublik übergegangen und gegen
die Behördenentscheidung verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz gegeben.148 Das gilt nicht,
wenn die Anhörung lediglich den Zweck verfolgt, die für die Feststellung der Zuständigkeit
des Mitgliedstaates notwendigen Tatsachen aufzuklären, und deshalb auch keine
Entscheidung in der Sache erfolgt.149
d) Berücksichtigung des Grundsatzes der Familieneinheit
Nach Art. 7 Dublin II - VO wird ein Recht auf Familienzusammenführung in den Fällen
gewährt, in denen ein Asylsuchender in einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannt worden
ist. In diesem Fall ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, der den
Familienangehörigen anerkannt hat. Der Kreis der begünstigten Familienangehörigen geht
über die enge Kernfamilie hinaus und wird in Art. 2 Buchst. i) Dublin II - VO geregelt. Auch
ein unverheiratetes, minderjähriges Kind hat Anspruch auf Familienzusammenführung zum
Vater oder zur Mutter.150 Das Zuständigkeitskriterium der Familienangehörigkeit ist nach Art.
7 Dublin II - VO vorrangig vor den weiteren in Dublin II - VO aufgezählten
Zuständigkeitskriterien.
Nach Art. 7 Dublin II - VO ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem ein Familienangehöriger
als Flüchtling anerkannt worden ist, sofern die Antragsteller dies wünschen. Dem
entsprechenden Antrag ist auch im Flughafenverfahren in jeder Lage des Verfahrens, und
zwar auch nach Erlass der behördlichen Einreiseverweigerung nach § 18 a Abs. 3 Satz 1
AsylVfG, Rechnung zu tragen.151 Die Gegenmeinung übersieht, dass für die gerichtliche
Entscheidung die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des gerichtlichen Beschlusses
maßgebend ist (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AsylVfG).
Nach der Rechtsprechung begründet die Geburt eines Kindes im Bundesgebiet während des
Zuständigkeitsverfahrens nicht ohne weiteres eine Zuständigkeit der Bundesrepublik auch für
die Eltern des Kindes, wenn für die Behandlung ihres Asylbegehrens ein anderer
Mitgliedstaat zuständig ist. In einem derartigen Fall kann der im Hinblick auf die Eltern
zuständige Staat nach Art. 15 Dublin II - VO seine Zuständigkeit auch für das Kind erklären.
In diesem Fall ist die Bundesrepublik für die Behandlung des Asylbegehrens des hier
geborenen Kindes nicht zuständig.152 Stimmt der an sich zuständige Mitgliedstaat jedoch
nicht der Übernahme des Kindes zu, ist für die Behandlung des Asylantrages des Kindes die
Bundesrepublik zuständig. Aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK folgt in
derartigen Fällen ein zwingendes Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet zugunsten der Eltern
des neugeborenen Kindes.
147
148
OVG NW, NVwZ 1997, 1141 (1143); Nieders. OVG, AuAS 2001, 152 (153).
OVG NW, NVwZ 1997, 1141 (1143); wohl auch VG Schwerin, AuAS 1996, 227 (228).
149
VG Schwerin, AuAS 1996, 227 (228).
150
BVerfG (Kammer), AuAS 2001, 7 (8) = InfAuslR 2000, 364.
A. A. VG Frankfurt, Bschl. v. 31.10.1997 – 11 G 50634/97.A(3).
152
VG Gießen, Beschl. v. 24.9.1997 – 6 G 32206/97.A(1); VG Gießen, AuAS 2000, 262; VG Regensburg,
InfAuslR 2000, 143 (144) = AuAS 2000, 56.
151
83
e) Versäumung der Überstellungsfrist nach Art. 19 Abs. 4 Dublin II - VO
Nach Art. 19 Abs. 4 Dublin II geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der
Asylantrag eingereicht wurde, wenn die Überstellung nicht innerhalb einer Frist von sechs
Monaten erfolgte. Eine Verlängerung auf höchstens ein Jahr ist zulässig, wenn die
Überstellung aufgrund der Inhaftierung des Antragstellers nicht erfolgen konnte. Ist der
Antragsteller flüchtig, kann die Frist auf 18 Monate verlängert werden.
f)
Keine Anwendung der Dublin II – VO bei Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis
5 und 7 AufenthG
Nach Art. 2 Buchst. c) Dublin II - VO wird der Asylantrag als Antrag definiert, mit dem der
Betreffende einen Mitgliedstaat um Schutz nach der GFK unter Berufung auf den
Flüchtlingsstatus im Sinne von Art. 1 GFK in der Fassung des New Yorker Protokolls
ersucht. An diesen Antragsbegriff knüpfen die in Art. 3 ff. Dublin II - VO enthaltenen
Zuständigkeitsvorschriften an. Dementsprechend findet die Dublin II - VO keine Anwendung,
wenn der Antragsteller subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG begehrt.153 Die
Vorschrift des § 27a AsylVfG ist nicht anwendbar. Dies ergibt sich bereits aus § 24 Abs. 2
AsylVfG. Denn stellt der Antragsteller keinen Asylantrag im Sinne von § 13 Abs. 1 AsylVfG,
ist das Bundesamt nicht zuständig. Ein nicht gestellter Asylantrag kann nicht unzulässig im
Sinne von § 29 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG sein. Freilich ist der gestellte Antrag objektiv
auszulegen, sodass es allein auf die inhaltliche Bedeutung, die der Antragsteller seinem
Schutzbegehren beimisst, nicht ankommen kann. Macht der Schutzsuchende daher unter
formaler Berufung auf § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in Wirklichkeit ein Schutzersuchen vor
Verfolgung geltend, liegt ein Antrag im Sinne von Art. 2 Buchst. c) Dublin II - VO vor und
findet § 27a AsylVfG Anwendung.
Ist der Antragsteller über einen sicheren Drittstaat eingereist, schützt ihn die Berufung auf
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 bis 5 und 7 AufenthG allerdings nicht vor der
Rückführung in diesen Staat, sofern dieser identifiziert werden kann. 154 Die
Ausländerbehörde geht in einem derartigen Fall nach § 19 Abs. 3 AsylVfG vor.
g)
Ausschluss des Eilrechtsschutzes
Nach § 34a Abs. 2 AsylVfG wird im Falle der Abschiebungsanordnung der Eilrechtsschutz
ausgeschlossen. Entsprechend dem Zweck des Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG, das vorläufige
Bleiberecht für Asylsuchende, die aus sicheren Drittstaaten einreisen wollen oder bereits
eingereist sind, möglichst umfassend auszuschließen, dehnt das BVerfG darüber hinaus den
Wortlaut der Norm über ihren allgemein üblichen Sinn hinaus aus: »Aufenthaltsbeendende
Maßnahmen« seien nach dem erkennbaren Sinn und Zweck des Art. 16 a II 3 GG nicht nur
solche Maßnahmen, die einen nach Einreise begründeten Aufenthalt beenden sollten, sondern
auch »einreiseverhindernde« Maßnahmen.155 Daher findet § 34a Abs. 2 AsylVfG auch auf
Einreiseverweigerungen nach § 18 Abs. 2 AsylVfG Anwendung. Der Betroffene wird in
Zurückweisungshaft genommen, wenn die Zurückweisungsentscheidung nicht unmittelbar
vollzogen werden kann (§ 15 Abs. 5 AufenthG).
153
Hailbronner/Thiery, ZAR 1997, 55 (58); Lšper, ZAR 2000, 16 (17); OVG NW, NVwZ 1997, 1141
(1142)
154
BVerfGE 94, 49 (98) = NVwZ 1996, 700 = EZAR 208 Nr. 7
BVerfGE 94, 49 (101) = NVwZ 1996, 700 (706) = EZAR 208 Nr. 7; zustimmend: Maaßen/de Wyl,
ZAR 1996, 158 (164); a. A. Wollenschläger/Schramml, JZ 1994, 61 (65).
155
84
Insbesondere im Blick auf unbegleitete minderjährige Kinder (Art. 6 Dublin II-VO) sowie
auch Familienangehörige (Art. 7 Dublin II-VO) wie auch im Hinblick auf das
Selbsteintrittsrecht aus humanitären Gründen (Art. 15 Dublin II-VO) liegt die Ratio der
Verordnung nahe, einen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, da andernfalls unmittelbare
gemeinschaftsrechtliche Ansprüche gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat nicht
umgesetzt werden können. Darauf weist auch Art. 19 Abs. 3 Dublin II - VO hin, wonach die
Mitgliedstaaten zwar die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen beseitigen können. Eine
darüber hinaus gehende Kompetenz, auch die Eilrechtsschutzverfahren zur Wiederherstellung
der aufschiebenden Wirkung abzuschaffen, kann dieser Norm indes nicht entnommen werden.
3. Asylfolgeantrag nach erneuter Einreise
Jeder nach Abschluss eines Asylverfahrens gestellte Antrag wird als Folgeantrag (§ 71
AsylVfG) behandelt, auch wenn der Antragsteller zwischenzeitlich jahrelang im
Herkunftsstaat gelebt hat.156 Auch ein substanziierter Verfolgungsvortrag führt nicht zur
Anhörungsverpflichtung (§ 73 Abs. 3 Satz 3 AsylVf; s. aber § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG) In
der Verwaltungspraxis wird häufig keine persönliche Anhörung durchgeführt. § 71 Abs. 5
Satz 2 1. Hs. AsylVfG hemmt lediglich die Vollziehung. Ist der Antragsteller nach Abschluss
des Erstverfahrens allerdings abgeschoben worden, ist die Abschiebungsandrohung
verbraucht (umstritten). Das Bundesamt darf in diesem Fall nicht nach § 71 Abs. 5 AsylVfG,
sondern muss nach § 71 Abs. 4 AsylVfG vorgehen.
E.
Sachverhaltsaufklärung
I. Grundrechtsverwirklichung durch Verfahrensschutz
Das Grundrecht auf Asyl bedarf, soll es seine Funktion in der sozialen Wirklichkeit entfalten,
geeigneter Organisationsformen und Verfahrensregelungen sowie einer
grundrechtskonformen Anwendung des Verfahrensrechts, soweit dies für den effektiven
Grundrechtsschutz von Bedeutung ist.157 Die verfassungsrechtliche Asylrechtsnorm sichert
nicht nur materiell das Asylrecht des politisch Verfolgten. Der Bestimmung kommt auch
verfahrensrechtliche Bedeutung zu. Allgemein fordert die verfassungsrechtliche
Gewährleistung der Grundrechte auch im jeweiligen Verfahrensrecht Geltung. Diesem
Grundsatz entsprechend muss auch das Asylgrundrecht dort auf die Verfahrensgestaltung
Einfluss haben, wo es um das grundgesetzlich garantierte Recht des Betroffenen auf Asyl
geht.158
II. Umfang des Untersuchungsgrundsatzes
Die Behörde hat von Amts wegen nach pflichtgemäßem Ermessen jede mögliche Aufklärung
des Sachverhalts bis hin zur Grenze der Unmöglichkeit zu versuchen, sofern dies für die
Entscheidung des Verfahrens von Bedeutung ist.159 Das Bundesamt bestimmt Art und
Umfang der Ermittlungen. Hierbei ist es zwar an das Vorbringen und die Beweisanträge der
Beteiligten nicht gebunden (§ 24 Abs. 1 VwVfG). Wie im allgemeinen
156
BVerfGE 94, 49 (98) = NVwZ 1996, 700 = EZAR 208 Nr. 7.
BVerfGE 56, 216 (236) = EZAR 221 Nr. 4 = NJW 1981, 1436; BVerfGE 65, 76 (94) = EZAR 630 Nr. 4 =
NVwZ 1983, 735 = InfAuslR 1984, 58 .
158
BVerfGE 52, 391 (407) = EZAR 150 Nr. 1 = NJW 1980, 516.
159
BVerwG, DÖV 1983, 647; BVerwG, InfAuslR 1984, 292 = EZAR 610 Nr. 13 = NVwZ 1984, 591; § 24
VwVfG, § 24 AsylVfG, § 86 VwGO
157
85
Verwaltungsverfahrensrecht werden jedoch auch im Asylverfahren Umfang und Reichweite
des Untersuchungsgrundsatzes im konkreten Einzelfall durch den Tatsachenvortrag des
Antragstellers (§ 25 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) bestimmt. Der Umfang der Ermittlungspflichten
wird damit durch die individuellen Mitwirkungspflichten begrenzt.160
Der Prognoseprüfung selbst geht die Sammlung und Sichtung der tatsächlichen
Entscheidungsgrundlagen voraus. Von einer solchermaßen sachgerecht und methodisch
einwandfrei erarbeiteten Prognosebasis kann nur die Rede sein, wenn die
Tatsachenermittlungen einen hinreichenden Grad an Verlässlichkeit aufweisen und dem
Umfang nach zureichend sind.161 Das Bundesamt kann sich im Einzelfall zur Überprüfung der
Angaben des Antragstellers einer Vielzahl von Erkenntnisquellen bedienen. Hierzu gehören
insbesondere auch die nach § 21 AsylVfG weitergeleiteten Unterlagen. Das wichtigste
Erkenntnismittel ist aber der Antragsteller selbst. Dementsprechend hat § 24 Abs. 1 Satz 2
AsylVfG auch die zwingende Anhörung beibehalten. Die Asylbegründung und die Anhörung
bezeichnen den Untersuchungsgegenstand im konkreten Einzelfall. Die Art der Einlassung
und der Eindruck von der Gesamtpersönlichkeit des Antragstellers ermöglichen dem
Bundesamt eine konkrete Überprüfung der von ihm vorgetragenen Tatsachen. Die Erfahrung
des Einzelentscheiders, die Geeignetheit seiner Fragetechnik, sein Wissen aus
Parallelverfahren sowie die verständige Leitung und verfahrensrechtliche Fürsorge für den
Antragsteller sind wichtige Erkenntnismethoden, um die Wahrheit der vorgetragenen
persönlichen Erlebnisse überprüfen zu können.
Gutachten und Auskünfte können hierbei regelmäßig wenig weiterhelfen. Lediglich zur
Aufklärung der allgemeinen rechtlichen und politischen Situation im Herkunftsland des
Antragstellers gewinnen Gutachten und Auskünfte eine erhebliche verfahrensrechtliche
Bedeutung. Bei der Bewertung des Wahrheitsgehaltes der vorgetragenen persönlichen
Erlebnisse kommt es jedoch zuallererst auf die Prüfung der Glaubhaftigkeit der Sachangaben
sowie der persönlichen Glaubwürdigkeit des Antragstellers im Rahmen der freien
Beweiswürdigung an. Deshalb ist es auch geboten, dass der Einzelentscheider mit dem
Sachentscheider identisch ist. Da die Gestaltung des Asylverfahrens heute nahezu
ausschließlich an verwaltungsorganisatorischen Interessen ausgerichtet ist, darüber hinaus die
Einführung der elektronischen Akte es dem die Anhörung durchführenden Einzelentscheider
technisch jederzeit ermöglicht, den Vorgang abzugeben, ist heute in der Verwaltungspraxis
der die Anhörung durchführende Einzelentscheider zumeist nicht mehr mit dem für die
Sachentscheidung verantwortlichen Einzelentscheider identisch.
Reicht der Antragsteller fremdsprachige Anträge, Eingaben, Belege, Urkunden oder sonstige
Schriftstücke ein, soll die Behörde unverzüglich die Vorlage einer Übersetzung verlangen.
Die Behörde kann indes auch von sich aus auf Kosten des Antragstellers eine Übersetzung
anfertigen lassen, wenn dieser seiner Pflicht aus § 23 Abs. 2 Satz 1 VwVfG nicht nachkommt
(§ 23 Abs. 2 Satz 3 VwVfG). Das Bundesamt macht von dieser Kostenregelung jedoch
regelmäßig keinen Gebrauch und lässt von Amts wegen Übersetzungen anfertigen. Diese
Regelung des Gesetzes lässt erkennen, dass Grundlage für die weitere Bearbeitung und
Bescheidung der gestellten Anträge die vom Antragsteller vorgelegte Übersetzung ins
Deutsche zu sein hat.162 Demgemäß verkörpert die vom Antragsteller vorgelegte deutsche
Übersetzung von Antrag und Antragsbegründung auch für das überprüfende Gericht das
160
BVerwG, DVBl. 1963, 145; BVerwG, InfAuslR 1982, 156; BVerwGE 66, 237 = EZAR 630 Nr. 1 =
InfAuslR 1983, 76; s. auch § 25 Abs. 1, 2 AsylVfG:
161
BVerfG (Kammer), InfAuslR 1993, 146 (149); BVerwGE 87, 141 (150) = EZAR 200 Nr. 27 = NVwZ
1991, 384.
162
BVerwG, NVwZ-RR 1991, 109 (110).
86
Sachvorbringen im Verwaltungsverfahren.163 Legt der Antragsteller zur Antragsbegründung
jedoch ein in einer gängigen Fremdsprache gefertigtes Schriftstück vor und ist dessen Text
ohne größere Schwierigkeiten les- und verstehbar, so hat das Bundesamt dieses
Sachvorbringen auch ohne Vorlage einer Übersetzung zu beachten und seiner Entscheidung
zugrunde zu legen.164
III. Persönliche Anhörung des Antragstellers
1. Funktion der Anhörung nach § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG
Nach § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG ist das Bundesamt zur persönlichen Anhörung des
Asylsuchenden verpflichtet, von der nur unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen
abgewichen werden darf bzw. abzusehen ist.165 Diese Verpflichtung gilt für alle Asylanträge,
d. h. sowohl für die nach § 14 Abs. 1 AsylVfG wie auch für die nach § 14 Abs. 2 AsylVfG
gestellten Anträge. Allerdings ist bei Asylfolgeanträgen die Anhörung nicht zwingend
vorgeschrieben (vgl. § 71 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG). Die persönliche Anhörung ist das zentrale
Herzstück des Asylverfahrens. Sie ist heute jedoch aufgrund des institutionalisierten Klimas
des Misstrauens sowie der ausländerrechtlichen Vorprägung der Tatsachenfeststellung zum
„Ort des verdichteten Misstrauens“ entartet. In dem auf die Prüfung individueller
Verfolgungsbehauptungen angelegten Verfahren ist die persönliche Anhörung von
maßgeblicher Bedeutung.166 Das wichtigste Erkenntnismittel ist der Antragsteller selbst. Mit
Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung im
Asylverfahren gesteigerte Bedeutung zu.167 Der Asylsuchende befindet sich typischerweise in
Beweisnot. Er ist als „Zeuge in eigener Sache“ zumeist das einzige Beweismittel. Auf die
Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es damit
entscheidend an.168
Die Art der persönlichen Einlassung des Asylsuchenden, seine Persönlichkeit, insbesondere
seine Glaubwürdigkeit, spielen bei der Würdigung und Prüfung der Tatsache, ob er gute
Gründe zur Gewissheit der Behörde dargetan hat, eine entscheidende Rolle.169 Durch ein
Gespräch zwischen dem Asylsuchenden und dem Anhörer kann am besten sichergestellt
werden, dass der Sachverhalt umfassend aufgeklärt und die Stichhaltigkeit des Asylgesuchs
überprüft und etwaigen Unstimmigkeiten oder Widersprüchen im Sachvorbringen auf der
Stelle nachgegangen wird.170 Zur Statusgewährung kann daher schon allein der
Tatsachenvortrag des Antragstellers führen, sofern seine Behauptungen unter
163
164
BVerwG, NVwZ-RR 1991, 109 (110).
VG Frankfurt/M., NVwZ-Beil. 1994, 63.
165
VG Frankfurt/M., NVwZ-Beil. 1994, 63.
BVerfGE 54, 341 (359) = EZAR 200 Nr. 1 = NJW 1980, 2641; BVerwG, DVBl. 1963, 145;
Hess. VGH, ESVGH 31, 259; OVG Hamburg, InfAuslR 1983, 187.
166
167
BVerwGE 71, 180 (182) = InfAuslR 1985, 244 = BayVBl. 1985, 567; BVerwG, NVwZ 1990, 171 =
InfAuslR 1989, 349.
168
BVerfGE 94, 166 (200 f.) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1976, 678
169
170
BVerwG, DVBl. 1963, 145.
Hess. VGH, ESVGH 31, 259.
87
Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne glaubhaft sind, dass sich die
Behörde von ihrer Wahrheit überzeugen kann.171 Daher ist die persönliche Anhörung
grundsätzlich unverzichtbar.
2. Umfang der Darlegungslast (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylVfG)
a) Persönliche Umstände und Tatsachen
Der Asylsuchende hat schlüssig mit genauen Einzelheiten sowie erschöpfend die
anspruchsbegründenden Tatsachen und Umstände vorzutragen. Da in aller Regel
Beweismittel zur Überprüfung der Angaben nicht vorgelegt werden, muss der
Einzelentscheider sich vom Wahrheitsgehalt der Sachangaben auf andere Weise überzeugen
können. Ein abstrakter, allgemein gehaltener Vortrag vermittelt regelmäßig nicht den
Eindruck, dass der Antragsteller die Vorgänge wirklich erlebt hat. Demgegenüber ist ein
nachvollziehbares, im Blick auf zeitliche, örtliche und sonstige entscheidungserhebliche
Umstände lebensnahes Sachvorbringen geeignet, die erforderliche Überzeugungsgewissheit
zu vermitteln.
b) Allgemeine Verhältnisse im Herkunftsland
Mit Blick auf die allgemeinen Verhältnisse genügt es, um Anlass zu weiteren Ermittlungen zu
geben, wenn der Tatsachenvortrag die nicht entfernt liegende Möglichkeit aufzeigt, dass
Verfolgung droht.172 Gegen diese Differenzierung wird in der Verwaltungspraxis häufig
verstoßen, etwa indem dem Antragsteller vorgehalten wird, er habe zu den Motiven und
Beweggründen der Verfolger oder zu zwischenzeitlich länger dauernden repressionsfreien
Phasen keine plausiblen Erklärungen abgegeben. Derartige Umstände entziehen sich jedoch in
aller Regel dem Einfluss sowie Erfahrungsbereich des Antragstellers. Gegebenenfalls hat
daher das Bundesamt von Amts wegen die Art und Systematik der Repressionsmethoden
sowie weitere erhebliche Umstände aufzuklären.
c) Verhandlungsleitung und verfahrensrechtliche Fürsorgepflicht
Die Behörde hat die Verfahrensherrschaft. Sie hat mögliche Widersprüche, Ungereimtheiten
und sonstige Unklarheiten von Amts wegen aufzuklären. Wesentlich für eine
verfahrensrechtlich einwandfreie Gestaltung der Anhörung im konkreten Einzelfall ist, dass
der Antragsteller in einer seiner Person gemäßen Art und Weise zu Beginn der Anhörung über
das ins Bild gesetzt wird, worauf es für ihn und die Entscheidung über sein Ersuchen
ankommt, und dass der Bedienstete die Anhörung loyal sowie verständnisvoll führt.173 Daraus
ergeben sich besondere Sorgfaltspflichten für die Belehrung des Asylsuchenden, die
Verhandlungsführung sowie für die behördlichen Untersuchungspflichten. Zunächst ist alles
zu vermeiden, was zu Irritationen und in deren Gefolge zu nicht hinreichend zuverlässigem
Vorbringen in der Anhörung beim Bundesamt führen kann. Zwar können aus dem
Sachvorbringen zu den Reisemodalitäten wichtige Erkenntnisse zur Glaubhaftigkeit der
Angaben und der Glaubwürdigkeit insgesamt gezogen werden.174 Jedoch darf die Aufklärung
des Reiseweges nicht im Zentrum der Anhörung stehen. Insbesondere die Art der
behördlichen Aufklärung des Reiseweges und die Dominanz, die dieser Sachkomplex
während der Anhörung einnimmt, führen regelmäßig zu Irritationen und erheblichen
171
BVerwGE 71, 180 (182) = InfAuslR 1985, 244 = BayVBl. 1985, 567.
BVerwG, InfAuslR 1982, 156; BVerwG, DÖV 1983, 207; BVerwG, InfAuslR 1983, 76; 1984, 129;
1989, 350.
173
BVerfGE 94, 166 (204) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678.
174
OVG NW, AuAS 1999, 66; OVG Rh-Pf, AuAS 1999, 67.
172
88
Verunsicherungen bei den Asylsuchenden, die deshalb zu unzulänglichen
unvollständigen Angaben bei der anschließenden Darlegung der Asylgründe führen.
und
Unzulässig ist darüber hinaus, dass der Einzelentscheider in die zusammenhängende
Darlegung der Fluchtgründe dadurch interveniert, dass er Fragen zu völlig anderen
Tatsachenkomplexen stellt und im späteren Verlauf der Anhörung dem Antragsteller
Vorhaltungen macht, er habe bestimmte wesentliche tatsächliche Gesichtspunkte bei der
Darlegung des in Rede stehenden Komplexes nicht angegeben. Eine derartige
Befragungstechnik programmiert strukturell das Offensichtlichkeitsurteil (vgl. § 30
AsylVfG). Die vom BVerfG geforderte loyale und verständnisvolle Führung der Anhörung
setzt demgegenüber voraus, dass dem Asylsuchenden zunächst die notwendige Zeit und Ruhe
gegeben wird, von sich aus zusammenhängend die einzelnen Ereignisse und persönlichen
Erlebnisse darzustellen. Der Vorprüfer hat sich hierbei darauf zu beschränken, durch
verständnisvolle ergänzende Fragen dem Antragsteller zu helfen und ihn zu leiten und
gegebenenfalls im Hinblick auf die Substanziierungspflichten auf mögliche rechtliche
Gesichtspunkte hinzuweisen. Er mag auch den ausufernden Sachvortrag auf die wesentlichen
Tatsachenfragen zurückführen, jedoch stets in einer Weise, die nicht zu Irritationen und
Verunsicherungen führt.
d) Behördliche Verpflichtung zu Vorhalten
Das Bundesamt hat Widersprüchen im persönlichen Sachvortrag ebenso nachzugehen wie es
auf Vollständigkeit des Sachvorbringens hinzuwirken hat.175 Ergeben sich zwischen dem
bisherigen Sachvortrag und dem Vorbringen in der Anhörung oder innerhalb des Sachvortrags
in der persönlichen Anhörung Widersprüche, sind diese an Ort und Stelle durch Vorhalte
aufzuklären.176 Selbstverständlich ist es die Pflicht des Vorprüfers, Vorhalte zu machen und
auf Widersprüche hinzuweisen, nachdem der Antragsteller den Sachverhalt
zusammenhängend dargestellt hat. Derartige Vorhalte dienen ja gerade dazu, einerseits dem
Antragsteller Gelegenheit zu geben, Fehler und Erinnerungslücken zu überprüfen, sowie
andererseits, tragfähige Entscheidungsgrundlagen zu schaffen. Nach den gemachten
Erfahrungen der vergangenen Jahre unterbleiben derartige Vorhalte jedoch sehr häufig
sowohl im Verwaltungs- wie auch im Verwaltungsstreitverfahren. Im schriftlichen Bescheid
werden dem Asylsuchenden sodann angebliche Unstimmigkeiten, Ungenauigkeiten und
Widersprüche in seinem Sachvorbringen entgegengehalten, ohne dass ihm in der Anhörung
die Gelegenheit eingeräumt wurde, auf eine entsprechende gezielte Frage konkret Stellung
nehmen zu können.
Das BVerfG hat ausdrücklich hervorgehoben, dass bei gegebenem Anlass klärende und
verdeutlichende Rückfragen zu stellen sind.177 Unterbleiben derartige Vorhalte, obwohl diese
sich dem Bundesamt hätten aufdrängen müssen, dürfen dadurch entstehende Ungereimtheiten
und Unzulänglichkeiten in der Darstellung des Verfolgungs- und Fluchtgeschehens dem
Antragsteller im Bescheid des Bundesamtes nicht zur Last gelegt werden; es sei denn, es
handelt sich um derart wesentliche Fragen, dass man von einem durchschnittlich intellektuell
veranlagten Asylsuchenden die Ausräumung derartiger Umstände aus eigener Initiative
erwarten kann. Dies dürfte allerdings eher der Ausnahmefall sein. Daher ist die intellektuelle
175
OVG Saarland, InfAuslR 1983, 79.
BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 85 (88); 1991, 94 (95); 1992, 231 (233); s. auch BVerfGE 94, 166
(204) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678; BVerfG (Kammer), InfAuslR 1999, 273 (278); 2000, 254 (258),
alle zur Verpflichtung zu klärenden Rückfragen; s. aber zum gerichtlichen Verfahren OVG Brandenburg, EZAR
631 Nr. 50.
176
177
BVerfGE 94, 166 (204) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678.
89
Unfähigkeit, einen Geschehensablauf im Zusammenhang zu schildern, sowohl bei der
Sachverhaltsermittlung wie bei der Beweiswürdigung angemessen zu berücksichtigen.178
e) Praktische Empfehlungen zur persönlichen Anhörung
Der Rechtsanwalt oder die Rechtsanwältin wird häufig an der persönlichen Anhörung nicht
teilnehmen können, weil der Asylsuchende nach Meldung (§ 22 AsylVfG) im Wege der
Erstverteilung häufig einem anderen Bundesland zugewiesen und dort unmittelbar nach
Antragstellung angehört wird (vgl. § 25 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG). Wenn mit dem Mandanten
die Vertretung während der Anhörung vereinbart worden ist, sollte der Rechtsanwalt auf die
aus § 14 Abs. 4 Satz 1 VwVfG folgende verfahrensrechtliche Verpflichtung des Bundesamtes
hinweisen und dieses auffordern, die Anhörung zeitlich so zu gestalten, dass unter für den
Verfahrensbevollmächtigten zumutbaren Bedingungen dessen Anwesenheit gewährleistet
wird. Nur wenn die Anhörung am Tag der persönlichen Meldung durchgeführt wird, entfällt
die Benachrichtigungspflicht (vgl. § 25 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG). Eine derartige
Verwaltungspraxis ist jedoch nicht üblich und angesichts der weiterhin sinkenden
Antragszahlen auch nicht gerechtfertigt. Der Rechtsanwalt sollte in der Antragsbegründung
darauf hinweisen, dass er an der Anhörung teilnehmen wird und eine entsprechende
Gestaltung erwartet. Notfalls ist mit der Referatsleitung oder der Zentrale des Bundesamtes
Kontakt aufzunehmen, um das Anwesenheitsrecht des Bevollmächtigten zu sichern.
Selbstverständlich muss der Rechtsanwalt gegebenenfalls seine Terminplanung ändern.
Bereits festgesetzte gerichtliche und behördliche Termine hat das Bundesamt indes zu
berücksichtigen.
Da die Anwesenheit des Bevollmächtigten nicht stets gewährleistet ist, muss der Mandant
bereits im Zusammenhang mit der Vorbereitung der schriftlichen Antragsbegründung über
wichtige verfahrensrechtliche Obliegenheiten aufgeklärt werden und ist er erschöpfend und
detailliert auf die persönliche Anhörung vorzubereiten. Auf folgende Gesichtspunkte ist der
Mandant besonders hinzuweisen:
Der Asylsuchende muss zunächst jeweils die Frage des Einzelentscheiders auf sich einwirken
lassen, bevor er sie beantwortet. Ein häufiger Fehler im Asylverfahren besteht darin, dass
mit der Antwort begonnen wird, bevor die Frage überhaupt zu Ende formuliert und
übersetzt worden ist. Dies erschwert die Ermittlungen, kann aber auch zu gravierenden
Widersprüchen führen.
Der Asylsuchende darf eine Frage nicht beantworten, deren Wortlaut oder Wortsinn er nicht
verstanden hat. Gerade die häufig komplizierten Rechtsfragen im Asylrecht lassen den Sinn
der gestellten Fragen für die Asylsuchenden häufig nicht deutlich werden. Es ist deshalb
das gute Recht des Antragstellers, um Wiederholung und gegebenenfalls um Erläuterung
der Frage zu bitten.
Der Asylsuchende muss bei seiner Antwort den mit der Frage angesprochenen wesentlichen
Tatsachenkomplex erschöpfend, konkret, lebensnah und detailreich erläutern. Weniger
wesentliche Randkomplexe kann er kurz abhandeln. Das umgekehrte Verfahren ist nicht
selten, aber unter allen Umständen zu vermeiden. Es drängt sich andernfalls der Eindruck
auf, der Antragsteller weiche sensitiven Fragen aus und trage lediglich eine
„Verfolgungslegende“ vor.
Ganz wesentlich ist, dass der Antragsteller sich vor seiner Antwort selbst Rechenschaft
darüber abgibt, ob er positives Wissen besitzt (eigener Erfahrungsbereich) oder lediglich
178
Vgl. BVerwG, NVwZ 1990, 171.
90
Mutmaßungen über bestimmte Vorgänge und Ereignisse (Verfolgungsmotivationen,
allgemeine Tatsachen) anstellen kann. Kleidet er Mutmaßungen in die Form bestimmter
Tatsachen, wird er selbst bei Offensichtlichkeit des zugrunde liegenden Irrtums für das
weitere Verfahren daran festgehalten, so dass häufig die Antragsablehnung und
Klageabweisung wegen widersprüchlichen Sachvorbringens die Folge ist.
Im Hinblick auf örtliche, zeitliche und andere Tatsachen ist der Antragsteller zu möglichst
präzisen Angaben verpflichtet. Andererseits sind unter allen Umständen entsprechende
Festlegungen zu vermeiden, wenn das Erinnerungsvermögen diese nicht trägt. Zur
Vorbereitung auf die Anhörung darf der Antragsteller für sich die wesentlichen Daten
chronologisch schriftlich ordnen und die Notizen während der Anhörung als
Erinnerungsstütze verwenden. Unzulässig ist das Ablesen von schriftlichen Erklärungen,
nicht indes die Verwendung schriftlicher Notizen während der Anhörung.
Unterbricht der Einzelentscheider die Darlegung eines prozesshaften Ereignisses, so muss der
Antragsteller darauf insistieren, dass er den Hergang im Gesamtzusammenhang darstellen
kann. Notfalls hat er auf Protokollierung seiner Rüge zu bestehen. Er hat nach der
Unterbrechung den Einzelentscheider darauf hinzuweisen dass es sein verfahrensrechtliches
Recht und auch seine Pflicht ist, den Vorgang vollständig zu Ende zu erzählen.
Nach dem Ende der Befragung hat der Antragsteller gewissenhaft zu prüfen, ob alle für ihn
wesentlichen Umstände zur Sprache gekommen sind. Da das Bundesamt die
Verfahrensherrschaft hat, muss er zunächst die vom Vorprüfer gestellten Fragen
beantworten. Je nach der fachlichen Qualifikation des Vorprüfers werden deshalb häufig
wesentliche Tatsachenkomplexe nicht ermittelt. Die Verwaltungsgerichte bürden hierfür in
aller Regel dem Antragsteller die Verantwortung auf. Deshalb ist es von ganz
entscheidender Bedeutung, dass nach Beendigung der Befragung durch das Bundesamt
sowie – nochmals – nach dem Verlesen und der Übersetzung des Protokolls gewissenhaft
geprüft wird, ob alle erheblichen Umstände dargelegt worden sind. Gegebenenfalls ist
schriftliche Ergänzung des Protokolls zu beantragen.
Das Protokoll hält die Angaben des Asylsuchenden fest. Aus der Natur der Sache heraus
werden diese im Bürokratendeutsch zusammengefasst. Im Zweifel hat der Antragsteller
darauf zu bestehen, dass seine Sichtweise und Formulierung wortgetreu festgehalten wird,
weil er seinerseits durch die Gerichte in aller Regel an jeder Äußerung so festgehalten wird,
wie sie schriftlich fixiert worden ist. Gegebenenfalls hat der Antragsteller auf schriftliche
Niederlegung der Weigerung, seine Fassung zu protokollieren, zu bestehen.
Der Rechtsanwalt muss unverzüglich nach Übersendung des Protokolls mit dem Mandanten
die Anhörung besprechen und ebenso unverzüglich schriftlich Korrekturen und
Ergänzungen vortragen.
F.
Materielle Entscheidungsgrundlagen
I. Praktische Bedeutung im Asylverfahren
Die materiellen Entscheidungskriterien haben in der Verwaltungspraxis des Bundesamtes
weniger Bedeutung, als der Umfang der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen
vermuten lässt. Dies mag sich in Zukunft wegen der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben
ändern. Gleichwohl kommt es im Asylverfahren zuallererst auf die Tatsachenfeststellungen
und in diesem Zusammenhang auf die Prüfung der Glaubhaftmachung der vorgebrachten
Tatsachen und Umstände an.
Wohl kaum ein Rechtsgebiet ist in so hohem Maße von der subjektiven Einschätzung des
Rechtsanwenders abhängig wie das Asylrecht. Das Bundesamt ermittelt den Sachverhalt und
würdigt kritisch die Einlassungen des Antragstellers auf Schlüssigkeit, Widerspruchsfreiheit,
Dichte des Tatsachenvortrags sowie Übereinstimmung mit der bekannten Erkenntnislage und
91
prüft erst im Anschluss daran nach Maßgabe der in Rechtsprechung und Lehre
herausgebildeten materiellen Kriterien, ob das Sachvorbringen die erforderliche
Eingriffsintensität aufweist.
Die Prüfung bezieht sich in erster Linie auf das fluchtauslösende Geschehen. Ist das
Sachvorbringen dicht sowie lebensnah und nimmt das Bundesamt dem Asylsuchenden ab,
dass er einem akuten Verfolgungsdruck entkommen ist, führt dies zur Bejahung der Gefahr
einer Verfolgungsgefahr als Anlass für die Flucht. Haben keine entscheidungserheblichen
Veränderungen nach der Flucht stattgefunden, wirkt die Verfolgungsgefahr fort und die
Verfolgungsprognose fällt zugunsten des Antragstellers aus (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL
2004/83/EG). Dem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung kommen daher im
Asylverfahren gesteigerte Bedeutung zu. Zur Bejahung der Verfolgung kann allein schon der
Tatsachenvortrag führen, sofern die Behauptungen des Asylsuchenden unter
Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft“ sind, dass der
Rechtsanwender sich von der Wahrheit überzeugen kann.179
Daher ist die präzise und vollständige Ermittlung der tatsächlichen Grundlagen des
Asylbegehrens die zentrale Aufgabe im Asylverfahren. Anlass zur Auseinandersetzung mit
rechtlichen Fragen besteht nur, wenn es im Einzelfall – auf der Grundlage glaubhaft
gemachter tatsächlicher Entscheidungsgrundlagen – hierzu Anlass gibt. Daher besteht weder
im Asylverfahren noch im sich gegebenenfalls anschließenden Verwaltungsstreitverfahren
Anlass zu rechtlichen Ausführungen, wenn der konkrete Einzelfall dies nicht angezeigt
erscheinen lässt.
II. Gegenstandsbereich des Asylverfahrens
1.
Allgemeines
Nach § 13 Abs. 1 AsylVfG bezieht sich der Asylantrag auf die Asylanerkennung nach Art.
16a GG und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 4 AsylvfG). Aufgrund der
Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) ist die bisherige Rechtsprechung des
BVerwG über die Identität der Voraussetzungen der Asylanerkennung mit denen des
Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (politische Verfolgung)180 überholt.
Maßgebend ist nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 GFK. Für
die Auslegung dieses Begriffs ist nicht die bisherige deutsche Rechtsprechung zum Begriff
der politischen Verfolgung, sondern sind die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der
Qualifikationsrichtlinie maßgebend. Weder § 60 Abs. 1 AufenthG noch die
Qualifikationsrichtlinie verwenden den Begriff der politischen Verfolgung, sondern den
Begriff der Verfolgung nach der GFK.
2.
Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie)
179
BVerwGE 71, 180 (182) = InfAuslR 1985, 244 = BayVBl. 1985, 567; BVerwG, NVwZ 1990, 171 =
InfAuslR 1989, 349.
180
BVerwGE 95, 42 (45) = EZAR 230 Nr. 3 = NVwZ 1994, 497 = InfAuslR 1994, 196; BVerwG, EZAR
231 Nr. 4; BVerwG, EZAR 613 Nr. 25; BVerwG, InfAuslR 1993, 119 (123 f.); a. A. BVerfG (Kammer), NVwZ
1993, 465; BVerwGE 89, 296 (301) = EZAR 232 Nr. 2 = NVwZ 1992, 676 (1. Senat): teilweise Identität; zum
Ganzen: Marx, Handbuch zur Asyl- und Flüchtlingsanerkennung, § 31 Rn 1 ff.
92
Mit Wirkung vom 11. Oktober 2006 (Art. 38 Abs. 1 RL 2004/83/EG) ist im deutschen Recht
die Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) unmittelbar anwendbar. Nach Art. 2
Buchst. a) 2004/83/EG bezeichnet der Ausdruck „internationaler Schutz“ die
Flüchtlingseigenschaft (Art. 13 RL 2004/83/EG) und den subsidiären Schutz (Art. 18 RL
2004/83/EG). Kapitel II der Richtlinie legt für beide Schutzformen zunächst gemeinsame
tatbestandliche Voraussetzungen fest. Für beide Schutzformen ist der Wegfall des nationalen
Schutzes (Art. 6 bis 7 RL) entscheidend, so dass für den Begriff der Folter und
unmenschlichen Behandlung nach Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG keine Staatlichkeit der
Verfolgung mehr vorausgesetzt werden darf und die entgegenstehende Rechtsprechung des
BVerwG zu Art. 3 EMRK181 damit nicht mehr anwendbar ist.
Ebenso ist die deutsche Rechtsprechung zu § 53 AuslG 1990 insoweit überholt, wie die
Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes abgelehnt wird. Denn auch für
den subsidiären Schutz ist nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG der herabgesetzte
Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzuwenden. Der eine Beweiserleichterung vermittelnde Begriff
des bereits erlittenen oder unmittelbar bevorstehenden ernsthaften Schadens in Art. 4 Abs. 4
der Richtlinie findet mithin auch auf den subsidiären Schutz Anwendung. Für beide
Schutzformen sind darüber hinaus die Grundsätze zu den Nachfluchtgründen (Art. 5 RL
2004/83/EG) und zum internen Schutz (Art. 8 RL 2004/83/EG) maßgebend.
Der Gesetzgeber bestimmt in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG, dass für die Feststellung, ob eine
Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10
RL 2004/83/EG ergänzend anzuwenden sind. In § 60 Abs. 11 AufenthG wird bestimmt, dass
für die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG
Art. 4 Abs. 4, 5 Abs. 1 und 2, 6 bis 8 RL 2004/83/EG gelten. Damit verfehlt der Gesetzgeber
seine Aufgabe der Umsetzung und muss die Rechtsanwendung im Zweifel entsprechend dem
Gebot der richtlinienkonformen Auslegung unmittelbar auf die Richtlinie RL 2004/83/EG
zurückgreifen.
Unzutreffend ist zunächst im Blick auf den Flüchtlingsschutz die ausschließliche Fixierung
auf die Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Vielmehr enthält die Richtlinie ein auf
Art. 1 A Nr. 2 GFK beruhendes Konzept, das auf der Verfolgung (Art. 9 RL 2004/83/EG)
dem Wegfall des nationalen Schutzes (Art. 6 bis 8 RL 2004/83/EG) und der Anknüpfung an
Verfolgungsgründe (Art. 10 RL 2004/83/EG) beruht. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfasst die
tatbestandlichen Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes nach Art. 1 A Nr. 2 GFK in Verb.
mit Art. 4 bis 10 RL 2004/83/EG. Die Bezugnahme auf nur einzelne Vorschriften der
Richtlinie, die die positiven tatbestandlichen Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes regeln,
wird der durch die Richtlinie vorgegebenen Konzeption des Flüchtlingsbegriffs nicht gerecht
und ist insbesondere nicht geeignet, den Rechtsanwendern die grundlegenden Änderungen,
welche die Richtlinie gegenüber der bisherigen deutschen Rechtsprechung mit sich bringt,
deutlich zu machen.
Eine lediglich ergänzende Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG ist mit dem
Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts unvereinbar. Vielmehr ist die Richtlinie
gegenüber dem bisherigen deutschen Recht vorrangig. Sollte der Gesetzgeber mit dieser
Formulierung wegen der geschlechtsspezifischen Verfolgung (vgl. einerseits § 60 Abs. 1 Satz
3 AufenthG, andererseits Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 2. Hs. RL 2004/83/EG) den
Vorrang des deutschen Rechts in dieser Frage sicherstellen wollen, hätte es nahe gelegen, Art.
181
BVerwGE 104, 254 = EZAR 231 Nr. 10 = NVwZ 1997, 1131 = InfAuslR 1997, 379; BVerwGE 105,
187 = EZAR 043 Nr. 26 = DÖV 1998, 608; in BVerwG, B. v. 18. 12. 2006 – BVerwG 1 B 53.06, Ziff. 11, deutet
das BVerwG diese Rechtsänderung an.
93
3 RL 2004/83/EG einzubeziehen. Danach können die Mitgliedstaaten günstigere Normen zur
Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erlassen oder beibehalten.
§ 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG setzen den gemeinschaftsrechtlichen subsidiären Schutz
um. Zwar entspricht die Formulierung der Verweisungsnorm in § 60 Abs. 11 AufenthG dem
gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang. Es genügt jedoch nicht, lediglich einige
Normen von Kapitel II der Richtlinie 2004/83/EG in Bezug zu nehmen. Vielmehr finden
grundsätzlich sämtliche in Art. 4 bis 8 RL 2004/83/EG enthaltenen Regelungen Anwendung.
Lediglich Art. 5 Abs. 3 RL 2004/83/EG stellt eine auf den Flüchtlingsschutz bezogene
Ausschlussregelung dar. Durch tatbestandliche Änderungen in § 60 Abs. 2 und 3AufenthG
hat der Gesetzgeber den Wortlaut dieser Vorschriften an Art. 15 Buchst. a) und b) RL
2004/83/EG angepasst. Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG wird in § 60 Abs. 7 Satz 2
AufenthG - freilich sinnentstellt - umgesetzt. Dies erklärt, dass der Gesetzgeber Art. 15 RL
2004/83/EG in der Verweisungsregel nicht bezeichnet.
Die Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG beruhen nicht auf der
Richtlinie 2004/83/EG. Sie sind Normen des nationalen subsidiären Schutzes.182 Aus diesem
Grund werden sie in der Verweisungsnorm des § 60 Abs. 11 AufenthG auch nicht bezeichnet.
Auch bei diesen Abschiebungsverboten handelt es sich um zielstaatsbezogene
Abschiebungshindernisse, für deren Behandlung im Rahmen des Asylverfahrens das
Bundesamt (vgl. § 24 Abs. 2, § 31 Abs.3 AsylVfG), außerhalb des Asylverfahrens die
Ausländerbehörde unter zwingender Beteiligung des Bundesamtes (§ 72 Abs.2 AufenthG)
zuständig ist.
3.
Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs
a)
Verhältnis der Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs zu denen des subsidiären
Schutzstatus
Kapitel III der Richtlinie 2004/83/EG bezeichnet die spezifischen Voraussetzungen für den
Flüchtlingsstatus. Der Flüchtlingsstatus ist gegenüber dem subsidiären Status von
zusätzlichen Voraussetzungen, wie der Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgründen
abhängig. Beim subsidiären Schutz übernimmt der Begriff des ernsthaften Schadens (Art. 15
RL) die Funktion der Verfolgungshandlung (Art. 9 RL), die für den Flüchtlingsstatus
entscheidend ist. Beide Begriffe sind nicht deckungsgleich. Vielmehr ist der Begriff des
ernsthaften Schadens enger als der der Verfolgungshandlung (vgl. Art. 15 einerseits und Art.
9 RL andererseits). Erreicht der Verfolgungseingriff zwar die Schwelle eines ernsthafter
Schadens, fehlt es indes an einem Verfolgungsgrund, wird kein Flüchtlingsstatus, sondern der
ergänzende Schutz gewährt. Liegen die Voraussetzungen von Kapitel II und III der Richtlinie
2004/83/EG vor, wird der Flüchtlingsstatus (Art. 13 RL 2004/83/EG) und die Rechtsstellung
nach Art. 20 – 33 RL 2004/83/EG gewährt. Liegen demgegenüber die Voraussetzungen nach
Kapitel II und V der Richtlinie 2004/83/EG vor, wird subsidiärer Schutz (Art. 18 RL
2004/83/EG) und die Rechtsstellung nach Art. 20 bis 33 der Richtlinie 2004/83/EG gewährt.
b)
Funktion des Flüchtlingsbegriffs
Die Gesetzesüberschrift „Verbot der Abschiebung“ zu 60 AufenthG wie auch die
systematische Stellung der Norm im AufenthG erschwert eine reibungslose Umsetzung der
Richtlinie. In der deutschen Rechtsprechung wurde bislang dogmatisch klar zwischen dem
182
S. hierzu BVerwGE 111, 223 = NVwZ 2000, 1303 = InfAuslR 2000, 461; BVerwGE 122, 271 = EZAR
51 Nr. 2; ausführlich zu diesem Begriff Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, Kapitel 13 § 41 und § 42.
94
positiv besetzten „Asylschutz“ nach der Verfassung einerseits sowie dem lediglich negatorisch
wirkenden relativen „Abschiebungsschutz“ nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 andererseits
unterschieden. Dass mit diesem Abschiebungsschutz der Flüchtlingsschutz nach der GFK
innerstaatlich umgesetzt wurde, blieb diesem Denken verschlossen, ja, die Konvention wurde
in keinem Asylbescheid und keinem Gerichtsurteil erwähnt, sondern lediglich die
ausländerrechtliche Norm. Selbst das BVerfG verwendet in Abgrenzung zum „absoluten
Asylschutz“ der Verfassung im Blick auf § 51 Abs. 1 AuslG 1990 den Begriff der „relativen
Abschiebungshindernisse.“183
Die Konvention wirkt seiner Ansicht nach damit lediglich relativ, verpflichtet die
Bundesrepublik nur zur Statusgewährung, wenn die Abschiebung in andere Staaten nicht
möglich ist. Durch die Qualifikationsrichtlinie wird jedoch die Funktion und Bedeutung von §
60 Abs. 1 AufenthG gegenüber der Vorläufernorm des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 grundlegend
umgestaltet. Während etwa § 60 Abs. 1 AufenthG lediglich „Schutz vor Abschiebung“ in den
Herkunftsstaat verspricht und die Abschiebung in Drittstaaten damit ausdrücklich nicht
ausschließt (vgl. § 34 AsylVfG, § 60 Abs. 10 Satz 2 AufenthG), verspricht die Richtlinie
Flüchtlingen im positiven Sinne „internationalen Schutz“, also den in Art. 2 bis 34 der GFK
bereit gehaltenen Schutz (vgl. Art 20 bis 33 RL 2004/83/EG), und hat die Feststellung, dass
die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen, zwingend die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft (Art. 13 RL 2004/83/EG) sowie die Gewährung eines Aufenthaltstitels
von mindestens drei Jahren (Art. 24 Abs. 1 RL 2004/83/EG) zur Folge. Die Prüfung etwaiger
Abschiebungsmöglichkeiten in Drittstaaten ist den Mitgliedstaaten untersagt. Mit der
Neustrukturierung von § 3 AsylVfG und der Hervorhebung der „Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft“ in § 3 Abs. 4 AsylVfG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2007
trägt der Gesetzgeber nunmehr dieser Rechtslage Rechnung.
c)
Prüfstruktur des Flüchtlingsbegriffs
aa)
Verfolgungshandlung + Wegfall des nationalen Schutzes + Verfolgungsgründe
§ 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist so auszulegen und anzuwenden, dass die Vorschrift den
vollen Wortlaut des Flüchtlingsbegriffs in Art. 1 A Nr. 2 GFK184 unter Berücksichtigung von
Kapitel II und III der Richtlinie 2004/83/EG umfasst. Deshalb ist bei der Auslegung und
Anwendung von § 60 Abs. 1 AufenthG ein vollständig anderes konzeptionelles und
dogmatisches System zu beachten, was auch für die Tatsachenfeststellung in der
Verwaltungspraxis und in der Rechtsprechung weit reichende Bedeutung hat. Inwieweit
daneben dem Begriff der „politischen Verfolgung“ nach § 1 Abs. 1 1. Hs AsylVfG noch eine
eigenständige Bedeutung zukommen kann, ist derzeit eine offene Frage. Wegen der nahezu
vollständigen rechtlichen Gleichstellung der Rechtsstellung des Flüchtlings mit der des
Asylberechtigten durch das ZuwG dürfte indes dem Begriff der politischen Verfolgung in der
Zukunft für die Rechtsanwendung kaum noch eine signifikante Funktion zukommen.
Entsprechend der Staatenpraxis zur GFK und dem Zweck der GFK steht am Ausgangspunkt
der Prüfung die Verfolgungshandlung (Art. 9 RL 2004/83/EG). Alle für die Entscheidung
wesentlichen Tatsachen und Umstände sind aufzuklären (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL
2004/83/EG). Art. 2 Buchst. b) RL 2004/83/EG verweist für die Auslegung und Anwendung
der Richtlinie auf die GFK und das New Yorker Protokoll und bezeichnet in Art. 2 Buchst. c)
RL 2004/83/EG den in Art. 1 A Nr. 2 GFK enthaltenen Flüchtlingsbegriff. Für die
nachfolgenden Bestimmungen der Art. 4 bis 14 RL 2004/83/EG ist daher der
183
BVerfGE 94, 49 (97) = EZAR 208 Nr. 7 = NVwZ 1996, 700
BVerwG, U. v. 8. 2. 2005 – BVerwG 1 C 29.03, unter Bezugnahme auf BVerwGE 89, 296 (301) =
EZAR 232 Nr. 2 = NVwZ 1992, 676 = InfAuslR 1992, 205 = D 51.
184
95
Flüchtlingsbegriff der GFK zugrunde zu legen. Entsprechend der insbesondere in der
angelsächsischen Staatenpraxis entwickelten Dogmatik, die bei der Prüfung der
Flüchtlingseigenschaft nach der „Verfolgungshandlung“ den „Wegfall des nationalen
Schutzes“ und im Anschluss daran den Kausalzusammenhang mit den Verfolgungsgründen
behandelt, ist nach der Richtlinie im Anschluss an die Verfolgungshandlung der in Art. 6 bis
8 geregelte Wegfall des nationalen Schutzes und anschließend der kausale Zusammenhang
mit den Verfolgungsgründen (Art. 10 RL 2004/83/EG) zu prüfen.
Verfolgung im Sinne der GFK ist die dauerhafte oder systematische Verletzung grundlegender
Menschenrechte als beweiskräftiges Indiz für einen Wegfall des nationalen Schutzes.185 Die
GFK will den Wegfall des nationalen Schutzes gegen Verfolgungen durch die Gewährleistung
des internationalen Schutzes ausgleichen. Die teleologische, entstehungsgeschichtliche und
begriffliche Auslegung von Art. 1 A Nr. 2 GFK legt daher nahe, zwischen der Verfolgung
(Art. 9 RL 2004/83/EG) und dem Wegfall des nationalen Schutzes (Art. 6 bis 7 RL
2004/83/EG) zu unterscheiden. Liegt keine Verfolgung vor, kommt es erst gar nicht zur
Prüfung des Wegfalls des nationalen Schutzes. Die Existenz staatlicher oder diesen
vergleichbarer Schutzstrukturen wird erst bei der Prüfung des Wegfalls des nationalen
Schutzes relevant, darf deshalb nicht bereits bei der Prüfung der Verfolgungshandlung in die
Prüfung einbezogen werden. Das bedeutet, dass die Prüfung der Verfolgungshandlung sich
ausschließlich auf die in Art. 9 RL 2004/83/EG bezeichneten Verfolgungselemente
konzentriert und deshalb auf der ersten Prüfungsstufe der Verfolgungsakteur ohne Bedeutung
ist. Erst auf der zweiten Prüfungsstufe kommt der Verfolgungsakteur (Art. 6 und 7 RL
2004/83/EG) in den Blick und sind die entsprechenden Darlegungslasten und
Ermittlungspflichten zu beachten.
Schließlich wird bei der dritten Prüfungsphase der Kausalzusammenhang zwischen der
Verfolgungshandlung (Art. 9 RL 2004/83/EG) und den Verfolgungsgründen (Art. 10 RL
2004/83/EG) ermittelt. Zwar besteht zwischen der Verfolgungshandlung und den
Verfolgungsgründen ein Kausalzusammenhang (Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG). Zunächst
sind jedoch die jeweiligen spezifischen Voraussetzungen beider Begriffselemente
festzustellen. Dabei darf bei der Ermittlung der Verfolgungshandlung die Prüfung nicht nach
Maßgabe der Verfolgungsgründe erfolgen. Dies verdeutlicht etwa der weitaus umfassendere
Diskriminierungsansatz der Regelbeispiele in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG
gegenüber den fünf enumerativen Verfolgungsgründen nach Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG.
Umgekehrt darf bei der Feststellung des Verfolgungsgrundes nicht die Verfolgungshandlung
in die Prüfung einbezogen werden. Dies hat insbesondere Auswirkungen auf den
Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Vielmehr ist nach
der Ermittlung beider Begriffselemente zu prüfen, ob ein spezifischer Kausalzusammenhang
festgestellt werden kann (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG).
bb)
Abweichungen der Flüchtlingseigenschaft vom Begriff der “politischen Verfolgung“
Erstaunlicherweise verwendet das BVerwG bei der Auslegung und Anwendung des § 60 Abs.
1 Satz 1 AufenthG unverändert den Begriff der „politischen Verfolgung“, 186 obwohl es
einräumt, dass § 60 Abs. 1 Satz 1AufenthG den Flüchtlingsbegriff in Art. 1 A Nr. 2 GFK im
vollen Umfang in das nationale Recht überführt. Wie aus den vorstehenden Ausführungen
185
186
House of Lords, IJRL 2001, 174 (180, 188) – Horvath.
BVerwGE 122, 376 (381) = NVwZ 2005, 1328 = InfAuslR 2005, 339; BVerwG, NVwZ 2005, 1328.
96
deutlich geworden ist, ist diese Ansicht nicht zutreffend. Dem Flüchtlingsbegriff ist der
Begriff der politischen Verfolgung fremd. Dementsprechend stellen die durch die
Qualifikationsrichtlinie eingeführten materiellen Entscheidungskriterien die bisher in über
dreißig Jahren für gewiss erachteten Grundannahmen der deutschen Rechtsprechung zum
Begriff der Verfolgung grundlegend in Frage. Auch der Richtlinie 2004/83/EG ist der Begriff
der politischen Verfolgung fremd. Daher können etwa bei der Begriffsbestimmung der
nichtstaatlichen Verfolgungsakteure (Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG) nicht Spurenelemente
der deutschen Rechtsprechung fruchtbar gemacht werden und kann dieser Typus nicht
einschränkend nach Maßgabe einer überlegenen Hoheitsgewalt inhaltlich bestimmt werden.
In der deutschen Rechtsprechung wird deshalb zunächst erhebliche Unsicherheit
vorherrschen. Es wäre jedoch verfehlt, den bisherigen durch die Rechtsprechung des BVerwG
geprägten deutschen Sonderweg beizubehalten und eine spezifisch deutsche Interpretation der
Richtlinie zu versuchen. Der im Blick auf die tatbestandlichen Voraussetzungen des
Asylschutzes und des Flüchtlingsschutzes (§ 51 Abs. 1 AuslG 1990) entwickelten
Identitätslehre ist bereits durch den Gesetzgeber mit § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG und
insbesondere durch die konzeptionellen Elemente in Kap. II – IV der Richtlinie 2004/83/EG
der Boden entzogen worden. Der Konflikt mit dem Gemeinschaftsrecht wäre absehbar, wollte
die Rechtsprechung an alten Gewissheiten festhalten. Gegebenenfalls wird der EuGH den
Auslegungsstreit und die Frage der Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht zu
entscheiden haben.
Im Nachfolgenden sollen die Unterschiede zwischen den konzeptionellen Elementen des
Flüchtlingsbegriffs der Richtlinie und denen deutlich gemacht werden, die den Begriff der
politischen Verfolgung prägen. Grundlegend wird die Funktion der neuartigen
konzeptionellen Herangehensweise beim Verfolgungsbegriff nach Art. 9 RL 2004/83/EG, bei
dem nicht bereits eine auf den Verfolgungsakteur eingeschränkte Verengung zulässig ist. Dies
ergibt sich – wie ausgeführt - aus dem Zweck, der Entstehungsgeschichte und dem Begriff des
völkerrechtlichen Flüchtlings sowie der hierauf beruhenden international maßgebenden
Anwendungspraxis, die durch die Unterscheidung zwischen der Verfolgungshandlung (Art. 9
RL 2004/83/EG) und den Voraussetzungen für den Wegfall des nationalen Schutzes (Art. 6 bis
8 RL 2004/83/EG) lediglich nachgezeichnet wird.
Die Richtlinie kann insbesondere nicht nach Maßgabe des Begriffs der übergreifenden Friedensordnung
ausgelegt werden, der für alle konzeptionellen Elemente des Begriffs der politischen
Verfolgung einschneidende Verengungen vorgibt und insgesamt dazu geführt hat, dass eine
methodisch klare Trennung den einzelnen konzeptionellen Elementen des politischen
Verfolgungsbegriffs zumeist nicht vorgenommen wird. Nach der deutschen Rechtsprechung
stellen Staaten in sich befriedete Einheiten dar, die nach innen alle Gegensätze, Konflikte und
Auseinandersetzungen durch eine übergreifende Ordnung in der Weise relativieren, dass
diese unterhalb der Schwelle der Gewaltsamkeit verbleiben und die Existenzmöglichkeiten
des Einzelnen nicht in Frage stellen, insgesamt also die Friedensordnung nicht aufheben.
Daher hebt die Ratio der verfassungsrechtlichen Gewährleistung ganz auf die Gefahren ab,
die aus einem bestimmt gearteten Einsatz verfolgender Staatsgewalt erwachsen.187
Demgemäß ist eine Verfolgung dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung
an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsgutverletzungen zufügt, die ihm in ihrer Intensität
aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen.188
187
BVerfGE 80, 315 (334) = EZAR 201 Nr. 20 = InfAuslR 1990, 21 = NVwZ 1990, 151 = C 9 unter
Bezugnahme auf BVerfGE 9, 174 (180) =JZ 1959, 284 = NJW 1959, 763 = C 1.
188
BVerfGE 80, 315 (334 f.) = EZAR 201 Nr. 20 = InfAuslR 1990, 21 = NVwZ 1990, 151 = C 9.
97
Die Figur der übergreifenden Friedensordnung verengt danach nicht nur Verfolgungen auf
staatliche Verfolgungen, vielmehr wird auch der Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung
und Verfolgungsgrund sowie auch das Maß des erforderlichen Eingriffs, also der
ausgrenzende Charakter der Verfolgung, durch den Begriff der übergreifenden
Friedensordnung vorgeprägt. Damit wird die inhaltliche Begriffsbestimmung der
Verfolgungsgründe nach der Rechtsprechung durch einen Ansatz geprägt, der bei der
Konkretisierung des Verfolgungsbegriffs erheblich wird, nämlich der Charakter der
ausgrenzenden Verfolgung. Die Verfolgungshandlung ihrerseits wird bereits auf der
begrifflichen Ebene mit den Verfolgungsgründen unauflösbar miteinander verknüpft und
nicht erst nach ihrer begrifflichen Bestimmung (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG).
Wesentliche Elemente des Begriffs der politischen Verfolgung, wie sie in der deutschen
Rechtsprechung entwickelt worden sind, bleiben zwar weiterhin relevant. Sie müssen jedoch
jeweils aus ihrem bisherigen Kontext, der durch den Begriff der übergreifenden
Friedensordnung geprägt wird, herausgelöst und in einem anderen konzeptionellen
Zusammenhang neu überdacht und gegebenenfalls angepasst werden. Maßgebend sind
zunächst die konzeptionellen Schlüsselelemente von Kap. II – IV der Richtlinie 2004/83/EG.
Inwieweit in diese die bisherigen Grundsätze der deutschen Rechtsprechung integriert werden
können, bedarf jeweils fall- und sachbezogen der Überprüfung und Neubestimmung.
III.
Begriff des Flüchtlings nach Art. 2 Buchst. c) RL 2004783/EG
(Qualifikationsrichtlinie)
1. Begriff der Verfolgungshandlung (Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie)
a) Vorbemerkung
Die Richtlinie verfolgt mit ihrer begrifflichen Festlegung des Begriffs der
Verfolgungshandlung einen ehrgeizigen Ansatz.189 Demgegenüber wollten die Verfasser der
Konvention den Begriff der Verfolgung bewusst nicht definieren.190 UNHCR sieht in diesem
entwicklungsgeschichtlichen Aspekt der Konvention einen starken Hinweis darauf, dass die
Verfasser der Konvention auf der Grundlage der Erfahrungen aus der Vergangenheit mit dem
Begriff der Verfolgung möglichst alle zukünftigen Arten von Verfolgungen erfassen
wollten.191 Jeder Definitionsversuch des Verfolgungsbegriffs muss deshalb dessen prinzipielle
Offenheit bedenken und darf sich nicht als abschließende Konzeption verstehen. Vielmehr
geht es darum, für die in der Praxis üblichen Verfolgungen wesentliche
Interpretationsmaximen zur Verfügung zu stellen. Deshalb stößt der Definitionsversuch der
Verfolgungshandlung in Art. 9 RL 2004/83/EG auf Bedenken. Er wird jedoch durch die
Interpretationsvorgaben in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG relativiert.
b) Begriff der Verfolgungshandlung (Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie)
Nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG gelten als Verfolgung im Sinne von Art. 1 A Nr. 2 GFK
Handlungen,
„die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der
grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere die Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs 2 EMRK keine
Abweichung zulässig ist (Buchstabe a), oder in einer Kumulierung, einschließlich einer Verletzung der
189
S. hierzu ausführlich Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung. Erläuterungen zur Richtlinie
2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie), Kap. 2, § 3 bis § 9.
190
Paul Weis, The concept of the refugee in international law, in: Du droit international 1960, S. 928, 970;
Atle Grahl-Madsen, The Status of Refugees in International Law, Band 1, 1966, S. 193.
191
UNHCR, Auslegung von Artikel 1 des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge,
April 2001, S. 5:
98
Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a
beschriebenen Weise betroffen ist (Buchstabe b).“
Die Richtlinie 2004/83/EG versucht den Verfolgungsbegriff für die Rechtsanwendung in den
Mitgliedstaaten möglichst eng zu fassen. Dies verdeutlicht der Hinweis auf
„schwerwiegende“ und grundlegende Menschenrechtsverletzungen und den „notstandsfesten
Kern“ nach Art. 15 Abs. 2 EMRK, zu dem insbesondere das Folterverbot gehört.
Demgegenüber weist UNHCR auf die Bestätigung des im Handbuch entwickelten Ansatzes
durch die Rechtsprechung in den Vertragsstaaten hin, wonach unter Verfolgung
„Menschenrechtsverletzungen oder andere schwere Nachteile“ zu verstehen sind. Art. 9
Abs. 1 RL 2004/83/EG gibt eine Interpretationsmaxime vor. Was im konkreten Einzelfall
„schwerwiegend“ ist, ergibt sich insbesondere auch aus den in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG
bezeichneten Interpretationsvorgaben und bedarf einer wertenden, alle vorgebrachten und
sonst wie ersichtlichen Umstände und Tatsachen einschließenden Gesamtbetrachtung. Der
Hinweis auf den notstandsfesten Kern hat keine begrenzende Funktion, sondern will
sicherstellen, dass Verletzungen des Folterverbotes und vergleichbare schwerwiegende
Menschenrechtsverletzungen durch die Mitgliedstaaten auf jeden Fall berücksichtigt werden.
Das Erfordernis, dass die Handlungen „aufgrund ihrer Art oder Wiederholung“
schwerwiegend sein müssen, verdeutlicht, dass auch eine einmalige Verfolgungshandlung
ausreichen kann, wenn sich daraus ergibt, dass der weitere Aufenthalt im Herkunftsland für
den Antragsteller unzumutbar war. Einerseits kann eine Wiederholung schwerwiegender
Handlungen, andererseits eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen Anlass zur Flucht
geben. Zielt der Wiederholungsbegriff auf gleichartige Handlungen, werden mit dem
Kumulationsansatz unterschiedliche Handlungen angesprochen. Diese können gleichzeitig
angewendet worden sein, können aber auch über einen längeren Zeitraum vorgeherrscht
haben. Darüber hinaus müssen die unterschiedlichen Handlungen in ihrer Gesamtwirkung das
Gewicht und die Schwere einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung aufweisen.
Deshalb können auch Handlungen den Begriff der Verfolgung erfüllen, die nicht
„schwerwiegend“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG sind, aber im
Zusammenhang mit anderen, ähnlichen Handlungen insgesamt als „schwerwiegende“
Menschenrechtsverletzung erscheinen. Andernfalls hätte es des Kumulationsansatzes nicht
bedurft, sondern hätte die Richtlinie 2004/83/EG es beim Begriff der schwerwiegenden
Menschenrechtsverletzung im Sinne von Buchstabe a) belassen können.
Damit ist die Rechtsprechung des BVerwG überholt, in der Verfolgungshandlungen, die nicht
schwerwiegend sind, auch in ihrer Kumulation von vornherein unberücksichtigt bleiben.192
Demgegenüber wird die Häufung derartiger Maßnahmen im internationalen Diskurs als
Verfolgung im Sinne der Konvention angesehen.193 Diese im Handbuch des UNHCR (Nr. 53)
aus dem Schrifttum übernommene Position ist von der internationalen Staatenpraxis
überwiegend bekräftigt worden, wird in der Rechtsprechung des BVerwG indes entschieden
abgelehnt.194
Die Verfolgungshandlung muss im Zeitpunkt der Entscheidung andauern. Nicht eine in der
Vergangenheit abgeschlossene Verfolgungshandlung, sondern alle im Entscheidungszeitpunkt
erheblichen und die Annahme einer Verfolgungshandlung rechtfertigenden Tatsachen (vgl.
Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) der RL 2004/83/EG) begründen die Flüchtlingseigenschaft. Derartige
192
193
194
BVerwG, InfAuslR 1983, 257; BVerwGE 82, 171 (173) = EZAR 200 Nr. 25 = NVwZ 1990, 276:
Weis, Du droit international 1960, S. 928, 970.
BVerwG, InfAuslR 1983, 257; BVerwGE 82, 171 (173).
99
Tatsachen können auch nach dem Zeitpunkt der Einreise eingetreten sein und begründen für
den Fall ihrer Entscheidungserheblichkeit unter dem rechtlichen Gesichtspunkt eines
Nachfluchtgrundes (vgl. Art. 5 RL 2004/83/EG) die Flüchtlingseigenschaft.
Die die Verfolgungshandlung begründenden Umstände und Tatsachen werden nach Maßgabe
eines individuellen Ansatzes festgestellt (Art. 4 Abs. 3 der RL 2004/83/EG). Deshalb sind die
individuelle Position und die persönlichen Umstände des Antragstellers einschließlich seines
Hintergrunds, Geschlechts und Alters zu berücksichtigen, um beurteilen zu können, ob auf
Grundlage der persönlichen Umstände des Antragstellers die Maßnahmen, die ihm zugefügt
wurden oder werden, eine Verfolgungshandlung ausmachen (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL
2004/83/EG). Ebenso wie dem Asylrecht195 liegt damit dem Begriff der Verfolgungshandlung
nach Art. 9 RL 2004/83/EG ein Individualansatz zugrunde. Nicht individuell ist die
Beeinträchtigung, wenn der Antragsteller beispielsweise Nachteile geltend macht, die ihm
allein aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Heimatstaat drohen, wie Hunger,
Naturkatastrophen, aber auch allgemeine Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und
Kriegen.196
c) Funktion der in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichneten Beispielsfälle
Aus Art. 9 Abs. 2 Satz 1 RL 2004/83/EG folgt der nicht abschließende Charakter der
nachfolgenden Beispiele für Verfolgungshandlungen. Zugleich weist Art. 9 Abs. 3 RL
2004/83/EG darauf hin, dass der in Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG in Bezug genommene
Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 A Nr. 2 GFK erfordert, dass eine Verknüpfung zwischen den
Verfolgungsgründen der GFK und dem in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG vorgenommenen
Begriff der Verfolgung hergestellt werden muss. Die in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG
bezeichneten Beispiele haben danach eine zweifache Funktion: Sie erleichtern den
Mitgliedstaaten einerseits die Feststellung einer „schwerwiegenden Verletzung grundlegender
Menschenrechte“ oder die Feststellung, ob kumulative Maßnahmen in ihrer Gesamtwirkung
vorliegen. Andererseits erleichtern sie die Feststellung, ob den ermittelten
Verfolgungshandlungen Verfolgungsgründe zugrunde liegen.
Die in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichneten sechs Beispiele zeichnen sich bis auf die in
Buchstabe a) bezeichnete „sexuelle Gewalt“ durch ihren neutralen Charakter aus. Vorrangig
besteht die Funktion der in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG genannten Beispiele darin, bei der
Feststellung der Verfolgungsgründe wichtige Hinweise zu geben. Die deutsche
Rechtsprechung hat versucht, eine Lösung dieser Fragen über die Lehre von der
Verfolgungstendenz197 zu erreichen. Beide Lösungsversuche sind nicht überzeugend, weil sie
zu dogmatischer Verwirrung und damit zu Schutzlücken führen können. Bei der Ermittlung
der erforderlichen Schwere der Verfolgungshandlung geht es um die objektiven
Auswirkungen bestimmter Handlungen auf den Einzelnen. Die in Art. 9 Abs. 2 RL
2004/83/EG genannten Beispielsfälle können sowohl die Flüchtlingseigenschaft begründen
wie auch als allgemein zulässige Maßnahmen verstanden werden. Ob eine an sich neutrale
Maßnahme eine schutzbedürftige Situation hervorruft, ist vorrangig im Rahmen der
Verfolgungsgründe zu prüfen. Allerdings verwendet auch der EGMR bei der Abgrenzung
195
BVerfGE 80, 315 (335) = EZAR 201 Nr. 20 = InfAuslR 1990, 21 = NVwZ 1990, 151;
BVerwG, DÖV 1979, 296; BVerwG, InfAuslR 1986, 82.
196
BVerfGE 80, 315 (335) = EZAR 201 Nr. 20 = InfAuslR 1990, 21 = NVwZ 1990, 151.
197
BVerwGE 62, 123 (125) = EZAR 200 Nr. 6 = InfAuslR 1981, 218; BVerwGE 81, 42 (42) = EZAR 201
Nr. 17 = InfAuslR 1989, 169 = NVwZ 1989, 774.
100
zwischen unmenschlichen und hinzunehmenden Maßnahmen einen Relativitätstest, der auch
den diskriminierenden Charakter bestimmter, an sich neutraler Maßnahmen (z. B.
Haftbedingungen, Erziehungs- und Vernehmungsmethoden) mit einbezieht.198
Insoweit ist der Ansatz von Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG richtig, bereits bei der Feststellung,
ob bestimmte Maßnahmen als Verfolgungshandlung zu bewerten sind, auf deren
diskriminierenden oder unverhältnismäßigen Charakter abzustellen. Kann dieser nicht
festgestellt werden, kann eine Maßnahme nicht als schwerwiegende Verletzung
grundlegender Menschenrechte bewertet werden und fehlt ihr deshalb der Verfolgungscharakter. Ist eine Maßnahme oder ein Bündel von unterschiedlichen Maßnahmen in
seiner Gesamtwirkung indes wegen des diskriminierenden oder unverhältnismäßigen
Charakters als Verfolgung anzusehen, so kann die Maßnahme bzw. das Maßnahmenbündel
zunächst als unmenschliche oder erniedrigende Maßnahme nach Art. 15 Buchst. b) der RL
bewertet werden und kommen beide darüber hinausgehend als Basis für die Anknüpfung von
Verfolgungsgründen in Betracht. In diesem Fall muss mehr hinzukommen als der in Art. 9
Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichnete diskriminierende Charakter, nämlich eine Verbindung mit
einem oder mehreren der Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG.
Der in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG mehrfach bezeichnete Begriff der „Diskriminierung“ ist
nicht an den enumerativen Charakter der Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG
gebunden. Vielmehr können alle Umstände und Tatsachen berücksichtigt werden, die den
Schluss rechtfertigen, dass die gegen den Antragsteller angewendeten Maßnahmen auf
diskriminierenden Gründen beruhen. Alle Diskriminierungsgründe können insoweit in
Betracht kommen, nicht nur die in Art. 10 RL 2004/83/EG genannten. Denn in diesem
Zusammenhang liefert die Verletzung des Diskriminierungsverbotes wichtige Hinweise, ob
eine an sich neutrale Maßnahme als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG
gewertet werden kann. Es wäre methodisch fehlerhaft, bei dieser der Feststellung der
Verfolgungsgründe vorgelagerten Prüfung des Verfolgungsbegriffs den Prüfungsrahmen auf
die in Art. 10 RL 2004/83/EG bezeichneten Diskriminierungsverbote zu begrenzen. Steht die
Verletzung des Diskriminierungsverbotes fest und ergibt die Gesamtbetrachtung der
Tatsachen und Umstände, dass eine Verfolgungshandlung vorliegt, folgt die Prüfung der
weiteren Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs, nämlich der Wegfall des nationalen
Schutzes sowie das Vorliegen eines oder mehrerer der Verfolgungsgründe. Aus der
Unverhältnismäßigkeit einer Maßnahme (vgl. Art. 9 Abs. 2 Buchst. b)–c) RL 2004/83/EG
ergeben sich wichtige Aufschlüsse über deren diskriminierenden schwerwiegenden Charakter.
2. Wegfall des nationalen Schutzes (Art. 7 und 8 RL 2004/83/EG)
a) Vorbemerkung
198
Vv. UK, HRLJ 1999, 459 (468); Kalashnikov v. Russia, HRLJ 2002, 378 (384); s. auch Soering, HRLJ
1990, 335 (362).
101
Nach Prüfung der Verfolgungshandlung folgt die Prüfung, ob gegen die Verfolgung im
Herkunftsland Schutz gewährt wird. Art. 6 bis 8 RL 2004/83/EG bezeichnen die
Voraussetzungen, unter denen von einem Wegfall des nationalen Schutzes auszugehen ist.199
§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG verweist auf Art. 7 und 8, nicht jedoch auf Art. 6 RL
2004/83/EG. Da § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG bereits eine Art. 6 RL 2004/83/EG
vergleichbare Regelung enthält, erschien dem Gesetzgeber der Verweis auf Art. 6 RL
2004/83/EG wohl überflüssig. Der Zusammenhang zwischen Art. 6 und 7 RL 2004/83/EG
wird mit der Formulierung „und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche
Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht“ in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG
hergestellt. Art. 7 RL 2004/83/EG ist so zu verstehen ist, dass dann, wenn keiner der in Art. 7
RL 2004/83/EG genannten Schutzakteure besteht, erst recht der nationale Schutz weggefallen
ist. Der nationale Schutz ist deshalb weggefallen, wenn kein Schutz von einem der in Art. 7
Abs. 1 RL 2004/83/EG bezeichneten Schutzakteure geboten wird oder wenn im
Herkunftsland keine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Bucht.
c) AufenthG)
Art. 6 bis 7Art. 7 und 8 RL 2004/83/EG sind Ausdruck des auf der Subsidiarität des
Flüchtlingsschutzes aufbauenden Prinzips, das in der GFK in vielfacher Weise seinen
Niederschlag findet. Danach ist nur schutzbedürftig, wer von einer auf Verfolgungsgründen
beruhenden Verfolgungshandlung bedroht ist, vor der im Gebiet des Herkunftsstaates kein
Schutz gewährt wird. Dementsprechend bezeichnet Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG die
Akteure, die als Schutzgaranten in Betracht kommen, und Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG die
Voraussetzungen, die an den Umfang und die Effektivität des nationalen Schutzes zu stellen
sind. Art. 8 RL 2004/83/EG beschreibt das Sonderproblem des internen Schutzes, das in der
Praxis der Vertragsstaaten und auch der Bundesrepublik bislang als „inländische
Fluchtalternative“ behandelt wurde. Regelmäßig darf dieser Einwand nur bei Verfolgungen
durch nichtstaatliche Akteure geltend gemacht werden.
Der Einwand des internen Schutzes ist nicht anders als der Einwand der nationalen
Schutzgewährung nach Art. 7 Abs. 1 und 2 RL 2004/83/EG Ausdruck der Subsidiarität des
Flüchtlingsschutzes. Sind die für die nationale Schutzgewährung maßgebenden
Voraussetzungen entfallen, begründet die auf Verfolgungsgründen beruhende
Verfolgungshandlung die Flüchtlingseigenschaft. Ob der nationale Schutz entfallen ist, wird
im Rahmen der in die Zukunft gerichteten Entscheidung über den Asylantrag relevant (vgl.
Art. 4 Art. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG).
Die durch Art. 7 und 8 RL 2004/83/EG bezeichnete Dogmatik beseitigt das im deutschen
Diskurs in den letzten zwei Jahrzehnten so heftig umstrittene Problem der „Staatlichkeit der
Verfolgung“. Die das deutsche Asyl vorrangig beherrschende Frage der Staatlichkeit der
Verfolgung200 wird in der Richtlinie wie auch in der Staatenpraxis der Vertragsstaaten der
GFK nicht in der ausschließenden Weise wie in der deutschen Rechtsprechung behandelt. Die
Dogmatik der Richtlinie ist eine andere: Zunächst sind die Voraussetzungen der Verfolgung
nach Art. 9 RL 2004/83/EG zu prüfen. Ob die Verfolgung vom Staat oder von Privaten
ausgeht, ist bei dieser Prüfungsstufe ohne Bedeutung. Anschließend wird geprüft, ob der
Antragsteller in seinem Herkunftsstaat Schutz vor der Verfolgung erlangen konnte. Erst in
199
S. hierzu ausführlich Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung. Erläuterungen zur Richtlinie
2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie), Kap. 3, § 10 bis § 14.
200
BVerfGE 9, 174 (180) = NJW 1959, 763 = JZ 1959, 284; BVerfGE 54, 341 (356 f.) = EZAR 200 Nr. 1
= NJW 1980, 2641; BVerfGE 76, 143 (157 f., 169) = EZAR 200 Nr. 20 = NVwZ 1988, 237 = InfAuslR 1988,
87; BVerfGE 80, 315 (334) = EZAR 201 Nr. 20 = InfAuslR 1990, 21 = NVwZ 1990, 151; BVerwGE 74, 160
(163 f.) = EZAR 202 Nr. 8:
102
diesem Zusammenhang, also bei der Frage des Wegfalls des nationalen Schutzes, gewinnt die
Frage der Verfolgungsakteure Bedeutung.
Art. 6 RL 2004/83/EG bezeichnet drei unterschiedliche Gruppen von Verfolgungsakteuren.
Die Unterscheidung wird wegen der unterschiedlichen Darlegungslasten vorgenommen.
Während bei Verfolgungen durch den Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat
oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, hinsichtlich der
Schutzbeantragung keine besonderen Darlegungslasten festgelegt werden, muss der
Antragsteller bei Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure darlegen, dass der Staat oder
diesem vergleichbare Parteien oder Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder
willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.
b)
Verfolgungsakteure (Art. 6 RL 2004/83/EG)
aa)
Allgemeines
Art. 6 der RL 2004/83/EG bezeichnet drei verschiedene Gruppen von Verfolgungsakteuren,
nämlich den Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil
des Staatsgebiets beherrschen (de facto-Autoritäten), und nichtstaatliche Verfolgungsakteure.
Der Schwerpunkt der Richtlinie liegt entsprechend ihrem internationalen Ansatz indes auf den
in Art. 7 Abs. 1 bezeichneten Schutzakteuren. Da es auf den Wegfall des nationalen Schutzes
ankommt, richtet sich der Fokus auf die Schutzakteure, nämlich den Staat oder Parteien oder
Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen
wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen. Anders als in der bisherigen deutschen
Rechtsprechung ist der Urheber der Verfolgung von sekundärer Bedeutung. Das primäre
Erkenntnisinteresse zielt auf die Voraussetzungen, unter denen von einem Wegfall des
nationalen Schutzes ausgegangen werden kann.
Nach Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG sind unter den dort bezeichneten Voraussetzungen
auch Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure erheblich. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c)
AufenthG wiederholt den Wortlaut von Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG und erweitert diesen
zusätzlich um den klarstellenden Hinweis, dass eine Verfolgungshandlung durch
nichtstaatliche Akteure unabhängig davon vorliegen kann, ob im Herkunftsland des
Antragstellers eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Diese Klarstellung
entspricht der Logik des Art. 6 RL 2004/83/EG, der lediglich die Verfolgungsakteure
bezeichnet und die Frage der nationalen Schutzgewährung den Regelungen in Art. 7 RL
2004/83/EG überlässt.
Damit löst die Richtlinie das im deutschen Diskurs in den letzten zwei Jahrzehnten so heftig
umstrittene Problem der „Staatlichkeit der Verfolgung“. In der Richtlinie wie auch in der
Staatenpraxis der Vertragsstaaten der GFK wird die das deutsche Asylrecht vorrangig
beherrschende Frage der Staatlichkeit der Verfolgung nicht in der ausschließenden Weise
wie in der deutschen Rechtsprechung behandelt. Verfolgungen können neben anderen
Akteuren auch vom Staat ausgehen (Art. 6 Buchst. a) RL 2004/83/EG). Ob aufgrund dessen
eine internationale Schutzbedürftigkeit anzunehmen ist, ist abhängig davon, ob gegen diese
Verfolgung im Zeitpunkt der Entscheidung (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL) Schutz durch die in
Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie genannten Schutzakteure nach Maßgabe der in Art. 7 Abs. 2 RL
201
201
BVerfGE 9, 174 (180) = NJW 1959, 763 = JZ 1959, 284; BVerfGE 54, 341 (356 f.) = EZAR 200 Nr. 1 =
NJW 1980, 2641; BVerfGE 76, 143 (157 f., 169) = EZAR 200 Nr. 20 = NVwZ 1988, 237 = InfAuslR
1988, 87; BVerfGE 80, 315 (334) = EZAR 201 Nr. 20 = InfAuslR 1990, 21 = NVwZ 1990, 151;
BVerwGE 74, 160 (163 f.) = EZAR 202 Nr. 8.
103
2004/83/EG bezeichneten Kriterien gewährt werden wird.
Eine besondere Behandlung des Staates als Verfolgungsakteur ist nicht angezeigt.
Demgegenüber ist bei der Anwendung und Auslegung der Richtlinie seine Funktion als
Schutzakteur von besonderer Bedeutung, da hier auch die Schutzfähigkeit und –willigkeit
gegen nichtstaatliche Verfolgungen entscheidende Bedeutung gewinnt. Bezüglich der de
facto-Autoritäten gelten im Grundsatz dieselben Kriterien. Eine besondere staatstheoretische
Begriffsbestimmung der de facto-Autoritäten ist entbehrlich. Im Zweifel sind sie als
nichtstaatliche Akteure zu behandeln, die dann aber auch nicht als Schutzakteure in Betracht
kommen. Entsprechend der im deutschen Diskurs heftig umstrittenen Frage liegt der
Schwerpunkt der nachfolgenden Erläuterungen auf den nichtstaatlichen Akteuren (Art. 6
Buchst. c) RL 2004/83/EG).
bb)
Nichtstaatliche Akteure (Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst.
c) AufenthG)
Art. 6 RL 2004/83/EG unterscheidet zwischen dem Staat und diesem vergleichbare
Organisationen einerseits und nichtstaatlichen Akteuren andererseits. Es ist unzulässig, im
Blick auf nichtstaatliche Verfolgungsakteure bestimmte einschränkende qualifizierende
Voraussetzungen aufzustellen, insbesondere nichtstaatliche Verfolgungsakteure nur dann in
Betracht zu ziehen, wenn diese als Träger überlegener Macht angesehen werden können.
Derart einschränkende Voraussetzungen sind im Blick auf Parteien oder Organisationen, die
den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, in ihrer Funktion als
Schutzakteure zu fordern. Die Rolle der Verfolgungsakteure nach Art. 6 RL 2004/83/EG ist
hingegen nicht mit dem Moment einer irgendwie der hoheitlichen vergleichbaren Macht
verbunden.
Es ist für die Anwendung und Auslegung der Konvention unerheblich, von wem die
Verfolgung ausgeht. Maßgeblich ist allein, dass eine Maßnahme Verfolgungscharakter
aufweist und hiergegen kein nationaler Schutz verfügbar ist, weil die in Art. 7 Abs. 1 RL
2004/83/EG bezeichneten Schutzakteure nicht willens oder fähig zur Schutzgewährung sind.
Auch eine einzelne Privatperson kann deshalb Verfolgungsakteur sein. Es muss sich nicht um
Personengruppen handeln, die dem Staat oder Parteien bzw. Organisationen vergleichbar
sind.202 Vielmehr erfassen Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG und mit ihm § 60 Abs. 1 Satz 4
Buchst. c) AufenthG bereits nach ihrem Wortlaut alle nichtstaatlichen Akteure ohne weitere
Einschränkungen, namentlich also auch Einzelpersonen, sofern von ihnen Verfolgungen
ausgehen.203
Ein Unterscheidung in unterschiedliche Verfolgungsakteure ist lediglich deshalb
erforderliche, weil Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG und § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c)
AufenthG den vor Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure fliehenden Antragsteller
höhere Darlegungslasten im Blick auf die Glaubhaftmachung der Voraussetzung aufbürdet.
Anders als im Blick auf staatliche oder diesen vergleichbare Verfolgungsakteure (Art. 6
Buchst. a) und b) RL 2004/83/EG) muss er bei behaupteter Verfolgung durch nichtstaatliche
Verfolgungsakteure (Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG) darlegen, dass er sich im
Herkunftsstaat in zumutbarer Weise um die Erlangung nationalen Schutzes bemüht hat.
So aber OVG SH, U. v. 27. 1. 2006 – 1 LB 22/05; VG Regensburg, U. v. 24. 2. 2005 – RN 3 K
04.30585; VG Sigmaringen, U. v. 5. 4. 2005 – A 3 K 12411/03.
203
BVerwG, InfAuslR 2007, 33 (36) = NVwZ 2006, 1420 = AuAS 2006, 246.
202
104
Es erschien dem deutschen Gesetzgeber angesichts der vom BVerwG entwickelten
Zumutbarkeitslehre erforderlich klarzustellen, dass Verfolgungen durch nichtstaatliche
Akteure auch dann erheblich sind, wenn im Herkunftsland des Antragstellers keine staatliche
Herrschaftsmacht vorhanden ist (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG). Nach dem
Willen des deutschen Gesetzgebers darf deshalb bei der Auslegung und Anwendung der
Richtlinie nicht der Begriff der übergreifenden Friedensordnung angewendet werden.
Vielmehr ist allein entscheidend, ob die Voraussetzungen nach Art. 6 Buchst. c) RL
2004/83/EG (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) 1. Hs. AufenthG) erfüllt sind und von den in Art. 7
Abs. 1 (Art. 6 Buchst. a) und b) RL 2004/83/EG bezeichneten Schutzakteuren kein Schutz
nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG erlangt werden kann. Liegen diese
Voraussetzungen vor, ist dem Asylantrag stattzugeben, sofern auch die weiteren Voraussetzungen der Qualifikationsrichtlinie vorliegen.
Der Gesetzgeber hat mithin diese sich aus der Differenzierung zwischen Verfolgungsakteuren
und Schutzakteuren ergebende Rechtslage dadurch hervorgehoben, dass er in § 60 Abs. 1 Satz
2 Buchst. c) AufenthG ausdrücklich auf die Situation zerfallender Herrschaftsstrukturen
hinweist. Für die Vorläufernorm des § 60 Abs. 1 AufenthG, nämlich § 51 Abs. 1 AuslG 1990,
hatte das BVerwG demgegenüber ausdrücklich festgestellt, der den Flüchtlingsschutz
manifestierende Abschiebungsschutz nach dieser Norm setze nicht anders wie der
Asylanspruch voraus, dass die dem Asylsuchenden drohende Verfolgung aus der staatlichen
Gebietshoheit erwachse.204 Daher könne § 51 Abs. 1 AuslG 1990 vor einer
Bürgerkriegssituation, die dadurch gekennzeichnet sei, dass keine der kämpfenden Parteien
die effektive Gebietsgewalt innehabe, in der aber etwa an ethnische Merkmale des
Asylsuchenden anknüpfende Übergriffe des Militärs zu befürchten seien, keinen
Abschiebungsschutz gewährleisten. Denn das Merkmal »politisch« kennzeichne die
Verfolgung als Verhalten einer organisierten Herrschaftsgewalt, vorrangig eines Staates,
welcher der Betroffene unterworfen sei. Dies gelte für § 51 Abs. 1 AuslG 1990 ebenso wie für
den Asylanspruch.205
Diese Rechtsprechung ist durch Art. 6 und 7 (Art. 6 Buchst. a) und b) RL 2004/83/EG
überholt. Spurenelemente dieser Rechtsprechung können auch nicht dadurch konserviert
werden, dass den nichtstaatlichen Akteuren entgegen dem der Richtlinie zugrunde liegenden
Ansatz ein rudimentäres Fundament überlegener Macht unterschoben wird und damit
nichtstaatliche Akteure, die keine überlegene Macht ausüben, aus der Betrachtung
herausfallen.206 Vielmehr bezeichnet der Begriff der nichtstaatlichen Verfolgungsakteure eine
weite Brandbreite unterschiedlicher Akteure, die von Warlords und Kriegskommandanten, die
keine überlegene Gebietsgewalt erlangt haben, über Kommandanten einer marodierenden
Soldateska, die Soldateska selbst, Dorfälteste, Mafiabosse, die Geschlechtsverstümmelung
durchführende Hebammen, bis hin zu gewalttätigen Ehemännern und Lebenspartnern reicht.
cc)
Prüfungsstufen bei Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure
Die Dogmatik der Richtlinie 2004/83/EG beruht auf der Schutzlehre. Mit dieser ist die
bisherige Rechtsprechung des BVerwG unvereinbar: Zunächst sind die Voraussetzungen der
Verfolgung nach Art. 9 RL 2004/83/EG zu prüfen. Ob die Verfolgung vom Staat oder von
Privaten ausgeht, ist auf dieser Prüfungsstufe ohne Bedeutung. Anschließend wird geprüft, ob
204
BVerwGE 95, 42 (44) = NVwZ 1994, 497 = EZAR 230 Nr. 3 = AuAS 1994, 140 = InfAuslR 1994,
196; bekräftigt BVerwG, NVwZ 1994, 1112 = InfAuslR 1994, 329 = EZAR 043 Nr. 3.
205
BVerwGE 95, 42 (45) = EZAR 230 Nr. 3 = InfAuslR 1994, 196 = NVwZ 1994, 497; BVerwG, NVwZ
1994, 1112.
206
BVerwG, InfAuslR 2007, 33 (36) = NVwZ 2006, 1420 = AuAS 2006, 246.
105
der Antragsteller in seinem Herkunftsstaat Schutz vor der festgestellten Verfolgungshandlung
erlangen konnte. Erst in diesem Zusammenhang, also bei der Frage des Wegfalls des
nationalen Schutzes, gewinnt die Frage der Verfolgungsakteure Bedeutung. Denn nach Art. 6
Buchst. c) RL 2004/83/EG treffen den vor Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure
fliehenden Antragsteller höhere Darlegungslasten bei der Glaubhaftmachung der
Voraussetzung; dass er sich im Herkunftsstaat in zumutbarer Weise um die Erlangung
nationalen Schutzes bemüht hat.
Die Richtlinie RL 2004/83/EG nennt in Art. 6 drei Gruppen von Verfolgungsakteuren und in
Art. 7 Abs. 1 zwei Gruppen von Schutzakteuren. Bei einer sachgerechten Auslegung der
Richtlinie ergibt sich, dass es für den Wegfall des nationalen Schutzes allein auf die
Schutzakteure nach Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG ankommt. Sind infolge zerbrochener
Staatsstrukturen die dort bezeichneten Schutzakteure nicht vorhanden oder ist im
Zerfallsprozess staatlicher Macht ihre Schutzfähigkeit eingeschränkt oder aufgehoben, kann
kein nationaler Schutz im Herkunftsland erlangt werden und es entsteht die internationale
Schutzbedürftigkeit. Es bedarf danach einer zusammenfassenden Betrachtung von Art. 6 und
7 RL 2004/83/EG und eines „erst-recht-Schlusses“:
Zunächst sind die Verfolgungsakteure nach Art. 6 RL 2004/83/EG zu identifizieren. Geht die
Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG aus
und sind keine der in Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG bezeichneten Schutzakteure vorhanden,
muss von einem Wegfall des nationalen Schutzes ausgegangen werden. Wenn bereits beim
Vorhandensein von Schutzakteuren der nationale Schutz entfallen kann, muss dies erst recht
gelten, wenn überhaupt keine Schutzakteure mehr bestehen. Denn nach dem Völkerrecht und
dem die Richtlinie 2004/83/EG prägenden Konzept des nationalen Schutzes ist allein
entscheidend, ob vor Verfolgungen durch wen auch immer im Herkunftsland nationaler
Schutz gewährt wird. Ist dies nicht der Fall, entsteht die internationale Schutzbedürftigkeit
(vgl. Art. 4 bis 12 RL 2004/83/EG), welche die Flüchtlingseigenschaft begründet (vgl. Art. 13
RL 2004/83/EG).
Demgegenüber war nach der vom BVerwG entwickelten Zurechnungslehre insbesondere
auch in Situationen, in denen kein nationaler Schutz verfügbar ist, danach zu fragen, ob
Verfolgungen durch wen auch immer dem Staat zugerechnet werden können. Sind die
staatlichen Strukturen etwa aufgrund bewaffneter Konflikte zusammengebrochen, können
Verfolgungen dem Staat nicht zugerechnet werden, weil er zwar noch formal als
völkerrechtliches fiktives Konstrukt bestehen mag, aber tatsächlich nicht mehr besteht. Diese
Rechtsprechung darf nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers bei der Auslegung und
Anwendung von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG wegen gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben
nicht mehr angewendet werden. Der unverändert für die Asylanerkennung maßgebende
Begriff der übergreifenden Friedensordnung, auf dem die Zurechnungslehre beruht, ist bei der
Auslegung und Anwendung von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ohne Relevanz.
dd)
Schutzversagen
Ebenso liegt der Fall beim staatlichen Schutzversagen. Geht die Verfolgung von
nichtstaatlichen Akteuren aus, und sind die Schutzakteure nicht in der Lage, nationalen
Schutz vor diesen zu gewähren, wird gegen die Verfolgung kein nationaler Schutz gewährt
und entsteht die internationale Schutzbedürftigkeit. Demgegenüber versagte das BVerwG in
derartigen Fällen den Flüchtlingsschutz, weil seiner Meinung nach bei Schutzunvermögen
nach deliktsrechtlichen Grundsätzen eine Zurechnung nicht möglich war. Während das
BVerwG für den Flüchtlingsschutz damit eine an deliktsrechtliche Grundsätze des
106
Völkerrechts orientierte Zurechnungslehre anwendete, beruht die GFK und das in Art. 6 bis 8
RL 2004/83/EG nachgezeichnete Konzept der internationalen Schutzbedürftigkeit auf der
Schutzlehre. Der Unterschied zwischen beiden Lehren wird am Beispiel des staatlichen
Unvermögens zur Schutzgewährung deutlich, das nach Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG und
§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG nicht zum Ausschluss des internationalen Schutzes,
für die Zurechnungslehre allerdings die Schutzversagung zur Folge hat. Das Unvermögen zur
Schutzgewährung kann auf fehlenden Ressourcen des bestehenden Staates, es kann aber auch
darauf beruhen, dass überhaupt keine zentralen Schutzstrukturen mehr bestehen.
Dies hat einerseits zur Folge, dass die staatliche Unfähigkeit, vor genereller Gewalt oder nicht
individualisierbaren Rechtsgutgefährdungen zu schützen, den Flüchtlingsstatus nicht
begründet, wohl aber den subsidiären Schutzstatus in Anwendung von Art. 15 Buchst. c) RL
2004/83/EG begründen kann (Rdn…). Andererseits sind von den Vertragsstaaten bei der
Anwendung der GFK solche Personen als Flüchtlinge anzusehen, die vor Akten schwerer
Diskriminierung oder anderen gegen bestimmte Gruppen gerichteten Handlungen geflohen
sind, wenn diese mit Wissen der Behörden verübt wurden oder wenn die Behörden sich
weigern – oder sich als außerstande erweisen – den Betroffenen wirksamen Schutz zu
gewähren.207
Dem Begriff Verfolgung ist der staatliche Charakter nicht immanent.208 Vielmehr hatte der
BGH bereits in den 1960er Jahren entschieden, dass auch das Staatsversagen aus beliebigem
Grund dem Begriff der Verfolgung nach der Konvention zuzuordnen ist.209 Damit können
auch diejenigen Verfolgten Flüchtlinge sein, deren Herkunftsstaat zwar als völkerrechtliches
Subjekt noch besteht, jedoch etwa mangels staatlicher Strukturen handlungsunfähig geworden
ist. Denn durch die Auflösung der staatlichen Strukturen eines Landes geht dessen
Völkerrechtsfähigkeit noch nicht unter, sodass seine Staatsangehörigen sich nach wie vor im
internationalen Rechtsverkehr an dieser Eigenschaft festhalten lassen müssen, ohne jedoch
den innerstaatlichen Schutz des Landes in Anspruch nehmen zu können.210
Das gleiche gilt für Bürgerkriegssituationen, bei denen fraglich ist, wer unter welchen
Voraussetzungen als Regierung angesehen werden kann oder ob überhaupt noch eine
Regierung besteht. Auf diese durchaus paradoxe Situation ist die besondere Formulierung in
Art. 1 A (2) GFK gemünzt, die lediglich auf die Unmöglichkeit abstellt, den Schutz des
eigenen Landes erlangen zu können, um die Verfolgung abzuwenden oder zu beenden.211
Zwar wird Schutz »gewöhnlich« durch die Regierung gewährt 212 und muss der Umstand, der
dazu führt, dass der außerhalb des Staatesgebietes lebende Staatsangehörige von seinem
Heimatstaat keinen Schutz erhält, auf einer Verfolgung beruhen, die den Verfolgten daran
hindert, in das Land seiner Staatsangehörigkeit zurückzukehren. Schutzlosigkeit im
flüchtlingsrechtlichen Sinne kann mithin nicht unabhängig von Verfolgung und diese
wiederum nicht unabhängig vom Auslandsaufenthalt des Verfolgten entstehen.213 Die
militärische Besetzung des Landes der Staatsangehörigkeit durch ausländische Truppen
beispielsweise begründet andererseits nur eine vorläufige Herrschaft über die besetzten
Gebiete. Das besetzte Gebiet bleibt Staatsgebiet des militärisch unterworfenen Staates. Träger
der Staatsgewalt bleibt etwa eine bestehende Exilregierung. Nach dem Völkerrecht gilt sie
207
UNHCR, Handbuch, Rdn. 65.
Schüler, »Verfolgung« und »Schutz« im Sinne der Genfer Konvention, in: RzW 1965, 396.
209
BGH, RzW 1968, 571.
210
VG Frankfurt a. M., NVwZ-RR 1994, 358 = NVwZ-Beil. 1994, 22, unter Hinweis auf BGH, RzW
1964, 76.
211
VG Frankfurt a. M., NVwZ-RR 1994, 358.
212
BGH, RzW 1965, 238.
213
BGH, RzW 1966, 367.
208
107
weiterhin als Regierung der staatlichen Gemeinschaft, obgleich sie im besetzten Gebiet
keinerlei Gewalt mehr ausüben kann.214
Im Flüchtlingsvölkerrecht verfehlt daher der Einwand, dass kein Staat einen perfekten,
lückenlosen Schutz sicherstellen könne,215 den Kern des Schutzgedankens. Im Blick auf die
allgemeine Kriminalität ist dieser am objektiven Maßstab des due diligence orientierte
Einwand sicherlich berechtigt. Die Verfolgungsgründe der GFK beruhen jedoch auf dem seit
1945 hervorgebrachten, in zahlreichen Konventionen verankerten und inzwischen zur
allgemeinen Regel erstarkten Diskriminierungsverbot. Weil den privaten Verfolgungen ein
zielgerichteter andauernder Vernichtungswille aus Gründen der Rasse, Religion, ethnischen
Zugehörigkeit, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen der
abweichenden politischen Überzeugung zugrundeliegt, unterscheiden sich Verfolgungen aus
Gründen der Konvention wesentlich von Bedrohungen aufgrund der allgemeinen
Kriminalität.
ee)
Maßgeblichkeit der Schutzlehre
Die in Art. 6 und 7 RL 2004/83/EG vorgegebene Konzeption des Wegfalls des nationalen
Schutzes beruht wie auch die GFK auf der Schutzlehre. Während die Zurechnungslehre an
das klassische Völkerrecht anknüpft, das allein auf die Staaten und internationale
Organisationen als Völkerrechtssubjekte konzentriert ist, trägt die Schutzlehre dem
allgemeinen Menschenrechtsschutz Rechnung. Seit 1945 bilden sich menschenrechtliche
Verpflichtungen (vgl. Art. 1 Nr. 3 UN-Charta) heraus, welche die traditionellen Strukturen
des Völkerrechts nachhaltig umgewandelt haben. Danach sind zwar aus formaler Sicht
weiterhin lediglich Staaten und internationale Organisationen Völkerrechtssubjekte. Jedoch
gewinnt das durch menschenrechtliche Verpflichtungen gebundene völkerrechtliche Handeln
der Staaten bedeutend stärkeres Gewicht. Der Schutz des Einzelnen und nicht unreflektierte,
von den Interessen der Individuen losgelöste abstrakte staatliche Interessen ist damit viel
stärker als vor 1945 zum Gegenstand des Völkerrechts geworden.
Nach der eher am traditionellen Völkerrecht orientierten Zurechnungslehre haben die Staaten
dafür zu sorgen, dass ihre innerstaatliche Rechtsordnung so ausgestaltet ist und effektiv
umgesetzt werden kann, dass sie unter normalen Umständen in der Lage sind, ihren
völkerrechtlichen Präventions- und Repressionspflichten gegenüber Handlungen Privater mit
der nach den Umständen angemessenen Sorgfalt zu entsprechen. Danach ist ein Mangel an
due diligence anzunehmen, wenn die staatliche Organisation nicht einem internationalen
objektiven Standard entspricht, der prinzipiell die Erfüllung entsprechender staatlicher
Verpflichtungen garantieren kann.216 Der objektive Maßstab des due diligence ist
insbesondere im völkerrechtlichen Fremdenrecht entwickelt worden. Werden diese
Grundsätze auf das Flüchtlingsvölkerrecht übertragen, könnte bei genereller
Schutzunfähigkeit des Staates, dem anhand des Maßstabes des due diligence kein Vorwurf
gemacht werden kann, keine vom Völkerrecht anerkannte Verfolgungssituation entstehen. Die
ganz überwiegende Staatenpraxis wie auch Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG und § 60 Abs. 1
Satz 4 Buchst. c) AufenthG, die bei genereller Schutzunfähigkeit grundsätzlich eine
internationale Schutzbedürftigkeit anerkennen, wären damit nicht in Übereinstimmung mit
allgemeinem Völkerrecht.
Das allgemeine Völkerrecht wird vom Grundsatz der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit der
214
BGH, RzW 1966, 367, zur deutschen Besetzung Polens.
BVerwG, EZAR 202 Nr. 24; Rdn. 100.
216
Epiney, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten für rechtswidriges Verhalten im
Zusammenhang mit Aktionen Privater, 1992, S. 223, 227, 234; s. hierzu auch Mössner, GYIL 1981, 63 (73 ff.).
215
108
Staaten beherrscht. Die Zurechnungslehre beruht auf dem völkerrechtlichen Deliktsrecht.
Dieses entwickelte sich im 19. Jahrhundert im völkerrechtlichen Fremdenrecht. Wenn dem
Aufenthaltsstaat ein Mangel an »due diligence« in Ansehung des gebotenen Schutzes der
durch Privathandlungen verletzten Person vorgeworfen werden konnte, war er dem Staat zur
Wiedergutmachung verpflichtet, dem der Verletzte angehört. Die Zurechnungslehre findet
ihre Grenze im Einwand des due diligence. Der Staat, der anhand eines objektiven Standards
die nach den Umständen angemessene Sorgfalt hat walten lassen, kann nach allgemeinem
Völkerrecht für Übergriffe Privater nicht verantwortlich gemacht werden. Geprüft wird, ob
der Staat administrative und strukturelle Vorkehrungen zum Schutze der seiner Obhut
unterstehenden Personen getroffen hat. Entlasten kann sich der Staat, wenn er die Erfüllung
entsprechender staatlicher Verpflichtungen prinzipiell garantieren kann.217 Generelles
Unvermögen begründet nach der ausschließlich am allgemeinem Völkerrecht ausgerichteten
Zurechnungslehre damit keine staatliche Verantwortlichkeit.
Weil die Zurechnungslehre mit ihrem ausschließlich am allgemeinem Völkerrecht
ausgerichteten Inhalt dem Einzelnen bei konkretem Schutzversagen des Staates schutzlos
lässt, wird in der völkerrechtlichen Literatur von den Vertretern des Schutzansatzes
(»protection view«) auf die Entwicklung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes seit
Verabschiedung der GFK verwiesen und gegen die an den Staat anknüpfende
Zurechnungsdoktrin (»accountability standard«) unter Bezugnahme auf Art. 31 Abs. 1 WVK
eingewendet, vorrangiges Ziel und Zweck der GFK sei die Lösung des Flüchtlingsproblems
im Geiste der Menschenrechte. Daher könne der Flüchtling nicht auf den Schutz des
Heimatstaates verwiesen werden, wenn dieser schutzunfähig oder keine Regierung mehr
vorhanden sei und Verfolgung durch private Verfolger drohten.218 Die Frage der
Urheberschaft der Verfolgung nach den völkerrechtlichen Grundsätzen der
Staatenverantwortlichkeit stelle sich deshalb im Flüchtlingsvölkerrecht nicht. Während die
Unfähigkeit des Staates zur Gebietsherrschaft zu einem Wegfall der völkerrechtlichen
Verantwortlichkeit führe, setze weder das Flüchtlingsrecht noch allgemeines Völkerrecht die
Existenz effektiver und funktionsfähiger Regierungsstrukturen voraus, um den
Flüchtlingsstatus zu gewähren.219
Die Schutzlehre tritt danach im Flüchtlingsvölkerrecht an die Stelle der Zurechnungslehre und
stellt allein auf die individuelle Schutzlosigkeit einer Person ab, die aus Gründen der
Konvention verfolgt wird. Die generelle Schutzunfähigkeit des Staates, welche die Grenze der
Zurechnungslehre aufzeigt, ist deshalb für die Schutzlehre unerheblich. Zweck der
Zurechnungslehre ist die Begründung von völkerrechtlichen Repressalien, wenn der
verursachende Staat nach deliktsrechtlichen Grundsätzen für die Schutzversagung gegenüber
Privaten verantwortlich gemacht werden kann. Zweck des Flüchtlingsschutzes ist die
präventive Gewährleistung internationalen Schutzes zugunsten des Einzelnen durch die
Gemeinschaft der Vertragsstaaten der GFK, wenn der Herkunftsstaat aus welchen Gründen
auch immer nicht zur Sicherstellung des nationalen Schutzes in der Lage ist.
Die individuelle Schutzbedürftigkeit stellte sich im klassischen Völkerrecht nicht, weil die
durch private Übergriffe in ihren Rechten verletzten Fremden jederzeit den Schutz des
Herkunftsstaates in Anspruch nehmen konnten. Es fehlte daher an der Notwendigkeit, eine
Schutzlehre zu entwickeln. Vielmehr zielt die Zurechnungslehre vorrangig auf nachträgliche
217
Epiney, a.a.0, S. 223, 227, 234; s. hierzu auch Manfred Mössner, GYIL Bd. 24 (1981), S. 63 (73 ff.); so
auch der Ansatz in BVerwGE 67, 317 (320 f.) = EZAR 202 Nr. 1; BVerwGE 70, 232 (236 f.) = NVwZ 1985,
281 = DVBl. 1985, 572 = InfAuslR 1985, 48.
218
Vermeulen/Spijkerboer Zwaan/Fernhout, Persecution by Third Parties, 1998, S. 14 f.
219
Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, 2. Aufl., 1996, S. 73.
109
Wiedergutmachung verletzter Rechte von Individuen, die deren Heimatstaat im Umfang des
due diligence-Maßstabs gegen den Aufenthaltsstaat geltend machen konnte. Diesen
unterschiedlichen Zwecksetzungen hatte das BVerwG mit seiner Fixierung auf die
Zurechnungsdoktrin nicht zur Kenntnis nehmen wollen und deshalb einen deutschen
Sonderweg entwickelt, der nunmehr durch § 60 Abs. 1 AufenthG, also durch eine eindeutige
Entscheidung des Gesetzgebers für die Schutzlehre, aufgegeben worden ist.
c) Zumutbarkeit der Beantragung nationalen Schutzes (Art. 7 RL 23004/83/EG
aa) Prüfungsstrukturen
Schutz gewähren können nur der Staat, Parteien oder Organisationen einschließlich
internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes
beherrschen (Art. 7 Abs. 1 der RL 2004/83/EG). Diese Schutzgaranten sind mit Ausnahme
internationaler Organisationen zugleich Verfolgungsakteure (vgl. Art. 6 Buchst. a) und b) RL
2004/83/EG). Bestätigt wird damit die bereits vom BVerfG im Blick auf den modernen
nationalen Territorialstaat hervorgehobene schlichte Erkenntnis, dass die Macht zu schützen,
die Macht zu verfolgen, einschließt.220 Allerdings verkennt die Richtlinie die moderne
Entwicklung, die sich in internationalen Friedenseinsätzen manifestiert. Danach können
Angehörige internationaler Friedenstruppen Verfolgungsakteure sein. Das belegen zahlreiche
Prozesse in den Entsendestaaten der Truppen gegen Soldaten, die in Ausführung der
Friedensoperationen an Folterhandlungen beteiligt waren.
Ausschließlich die in Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG genannten Akteure kommen als
Bezugspunkt für die Schutzgewährung in Betracht. Wird durch diese nach Maßgabe von
Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG kein Schutz gewährt, ist der nationale Schutz unabhängig davon
entfallen, wer die Verfolgungshandlung verübt hat oder ausüben wird und auch unabhängig
davon, ob in dem betreffenden Herkunftsland eine staatliche Macht vorhanden ist (vgl. § 60
Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) 2. Hs. AufenthG). Nach der in der Richtlinie vorgezeichneten
Dogmatik der nationalen Schutzgewährung ist zunächst die Verfolgungshandlung und
anschließend die Schutzgewährung nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG zu
prüfen.
Erst bei der Prüfung der Frage, ob der Antragsteller in zumutbarer Weise im Herkunftsland
um Schutz vor Verfolgung nachgesucht hat oder hätte nachsuchen können, kommt es auf die
Art der Verfolgungsakteure an. Denn es macht einen Unterschied, ob die Verfolgung von
staatlichen Behörden oder nichtstaatlichen Akteuren ausgeht. Im ersten Fall kann dem
Antragsteller zumeist nicht zugemutet werden, bei den staatlichen Behörden um Schutz
nachzusuchen. Denn von diesen geht ja die Verfolgung aus. Für den zweiten Fall bezeichnet
Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG die Anforderungen an die Darlegungslast im Blick auf das
interne Schutzersuchen.
bb) Umfang der Darlegungslasten bei Verfolgung durch den Staat oder diesem vergleichbare
Organisationen
Der Wortlaut von Art. 6 RL 2004/83/EG legt lediglich im Blick auf Verfolgungen durch
nichtstaatliche Akteure Darlegungslasten in Ansehung der Bemühungen des Antragstellers
fest, dass er sich vor der Ausreise um die Erlangung nationalen Schutzes bemüht hat. Nach
der Begründung des Kommissionsentwurfs besteht die Ratio der Bezeichnung der
220
BVerfGE 80, 315 (334) = EZAR 201 Nr. 20 = InfAuslR 1990, 21 = NVwZ 1990, 151.
110
unterschiedlichen Verfolgungsakteure darin, das die Feststellungsbehörden der
Mitgliedstaaten zu prüfen haben, ob der Antragsteller im Herkunftsland wirksamen Schutz
vor Verfolgung erlangen konnte. Gehe die Verfolgung vom Staat aus, sei „die entsprechende
Furcht begründet, weil es de facto im Herkunftsland keine Möglichkeit gibt, um Schutz
nachzusuchen.“ Gehe hingegen die Verfolgung von nichtstaatlichen Verfolgungsakteuren aus,
sei die Furcht nur dann begründet, „wenn der Staat nicht willens oder effektiv nicht in der
Lage ist, Schutz vor einer solchen Gefahr zu bieten.“221 Aus diesem Grund wird in Art. 6
Buchst. c) RL 2004/83/EG der Zusatz angefügt, dass der Staat nicht in der Lage oder nicht
willens sein muss, wirksamen Schutz zu bieten. Demgegenüber fehlt bei den beiden
vorhergehenden Gruppen der Verfolgungsakteure eine vergleichbare Einschränkung.
Damit ist nach Art. 6 RL 2004/83/EG grundsätzlich nur bei Verfolgungen durch
nichtstaatliche Akteure darzulegen, dass im Herkunftsland vor diesen kein wirksamer Schutz
erlangt werden konnte. Geht hingegen die Verfolgung vom Staat oder den Staat
beherrschenden Parteien oder Organisationen aus (Art. 6 Buchst. a) und b) RL 2004/83/EG),
entfällt in aller Regel eine entsprechende Darlegungslast. Vielmehr wird unterstellt, dass es in
diesem Fall de facto keine Möglichkeit gibt, im Herkunftsland Schutz vor Verfolgung zu
erlangen. Aus Art. 6 RL 2004/83/EG in Verbindung mit der Begründung des
Kommissionsentwurfs folgt damit, dass Antragsteller, die Verfolgungen durch staatliche oder
durch dem Staat vergleichbare Organisationen geltend machen, grundsätzlich keine auf die
Erlangung nationalen Schutzes bezogene Darlegungslast trifft.
Der Einwand des „Amtswalterexzesses“ ist damit dem Gemeinschaftsrecht fremd. Den
Antragsteller, der Verfolgung durch staatliche Behörden oder diesen vergleichbare
Organisationen geltend macht, trifft regelmäßig keine Nachweispflicht, dass er im
Herkunftsstaat gegen diese Verfolgungen Schutz bei staatlichen Behörden gesucht hat, es sei
denn, die Voraussetzungen des internen Schutzes sind erfüllt. Davon ist indes für den
Regelfall auszugehen. Die Feststellungsbehörde kann sich angesichts dessen grundsätzlich
nicht darauf berufen, dass die Verfolgung durch staatliche Behörden Ausdruck einer
vereinzelten „Exzesstat“ eines individuellen Amtswalters ist, die nicht der Politik des Staates
entspreche. Die Richtlinie 2004/83/EG und § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG übernehmen damit
die strikte Linie in der Staatenpraxis, die eine individuelle Darlegungslast in Ansehung des
verfügbaren und wirksamen nationalen Schutzes dann verneint, wenn der Staat die
Verfolgung ausübt. In diesem Fall sei der Schutz nicht verfügbar.222
Auch nach der Rechtsprechung des BVerfG entfällt die Zurechenbarkeit von Verfolgungen
durch Amtswalter nur ausnahmsweise und nur unter den Voraussetzungen »vereinzelter
Exzesstaten« von Amtswaltern.223 Dauern Verfolgungen in Form mehrfacher Übergriffe mit
erheblicher Intensität über einen längeren Zeitraum an, kann nach Ansicht des BVerfG nicht
mehr das Exzesstaten prägende Kriterium „vereinzelter und spontaner Vorgänge“ unterstellt
werden.224 Dem ist zu entnehmen, dass bei Verfolgungen durch Angehörige staatlicher
Behörden der Antragsteller nur ausnahmsweise gehalten ist, darzulegen, dass er vor den
Verfolgungen durch diese bei staatlichen Stellen Schutz beantragt hat. Kann seinem
Sachvorbringen nicht entnommen werden, dass die behaupteten Verfolgungen Ausdruck
vereinzelter und spontaner Übergriffe durch einzelne Angehörige staatlicher Behörden sind,
ist davon auszugehen, dass nationaler Schutz im Herkunftsland nicht verfügbar war. Damit
221
Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001, BR-Drs. 1017/01, S. 18
Canadian Federal Court, Lexis 318, F.C.T.D. – Zhuravleva; House of Lords, IJRL 2001, 174 (179) –
Horvath.
223
BVerfGE 80, 315 (352) = EZAR 201 Nr. 20 = NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990, 21; BVerfG, NVwZ
1992, 1081 (1083); BVerfG (Kammer), NVwZ-RR 1993, 511 (512); BVerfG (Kammer), InfAuslR 1993, 310
(312); BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 2003, 84 (85 f.) = AuAS 203, 261.
224
BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 2003, 84 (85 f.) = AuAS 203, 261.
222
111
entfällt auch nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich eine auf die
Schutzbeantragung bezogene Darlegungslast, wenn die Verfolgung von staatlichen Behörden
oder diesen vergleichbaren Organisationen ausgeht.
cc)
Ratio der Darlegungslast bei Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure
Macht der Antragsteller Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure geltend, trifft ihn eine
besondere Nachweispflicht, dass er vor seiner Ausreise gegenüber staatlichen Behörden oder
Organisationen die einen Teil des Staatsgebietes beherrschen, um Schutz nachgesucht hat und
diesen erwiesenermaßen nicht erlangen konnte (Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG, § 60 Abs, 1
Satz 4 Buchst. c) 2. HS AufenthG). Nach Ansicht der britischen Rechtsprechung ist dem
Konzept der Verfolgung ein Versagen des Staates, dass er gegen Verfolgungen durch
nichtstaatliche Akteure keinen Schutz gewähren kann, immanent. Dieses Problem stelle sich
hingegen bei Verfolgungen durch staatliche Behörden nicht. Jedoch stelle bei Verfolgungen
durch nichtstaatliche Akteure das Versagen des Staates, Schutz zu gewähren, unabhängig
davon ein wichtiges Element dar. Es stelle das Verbindungsglied zwischen Verfolgung durch
den Staat und Verfolgungen durch nichtstaatliche Stellen dar, welches im Interesse der
Folgerichtigkeit des gesamten Systems des Flüchtlingsschutzes erforderlich sei. Deshalb
stellten Übergriffe Verfolgungen dar, wenn sie mit dem Unvermögen des Staates
einhergingen, Schutz zu gewähren.225
Das Konzept der Subsidiarität des internationalen Schutzes beruht damit auf der
Voraussetzung, dass gegen Übergriffe durch nichtstaatliche Akteure im Herkunftsland des
Antragstellers kein Schutz verfügbar war. Dementsprechend trifft den Antragsteller
grundsätzlich eine hierauf bezogene Darlegungs- und Beweislast. Kann er die
anspruchsbegründenden Tatsachen nicht klar und überzeugend darlegen, trifft ihn das
Beweisrisiko für die Unerweislichkeit der behaupteten Tatsachen. Sind indes staatliche
Behörden an dem Verfolgungsakt der nichtstaatlichen Verfolger beteiligt, begründet dies eine
Regelvermutung dafür, dass Schutz durch staatliche Behörden im Herkunftsland nicht
verfügbar war. Diese kann nur durch stichhaltige Belege, dass angemessener und wirksamer
Schutz verfügbar war, widerlegt werden.226
Während mithin für das BVerwG weder Lückenhaftigkeit des Systems staatlicher
Schutzgewährung überhaupt »noch die im Einzelfall von den Betroffenen erfahrene
Schutzversagung als solche schon staatliche Schutzbereitschaft oder Schutzfähigkeit«
ausschließe,227 weil dem Staat Verfolgungen nichtstaatlicher Akteure nur zuzurechnen seien,
wenn er in Komplizenschaft mit diesen handelt,228 verschiebt nach der für die Richtlinie
maßgebenden Schutzlehre die Behauptung der Komplizenschaft des Staates mit den
nichtstaatlichen Akteuren die Beweislast zugunsten des Antragstellers auf die Behörde. Damit
ist festzuhalten, dass Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure grundsätzlich zu
berücksichtigen sind und deren Erheblichkeit nicht davon abhängig gemacht werden darf, ob
der Staat in Komplizenschaft mit diesen handelt. Das Konzept des Verfolgungsbegriffs der
Konvention und damit auch das der Richtlinie 2004/83/EG verlangt keine aktive Verfolgung
oder Verfolgungsbeteiligung des Staates. Ist dies der Fall, ist grundsätzlich nationaler Schutz
nicht verfügbar und trifft den Antragsteller keine hierauf bezogene Darlegungslast. Geht die
Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren aus, verlangt die Richtlinie 2004/83/EG nicht eine
House of Lords, IJRL 201, 174 (179 – 181) – Horvath.
Musalo, IJRL 2004, 165 (196).
227
BVerwG, EZAR 202 Nr. 24.
228
BVerwGE 95, 42 (48) = NVwZ 1994, 497 = EZAR 230 Nr. 3 = InfAuslR 1994, 196 D 56; BVerwG,
NVwZ 1994, 1112 = InfAuslR 329 = EZAR 043 Nr. 3; BVerwG, EZAR 202 Nr. 24; BVerwG, NVwZ 1996, 85
(86)
225
226
112
aktive Beteiligung des Staates an deren Verfolgung, sondern eine aktive Bereitschaft und
Fähigkeit des Staates zur Schutzgewährung und wird der Antragsteller mit einer
entsprechenden Darlegungspflicht belastet. Nach den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts ist
damit die Lehre des BVerwG zur Komplizenschaft nicht mehr anwendungsfähig.
dd)
Umfang der Darlegungslast bei Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure
Nach dem Wortlaut von Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG muss feststehen, dass kein Schutz
gewährt wird. Damit wird für den konkreten Einzelfall vorausgesetzt, dass der Antragsteller
vor seiner Ausreise sich um diesen Schutz bemüht haben muss. Verfolgungen durch
nichtstaatliche Akteure sind dann erheblich, wenn diese „erwiesenermaßen“ nicht in der Lage
oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu gewähren. Treffender als der deutsche Wortlaut
von Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG bringt der englische Text diese Rechtslage zum
Ausdruck. Danach sind Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure erheblich, „if it can be
demonstrated“, dass der Antragsteller im Herkunftsland wegen Schutzunfähigkeit oder unwilligkeit des Staates oder diesem vergleichbare Organisationen keinen Schutz erlangen
konnte.
Der Antragsteller muss mithin lediglich darlegen, dass er sich um Schutz bemüht hat, diesen
aber nicht erlangen konnte. Anschließend obliegt es der Feststellungsbehörde anhand der
verfügbaren Erkenntnismittel festzustellen, ob die in Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG
bezeichneten Schutzakteure „erwiesenermaßen“ nicht in der Lage oder nicht willens waren,
Schutz zu gewähren. Es kommt insoweit wie bei allen anderen anspruchsbegründenden
Tatsachen und Umstände auf den Maßstab der „Überzeugungsgewissheit“ an. Der englische
Text besagt eher allgemeiner „if it can be demonstrated,“ d. h. es muss insoweit der Nachweis
geführt werden, dass kein Schutz gewährt wurde.
Damit bleibt die Verteilung der Beweisrisiken offen. Entsprechend den das Flüchtlingsrecht
beherrschenden verfahrensrechtlichen Grundsätzen ist allgemein anerkannt, dass den
Antragsteller insoweit zunächst die Darlegungspflicht trifft, anschließend der Behörde die
Ermittlungspflicht obliegt und der Antragsteller die Beweislast dafür trägt, dass der Nachweis
nicht gelingt. Vom Antragsteller ist zu erwarten, dass er konkrete Tatsachen und Umstände
bezeichnet, aus denen sich ergibt, dass er sich um Schutz bemüht hat. Danach hat der
Asylsuchende zunächst die persönlichen Umstände, Verhältnisse und Erlebnisse im Blick auf
das Schutzersuchen schlüssig sowie mit Blick auf zeitliche, örtliche und sonstige Umstände
detailliert und vollständig darzulegen. Da es um persönliche Umstände geht, ist insoweit die
Amtsermittlungspflicht begrenzt.229
Um einer Überspannung dieser Grundsätze zu Lasten der Asylsuchenden vorzubeugen, hatte
das BVerwG bereits zu Beginn der achtziger Jahre zwischen persönlichen Erlebnissen und
Erfahrungen des Antragstellers einerseits sowie den allgemeinen Verhältnissen in dessen
Herkunftsland andererseits differenziert.230 Die Feststellungsbehörde braucht in keine
Ermittlungen einzutreten, die durch das Sachvorbringen nicht veranlasst sind. Mit Blick auf
die allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland ist der Asylsuchende dagegen in einer
schwierigen Situation. Seine eigenen Kenntnisse und Erfahrungen sind häufig auf einen
engeren Lebenskreis begrenzt und liegen stets einige Zeit zurück. Seine Mitwirkungspflicht
würde überdehnt, wollte man auch insofern einen lückenlosen Tatsachenvortrag verlangen,
der im Sinne der zivilprozessualen Verhandlungsmaxime schlüssig zu sein hätte. Insoweit
229
BVerwG, Buchholz 402.24 Art. 1 GK Nr. 11; BVerwG, DVBl. 1963, 145; BVerwG, InfAuslR
1982, 156; BVerwG, InfAuslR 1983, 76; BVerwG, DÖV 1983, 207; BVerwG, BayVBl. 1983, 507; BVerwG,
InfAuslR 1984, 129; BVerwG, InfAuslR 1989, 350.
230
BVerwG, InfAuslR 1982, 156; BVerwG, InfAuslR 1983, 76; BVerwG, InfAuslR 1984, 129; BVerwG,
DÖV 1983, 207; BVerwG, BayVBl. 1983, 507; BVerwG, InfAuslR 1989, 350.
113
muss es genügen, um dem Bundesamt zu weiteren Ermittlungen Anlass zu geben, wenn der
Tatsachenvortrag des Antragstellers die nicht entfernt liegende Möglichkeit ergibt, dass er im
Herkunftsland keinen Schutz erlangen konnte.
ee)
Wirksamer nationaler Schutz vor der Ausreise (Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG)
Nach der Begründung des Kommissionsentwurfs hat die Feststellungsbehörde für die
Situation vor der Ausreise zu ermitteln, ob ein innerstaatliches Schutzsystem sowie
Mechanismen zur Ermittlung, strafrechtlichen Verfolgung und Ahndung von
Verfolgungshandlungen vorhanden sind. Von Bedeutung ist hierbei die Frage, ob ein solches
System generell allen Bevölkerungsgruppen einen zureichenden und zugänglichen Schutz
bietet. Wirksamer Schutz ist nur vorhanden, wenn der Staat in der Lage und willens ist, dieses
System so zu handhaben, dass die Verfolgungsgefahr minimal ist. Insbesondere ist zu
berücksichtigen, ob und inwieweit dem einzelnen Antragsteller individueller Zugang zum
vorhandenen Schutzsystem gewährt worden war.231
Unter diesen Voraussetzungen kann grundsätzlich von der Schutzfähigkeit des Staates in
Ansehung von Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure ausgegangen werden. Dem
Antragsteller wird indes im konkreten Einzelfall die Widerlegungsmöglichkeit eingeräumt,
für die er klare und überzeugende Gründe angeben muss. Bestehen keine staatlichen
Strukturen mehr, bedarf es eines derartigen Nachweises nicht.232 Diese entspricht der Praxis
etwa in Australien, Belgien, Neu-Seeland, in den Niederlanden, in Österreich und im
Vereinigten Königreich.
Der verfügbare Schutz im Herkunftsstaat gegen Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure
muss effektiv sein. Ist der Staat nicht in der Lage, einen derartig effektiven Schutz zu
gewährleisten, kann dem Antragsteller die Möglichkeit der Inanspruchnahme des Schutzes
nicht zugemutet werden. Da diese Frage auf Umstände zielt, die nicht dem persönlichen
Erfahrungsbereich des Antragstellers zuzuordnen sind, trifft ihn eine eingeschränkte
Darlegungslast und die Behörde eine erhöhte Ermittlungspflicht. Als Maßstab für den
effektiven Schutz kann zwar Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG herangezogen werden. Doch
rechtfertigt der generelle Standard in dieser Norm nicht die Anwendung eines abstrakten
Maßstabes für die Beurteilung der Frage, ob der Antragsteller vor der Ausreise im Blick auf
Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure Schutz erlangen konnte. Die Richtlinie fordert
stets eine individuelle, auf den einzelnen Antragsteller bezogene Prüfung (Art. 4 Abs. 3
Buchst. c) RL 2004/83/EG). Diesem verfahrensrechtlichen Erfordernis kann nicht mit einem
generell-abstrakten Maßstab Rechnung getragen werden.
Die abstrakten Kriterien in Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG haben eine doppelte Funktion:
Sofern dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner individuellen, familiären und sozialen
Umstände gegen Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure ein individueller Zugang zum
nationalen Schutzsystem gewährt worden ist, beantworten die Kriterien die Frage nach Inhalt
und Umfang des nationalen Schutzsystems. Wird der Antragsteller hingegen durch
nichtstaatliche Akteure verfolgt oder drohen ihm derartige Verfolgungen und kann er gegen
diese keinen Schutz erlangen, bedarf es nicht der Anwendung der abstrakten Kriterien, weil
kein Zugang zum Schutzsystem besteht. Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG erfordert damit eine
konkrete Bewertung für die Situation vor der Ausreise. Mag der Staat auch generell die
Bürger vor Verfolgungen schützen, so kann im konkreten Einzelfall hieraus kein Einwand
231
Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001, BR-Drs. 1017/01, S. 18 f.
Canadian Immigration and Refugee Board, Guidelines issued by the Chairperson on “Civilian NonCombatants fearing Persecution in Civil War Situations”, 1996, S. 12, mit Verweis auf Supreme Court of
Canada, Entscheidung vom 30. Juni 1993 – Nr. 21937 – Ward.
232
114
gegen den Antragsteller hergeleitet werden, der sich um diesen Schutz bemüht, ihn aber nicht
erhalten hat. Darüber hinaus bezeichnet Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG allgemeine
Prognosekriterien, die im Rahmen der Verfolgungsprognose anzuwenden und mit den
individuellen Verfolgungsrisiken zu verknüpfen und gegeneinander abzuwägen sind.
Sind die staatlichen Strukturen wegen eines Bürgerkrieges oder vergleichbaren internen
Konfliktes zusammengebrochen und auch keine vergleichbaren Strukturen an deren Stelle
getreten, entfällt die Nachweispflicht. Sind keine schützenden Instanzen verfügbar, kann ein
Schutzersuchen nicht gefordert werden.233 Der Gesetzgeber hat wegen der bislang insoweit
entgegenstehenden Rechtsprechung des BVerwG für die deutsche Rechtsanwendungspraxis in
§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG ausdrücklich klargestellt, dass der Nachweislast nicht
entgegen gehalten werden kann, dass eine staatliche Herrschaftsmacht nicht vorhanden ist.
Sind die in Art. 7 Abs 1 RL 2004/83/EG bezeichneten Schutzakteure nicht vorhanden, so
entsteht erst recht eine internationale schutzbedürftige Situation. Kann danach bei
bestehenden zentralstaatlichen oder vergleichbaren Schutzstrukturen in Ansehung von
Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure grundsätzlich die Inanspruchnahme nationalen
Schutzes gefordert werden, so entfällt bei zerfallenen Schutzstrukturen diese Möglichkeit und
wird dem Antragsteller dementsprechend auch keine Nachweispflicht aufgebürdet. Bei der
Frage, ob eine den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschende
Organisation effektiven Schutz gewähren kann, ist zu prüfen, ob diese lediglich reine
militärische oder auch effektive zivile Verwaltungsstrukturen aufgebaut hat. Insbesondere in
diesen Fällen kann die Forderung nach Schutzbeantragung jedoch häufig wegen
Verfolgungsgefahren oder erheblichen Diskriminierungen für den Einzelnen unzumutbar sein.
Allerdings ist in einem derartigen Fall wie auch sonst der Einwand des internen Schutzes zu
prüfen (Art. 8 RL).
ff)
Zumutbarkeit der Schutzbeantragung
Dem Antragsteller muss vor der Ausreise die Möglichkeit der Schutzsuche zumutbar gewesen
sein. Das ist nicht der Fall, wenn er vernünftige und plausible Gründe dafür angeben kann,
dass ihm das Schutzersuchen nicht zumutbar gewesen war, weil er in diesem Fall durch
staatliche Behörden oder maßgebliche Stellen vergleichbarer Organisationen verfolgt oder
diskriminiert oder in Reaktion auf das Schutzersuchen aus seiner Gemeinschaft ausgestoßen
worden wäre. Nach den kanadischen Richtlinien zu geschlechtsspezifischen Verfolgungen
vom 25. November 1996 wird Antragstellern die Möglichkeit eingeräumt darzulegen, dass es
für sie objektiv unzumutbar war, staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen. In diesem Fall
stehe die Tatsache, dass sie keinen staatlichen Schutz in Anspruch genommen hätten, dem
Begehren nicht entgegen. Bei der Prüfung, ob es objektiv unangemessen gewesen sei, dass die
Antragstellerin darauf verzichtet habe, staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen, sei neben
weiteren wesentlichen Faktoren das soziale, kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Umfeld
zu berücksichtigen, in dem die Antragstellerin gelebt habe. Wenn eine Frau z. B. in Form
einer Vergewaltigung Verfolgung wegen ihres Geschlechts erfahren habe, bestehe die
Möglichkeit, dass sie aus der Gemeinschaft ausgestoßen werde, wenn sie staatlichen Schutz in
Anspruch nehme.234
Auch nach den von der britischen Nichtregierungsorganisation „Refugee Women’s Legal
Group“ veröffentlichen Richtlinien zu geschlechtsspezifischen Verfolgungen ist es für eine
Asylsuchende nicht stets zumutbar oder möglich, bei staatlichen Behörden um Schutz
Canadian Immigration and Refugee Board, Guidelines issued by the Chairperson on “Civilian NonCombatants fearing Persecution in Civil War Situations”, 1996, S. 12, mit Verweis auf Supreme Court of
Canada, Entscheidung vom 30. Juni 1993 – Nr. 21937 – Ward.
234
Kanadischer Ausschuss für Einwanderungs- und Flüchtlingsangelegenheiten, Richtlinie zu
Asylbewerberinnen, die sich aus Furcht vor Verfolgung aufgrund ihres Geschlechts berufen v. 25. 11. 1996, S.
24.
233
115
nachzusuchen. Dies könne etwa dann nicht verlangt werden, wenn sie für den Fall der
Schutzbeantragung Gewalt oder Benachteiligungen in Kauf nehmen müsse oder wenn sie
vernünftige Gründe für ihre Furcht vortragen könne, dass sie keinen Schutz habe erlangen
können.235 Danach kann im konkreten Einzelfall das Schutzersuchen deshalb von vornherein
unzumutbar gewesen sein, weil konkret und schlüssig dargelegt wird, dass in diesem Fall
etwa ernsthafte Bedrohungen durch die Familie oder erhebliche Diskriminierungen durch
Teile der Bevölkerung gedroht hätten und dies die Ausstoßung aus der Gemeinschaft für die
Antragstellerin zur Folge gehabt hätte. So wird bei familiärer Gewalt die Familie häufig
unterbinden wollen, dass diese nach außen bekannt wird. Besteht die Gefahr, dass die Polizei
nach Erstattung der Anzeige die Familienangehörigen informieren und diese deshalb ihre
Verfolgungen gegen die Antragstellerin fortsetzen werden und gibt es darüber hinaus keine
effektiven gesellschaftlichen oder staatlichen Schutzeinrichtungen gegen familiäre Gewalt, so
ist die Inanspruchnahme polizeilichen Schutzes in derartigen Fällen für die Antragstellerin
unzumutbar. Besondere Sensibilität ist danach bei einer vorgebrachten erlittenen
Vergewaltigung angezeigt. Bestehen vernünftige Gründe für die Befürchtung, dass eine durch
private Akteure vergewaltigte Frau im Falle des Ersuchens um polizeilichen Schutz erneut
Opfer von Vergewaltigungen oder sie deshalb aus der Familie ausgestoßen wird, kann ihr eine
Inanspruchnahme polizeilichen Schutzes nicht zugemutet werden.236 Fehlt einer Frau das
Vertrauen darin, dass die Polizei sie schützen werde und wird eine systematische Praxis
behördlicher Diskriminierung der religiösen oder ethnischen Gruppe, welcher die
vergewaltigte Frau angehört, festgestellt, ist es unzumutbar für das weibliche Opfer von
sexueller Gewalt, polizeilichen Schutz in Anspruch zu nehmen.237
Da die Antragstellerin in einem derartigen Fall die Schutzbeantragung von vornherein
unterlassen hat, trifft sie eine erhöhte Darlegungslast. Letztlich hat indes die
Feststellungsbehörde die Untersuchungspflicht. Die Antragstellerin muss schlüssig darlegen,
dass sie aufgrund allgemein bekannter Umstände davon ausgehen musste, dass sie bei den
relevanten Behörden misshandelt oder im erheblichen Umfang diskriminiert (vgl. auch Art. 9
Abs. 2 Buchst. b) und d) RL 2004/83/EG) oder aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen worden
wäre. Insbesondere bei sexueller Gewalt kann häufig davon ausgegangen werden, dass die
Polizei die Anzeigenerstatterin misshandeln, sexuell belästigen oder sogar verfolgen wird. Die
Inanspruchnahme nationalen Schutzes ist unzumutbar, wenn der Antragstellerin Verfolgungen
aus Gründen der Konvention (Art. 1 A Nr. 2 GFK, Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG) drohten.
Dies ist auch bei der Frage relevant, ob dem durch nichtstaatliche Akteure Verfolgten vor der
Ausreise die Inanspruchnahme des nationalen Schutzes zugemutet werden konnte. Die
Darlegungslast, dass das nationale Schutzersuchen von vornherein unzumutbar gewesen sei,
verschärft sich jedoch aufgrund der Tatsache, dass im Herkunftsland demokratische und
rechtsstaatliche Strukturen bestehen. Je demokratischer die Strukturen, desto höher ist die
Darlegungslast, dass die Antragstellerin die verfügbaren Möglichkeiten zur Schutzsuche
ausgeschöpft hat.238
gg)
Schutzgewährung durch de facto-Autoritäten (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG
Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG umfasst auch das Erfordernis, dass der Antragsteller
gegebenenfalls darlegen muss, dass er sich bei Parteien oder Organisationen, die den Staat
Refugee Women’s Legal Group, Gender Guidelines fort he Determination of Asylum laims in the UK,
July 1998, Nr. 3.8.
236
Spijkerboer, Women and Refugee Status, Emancipation Council (Hrsg.), The Hague 1994, S. 24.
237
Spijkerboer, a. a. O. S. 24, 31.
238
Canadian Federal Court of Appeal, 143 DLR (4th) 532 – Kadenko.
235
116
oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, um Schutz gegen Verfolgung
durch nichtstaatliche Akteure bemüht hat. Im ursprünglichen Kommissionsentwurf war die
Darlegungslast in Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Grundsätzen ausschließlich auf den
Staat begrenzt.239 Für die maßgeblichen Gründe für die Erweiterung der Darlegungslast auf de
facto-Autoritäten kann den Materialien kein Anhalt entnommen werden. Nach den
kanadischen Richtlinien etwa ist die Tatsache, dass Antragsteller nicht bei nichtstaatlichen
Institutionen um Schutz gesucht haben, für die Beurteilung der Frage, ob staatlicher Schutz
gewährt worden war, ohne Bedeutung.240
Der Wortlaut von Art. 6 RL 2004/83/EG ist insoweit missverständlich. Buchst. c) verweist
auf Buchst. b) und damit auch auf Parteien, die den Staat beherrschen. Insbesondere die
»faktische Einheit von Staat und Staatspartei« oder von »Staat und Staatsreligion« sind jedoch
wie Verfolgungen durch den Staat nach Buchst. a) zu behandeln.241 Hier handelt es sich
wegen der engen Verschmelzung mit staatlichen Strukturen um Verfolgungen durch den
Staat. Das BVerfG verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der Substitutenstellung
des Staates für Ausschreitungen nichtstaatlicher Akteure.242 Ausdrücklich hat das BVerfG
hervorgehoben, der Staat sei für die Verfolgung verantwortlich, wenn er zur
Schutzgewährung entweder nicht bereit sei oder wenn er sich nicht in der Lage sehe, die ihm
an sich verfügbaren Mittel im konkreten Fall gegenüber Verfolgungsmaßnahmen bestimmter
Akteure, insbesondere etwa solchen des staatstragenden Klerus oder der staatstragenden
Partei hinreichend einzusetzen.243 Danach ist es wegen der institutionellen und häufig
personellen engen Verzahnung zwischen staatlichen Organen und dem staatstragenden Klerus
bzw. der staatstragenden Partei gerechtfertigt, diese wie Verfolgungen durch den Staat nach
Buchst. a) zu behandeln und deshalb den Antragsteller von seiner Darlegungslast
freizustellen.
Der Hinweis auf Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen Teil des Staates
beherrschen, zielt wohl eher auf de facto-Autoritäten, die im Prozess des zerfallenden Staates
diesen im Umfang seines Machtverlustes ersetzen. Während in diesen Fällen nach der
kanadischen Praxis die Darlegungslast gänzlich aufgehoben ist, belastet die Richtlinie den
Antragsteller mit einer auf de facto-Autoritäten bezogenen Darlegungslast. Dieser Ansatz ist
mit der GFK unvereinbar. Art. 1 A Nr. 2 GFK verweist auf den Schutz, für dessen
Gewährung der Staat nach völkerrechtlichen Grundsätzen verantwortlich ist. Das System der
GFK erfordert, dass der nationale Schutz nicht durch insoweit völkerrechtlich nicht
verantwortliche de facto-Autoritäten, sondern durch den nach völkerrechtlichen Grundsätzen
verantwortlichen Staat gewährt wird.244
De facto-Autoritäten trifft keine völkerrechtliche Verantwortung für den Schutz der ihrer
Obhut unterliegenden Personen. Das humanitäre Recht enthält insoweit lediglich negatorische
Verpflichtungen, nämlich das Unterlassen von internationalen Verbrechen, nicht aber positive
Leistungspflichten. Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG ist in diesem Gesichtspunkt deshalb mit
Völkerrecht unvereinbar. Jedenfalls ist die Darlegungslast deutlich herabgesetzt. Da sich die
Darlegungslast im Umfang der Entwicklung demokratischer Strukturen verschärft,245 wird sie
umgekehrt in dem Maße, wie die staatlichen Strukturen zerfallen, deutlich herabgesetzt.
239
Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001, BR-Drs. 1017/01, S. 49.
Ausschuss für Einwanderungs- und Flüchtlingsangelegenheiten, Richtlinie zu Asylbewerberinnen, die
sich aus Furcht vor Verfolgung aufgrund ihres Geschlechts berufen v. 25. 11. 1996, S. 24.
241
Vgl. BVerfGE 54, 341 (358) = EZAR 200 Nr. 21 = NJW 1980, 2641.
242
BVerfGE 54, 341 (358) = EZAR 200 Nr. 21 = NJW 1980, 2641.
243
BVerfGE 80, 315 (336) = EZAR 201 Nr. 1 = NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990, 21; ebenso BVerwGE
74, 160 (162).
244
United Kingdom, Court of Appeal, EWCA Civ 759(2002) – Gardi.
245
Canadian Federal Court of Appeal, 143 DLR (4th) 532 – Kadenko.
240
117
hh)
Schutzgewährung durch internationale Organisationen
Nach Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG wird vom Antragsteller darüber hinaus gefordert, dass
er gegebenenfalls bei internationalen Organisationen Schutz gegen Verfolgungen durch
nichtstaatliche Akteure suchen muss. Auch insoweit wurde der ursprüngliche
Kommissionsentwurf um diesen Gesichtspunkt erweitert. In der internationalen Literatur
werden Bedenken gegen die Erweiterung der Darlegungslast auf internationale
Organisationen geäußert, weil der Begriff „Schutz des Landes“ in Art. 1 A Nr. 2 GFK auf den
nationalen Schutz des Herkunftslandes und nicht auf den von internationalen Organisationen
verweise und Art. 1 D GFK nur auf die Institutionen der Vereinten Nationen verweise, die im
Zeitpunkt des Inkrafttretens der Konvention Flüchtlingen Schutz gewährten.246
Internationale Organisationen sind darüber hinaus regelmäßig zur Schutzgewährung nicht in
der Lage oder willens. Sie verfügen auch nicht über die erforderlichen administrativen
Strukturen zur Schutzgewährung und sind deshalb nicht in der Lage, Herrschaftsgewalt nach
innen durchzusetzen. Hinzu kommt, dass anders als Staaten internationale Organisationen
nicht die Qualifikationsmerkmale eines Staates aufweisen und auch nicht wie diese
Vertragsparteien internationaler Verträge zum Schutze der Menschenrechte sind. So haben die
Erfahrungen in der Vergangenheit gezeigt, dass internationale Friedenstruppen vorrangig auf
die Herstellung einer stabilen innerstaatlichen Ordnung bedacht, jedoch nicht in der Lage
sind, dem Einzelnen einen effektiven Schutz gegen Verfolgungen und Bedrohungen durch
innerstaatliche Behörden, ehemalige Bürgerkriegsparteien und andere mühsam in den
Friedensprozess eingebundene interne Kräfte zu gewährleisten.
Dies ist in aller Regel auch nicht Teil ihres Mandates. Internationale Friedensbemühungen
zielen vorrangig auf die Herstellung der äußeren Rahmenbedingungen für den nationalen
Versöhnungsprozess. Der interne Machtbereich der einzelnen Konfliktbeteiligten entzieht sich
daher in aller Regel der effektiven internationalen Kontrolle. So wird etwa in der
schweizerischen Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass verfolgte Minderheiten im Kosovo
wie die Ashkali und Roma außerhalb der von der KFOR geschützten Zonen vor Verfolgung
nicht sicher sind.247 Der österreichische Verwaltungsgerichtshof erachtet aus diesem Grund
den von der KFOR bereit gehaltenen Schutz ausdrücklich für unzureichend.248
d)
Individuelle Schutzgewährung nach Rückkehr (Art. 7 RL 2004/83)
aa)
Allgemeine Grundsätze
Es entspricht der ständigen Staatenpraxis und auch dem Konzept des internationalen Schutzes
nach der Richtlinie, dass es für die Statusgewährung darauf ankommt, ob im Zeitpunkt der
Entscheidung (vgl. § 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG) die für die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft (Art. 13 RL) maßgeblichen tatsächlichen Voraussetzungen vorliegen.
Maßgebend ist deshalb, ob vor Verfolgungen der in Art. 6 RL 2004/83/EG bezeichneten
Verfolgungsakteure Schutz durch die in Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG genannten
Schutzakteure geboten wird. Die für die Effektivität der Schutzgewährung maßgebenden
Kriterien werden in Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichnet.
Ob vor der Ausreise gegen Verfolgungen durch die in Art. 6 RL 2004/83/EG bezeichneten
Verfolgungsakteure kein nationaler Schutz gewährt wurde, ist für die Beurteilung der Frage,
ob nach Rückkehr Schutz geboten wird, lediglich ein gewichtiger Prognoseaspekt. Wer vor
der Ausreise verfolgt wurde und hiergegen keinen nationalen Schutz erlangen konnte, jedoch
im Falle der Rückkehr wieder nationalen Schutz erlangen kann, ist kein Flüchtling. Denn in
diesem Fall besteht im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a)
246
247
248
Penelope Mathew u.a., IJRL 2003, 444 (457 f.).
Schweizerische ARK, EMARK 2001 Nr. 13.
VwGH, Entscheidung vom 6. März 2001 – Nr. Zl. 2000/01/0056.
118
RL 2004/83/EG, vgl. auch § 77 Abs. 1 AsylVfG) wegen des Subsidiaritätsgrundsatzes keine
internationale Schutzbedürftigkeit mehr. Wer hingegen vor der Ausreise gegen Verfolgungen
keinen nationalen Schutz erlangen konnte und auch nach Rückkehr keinen nationalen Schutz
erlangen kann, ist schutzbedürftig und wird deshalb als Flüchtling anerkannt. Wer vor der
Ausreise nicht verfolgt wurde, aber für den Fall der Rückkehr Verfolgungen befürchtet, vor
denen ihm kein nationaler Schutz gewährt wird, ist Flüchtling (Art. 5 Abs. 1 RL 2004/83/EG).
Dies verdeutlicht, dass die materiellen Kriterien der Richtlinie zur Bewertung des Wegfalls
des nationalen Schutzes nur unter Berücksichtigung der maßgeblichen Prognosegrundsätze im
Einzelfall sachgerecht angewendet werden können. Ob und in welchem Umfang die in Art. 7
Abs. 1 RL 2004/83/EG bezeichneten Schutzakteure Schutz gegen Verfolgungen durch die in
Art. 6 RL 2004/83/EG erwähnten Verfolgungsakteure gewähren, ist im Rahmen der in die
Zukunft gerichteten Entscheidung (Verfolgungsprognose) zu bewerten. Dementsprechend ist
zwischen der Schutzbedürftigkeit vor der Ausreise einerseits sowie der Schutzbedürftigkeit
im Rahmen der Verfolgungsprognose andererseits zu differenzieren.
bb)
Verfahrensrechtliche Funktion der Vorverfolgung (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG)
Für die sachgerechte Handhabung des Begriffselementes Wegfall des nationalen Schutzes
gewinnt damit der Begriff der Vorverfolgung besondere Bedeutung. Danach enthält die
Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung
unmittelbar bedroht war, einen ernsthaften Hinweis darauf, dass die Verfolgungsfurcht im
Zeitpunkt der Entscheidung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen,
dass er erneut von Verfolgung bedroht wird. Nach der Begründung des Kommissionsentwurfs
kann dies nur angenommen werden, wenn die Lage im Herkunftsland bzw. die Beziehung des
Antragstellers zum Herkunftsland sich nach der Ausreise grundlegend und in relevanter
Weise geändert hätten. Die Richtlinie schließt sich damit der internationalen Staatenpraxis an,
die in Verfolgungen vor der Ausreise einen gewichtigen Hinweis auch auf zukünftige
Verfolgungen sieht und deshalb eine Regelvermutung für ein Andauern dieser Verfolgung
annimmt, die nur durch eine grundlegende nachträgliche Änderung der Verhältnisse zerstört
werden kann.249 Von diesen Grundsätzen geht im Grundsatz auch die deutsche
Rechtsprechung aus.250
Maßgebend ist nach der Richtlinie, dass im Zeitpunkt der Entscheidung (Art. 4 Abs. 3 Buchst.
a) RL 2004/83/EG) die Verfolgungsfurcht begründet ist. Dies ist im Regelfall anzunehmen,
wenn der Antragsteller in der Vergangenheit bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar
bedroht war (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). In diesem Zusammenhang kommt es auf die
bereits erläuterten Grundsätze über die Zumutbarkeit der Beantragung nationalen Schutzes an.
Wer durch staatliche Behörden oder diesen vergleichbare Institutionen verfolgt wurde, dem
kann vernünftigerweise weder die Inanspruchnahme nationalen Schutzes vor der Ausreise
noch für den Fall der Rückkehr die Beantragung nationalen Schutzes zugemutet werden. Art.
4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist der Grundsatz zu entnehmen, dass dies nur bei grundlegender
Veränderung der Verhältnisse zumutbar ist.
Ebenso liegt der Fall, wenn der Antragsteller vor Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure
geflohen ist oder ihm diese unmittelbar drohten, er im Herkunftsland trotz Schutzbeantragung
hiergegen keinen nationalen Schutz erlangen konnte bzw. ihm aus Gründen der Konvention
die Schutzbeantragung nicht zugemutet werden konnte. Auch in diesem Fall wurde der
249
Musalo, IJRL 2004, 165 (197).
BVerfGE 54, 341 (361) = EZAR 200 Nr. 1 = NJW 1980, 2641; BVerwG 65, 250 (251) = EZAR 200
Nr. 7 = NVwZ 1983, 160; BVerwGE 68, 106 (107) = EZAR 123 Nr. 5 = InfAuslR 1984, 1; BVerwGE 70, 169
(171) = EZAR 200 Nr. 12 = InfAuslR 1985, 51; BVerwGE 71, 175 (178 f.) EZAR 200 Nr. 13 = NVwZ 1985,
913 = InfAuslR 1985, 241.
250
119
Antragsteller vor der Ausreise verfolgt bzw. drohten ihm diese unmittelbar und unterstellt Art.
4 Abs. 4 der Richtlinie ein Fortwirken dieser Verfolgung für den Regelfall.
In beiden Fällen kommt es auf die in Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichneten generellen
Kriterien nicht an. Denn lediglich die generelle Schutzgewährleistung nach Maßgabe der in
dieser Norm enthaltenen Kriterien kann nicht als „stichhaltiger Grund“ im Sinne von Art. 4
Abs. 4 RL 2004/83/EG verstanden werden, der für eine grundlegende Veränderung der
Verhältnisse spricht. Aus dem Zusammenspiel von Art. 4 Abs. 4 und Art. 7 Abs. 2 RL
2004/83/EG folgt damit in Anlehnung an die deutsche Rechtsprechung, dass es bei glaubhaft
gemachter Vorverfolgung durch einen der in Art. 6 RL 2004/83/EG bezeichneten
Verfolgungsakteure mehr als nur überwiegend wahrscheinlich sein muss, dass der
Antragsteller nach Rückkehr in das Herkunftsland vor Verfolgung sicher ist.251
Der Asylsuchende muss vielmehr in seinem Herkunftsland vor der Gefahr abermals
einsetzender Verfolgung hinreichend sicher sein. Können ernsthafte Bedenken hiergegen
nicht ausgeräumt werden, so wirken sie sich zugunsten des Antragstellers aus und führen zur
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Umgekehrt ausgedrückt darf das Asylbegehren nur
abgewiesen werden, wenn sich eine Wiederholungsgefahr ohne ernsthafte Zweifel an der
Sicherheit des Antragstellers im Falle der Rückkehr in sein Herkunftsland ausschließen
lässt.252 Ohne ernsthafte Zweifel bedeutet, dass „stichhaltige Gründe“ (Art. 4 Abs. 4 RL
2004/83/EG) für eine Sicherheit vor Verfolgung sprechen.
Die Flüchtlingseigenschaft ist deshalb zuzuerkennen, wenn Anhaltspunkte die Möglichkeit
erneut einsetzender Verfolgung als nicht ganz entfernt erscheinen lassen. Dem Antrag kann
daher nur der Erfolg versagt werden, wenn das geltend gemachte Sachvorbringen zur
Überzeugung der zuständigen Entscheidungsinstanzen entkräftet werden kann.253
Andererseits kann es bei der Beurteilung der Frage, ob ernsthafte Bedenken gegen eine
abermals einsetzende Verfolgung nicht ausgeräumt werden können, nicht darauf ankommen,
den Antragsteller künftig vor jeder denkbaren erneuten Verfolgung zu schützen. Ein
derartiger Maßstab wäre nicht mehr an der die Zumutbarkeit der Rückkehr wesentlich
bestimmenden Wiederholungsgefahr ausgerichtet.254
e)
Prognoserechtlicher Schutzstandard (Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG)
aa)
Differenzierte Funktion der generellen Schutzgewährleistung
Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist generell Schutz gewährleistet, wenn die nach Art. 7
Abs. 1 RL 2004/83/EG maßgebenden Schutzakteure geeignete Schritte einleiten, um die
Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung,
Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der
Antragsteller Zugang zu diesen nationalen Schutzsystem hat. Nach der Begründung des
Kommissionsentwurfs hat diese Vorschrift die Funktion, die Bewertung zu leiten, ob
staatlicher Schutz in Anspruch genommen werden kann und wie wirksam dieser ist. Danach
müssen ein innerstaatliches Schutzsystem sowie Mechanismen zur Ermittlung,
251
BVerwG, EZAR 200 Nr. 3.
BVerwGE 65, 250 (251); BVerwGE 70, 169 (171); BVerwGE 71, 175 (179); BVerwG, EZAR 200
Nr. 3; BVerwG, InfAuslR 1985, 276.
253
BVerwGE 70, 169 (171).
254
BVerwGE 65, 250 (251).
252
120
strafrechtlichen Verfolgung und Ahndung von Verfolgungshandlungen vorhanden sein. Es
reicht allerdings nicht aus, dass lediglich geeignete Schritte eingeleitet werden. Vielmehr
müssen diese auch wirksam durchgesetzt werden und insbesondere den individuellen Zugang
zum Schutzsystem gewährleisten (vgl. Art. 7 Abs. 2 letzter HS RL 2004/83/EG).
Von Bedeutung habe hierbei die Frage, ob ein solches System generell allen
Bevölkerungsgruppen einen ausreichenden und zugänglichen Schutz biete. Einen wirksamen
Schutz gibt es nur, wenn der Staat in der Lage und willens sei, dieses System so zu
handhaben, dass die Gefahr der Verfolgung minimal sei. Zunächst ist zu ermitteln, ob der
Staat geeignete Schutzvorkehrungen eingeleitet habe. Hierbei ist die allgemeine Lage zu
berücksichtigen. Zu prüfen ist darüber hinaus, ob der Staat sich an der Verfolgung beteiligt,
welche Politik er insoweit betreibt, ob Verfolger Einfluss auf staatliche Bedienstete nehmen,
ob die Untätigkeit des Staates System hat und welche Maßnahmen der Staat trifft, um
Verfolgungen abzuwenden. In einem weiteren Prüfungsschritt ist zu untersuchen, ob der
Antragsteller Beweismittel vorlegen kann, wonach die Verfolger nicht der staatlichen
Kontrolle unterliegen, inwieweit der Antragsteller Zugang zu vorhandenen Schutzsystemen
hat und ob er Anstrengungen unternommen hat, den Schutz staatlicher Bediensteter zu
erlangen und wie der Staat hierauf reagiert hat.255
Der Wortlaut von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG wie auch die Begründung legen den Schluss
nahe, dass die bezeichneten Kriterien sowohl die Ermittlungen, ob dem Antragsteller die
Inanspruchnahme staatlichen Schutzes vor der Ausreise zumutbar war, wie auch die
maßgebende Prognoseprüfung leiten, ob im Falle der Rückkehr Schutz vor Verfolgung
gewährleistet ist. Soweit es um die Zumutbarkeit der Beantragung nationalen Schutzes vor der
Ausreise geht, beruht die Richtlinie 2004/83/EG auf der Schutzlehre und geht deshalb
grundsätzlich davon aus, dass gegen Verfolgungen durch staatliche Behörden und diesen
vergleichbare Institutionen vernünftigerweise nicht die Inanspruchnahme staatlichen Schutzes
erwartet werden kann. Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG hat daher zunächst die Funktion, die
materiellen Kriterien zu bezeichnen, unter denen vor der Ausreise gegen Verfolgungen durch
nichtstaatliche Verfolger (Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG) nationaler Schutz beantragt
werden kann oder dies unzumutbar war. Insoweit muss im konkreten Einzelfall individueller
Zugang zum staatlichen Schutzsystem bestehen, muss der verfügbare Schutz wirksam sein
und ist bei Schutzunfähigkeit nationaler Schutz nicht verfügbar (Art. 7 Abs. 2 RL
2004/83/EG).
Darüber hinaus hat Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG insbesondere die Funktion, die
Prognoseprüfung zu leiten. Hat der Antragsteller vor der Ausreise Verfolgung erlitten oder
stand ihm diese unmittelbar bevor und konnte er hiergegen keinen nationalen Schutz erlangen,
so kann ihm die Statusberechtigung nur verweigert werden, wenn stichhaltige Gründe
dagegen sprechen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL
2004/83/EG). Nur bei einer grundlegenden Änderung der Verfolgungssituation wird man dies
annehmen können. Für diese Prüfung hält Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG die maßgebenden
Kriterien bereit. Dabei wird man eine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung verneinen
müssen, wenn die Zugriffsmöglichkeiten der Verfolgungsakteure unverändert fortbestehen.
bb)
Abgrenzung zwischen ernsthaften und lediglich entfernt liegenden Möglichkeiten
Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist im Rahmen der Verfolgungsprognose zunächst die
Frage zu beantworten, ob der Antragsteller im Falle der Rückkehr ungehinderten Zugang zu
einem wirksamen nationalen Schutzsystem haben wird. Die Vorschrift hat hingegen nicht die
Funktion, nach Maßgabe der Zurechnungslehre anhand abstrakt-genereller Kriterien
bestimmte Verfolgungshandlungen dem Staat zuzurechnen oder nicht und davon die
255
Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001, BR-Drs. 1017/01, S. 18 f.
121
Gewährung der Statusberechtigung abhängig zu machen. Vielmehr beruht die Vorschrift auf
der Schutzlehre und leiten die dort bezeichneten Kriterien die Prognoseprüfung.
Nach der britischen Rechtsprechung ist bei der Prognoseprüfung das Subsidiaritätsprinzip zu
berücksichtigen. Dieses beruht auf der Überlegung, dass vollständiger Schutz gegen isolierte
und lediglich entfernt liegende Möglichkeiten der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure
nicht geschuldet ist. Der anzuwendende Maßstab muss deshalb nicht die Leistung erbringen,
dass sämtliche Risiken auszuschalten sind. Vielmehr ist er pragmatisch anzuwenden und sind
die Schutzpflichten zu berücksichtigen, die der Herkunftsstaat den seiner Obhut unterstellten
Personen schuldet.256 Diese Schutzpflichten werden in Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG
bezeichnet. Die britische Rechtsprechung hat in der Folgezeit Horvath weiter interpretiert.
Die Konvention enthält danach keine Garantie gegen Verfolgungen durch nichtstaatliche
Akteure. Vielmehr liege der relevante Schutzstandard irgendwie unterhalb dieser Schwelle.
Maßgeblich für den die Prognoseprüfung leitenden Schutzstandard der Konvention sei die
Tatsache, dass diese einen Ersatz bzw. ein Surrogat für den fehlenden nationalen Schutz
gewähre. Deshalb seien Inhalt und Umfang dieses Schutzstandards nach Maßgabe derselben
Schutzpflichten zu bestimmen, die der Vertragsstaat seinen eigenen Bürgern schulde.257
Das Schutzsystem müsse Strafvorschriften enthalten, die Verfolgungshandlungen durch
nichtstaatliche Akteure unter Strafe stellten und angemessene Sanktionen gegen diese
vorsehe. Es müsse darüber hinaus so gestaltet werden, dass Opfer von Verfolgungen nicht aus
dem Schutzsystem ausgeschlossen würden. Schließlich müsste auf Seiten der Polizei und
anderer mit dem Gesetzesvollzug betrauter Behörden der wirkliche Wille bestehen,
Ermittlungen einzuleiten, aufzuklären und Strafverfolgungsmaßnahmen einzuleiten.
Grundlegend sei, dass der Schutzwille mit der Fähigkeit einhergehe, Schutz gegen
Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure in einem Umfang zu gewähren, der
vernünftigerweise erwartet werden könne und das „konkrete Risiko“ der Verfolgung
ausschalte. Was im Einzelnen zumutbarer Schutz bedeute, sei danach stets vom
Wahrscheinlichkeitsgrad der Verfolgung abhängig.258 Die Frage nach dem generellen
Schutzstandard stelle sich stets, wenn der Staat zwar schutzwillig sei, seine Fähigkeit hierzu
jedoch in Frage stehe. Zur Beantwortung dieser Frage müsse die Frage des angemessenen
Schutzstandards nach den aufgezeigten Grundsätzen gelöst werden. In diesem Sinne sind
auch die Kriterien von Art. 7 Abs. der Richtlinie auszulegen und anzuwenden.
Die entscheidende Frage zielt danach nicht auf die Erkenntnis, ob die staatlichen Behörden im
konkreten Einzelfall alles ihnen Mögliche unternehmen werden, um generell Schutz zu
gewähren. Vielmehr kommt es entscheidungserheblich darauf an, ob eine ernsthafte
Möglichkeit dafür besteht, dass der Antragsteller aus Gründen der Konvention verfolgt wird.
Der eigentliche Zweck des in Horvath entwickelten Standards besteht mithin darin, isolierte
und bei Anlegung eines Wahrscheinlichkeitsmaßstabes weit entfernt liegende Möglichkeiten
ausschließen.259 Das britische Berufungsgericht für Ausländerrecht hat in diesem
Zusammenhang ausdrücklich klargestellt, dass Horvath nicht so verstanden werden könne,
dass ausreichender Schutz gewährleistet sei, wenn die zuständigen Behörden ihr Bestes täten.
Lordrichter Hope of Craighead, in: House of Lords, IJRL 2001, 174 (182) – Horvarth; so auch
BVerfGE 81, 58 (66) = EZAR 203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 514 = InfAuslR 1990, 74; BVerwGE 67, 317 (320) =
EZAR 202 Nr. 1.
257
Court of Appeal, 11. 11. 2003 – C1/2003/1007(A), C1/2003/1007(B)&C3/2003/1007 - Bagdanavicius
258
High Court of Justice, 6. 2. 2002 – CO/2392/2001 (2002) – Dhima.
259
Berufungsgericht , Entscheidung v. 25. 5. 2001, C/2000/3674 - Banomova, zitiert nach Wilsher, IJRL
2003, 68 (92).
256
122
Könne der Antragsteller darlegen, dass das Beste ineffektiv sei, habe er glaubhaft gemacht,
dass der Staat zur erforderlichen Schutzgewährung nicht fähig sei.260
Damit ist festzuhalten, dass der in Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG entwickelte Standard
prognoserechtliche Bedeutung hat. Er stellt für die Prognoseprüfung Kriterien zur Verfügung,
um isolierte und weit entfernt liegende Möglichkeiten der Realisierung der Verfolgungsgefahr
aus der Betrachtung auszuschließen. Schutz gegen derartige Risiken schuldet der Staat auch
seinen Bürgern gegenüber nicht. Dies kann deshalb auch nicht der Maßstab des
internationalen Schutzes sein. Diese Interpretation der generellen Gewährleistungsgarantie in
Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG steht in Übereinstimmung mit den Intentionen der Verfasser der
Konvention. Der Schutz der Konvention beruht nicht auf abstrakten Formalitäten, sondern
richtet sich gegen reale Risiken. Der einzig relevante Schutz der Konvention ist der Schutz,
der Verfolgungsrisiken konkret ausschaltet, die andernfalls den Betroffenen zwingen würden,
(subsidiären) internationalen Schutz zu suchen.261
cc)
Individueller Zugang zum nationalen Schutzsystem
Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist generell Schutz gewährleistet, wenn die Schutzakteure
geeignete Schritte einleiten, um Verfolgungen zu verhindern. Die Prognoseprüfung fällt
jedoch stets zugunsten des Antragstellers aus, wenn er keinen individuellen Zugang zum
Schutzsystem hat (Art. 7 Abs. 2 letzter HS RL 2004/83/EG), etwa weil der Staat nicht
schutzfähig ist oder die zentralstaatlichen Strukturen sich aufgelöst haben. Demgegenüber
wird nach der deutschen Rechtsprechung die Statusberechtigung verweigert, wenn die
Schutzgewährung die Kräfte eines konkreten Staates übersteigt. Jenseits der ihm an sich zur
Verfügung stehenden Mittel endet danach seine Verantwortlichkeit. Ihre Grundlage findet
diese Begrenzung des Schutzstandards nach Ansicht des BVerfG nicht schon im bloßen
Anspruch eines Staates auf das legitime Gewaltmonopol, sondern erst in dessen – prinzipieller
– Verwirklichung. Solle die Asylgewährleistung Schutz vor einem bestimmt gearteten Einsatz
verfolgender Staatsgewalt bieten, läge darin als Kehrseite beschlossen, dass »Schutz vor den
Folgen anarchischer Zustände oder der Auflösung der Staatsgewalt« nicht durch die
verfassungsrechtliche Asylrechtsnorm versprochen sei.262
Diese Rechtsprechung kann wegen Art. 7 Abs. 2 letzter HS RL 2004/83/EG keine
Anwendung finden. Ihr fehlt ohnehin die erforderliche Tiefenschärfe. Wann von einer
»prinzipiellen Verwirklichung« des Gewaltmonopols ausgegangen werden kann, wann also
der Grundsatz durch Ausnahmen durchbrochen wird, hat das BVerfG offen gelassen und nur
als extremen Fall anarchische Zustände und sich auflösende Staatsstrukturen bezeichnet. Nach
§ 60 Abs. 1 Buchst. c) AufenthG sind Verfolgungen aber auch erheblich, wenn keine
staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist. Zwischen derartigen Extremfällen und Situationen,
in denen der Staat aus anderen Gründen – etwa wegen unzureichender gesetzlicher,
administrativer und polizeilicher Schutzvorkehrungen aufgrund verfehlter Planungen, knapper
Ressourcen oder sonstiger nicht voluntativer Faktoren – den notwendigen Schutz gegen
Verfolgungen durch nichtstaatlicher Akteure nicht gewähren kann, besteht eine weite
Bandbreite von Auslegungsmöglichkeiten.
Insoweit war auch nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG der asylrechtliche
Schutz nicht zu versagen, wenn der Herkunftsstaat die Verfolgung durch Private trotz
Innehabung der Staatsgewalt – etwa wegen der Rücksichtnahme auf bestimmte
Immigration Appeal Tribunal, Entscheidung vom 19. 7. 2001 – Nr. CC/23044/2000 -Kacaj, zitiert nach
Wilsher, IJRL 2003, 68 (92); bekräftigt durch High Court of Justice, 6. 2. 2002 – CO/2392/2001 (2002) –
Dhima.
261
Mathew/ Hathaway/ Forster, IJRL 2003, 444 (448).
262
BVerfGE 80, 315 (336) = EZAR 201 Nr. 1 = NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990, 21.
260
123
gesellschaftliche Machtstrukturen – generell nicht zu verhindern vermochte.263 Zwar vermöge
kein Staat einen »schlechthin perfekten lückenlosen Schutz zu gewähren und sicherzustellen,
dass Fehlverhalten, Fehlentscheidungen oder ›Pannen‹ sonstiger Art bei der Erfüllung der ihm
zukommenden Aufgabe der Wahrung des innere Friedens nicht vorkommen. Deshalb schließe
weder Lückenhaftigkeit des Systems staatlicher Schutzgewährung überhaupt noch die im
Einzelfall von dem Betroffenen erfahrene Schutzversagung als solche schon staatliche
Schutzbereitschaft oder Schutzfähigkeit aus.264
Vielmehr waren nach der Rechtsprechung des BVerwG Übergriffe Privater dem Staat als
mittelbare staatliche Verfolgung nur dann zuzurechnen, wenn er gegen
Verfolgungsmaßnahmen Privater »grundsätzlich« keinen effektiven Schutz gewährte.
Umgekehrt war eine »grundsätzliche Schutzbereitschaft« des Staates zu bejahen, wenn die
zum Schutz der Bevölkerung bestellten (Polizei-)Behörden bei Übergriffen Privater zur
Schutzgewährung ohne Ansehen der Person verpflichtet und dazu von der Regierung auch
landesweit angehalten wurden, vorkommende Fälle von Schutzverweigerung mithin ein von
der Regierung nicht gewolltes Fehlverhalten der Handelnden in Einzelfällen waren.265
»Generelles staatliches Unvermögen«, ohne dass dem Staat der Vorwurf der
»Komplizenschaft mit dem verfolgenden Dritten« gemacht werden konnte, stand damit der
Statusgewährung entgegen.266 Andererseits war eine Verfolgung durch private Dritte auch
dann eine mittelbare staatliche, wenn dem Staat die erforderlichen Machtmittel aufgrund
seiner Gebietsgewalt zwar zu Verfügung standen, er sie aber nicht einsetzte, weil er wegen
der bestehenden innenpolitischen Machtstrukturen auf bestimmte gesellschaftliche oder
politische Gruppen Rücksicht nehmen wollte oder musste.267 Nach Art. 7 Abs. 2 letzter HS
RL 2004/83/EG kann diese auf der Zurechnungslehre beruhende Rechtsprechung keine
Anwendung finden. Es ist eine konkrete individuelle Bewertung angezeigt (Art. 4 Abs. 3
Buchst.c) RL 2004/83/EG). Da individuell Zugang zum nationalen Schutzsystem
sicherzustellen ist, kann staatliches Unvermögen zur Schutzgewährung deshalb dem
Antragsteller nicht entgegen gehalten werden.
f) Interner Schutz (Art. 8 RL 2004/83/EG)
aa) Begriff der internen Schutzalternative
Nach Artikel 8 RL 2004/83/EG kann die in den Mitgliedstaaten seit den siebziger Jahren
entwickelte Praxis der inländischen Fluchtalternative als Grund für die Schutzversagung
übernommen werden. Es handelt sich um eine Öffnungsklausel, die eng auszulegen ist. In der
Staatenpraxis, die in Kanada und in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. § 77 Abs. 1
AsylVfG) sogar gesetzlich verankert ist, ist nach Artikel 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG die Frage
einer in einem „Teil des Hoheitsgebietes des Herkunftslandes“ bestehenden Schutzalternative
im Rahmen der abschließenden Verfolgungsprognose zu prüfen. Damit hat der Einwand der
internen Schutzalternative gegenüber ursprünglichen Ansätzen seine Funktion vollständig
verändert. Es geht nicht mehr in erster Linie um die Prüfung, ob im Zeitpunkt der Flucht
innerhalb des Herkunftsstaates interne Schutzzonen als Alternative zur Flucht bestanden
(interne Fluchtalternative), sondern darum, ob im Zeitpunkt der Entscheidung derartige
263
BVerwGE 95, 42 (48) = NVwZ 1994, 497 = EZAR 230 Nr. 3 = InfAuslR 1994, 196; BVerwG, EZAR
202 Nr. 26.
264
BVerwG, EZAR 202 Nr. 24.
265
BVerwG, EZAR 202 Nr. 24; BVerwG, EZAR 202 Nr. 26.
266
BVerwGE 95, 42 (49) = NVwZ 1994, 497 = EZAR 230 Nr. 3 = InfAuslR 1994, 196.
267
BVerwG, EZAR 202 Nr. 26.
124
Zonen (interne Schutzalternativen) ausgemacht werden können. Dadurch erscheinen interne
Schutzzonen nicht mehr als Alternative zur Flucht, sondern als Alternative zum
internationalen Schutz. Dementsprechend ist die Begriffsverwirrung erheblich.
Beim Einwand der internen Schutzalternative handelt es sich nicht um einen „Rechtsbegriff“,
sondern nach dem international erreichten Konsens lediglich um ein „tatsächliches Moment“
im Rahmen der Prognoseprüfung. Die Richtlinie 2004/83/EG stellt den Mitgliedstaaten die
Anwendung der internen Schutzalternative frei und enthält darüber hinaus auch keine
materiellen Kriterien, anhand deren dieser Einwand geprüft werden kann. Es besteht deshalb
die Gefahr, dass in den Mitgliedstaaten auch weiterhin eine höchst unterschiedliche
Rechtsanwendungspraxis in dieser Frage die Folge sein wird. Auch die Staatenpraxis ist in
dieser Frage sehr uneinheitlich, enthält jedoch einige Grundsätze, die auch bei der
Anwendung von Art. 8 RL 2004/83/EG zu berücksichtigen sind. Es besteht eine sachliche
Nähe zu den Regelungen in Art. 6 Buchst. c) und Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG, die ebenfalls
auf dem Gedanken der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes beruhen und vorrangig bei
geltend gemachter Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure Anwendung findet.
bb) Voraussetzungen des internen Schutzes
(1) Prüfungsschema
Entsprechend der Staatenpraxis gewinnt der Einwand der Verfügbarkeit internen Schutzes im
Rahmen der Verfolgungsprognose Bedeutung. Zu prüfen ist in diesem Rahmen, ob der
Antragsteller ungefährdeten Zugang zum Ort des internen Schutzes hat. Insoweit weicht Art.
8 Abs. 3 RL 2004/83/EG bedenklich von der Staatenpraxis ab. Anschließend ist zu
untersuchen, ob er dort vor dem Zugriff der Verfolger sicher ist. Das ist bei Verfolgungen
durch staatliche oder vergleichbare Behörden regelmäßig nicht der Fall. Schließlich ist zu
prüfen, ob aufgrund der am Ort der internen Schutzalternative vorherrschenden allgemeinen
Verhältnisse vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort
aufhält (vgl. Art. 8 Abs. 1 letzter Hs. RL 2004/83/EG). Dabei sind anders als nach der
bisherigen deutschen Rechtsprechung neben den allgemeinen Gegebenheiten am Ort der
Schutzalternative insbesondere auch die konkreten persönlichen und familiären sowie
sonstigen individualbezogenen Umstände zu berücksichtigen (vgl. Art. 8 Abs. 2 in Verb. mit
Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG).
(2) Ungefährdeter Zugang zum Ort der internen Schutzalternative
Die zentrale Frage bei der Anwendung der internen Schutzalternative zielt auf die
Voraussetzungen, unter denen angenommen werden kann, dass der Antragsteller tatsächlich
Zugang zu der Schutzzone erlangen kann. Falls innerhalb des Herkunftslandes eine alternative
Schutzzone besteht, diese aber nicht erreicht werden kann, ist der Verweis auf den internen
Schutz rein spekulativer Natur und bleibt er eine lediglich theoretische Option.156 Die
Entscheidung wird maßgeblich von dem Grundsatz geleitet, dass der Antragsteller tatsächlich
in der Lage sein muss, die Schutzzone sicher und auf legalem Wege zu erreichen. Das
erfordert
die
Berücksichtigung
körperlicher
und
anderer
Zugangbarrieren,
Transportunterbrechungen, Visa- und Transitvisaerfordernisse von Durchreisestaaten.
125
(3)
Praktische Hindernisse im Sinne von Art. 8 Abs. 3 RL 2004/83/E
Der Einwand des internen Schutzes kann auch eingewandt werden, wenn praktische
Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen (Art. 8 Abs. 3 RL 2004/83/EG).
Absatz 3 von Art. 8 RL 2004/83/EG ist erst im Laufe der Beratungen eingefügt worden.
Zunächst regelte Art. 8 des Kommissionsentwurfs ausschließlich Kriterien, die auf die
territoriale Situation am Ort des internen Schutzes im Herkunftsland bezogen waren - nämlich
Art. 8 Abs. 1 und 2 – und ließ damit die Frage der Erreichbarkeit des internen Schutzortes
offen. Nach der in Kraft getretenen Fassung gibt Art. 8 Abs. 3 RL 2004/83/EG den
Mitgliedstaaten die Befugnis, den internen Schutzeinwand auch dann anzuwenden, wenn
„praktische Hindernisse“ für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen und nimmt damit
auch den Reiseweg in den Blick.
Aus dem Regelungszusammenhang der Richtlinie 2004/83/EG folgt, dass im maßgeblichen
Entscheidungszeitpunkt (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) und Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG)
hinreichend sicher feststehen muss, dass der Zugang zum nationalen Schutzsystem
gewährleistet ist (vgl. auch Art. 7 Abs. 2 a.E. RL 2004/83/EG). Kann dies nicht festgestellt
werden, besteht Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Art. 13 RL
2004/83/EG) und auf Erteilung des Aufenthaltstitels (Art. 24 Abs. 1 1. Unterabs. RL
2004/83/EG). Es ist den Mitgliedstaaten untersagt, im Anschluss an die Feststellung der
Flüchtlingseigenschaft eine Abschiebungsandrohung zu erlassen und die Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis davon abhängig zu machen, dass die Abschiebung nicht lediglich
vorübergehend aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist (vgl. aber § 70 Abs.
1 AsylVfG a.F).
Aus diesem Regelungszusammenhang folgt, dass die für die Anwendung von § 25 Abs. 5
Satz 1 und § 60a Abs. 2 AufenthG maßgebende Unterscheidung zwischen rechtlichen und
tatsächlichen Hindernissen auf dem Reiseweg für die Prüfung des internationalen Schutzes
ungeeignet ist. Zwar hindert Art. 33 Abs. 1 GFK nicht die Abschiebung in dritte Staaten. Das
Konzept des „ausländischen Fluchtalternative“ ist jedoch nicht Regelungsgegenstand der
Richtlinie 2004/83/EG, sondern der Richtlinie 2005/85/EG (Verfahrensrichtlinie), hier der
Bestimmungen Art. 26, 27, Art. 30 und 36. Wird das Asylbegehren inhaltlich geprüft, kommt
es auf mögliche „ausländische Fluchtalternativen“ nicht mehr an, sondern nur noch darauf,
dass die Voraussetzungen von Kapitel II und III der Richtlinie 2004/83/EG erfüllt sind.
Der interne Schutz steht zwar der Statuszuerkennung entgegen, jedoch nur, wenn der Zugang
zum nationalen Schutzsystem (Art. 7 Abs. 2 a.E. RL 2004/83/EG) im Zeitpunkt der
Statusentscheidung (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) und Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG) hinreichend
gewährleistet ist. Aus dem Regelungszusammenhang von Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) und Art. 8
Abs. 2 in Verb. mit Art. 7 Abs. 2, 13 und Art. 24 Abs. 1 RL 2004(83/EG ist zu folgern, dass
im Zeitpunkt der Entscheidung zuverlässig feststehen muss, ob der individuelle Zugang zum
nationalen Schutzsystem in wirksamer Weise eröffnet ist.
Dieser Regelungszusammenhang und diese Zweckbestimmung leiten die Unterscheidung in
rechtliche und praktische Hindernisse nach Art. 8 Abs. 3 RL 2004/83/EG. Die
inlandsbezogenen Vollstreckungshemmnisse einerseits sowie die Prüfung der internationalen
Schutzbedürftigkeit andererseits folgen damit unterschiedlichen Zweckbestimmungen. Der
Begriff der „praktischen Hindernisse“ in Art. 8 Abs. 3 RL 2004/83/EG ist immanenter
Bestandteil des Konzeptes des internationalen Schutzes. Die Norm ist Bestandteil der
Vorschriften von Kapitel II der Richtlinie, welche die materiellen Voraussetzungen für die
126
Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz bezeichnen (vgl. auch Art. 2 Buchst. a) RL
2004/83/EG). Der Begriff „praktische Hindernisse muss deshalb als Begriffselement des
internationalen Schutzes ausgelegt und angewendet werden. Dies verbietet es, völlig anderen
Zwecken dienende nach nationalem Recht zu bestimmende Begriffe zur Auslegung und
Anwendung eines das Konzept des internationalen Schutzes verwirklichenden
Begriffsmerkmals heranzuziehen.
(4) Zumutbarkeit des Aufsuchens des Ortes des internen Schutzes
Es kann vom Asylsuchenden vernünftigerweise nur erwartet werden, dass er vom
Aufnahmestaat aus freiwillig den Ort des internen Schutzes in seinem Herkunftsland aufsucht,
wenn dies für ihn zumutbar ist. Der Gedanke der Zumutbarkeit, welcher in Art. 8 RL
2004/83/EG als durchgängiges Prinzip verankert ist, erweitert damit den Prüfungsgegenstand
über Gefährdungen hinaus auch auf alle Umstände, welche der Annahme entgegenstehen, es
könne vom Asylsuchenden vernünftigerweise das Aufsuchen des Ortes der internen
Schutzalternative erwartet werden.
Weil der Einwand des internen Schutzes Ausdruck der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes
ist, also einen ansonsten bestehenden Anspruch auf Gewährung von Flüchtlingsschutz
beseitigt, muss im Zeitpunkt der Statusentscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG, Art. 4 Abs. 3
Buchst. a), Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG) mit hinreichender Sicherheit feststehen, ob der Ort
des internen Schutzes sicher erreicht werden kann. Dies schließt ein, dass alle Umstände auf
dem Weg vom Mitgliedstaat zum Ort der internen Schutzzone in die Betrachtung eingestellt
werden, um zu entscheiden, ob es vom Asylsuchenden vernünftigerweise erwartet werden
kann, dass er den Ort des internen Schutzes aufsucht. Zumutbarkeitserwägungen, die sich auf
den Reiseweg zum Ort des internen Schutzes beziehen, sind damit Gegenstand der
asylrechtlichen Statusentscheidung und dürfen nicht den Vollzugsbehörden zur Prüfung und
Entscheidung überantwortet werden. Es ist damit eine präzise Grenze zu ziehen zwischen den
materiellrechtlichen Kriterien für die Auslegung und Anwendung des internen Schutzes unter
Einbeziehung der auf den Reiseweg bezogenen Zumutbarkeitsgesichtpunkte einerseits, sowie
den Grundsätzen, welche für die ausländerbehördliche Vollstreckung von unanfechtbaren
Abschiebungsandrohungen
als
Folge
negativer
asylverfahrensrechtlicher
Statusentscheidungen maßgebend sind.
(5)
Sicherheit vor dem Zugriff des Verfolgers
Vom Antragsteller kann vernünftigerweise nur dann erwartet werden, dass er den Ort des
internen Schutzes aufsucht, wenn er dort sicher vor dem Zugriff der Verfolger ist. Staaten
sind regelmäßig in der Lage, ihr Gewaltmonopol landesweit auszuüben. Dies gilt auch für
Organisationen, die das gesamte Staatsgebiet beherrschen (vgl. Art. 6 Buchst. b) der RL).
Allein mit dem Hinweis darauf, dass die Verfolger nicht am Ort der Schutzzone aktiv sind,
kann die Verfolgungssicherheit nicht unterstellt werden. Vielmehr müssen vernünftige
Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Reichweite der Verfolgungshandlungen örtlich
begrenzt ist. Sofern die Verfolgung von staatlichen Behörden ausgeht, spricht eine
Regelvermutung dafür, dass die Reichweite der Verfolgungshandlungen sich auf das gesamte
Staatsgebiet erfasst. Deshalb wird in der Staatenpraxis der Einwand der internen
Schutzalternative regelmäßig nicht angewendet, wenn der Antragsteller Verfolgung durch
staatliche Behörden geltend macht. Es kann deshalb von einem Antragsteller, der Folter durch
staatliche Behörden erlitten hat, vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er bei
127
staatlichen Behörden Schutz sucht.268 Deshalb kommt der Änderung in § 60 Abs. 1 Satz 4
letzter Hs. AufenthG lediglich redaktionelle Bedeutung zu.
In Chahal hat der EGMR festgestellt, dass dem Beschwerdeführer polizeiliche Verfolgung
nicht nur in der Heimatprovinz Punjab, sondern überall in Indien drohte.269 In Hilal
berücksichtigte der Gerichtshof den Umstand, dass die Polizei in Sansibar eng mit den
Polizeibehörden des Festlandes von Tansania verbunden war, und verneinte deshalb, dass der
Antragsteller dort effektiven Schutz gegen Verfolgungen erlangen könnte.270
Geht die Verfolgung von lokalen oder regionalen Behörden aus, kann nur unter besonderen
Umständen eine interne Schutzalternative bejaht werden. Grundsätzlich ist es höchst
unwahrscheinlich, dass eine zentrale Regierung, die keine effektiven Schutzvorkehrungen
gegen Verfolgungen durch derartige Behörden trifft, effektiven Schutz im Falle der Rückkehr
gegen deren Verfolgungen gewähren wird.271 Dies gilt auch für Verfolgungen durch die
Staatspartei oder die den Staat und die Gesellschaft beherrschenden religiösen Gruppen. In
den meisten Fällen sind die Staatspartei oder die vorherrschenden religiösen Gruppen
landesweit organisiert und deshalb auch fähig, im gesamten Staatsgebiet Verfolgungen
auszuüben.
Sofern die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht (vgl. Art. 6 Buchst. c) der RL),
kann grundsätzlich vernünftigerweise vom Antragsteller erwartet werden, internen Schutz in
Anspruch zu nehmen (vgl. auch § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG). Sofern die
Verfolger nicht mit den staatlichen Behörden zusammenarbeiten oder sonst wie mit diesen
verbunden sind, die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure örtlich begrenzt bleibt und die
staatlichen Behörden willens und in der Lage sind, den Antragsteller in anderen Landesteilen
zu schützen (vgl. Art. 7 Abs. 2 der RL), kann nach der Staatenpraxis vom Antragsteller
vernünftigerweise erwartet werden (vgl. auch Art. 8 Abs. 1 der RL), internen Schutz in
Anspruch zu nehmen. Im Falle eines prominenten politischen Dissidenten ist die Regierung
jedoch nicht in der Lage, diesen vor Verfolgungen durch seine frühere Organisation zu
schützen.272
(6) Zumutbarkeit der Lebensverhältnisse am Ort der internen Schutzalternative
Nach Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG muss vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet
werden können, dass er den Ort des internen Schutzes aufsucht. Die interne Schutzgewährung
268
US Court of Appeals, Ninth Circuit, Singh v. Ilchert, 63 F.3d 1501; New Zealand Refugee Status
Appeals Authority, Decision of 18 June 1993 – No. 135/92 Re RS.
269
EGMR, EZAR 933 Nr. 4 = NVwZ 1997, 1093 = InfAuslR 1997, 97 – Chahal.
270
EGMR, InfAuslR 2001, 417 – Hilal.
271
Vgl. EGMR, InfAuslR 2001, 417 – Hilal.
Council of State, Decision of 8.11.1994 – RO2.92.3389, District Court of Den Haag, Decision of 15 July
1997 – AWB 97/1525; UK Court of Appeals, Ex p Robinson v. SSHD (1997) Imm AR 94; Court of Appeals,
Sotelo-Aquinje v. Slattery, (1994) 17 F.3d 33:
272
128
muss danach für ihn zumutbar sein. Das Erfordernis der Zumutbarkeit ist ein Art. 8 der
Richtlinie 2004/83/EG insgesamt prägendes Auslegungsprinzip, wie auch Abs. 2 von Art. 8
der Richtlinie 2004/83/EG deutlich macht. Der Begriff der Zumutbarkeit leitet nach dem
Wortlaut von Abs. 1 und Abs. 2 auch die Auslegung und Anwendung von Art. 8 RL
2004/83/EG insgesamt und umfasst damit sowohl die Voraussetzungen der Erreichbarkeit wie
auch der Verfolgungssicherheit, hat aber darüber hinaus auch insbesondere Bedeutung für die
Beurteilung der Lebensverhältnisse am Ort des internen Schutzes. Insbesondere für diese
Prüfung verlangt Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG von den Mitgliedstaaten eine konkrete, die
persönlichen Umstände des Antragstellers im Entscheidungszeitpunkt ins Auge fassende
Bewertung. Die generalisierende Betrachtungsweise des BVerwG273 ist insoweit mit der RL
nicht vereinbar und überholt.
Ausgangspunkt des internen Schutzes ist Art. 1 A Nr. 2 GFK. Flüchtling ist, wer sich
außerhalb des Landes seiner Staatsangehörigkeit oder seines gewöhnlichen Aufenthaltes
befindet und den Schutz dieses Landes aus begründeter Furcht vor Verfolgung nicht in
Anspruch nehmen kann oder will. Es kann dem Flüchtling nicht angesonnen werden,
freiwillig in sein Herkunftsland zurückzukehren, wenn dies für ihn unzumutbar ist. Soll er an
eine Region innerhalb seines Herkunftslandes verwiesen werden, in Bezug auf die diese
Befürchtung nicht begründet ist, kann von ihm vernünftigerweise nur dann die Rückkehr
dorthin erwartet werden (vgl. Art. 8 Abs. 1 letzter Hs. RL 2004/83/EG), wenn diese Option
praktisch realisierbar, realistisch und für den Flüchtling sicher erreichbar ist.
Nach Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG stellen die Mitgliedstaaten auf die am Ort des internen
Schutzes „allgemeinen Gegebenheiten“ und die „persönlichen Umstände“ des Asylsuchenden
im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag ab. Anders als nach der bisherigen deutschen
Rechtsprechung findet damit kein generell abstrakter Maßstab bezogen auf die Verhältnisse
am internen Schutzort statt, sondern ein konkreter individualbezogener Maßstab, der die
besonderen persönlichen und familiären Verhältnisse einbezieht.
Der danach maßgebende konkret individuelle Ansatz wird bestärkt durch Art. 4 Abs. 3
Buchst. c) RL 2004/83/EG, wonach die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des
Asylsuchenden einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund,
Geschlecht und Alter, bei der Entscheidung zugrunde zu legen sind.274 Maßgebend für die
Bewertung der allgemeinen Gegebenheiten nach Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist der
Maßstab von Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG, wonach von dem Asylsuchenden
vernünftigerweise erwartet werden können muss, dass er sich in dem entsprechenden
Landesteil aufhält. Die gebotene Entscheidung zielt auf die Frage, wie hoch die Schwelle der
Zumutbarkeit gesetzt werden kann. Um den Einwand des internen Schutzes gegen den
Antragsteller erheben zu können, müssen deshalb die Verhältnisse am Ort des internen
Schutzes so gestaltet sein, dass er dort ein relativ normales Leben unter Berücksichtigung der
allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsland sowie seiner persönlichen Umstände (vgl. Art.
8 Abs. 2 RL 2004/83/EG) führen kann.
Das dem völkerrechtlichen Flüchtlingsbegriff immanente Spannungsverhältnis zwischen dem
Begriff des nationalen menschenrechtlichen Schutzstandards und dem Begriff der
internationalen Schutzbedürftigkeit setzt eine Entscheidung darüber voraus, wie hoch der
Standard des nationalen Menschenrechtsschutzes zu setzen ist. Das Konzept grundlegender
273
BVerwGE 87, 141 (149) = NVwZ 1992, 384 = EZAR 200 Nr. 27; BVerwG, InfAuslR 1994, 201 (203);
BVerwG, EZAR 200 Nr. 30; BVerwG, EZAR 203 Nr. 10.
274
S. auch Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung. Erläuterungen zur Richtlinie 2004/83/EG, Stand
Juni 2006, § 14 Rdn. 40 ff.
129
Menschenrechte muss vor dem Hintergrund der besonderen politischen, ethnischen, religiösen
und anderen menschenrechtlichen Voraussetzungen, also nach Maßgabe der „allgemeinen
Gegebenheiten“ am internen Schutzort (vgl. Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG), konkretisiert
werden. Obwohl Fragen wirtschaftlicher Natur, wie z. B. der Zugang zu angemessenen
Arbeitsbedingungen, nicht unmittelbar relevant für die Bestimmung des nationalen
Menschenrechtsstandards sind, begründet die Unfähigkeit, in anderen Landesteilen
wirtschaftlich zu überleben, die internationale Schutzbedürftigkeit.275 Jedenfalls muss dem
Antragsteller ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Unterstützung gewährt werden.
Der bisherige Ansatz des BVerwG, wonach ausschließlich zu berücksichtigen ist, ob der
Antragsteller bei generalisierender Betrachtungsweise in anderen Landesteilen auf Dauer ein
Leben zu erwarten hat, das zu Hunger, Elend und schließlich zum Tode führt,276 bedarf einer
Überprüfung am Maßstab des Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG. Das Gemeinschaftsrecht erlaubt
keine generalisierende Betrachtungsweise, sondern erfordert stets und nicht nur in
Ausnahmefällen277 eine konkrete Berücksichtigung der persönlichen Umstände des
Antragstellers (Art. 8 Abs. 2, vgl. auch Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG). Darüber
hinaus ist nach dem internationalen Standard das Erkenntnisinteresse nicht primär negativ auf
den Ausschluss extremer wirtschaftlicher Notlagen ausgerichtet. Vielmehr ist es positiv an der
Sicherstellung eines nationalen Menschenrechtsstandards bezogen auf den in Betracht
kommenden Ort des internen Schutzes orientiert.
Wirksamer nationaler Schutz ist danach nicht bereits sichergestellt, wenn in anderen
Landesteilen keine Verfolgung und bzw. kein ernsthafter Schaden drohen. Vielmehr erfordert
dies darüber hinaus die Gewährleistung grundlegender Menschenrechte in anderen
Landesteilen.278 Die Zumutbarkeit der Lebensbedingungen wird daher weit oberhalb des sehr
restriktiven Maßstabs der bisherigen deutschen Rechtsprechung in Frage gestellt. Der
Antragsteller muss darlegen, dass er bei Berücksichtigung seiner konkreten persönlichen
Lebensumstände keine effektive Möglichkeit hat, in anderen Landesteilen wirtschaftlich zu
bestehen.279
(7)
Keine Aufrechnung zwischen den am Herkunftsort und am Ort des internen Schutzes
bestehenden allgemeinen Gegebenheiten
Der Beeinträchtigungen der Rechte des Antragstellers am Ort des internen Schutzes müssen
nicht an Verfolgungsgründe nach Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG anknüpfen. Am Bestehen
verfolgungsbedingter Nachteile fehlt es demgegenüber nach der deutschen Rechtsprechung,
wenn Herkunftsort und Ort der inländischen Fluchtalternative identisch sind. In diesem Falle
werden im Rahmen der Verfolgungsprognose derartige Umstände nicht berücksichtigt.280 Für
die Gewährung des Flüchtlingsstatus ist hingegen von Bedeutung, dass der Flüchtling vor der
Ausreise den gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Zentralregierung gehabt hat und dort
von Verfolgung bedroht waren. Wird in anderen Landesteilen die Zivilbevölkerung durch
kriegerische Auseinandersetzungen und Luftangriffe betroffen, handelt es sich um drohende
Gefahren für Leib und Leben und damit um unzumutbare Lebensbedingungen.281 Soweit eine
275
UNHCR, An Overview of Protection Issues in Western Europe, June 1994, S. 22.
BVerwG, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG; BVerwG, EZAR 203 Nr. 4; BVerwG, InfAuslR 1989, 197;
NVwZ-RR 1991, 442.
277
So aber BVerwG, InfAuslR 1994, 201 (203) = EZAR 200 Nr. 30.
278
New Zealand Refugee Status Appeals Authority, Entsch. v. 29. 10. 1999 – Nr. 71684/99.
279
UK Court of Appeal, (2000) 2 All ER 449 – Karankaran.
280
BVerwG, NVwZ 1993, 791; BVerwG, InfAuslR 2000, 32 (33).
281
BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 198 (200).
276
130
Verwicklung in kriegerische Auseinandersetzungen zwischen regierungstreuen Truppen und
Aufständischen sowie zwischen rivalisierenden Gruppen von Aufständischen droht, sind
verlässliche Feststellungen über konkrete Gefährdungen erforderlich.282 Führt die Regierung
gezielt Luftangriffe auf die Bevölkerung in anderen Landesteilen durch, ist ohne weiteres von
einer Unzumutbarkeit des dortigen Aufenthaltes auszugehen.283
Die unterschiedlichen Gefahren am Herkunftsort und am Ort der internen Fluchtalternative
dürfen nach Art. 8 RL 2004/83/EG nicht gegeneinander aufgerechnet werden: Eine interne
Fluchtalternative darf aber nach der deutschen Rechtsprechung nur dann bejaht werden, wenn
die existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestanden hatte. Die Gefahr der infolge
des Bürgerkrieges gegebenen aktuellen Lebensbedrohung am Herkunftsort im Zeitpunkt der
Flucht darf mithin nicht gegen den am Ort des internen Schutzes drohenden ernsthaften
Schaden aufgerechnet werden, da es sich offensichtlich um ihren Wesen nach um nicht
vergleichbare Gefährdungen handelt.284 Gefährdungen führen deshalb nach der deutschen
Rechtsprechung dann nicht zur Unzumutbarkeit einer Ansiedlung am Ort der internen
Fluchtalternative, wenn der Betroffene an seinem Herkunftsort im Zeitpunkt der Flucht in
gleicher Weise existenziell gefährdet gewesen wäre. Der von Verfolgung Betroffene wird
zwar nicht darauf verwiesen, sich infolge seiner Flucht vor der Verfolgung erstmals
andersgearteten, aber doch gleichgewichtigen Beeinträchtigungen auszusetzen. Sind diese
Beeinträchtigungen landesweit gegeben, erleidet er aufgrund eines verfolgungsbedingten
Ortswechsels innerhalb des Herkunftsstaates keine unzumutbare Verschlechterung seiner
Lebensumstände.285
Diese Grundsätze können nach Art. 8 RL 2004/837/EG keine Anwendung finden, weil es
nicht auf den Zeitpunkt der Ausreise und auf die in diesem Zeitpunkt als Alternative zur
Flucht gegebenen Alternativen ankommt. Vielmehr ist im Rahmen der Verfolgungsprognose
zu prüfen, ob ein verfolgungsunabhängiger ernsthafter Schaden am Ort des internen Schutzes
droht. Wie die Verhältnisse im Herkunftsland im Zeitpunkt der Ausreise waren, ist dabei
unerheblich. Vielmehr muss bei erlittener oder bevorstehender Verfolgung im Zeitpunkt der
Flucht festgestellt werden, ob weiterhin auch am Ort des internen Schutzes Verfolgung droht.
Hat der Antragsteller Verfolgung vor der Ausreise, die an Verfolgungsgründe anknüpft,
geltend gemacht, darf der Flüchtlingsstatus nur verweigert werden, wenn stichhaltige Gründe
dagegen sprechen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder ernsthaften Schäden bedroht
sein wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Da die frühere Verfolgung oder Verfolgungsgefahr
lediglich eine Prognosetatsache ist, die nach Maßgabe von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie im
Rahmen der Prognoseprüfung zu berücksichtigen ist, kommt es auf die Frage der
landesweiten Verfolgung vor der Ausreise nicht an.
3. Verfolgungsgründe (Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie)
a)
Zuschreibung geschützter Merkmale (Art. 10 Abs. 2 RL 2004/83/EG)
Nach Art. 10 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist es für die Bewertung der Frage, ob die Furcht des
Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich den geschützten
Status innehat, der zur Verfolgung führt, sofern ihm dieser von den Verfolgern zugeschrieben
wird. Es kommt damit für die Anwendung der Zusammenhangsklausel allein darauf an, ob
282
BVerwG, U. v. 30. 4. 1991 – BVerwG 9 C 130.90.
OVG Lüneburg, U. v. 7.6. 1988 – 13 A 12/88.
284
BVerwG, EZAR 200 Nr. 30 = InfAuslR 1994, 201 (203); BVerwGE 105, 204 (211 f.) = NVwZ 1999,
308 = EZAR 203 Nr. 11.
285
BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 198 (200).
283
131
aus deren Sicht die Verfolgungshandlung an Verfolgungsgründe anknüpft. Diese Auslegung
steht in Übereinstimmung mit der internationalen Staatenpraxis und auch der deutschen
Rechtsprechung. In der angelsächsischen Rechtsprechung wird insoweit das
Auslegungsprinzip des „imputed political opinion“ verwendet. Danach reicht es aus, dass die
Verfolger ihre Maßnahmen deshalb gegen den Antragsteller richten, weil sie davon ausgehen,
dass dieser abweichende politische Überzeugungen vertritt.286
b) Verfolgung wegen der Rasse (Art. 10 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG)
Nach Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG umfasst der Begriff der Rasse insbesondere die Aspekte
Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Damit
übernimmt die Richtlinie den weiten Ansatz des UNHCR-Handbuchs. Danach ist der Begriff
„Rasse“ im weitesten Sinne zu verstehen. Er umfasst alle ethnischen Gruppen, die
gewöhnlich als „Rassen“ bezeichnet werden. Häufig bezieht er sich auch auf die
„Zugehörigkeit zu einer spezifischen sozialen Gruppe gemeinsamer Herkunft“, die eine
Minderheit innerhalb der Bevölkerung darstellt. Insoweit überschneidet dieser
Verfolgungsgrund sich deshalb auch mit dem Verfolgungsgrund „Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe“.
Diskriminierung aufgrund der Rasse wird weltweit als eine der gröbsten Verletzungen der
Menschenrechte verurteilt. Daher ist Diskriminierung aufgrund der Rasse ein wichtiger Faktor
bei der Feststellung des Verfolgungsgrundes. Die Diskriminierung muss jedoch die Form
einer Verfolgungshandlung angenommen haben. Die bloße Zugehörigkeit zu einer
bestimmten rassischen Gruppe wird deshalb regelmäßig nicht für die Flüchtlingsanerkennung
ausreichen. Es gibt jedoch Fälle, in denen aufgrund besonderer, für die ganze Gruppe
nachteiliger Umstände die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe schon in sich einen ausreichenden
Grund darstellt, Verfolgung zu befürchten. Die Richtlinie vermeidet indes eine Behandlung
des Phänomens von Gruppenverfolgungen.
c) Verfolgung wegen der Religion (Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG
aa) Umfang des Schutzbereichs
Bereits jetzt wird deutlich, dass eine der umstrittendsten Fragen bei der Anwendung von Art.
10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG im Mitgliedstaat Bundesrepublik die Reichweite des
geschützten Bereichs des Religionsbegriffs sein wird. Die traditionelle deutsche
Rechtsprechung beschränkt den Schutzbereich der asylrechtlich relevanten Religionsfreiheit
durch Verweis auf das forum internum auf einen existenziellen Kernbereich. Da die Richtlinie
indes auch die öffentliche Glaubenspraxis schützt, ist einer Fortführung des Streits die
Grundlage entzogen worden. Gleichwohl dauert der Streit an.
Der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische
Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten
oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse
Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der
Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser
vorgeschrieben sind (Art. 10 Buchst. b) RL 2004/83/EG). Der geschützte Bereich umfasst die
Religion als Glauben, als Identität und als Lebensform.193 Religion als Glaube bedeutet,
286
INS Gender Guidelines von 26. 5. 1996
132
dass theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensformen erfasst sind. Dabei können
Glaubensformen Überzeugungen oder Weltanschauungen über die göttliche oder letzte
Wahrheit oder die spirituelle Bestimmung der Menschheit sein. Die Antragsteller können
ferner als Ketzer, Abtrünnige, Spalter, Heiden oder Abergläubige angesehen werden.
Religion als Identität ist weniger im theologischen Sinne als Glaube zu verstehen. Gemeint ist
vielmehr die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die aufgrund von gemeinsamem Glauben,
gemeinsamer Tradition, ethnischer Abstammung, Staatsangehörigkeit oder gemeinsamen
Vorfahren ihr Selbstverständnis entwickelt. Religion als Lebensform bedeutet, dass für den
Antragsteller die Religion einen zentralen Aspekt seiner Lebensform und einen umfassenden
oder teilweisen Zugang zur Welt darstellt. Generell darf niemand gezwungen werden, seine
Religion zu verstecken, zu ändern oder aufzugeben, um der Verfolgung zu entgehen.
Der Richtlinie liegt kein objektiver Religionsbegriff zugrunde. Vielmehr kommt es darauf an,
dass sich die Glaubensüberzeugungen und die darauf beruhende Glaubenspraxis auf eine
„religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind“ (Art. 10 Abs. 1 Buchst.
b) RL 2004/83/EG). Es verbietet sich daher, unabhängig von den Glaubensüberzeugungen des
Betroffenen aus der unbeschränkten Vielzahl möglicher religiöser Überzeugungen anhand
objektiver Kriterien bestimmte Überzeugungen, die der Gläubige als für sich verpflichtend
empfindet, auszugrenzen, weil sie nicht dem Leitbild eines objektiven Religionsbegriffs
entsprechen. Auch subjektive Wahnvorstellungen können als religiöse Überzeugungen
verstanden werden, wenn diese für den Gläubigen als solche verpflichtend sind. Umgekehrt
muss der Betroffene seine Überzeugungen nicht als religiöse empfinden. Auch atheistische
Überzeugungen unterfallen dem Religionsbegriff der Richtlinie.
Entsprechend dem weiten Religionsbegriff der Richtlinie ist das Selbstverständnis des
Einzelnen, d.h. seine subjektive Grundentscheidung für oder gegen eine bestimmte
religiöse Anschauung, ebenso geschütztes Merkmal wie die Entscheidung, für diese auch
öffentlich einzutreten. Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG verweist ausdrücklich auf
die individuelle religiöse Überzeugung. Es wird kein objektiv vorgegebener
Religionsbegriff zugrunde gelegt, sondern die individuelle Entscheidung für eine
bestimmte Religion sowie auch die öffentliche Glaubenspraxis. Da der Pluralität der
Religionsfreiheit der Öffentlichkeitsaspekt immanent ist, bezieht Art. 10 Abs. 1 Buchst. b)
RL 2004/83/EG auch die öffentliche Glaubenspraxis ein. Damit ist die entgegenstehende
asylrechtliche Rechtsprechung des BVerfG287 für den Flüchtlingsschutz überholt. Relevant
wird die Rechtsänderung insbesondere im Rahmen der Verfolgungsprognose, bei der die
Frage zu beantworten ist, welche Maßnahmen dem Einzelnen bei Wahrung des ihm zu
gewährenden religiösen Schutzes nach der Rückkehr zuzumuten ist.
Bereits die Frage nach dem religiösen Existenzminimum verfehlt den völkerrechtlichen
Ansatz der Richtlinie. Für die Herausbildung der Religionsfreiheit war ja gerade das
christliche Verständnis von der Freiheitsbotschaft des Evangeliums, die frei verkündigt
wird, von prägender Bedeutung. Der christlichen Freiheitsbotschaft »liegt nichts an einer
weltlosen inneren Freiheit; sie will der Welt zugute kommen. Deshalb eignet der
christlichen Verkündigung von ihrem Inhalt her ein Öffentlichkeitscharakter. Um der
Öffentlichkeit des Evangeliums willen wurde in der Geschichte des Christentums von
Anfang an die Gewährung der zunächst als Kultusfreiheit verstandenen Religionsfreiheit
287
BVerfGE 76, 143 (159) = EZAR 200 Nr. 20 = NVwZ 1988, 237 = InfAuslR 1988, 87; zuletzt noch
BVerwG, InfAuslR 2004, 319 (320) = NVwZ 2004, 1000 = AuAS 2004, 125.
133
gefordert«.288 Auch wenn die gängige Vorstellung von Religionsausübung in erster Linie
Gebet, Kult und Predigt, allenfalls noch karitative Tätigkeiten vor Augen hat, so hat doch
das Christentum seit sehr früher Zeit seine durchaus politische Handlungskomponente
niemals verleugnet.289
bb)
Prüfungsstufen
Entsprechend dem Ansatz der Richtlinie 2004/83/EG ist zunächst zu prüfen, ob die vom
Antragsteller befürchteten Nachteile wegen seiner Religionsausübung den Begriff der
Verfolgungshandlung nach Art. 9 RL 2004/83/EG erfüllen. Hierbei kommt es auf die
umstrittene Frage, wie weit der Schutzbereich des Religonsbegriffs reicht, gar nicht an.
Allerdings liegen religiösen Diskriminierungen häufig typische Muster zugrunde, auf die
bei der Feststellung der Verfolgungshandlung besonders Bedacht zu nehmen ist (vgl. auch
Art. 9 Abs. Buchst. b) RL 2004/83/EG). Anschließend ist zu prüfen, ob gegen die
Verfolgung im Herkunftsland des Antragstellers aureichender Schutz gewährt wird (Art. 6
bis 8 RL 2004/83/EG). Wird kein wirksamer Schutz gewährt, erfolgt die Anknüpfung nach
Maßgabe von Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG (vgl. auch Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG).
Für die Anknüpfung kommt es zunächst ausschließlich auf den in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b)
RL 2004/83/EG verankerten Religionsbegriff an. Selbstverständlich sind bei der
Anknüpfung auch die anderen Verfolgungsgründe in Betracht zu ziehen (Rdn…). Bei der
Anknüpfung an den Religionsbegriff ist zunächst der weite Religionsbegriff der Richtlinie
zugrunde zu legen. Dabei erfolgt keine Einschränkung auf die private Glaubenspraxis.
Vielmehr werden sämtliche Formen der Glaubenspraxis in Betracht gezogen. Soweit
allerdings die Glaubenspraxis die allgemein zulässigen Schranken überschreitet (Hexenund Witwenverbrennung, Steinigung), scheidet sie bei der Anknüpfung aus. Dies ist jedoch
keine typische Frage, die aus dem Schutz der öffentlichen Glaubenspraxis folgt. Auch
private Glaubenspraktiken können den allgemein geschützten Bereich der Religionsfreiheit
überschreiten (z. B. Ehrenmorde, Blutrache).
Es mag Verfolgungshandlungen im Kontext religiöser Verfolgungen geben, die nicht in
Formen religiöser Diskrininierungen erfolgen. Damit sind jedoch in Formen religiöser
Diskriminierungen erfolgende Verfolgungen nicht aus der Prüfung ausgeschlossen. Eine
derartige Anwendungspraxis würde den Kumulationsansatz von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b)
RL 2004/83/EG wie auch die Regelbeispiele in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG außer
Betracht lassen. Im Übrigen ist die Verfolgungshandlung zunächst unabhängig von den
Verfolgungsgründen zu prüfen und erfolgt erst im Ansschluss an die Feststellung, dass die
vom Antragsteller vorgebrachten Befürchtungen den Begriff der Verfolgungshandlung
erfüllen, die Verknüpfung (Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG). Bis zu dieser Prüfung kommt es
auf die Frage des geschützten Umfangs des Religionsbegriffs gar nicht an. Im Übrigen ist
die Ansicht des Bundesinnenministeriums mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG
unvereinbar, weil sie der öffentlichen Glaubenspraxis jegliche Bedeutung absprechen will.
cc)…..Prognoserechtliche Folgerungen aus dem weiten Religionsbegriff
Entsprechend dem weiten Religionsbegriff der Richtlinie ist das Selbstverständnis des
Einzelnen, d.h. seine subjektive Grundentscheidung für oder gegen eine bestimmte religiöse
288
Huber/ Tödt, Menschenrechte, 1977, S. 164.
Neumann, Das Grundrecht der Glaubens- und Religionsfreiheit, in: Schwartländer, Menschenrechte,
1978, S. 130.
289
134
Anschauung, ebenso geschütztes Merkmal wie die Entscheidung, für diese auch öffentlich
einzutreten. Wer daher im Bundesgebiet seinen Glauben öffentlich praktiziert hat, muss es
nicht hinnehmen, nach Rückkehr in sein Herkunftsland die öffentliche Glaubenspraxis wegen
der Gefahr von Verfolgung einzustellen. Die Vorstellung, es sei dem Antragsteller
zuzumuten, sich nach Rückkehr einer öffentlichen Glaubenspraxis zu enthalten, ist
unvereinbar mit Art. 1 A Nr. 2 GFK.290 Entscheidend für die Verfolgungsprognose ist, dass
aufgrund der hier praktizierten Religion davon auszugehen ist, dass der Antragsteller auch im
Herkunftsland seine öffentliche Glaubenspraxis fortsetzen wird. Rechtlich unzulässig ist der
Einwand, eine Einschränkung der Glaubenspraxis sei für den Antragsteller zumutbar.
Kann sich der Glaubensangehörige nach Rückkehr einer Bestrafung nur in der Weise entziehen, dass er seine
Religionszugehörigkeit leugnet und effektiv versteckt hält, ist er in der geschützten Religionsfreiheit
betroffen.291 Anders als nach der Rechtsprechung des BVerfG ist dem Antragsteller indes nicht
der Rückzug in die private Glaubenspraxis fernab der Öffentlichkeit zuzumuten.
Prognoserechtlich entscheidend ist allein, ob der Antragsteller aufgrund seiner individuellen
religiösen Prägung und seiner darauf beruhenden Glaubenspraxis im Bundesgebiet diese
aufgeben kann oder nicht. Davon kann im Regelfall nicht ausgegangen werden, es sei denn,
die hier gezeigte religiöse Betätigung ist rein asyltaktischer Art. Für eine derartige Prognose
bedarf es jedoch stichhaltiger und nachprüfbarer Anhaltspunkte und trifft die Behörde
insoweit die Beweislast.
Wegen der durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG umfassend geschützten
Religionsfreiheit dürfen die für die Prognoseentscheidung maßgebenden Tatsachen mithin
nicht lediglich nach Maßgabe eines verengten, auf das „religiöse Existenzminimum“
beschränkten rechtlichen Ansatzes ermittelt werden. Vielmehr sind sämtliche, auf alle Formen
der Glaubensbetätigung bezogenen Prognosetatsachen in die Prüfung einzustellen, also nicht
nur die auf den privaten, sondern auch auf den öffentlichen Gebrauch der Religionsfreiheit
gerichteten Tatsachen.
Dies folgt darüber hinaus auch aus Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) RL 2004/83/EG. Diese
Vorschrift enthält in den ersten beiden Spiegelstrichen eine allgemeine Definition der
„bestimmten sozialen Gruppe“. Danach gilt eine Gruppe insbesondere als eine „bestimmte
soziale Gruppe“, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale (z. B. Geschlecht,
sexuelle Orientierung, ethnische Abstammung, Erbgut) oder einen unveränderbaren
Hintergrund (historische Bindung, berufliche oder soziale Stellung) gemein haben oder
Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das
Gewissen der Mitglieder sind (z. B. Mitglieder einer Gewerkschaft, Partei oder einer
religiösen Gruppierung, Journalist, Kritiker), dass diese nicht gezwungen werden sollten, auf
diese zu verzichten.
Für den gemeinschaftsrechtlichen Ansatz des rechtlich geschützten Schutzbereichs der
Religionsfreiheit und damit für den tatsächlichen Prognoserahmen ist maßgebend, dass
Asylsuchende nicht gezwungen werden dürfen, auf ihnen universell zustehende Rechte zu
verzichten. Zwar sind die aufgezeigten Grundsätze für die Begriffsbestimmung des
Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe entwickelt
worden. Die Verfolgung kann jedoch auf einem einzigen Verfolgungsgrund oder auf dem
Zusammenwirken von zwei oder auch mehreren Gründen beruhen.292 Es liegt auf der Hand,
dass sich die einzelnen Verfolgungsgründe oft überschneiden können. Normalerweise ist bei
290
291
292
James C. Hathaway, The Law of Refugee Status, S. 147.
BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil.1995, 33 = C 34.
UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979,
Rdn. 66.
135
einer Person mehr als ein Grund der Anlass ihrer Verfolgung, etwa wenn sie sich nicht nur als
ein politischer Gegner erwiesen hat, sondern darüber hinaus auch Angehöriger einer
bestimmten religiösen oder nationalen Gruppe ist.293 In diesem Fall sind alle in Betracht
kommenden Verfolgungsgründe – Verfolgung wegen der politischen Überzeugung, der
Religion, der Nationalität und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe darzulegen und zu prüfen.
Häufig werden neben dem Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen
Gruppe andere Verfolgungsgründe maßgebend sein. In diesem Fall ist der Schwerpunkt der
Ermittlungen auf die anderen Verfolgungsgründe zu legen. Daraus folgt aber auch, dass bei
der Auslegung auf deren gegenseitige Wechselbezüglichkeit Bedacht zu nehmen ist. Die
Religionsfreiheit wird freilich in einem umfassenden Sinne bereits in Art. 10 Abs. 1 Buchst.
b) RL 2004/83/EG geschützt und erfährt durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 erster
Spiegelstrich dritte Alt. RL 2004/83/EG eine Verstärkung. Dieser so ermittelte Schutzbereich
ist der Prognoseprüfung zugrunde zu legen. Kann die Religionsfreiheit nicht in diesem Sinne
im Herkunftsland gelebt werden, ohne dass der Asylsuchende Verfolgungshandlungen im
Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG gegenwärtigen muss, ist ihm der begehrte Status zu
gewähren.
dd)
Glaubenswechsel
Wird eine Konvertierung als Nachfluchtgrund geltend gemacht, ist eine sorgfältige und
umfassende Überprüfung der Umstände und Ernsthaftigkeit der Konvertierung geboten. Zu
ermitteln sind Wesen und Zusammenhang der im Herkunftsland ausgeübten und der im
Aufenthaltsstaat angenommenen religiösen Überzeugung, eine etwaige Unzufriedenheit mit
der im Herkunftsland ausgeübten Religion, die Umstände der Entdeckung der jetzt
angenommenen Religion, die Erfahrungen des Antragstellers mit Blick auf die neue Religion,
seine seelische Verfassung und erhärtende Nachweise bezüglich der Einbindung des
Antragstellers in die neue Religion. Dabei können die besonderen Umstände des
Aufnahmestaates zusätzliche Nachforschungen nahelegen. Wenn beispielsweise von örtlichen
Religionsgemeinschaften im Aufnahmeland systematische und organisierte Konvertierungen
durchgeführt werden, ist eine Überprüfung des Kenntnisstandes wenig hilfreich. Vielmehr
muss der Einzelentscheider offene Fragen stellen und versuchen die Motivation für die
Konvertierung sowie die Auswirkungen der Konvertierung auf das Leben des Antragstellers
zu beleuchten. Schließlich ist zu ermitteln, ob die Behörden des Herkunftslandes Kenntnis
von der Konvertierung erlangen können und wie sie diese wahrscheinlich beurteilen
werden.294
Auch in der deutschen Rechtsprechung ist anerkannt, dass der Übertritt von einem
bestimmten Glauben zu einem anderen erhebliche Verfolgungen auslösen kann.295 Soweit der
Glaubenswechsel vor der Ausreise in Frage steht, kommt es darauf an, mit welchen Mitteln
das im Heimatland herrschende Regime auf diesen Schritt reagiert. Das BVerfG hat den
Umstand, dass ein Asylsuchender, der im Alter von sechs Jahren im Iran vom muslimischen
zum chaldäisch-katholischen Glauben übergetreten war, vor seiner Ausreise unbehelligt blieb
und auch seine Mutter ungefährdet in den Iran zurückgekehrt war, nicht ohne weiteres als
unerheblich gewertet: Ahnde eine ausländische Rechtspraxis, wie vorliegend für den Fall der
Apostasie unterstellt, das religiöse Bekenntnis als solches und könne sich der
293
UNHCR, Handbuch, Rdn. 67.
UNHCR, Religiöse Verfolgung, S. 12 f.
295
BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 1995, 33 = InfAuslR 1995, 210 = AuAS 1995, 124 = C 34; BVerwG, ;
B. v. 1. 3. 1991 – BVerwG 9 B 309.90; VGH BW, U. v. 28. 9. 1990 – A 14 S 512/89; OVG NW, U. v. 21. 5.
1987 – 16 A 10425/86; VG Schleswig, U. v. 5. 12. 1991 – 5 A 699/90.
294
136
Glaubensangehörige einer Bestrafung – hier der Todesstrafe – nur in der Weise entziehen,
dass er seine Religionszugehörigkeit leugne und effektiv versteckt halte, sei ihm der
elementare Bereich des religiösen Existenzminimums entzogen.296
In der Praxis gewinnt der Glaubenswechsel regelmäßig als gewillkürter Nachfluchtgrund
Bedeutung. Das BVerwG geht davon aus, dass ein nach Verlassen des Heimatstaates erfolgter
Glaubenswechsel einer gewillkürten autonomen Entscheidung des Asylsuchenden entspringt,
auch wenn sich dieser möglicherweise durch »schicksalhafte« innere oder äußere Vorgänge
und Motive dazu aufgerufen gefühlt habe. Für den Übertritt vom Islam zum christlichen
Glauben als einen die mögliche Verfolgung auslösenden Umstand fänden deshalb die
Einschränkungen der Nachfluchtrechtsprechung Anwendung. Hieraus folge, dass ein
außerhalb des Heimatstaates vollzogener Wechsel der Religionsgemeinschaft und eine
dadurch möglicherweise entstehende Verfolgungsgefahr nur dann Schutz begründen könne,
wenn sich dieser Religionswechsel als Ausdruck und Fortführung einer schon im Heimatstaat
vorhandenen und erkennbar betätigten festen Überzeugung darstelle. Dass die den
Glaubenswechsel herbeiführende Entscheidung »innerster Überzeugung« entsprungen sei, sei
unerheblich.297 Diese Rechtsprechung ist unvereinbar mit Art. 5 Abs. 2 der
Qualifikationsrichtlinie, weil diese die in § 28 Abs. 1 AsylVfG vorgesehenen
Einschränkungen nicht kennt.
f)
Verfolgung wegen der Nationalität (Art. 10 Abs. 1 Buchst. c) RL 2004/83/EG
Der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen
einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die
durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder
politische Ursprünge oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates
bestimmt ist (Art. 10 Abs. 1 Buchst. c) der RL 2004/83/EG). Der Verfolgungsgrund
„Nationalität“ kann sich insbesondere mit dem Verfolgungsgrund „Rasse“ oder
„Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ überschneiden. Mit dieser
Begriffserläuterung unvereinbar ist die traditionelle deutsche Übersetzung des
Verfolgungsgrundes „Nationalität“ nach Art. 1 A Nr. 2 GFK mit „Staatsangehörigkeit“ (vgl. §
14 Abs. 1 Satz 1 AuslG 1965, § 51 Abs. 1 AuslG 1990, § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG),
obwohl die deutsche Übersetzung der Normen Art. 1 A Nr. 2, Art. 33 Abs. 1 GFK zutreffend
den Begriff „Nationalität“ verwendet.
UNHCR weist darauf hin, dass auch Staatenlose aus denselben Gründen wie andere Personen
Flüchtlinge im Sinne der GFK sein können, etwa wenn sie aufgrund des Fehlens einer
Staatsangehörigkeit schwerer Diskriminierung ausgesetzt sind, die einer Verfolgung
gleichkommt.298 Zwar ist die zwangsweise Aussperrung von Staatenlosen durch das Land des
letzten gewöhnlichen Aufenthaltes nach der Rechtsprechung des BVerwG asylrechtlich
unerheblich.299 Die zwangsweise Vertreibung einer Minderheit zur ökonomischen Entlastung
ist jedoch stets erheblich, mag die Minderheit die Staatsangehörigkeit des verfolgenden
Staates besitzen oder nicht. Nach allen geschichtlichen Erfahrungen ist evident, dass derartige
296
297
298
299
BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 1995, 33 = InfAuslR 1995, 210 = AuAS 1995, 124 = C 34.
BVerwG, B. v. 1. 3. 1991 – BVerwG 9 B 309.90; ebenso VGH BW, U. v. 28. 9. 1990 – A 14 S 512/89.
UNHCR, Auslegung von Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention, April 2001, S. 8.
BVerwG, Buchholz 402.25 § 1 AsylvfG Nr. 39 = InfAuslR 1986, 76.
137
zwangsweise Vertreibungen zu den wichtigsten Ursachen politischer Verfolgung gehören300
und deshalb an ein Verfolgungsmerkmal, sei es die Rasse, Religion, Nationalität oder
Staatenlosigkeit, anknüpfen.
Verfolgung aus Gründen der Nationalität kann in feindlicher Haltung und Maßnahmen
gegenüber einer ethnischen und sprachlichen Minderheit bestehen. Ebenso wie bei der
rassischen Verfolgung kann bereits die bloße Zugehörigkeit zu einer bestimmten nationalen
Gruppe in sich einen ausreichenden Grund darstellen, Verfolgung zu befürchten. Das
Nebeneinander von zwei oder mehr ethnischen oder sprachlichen Gruppen innerhalb der
Grenzen eines Staates schafft häufig Konfliktsituationen, welche die Gefahr der Verfolgung
in sich bergen. Dabei ist es nicht stets einfach, zwischen der Verfolgung aufgrund der Rasse,
der Nationalität oder wegen der politischen Überzeugung zu unterscheiden, wenn der Konflikt
zwischen den nationalen Gruppen mit politischen Strömungen einhergeht, insbesondere nicht
in dem Fall, in dem sich eine politische Bewegung mit einer bestimmten Nationalität
verbindet. Wegen des kumulativen Effektes der Verfolgungsgründe ist eine derartige
Unterscheidung auch nicht geboten.
e) Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Art. 10 Abs. 1
Buchst. d) Qualifikationsrichtlinie)
aa) Allgemeines
Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) der RL definiert den Begriff der „Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe“ (Art. 1 A Nr. 2 GFK), in dem er auf angeborene Merkmale der
Gruppenmitglieder, auf einen unveränderbaren Hintergrund, den die Mitglieder der Gruppe
gemeinsam haben (z. B. Geschlecht, sexuelle Orientierung, ethnische Abstammung, Erbgut),
oder auf Merkmale oder Glaubensüberzeugungen verweist, die so bedeutsam für die Identität
oder das Gewissen der Mitglieder sind, dass die Mitglieder der Gruppe nicht gezwungen
werden sollten, auf diese zu verzichten (z. B. Mitglieder einer Gewerkschaft oder Partei,
Journalist, Kritiker). Zusätzlich zu diesen drei alternativen Identitätsmerkmalen einer sozialen
Gruppe ist erforderlich, dass die Gruppe im Herkunftsland des Antragstellers eine deutlich
abgegrenzte Identität hat, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig
betrachtet wird.
bb)
Begriff der „bestimmten sozialen Gruppe“ (Art. 1 A Nr. 2 GFK)
(1)
Kein Erfordernis des inneren Zusammenhaltes einer Gruppe
Inzwischen ist geklärt, dass der zunächst in der US-amerikanischen Rechtsprechung
entwickelte Ansatz, demzufolge die Mitglieder der sozialen Gruppe ein „gemeinsames
unveränderbares Merkmal“ teilen müssen,301 zu eng ist. Vielmehr haben die USBerufungsgerichte die weitergehende Interpretation entwickelt, die für die Gruppe kein
gemeinsames inneres Band fordert. Es besteht deshalb inzwischen Einigkeit, dass eine
„bestimmte soziale Gruppe“ eine Gruppe von Personen darstellt, die ein gemeinsames
Merkmal kennzeichnet, das sie aus der Gesellschaft ausgrenzt, das aber nicht die Personen
miteinander verbinden muss. Darüber hinaus muss das Merkmal unveränderbar oder auf
andere Weise fundamentale und damit unverzichtbare Bedeutung für die menschliche Würde
300
BVerfGE 76, 143 (156 f.) = EZAR 200 Nr. 10 = NVwZ 1988, 237 = InfAuslR 1988, 87; BVerwGE 67,
184 (186) = NVwZ 1983, 674 = InfAuslR 1983, 228.
301
Board of Immigration Appeals, 19 I&N Dec. 211 (B.I.A. 1985) – Matter of Acosta; s. hierzu Goldberg/
Passade Cisse, Immigration Briefings 2000, 1 (10 f.).
138
haben.302 Dementsprechend fordert Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) der Richtlinie auch keinen
inneren Zusammenhalt der Gruppe.
Nach Ansicht von UNHCR kommt es nicht darauf an, dass die Mitglieder einer bestimmten
sozialen Gruppe miteinander Umgang pflegen. Vielmehr stehe die Frage im Vordergrund, ob
die Mitglieder der Gruppe eine Gemeinsamkeit haben. Diese Fragestellung entspreche der
Analyse für die anderen Verfolgungsgründe in Art. 1 A Nr. 2 GFK, bei denen auch nicht
gefordert werde, dass die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft oder Personen mit
übereinstimmender politischer Überzeugung miteinander verkehrten oder Teil einer eng
verwobenen Gruppe sein müssten.303
(2)
Geschützte Merkmale (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 erster Spiegelstrich RL
2004/83/EG)
Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) erster Spiegelstrich der Richtlinie nennt als gemeinsames, eine
bestimmte soziale Gruppe prägendes Kriterium die „angeborenen Merkmale“, einen
Hintergrund, der nicht verändert werden kann oder gemeinsame Merkmale oder
Glaubensüberzeugungen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, das der
Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Im Kommissionsentwurf
wurden die ersten beiden Gruppen unter dem Begriff des „wesentlichen Merkmals“ als
einheitliches Kriterium definiert und davon das dritte Kriterium unterschieden. Danach lässt
sich eine Gruppe anhand eines wesentlichen Merkmals wie des Geschlechts, der sexuellen
Ausrichtung (vgl. auch Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 RL), des Alters, der familiären
Bindung oder der Lebensgeschichte definieren.
Für die Aufspaltung des ersten Kriteriums in zwei Kriterien kann den Materialien nichts
entnommen werden. Maßgebend ist der Oberbegtriff der „geschützten Merkmale“. Nach der
Staatenpraxis wird geprüft, ob eine Gruppe ein unveräußerliches (angeborenes) Merkmal oder
ein für die menschliche Würde so unverzichtbares Attribut teilt, dass es einer Person nicht
zugemutet werden sollte, diese aufzugeben. Ein unveräußerliches Merkmal kann danach
angeboren (Geschlecht, ethnische Abstammung) oder aus anderen Gründen unabänderlich
sein, etwa aufgrund einer historischen Bindung, der beruflichen oder sozialen Stellung. Dabei
können die Menschenrechtsnormen mithelfen, jene Merkmale zu identifizieren, die so
grundlegend für die menschliche Würde sind, dass niemand gezwungen werden sollte, sie
aufzugeben.304 Die Staatenpraxis verbindet danach alle drei Kriterien. Ob die geschützten
Merkmale nicht verändert werden können, ist abhängig von dem kulturellen und sozialen
Kontext, in dem der oder die Betreffende lebt, wie auch von der Anschauung der
Verfolgungsakteure.305
Entscheidungsträger haben danach zu prüfen, ob sich die in Frage stehende Gruppe durch
eines der folgenden Attribute definiert: 1. durch ein angeborenes, unveräußerliches Merkmal,
2. durch einen früheren vorübergehenden oder freiwilligen Status, der aufgrund seiner
historischen Permanenz nicht geändert werden kann, oder 3. durch eine Eigenart oder
Bindung, die für die Würde des Menschen so grundlegend ist, dass Mitglieder der Gruppe
302
Summary Conclusions on Membership of a Particular Social Group, San Remo Expert Roundtable,
Global Consultation on International Protection, 6. bis 8. September 2001.
303
UNHCR, soziale Gruppe, S. 5.
304
UNHCR, Soziale Gruppe, S. 3.
305
Refugee Women’s Legal Group, Gender Guidelines für the Determination of Asylum Claims in the UK,
S. 17.
139
nicht gezwungen werden sollten, sie aufzugeben.306 In Anwendung dieser Interpretation sind
Gerichte und Verwaltungsbehörden in einer Reihe von Entscheidungen zu dem Schluss
gelangt, dass z. B. Frauen, Homosexuelle und Familien eine bestimmte soziale Gruppe bilden
können.307
In Übereinstimmung hiermit können die drei geschützten Merkmale nach Art. 10 Abs. 1
Buchst. d) erster Spiegelstrich RL 2004/83/EG ausgelegt werden. In der Begründung des
Kommissionsentwurfs wird darauf hingewiesen, dass die Formulierung „relativ allgemein
gehalten“ und „umfassend auszulegen“ sei, das Entstehen von Schutzlücken mithin zu
verhindern ist. Sie sei so auszulegen, dass sie auch Gruppen von Personen umfasse, die nach
dem Gesetz als „minderwertig“ oder Menschen „zweiter Klasse“ gelten würden, wodurch die
Verfolgung durch Privatpersonen oder sonstige nichtstaatliche Akteure sitillschweigend
geduldet werde, sowie Gruppen, gegenüber denen der Staat in diskriminierender Weise vom
Gesetz Gebrauch mache und bei denen er sich weigere, das Gesetz zu ihrem Schutz
anzuwenden.308 Das Kriterium der Schutzlosigkeit kann daher zur Auslegung der „geschützten
Merkmale“ herangezogen werden. Dementsprechend weist Lordrichter Steyn auf das
Kriterium der Schutzlosigkeit bestimmter Frauen in Pakistan hin.309
(3)
Erfordernis einer fest umrissenen Identität (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 zweiter
Spiegelstrich RL 2004/83/EG)
Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) zweiter Spiegelstrich der Richtlinie muss zusätzlich zu dem
Vorhandensein eines gemeinsamen geschützten Merkmals hinzukommen, dass die Gruppe in
dem Herkunftsland eine „deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden
Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“. Der ursprüngliche Entwurf enthielt dieses
zusätzliche Erfordernis nicht. In der englischen Übersetzung wird der Begriff „“distinct
identity“ verwendet. Die Funktion dieses Abgrenzungsmerkmals besteht also darin, die
bestimmte soziale Gruppe inhaltlich als eine Gruppe mit einer fest umrissenen oder
ausgeprägten Identität zu bestimmen, die sie als solche innerhalb der Gesellschaft des
Herkunftslandes erkennbar und damit von anderen Gruppe unterscheidbar macht. Das
geschützte (interne) Merkmal ist nach dem Wortlaut der Norm der Grund, warum die Gruppe
„von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.“
Es ist damit nicht die Funktion dieses Abgrenzungsmerkmals, von einer sozialen Gruppe
zusätzliche Untergruppen abzuspalten und erst eine derart bestimmte Untergruppe als
„bestimmte“ soziale Gruppe zu identifizieren. Die Größe einer Gruppe ist kein
Abgrenzungsmerkmal, vielmehr die im ersten Spiegelstrich von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d)
Abs. 1 der Richtlinie bezeichneten geschützten Merkmale. Kann anhand eines oder mehrerer
derartiger Merkmale eine bestimmte soziale Gruppe identifiziert werden, müssen nicht
zusätzlich nach Maßgabe weiterer materieller Kriterien Untergruppen gebildet werden.
Vielmehr erfordert der Wortlaut von Art. 1 A Nr. 2 GFK, dass die Gruppe eine „bestimmte“
soziale Gruppe sein muss, also anhand eines (internen) Unterscheidungsmerkmals als solche
nach außen erkennbar und unterscheidbar von anderen Gruppen sein muss.
Dieser Ansatz wird auch als externer Ansatz bezeichnet, weil es insbesondere auf die
Sichtweise der Gesellschaft ankommt, ob bestimmte Merkmale einer Gruppe zugeschrieben
werden und sich diese aufgrund dieser Zuschreibung von der Gesellschaft insgesamt
306
307
308
309
Ebenso Hathaway, The Law of Refugee Status, S. 161.
UNHCR, Soziale Gruppe, S. 3.
Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001, in: BR-Drs. 1017/01, S. 24.
Lordrichter Steyn, House of Lords, IJRL 1999, 496 (504 f.) – Islam and Shah.
140
unterscheidet. Es kommt danach darauf an, ob eine Gruppe durch die übrige Gesellschaft als
eine abgegrenzte Gruppe „aufgrund bestimmter diese gemeinsam prägender Charakteristika,
Eigenschaften, Aktivitäten, Überzeugungen, Interessen oder Zielvorstellungen“
wahrgenommen werde.310 Für diesen Ansatz spricht, dass er mit dem Wortlaut der
Konvention übereinstimmt und kein Verweis auf anerkannte Rechtsstandards erforderlich ist
wie beim Ansatz der geschützten Merkmale. Die pragmatische Entwicklungsoffenheit des
Ansatzes ist der Tatsache geschuldet, dass es keinen erschöpfenden und verbindlichen
Rechtsstandard gibt, auf den der Ansatz der geschützten Merkmale verweist. Darüber hinaus
eröffnet dieser Ansatz dem Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen
Gruppe einen weitergehenden Anwendungsbereich, als es der auf geschützte Merkmale
beruhende interne Ansatz vermag, und ermöglicht Rechtsanwendern damit, politische und
kulturelle Besonderheiten des Herkunftslandes mit zu berücksichtigen.311
(4)
Kumulative Verschränkung des externen und internen Ansatzes
Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 RL 2004/83/EG ist eine kumulative Verschränkung
beider in der Staatenpraxis üblichen Ansätze angezeigt. Die Richtlinie geht also davon aus,
dass beide Ansätze miteinander vereinbar sind und sich gegenseitig ergänzen. Es geht bei
dieser Frage um die richtige Zuordnung der „internen“ Merkmale (angeborene,
unveränderbare oder fundamentale Identitätsmerkmale) zu den „externen“ Merkmalen
(soziale Wahrnehmung der Gruppe). Die im Rahmen der von UNHCR organisierten „Global
Consultations on International Protection“ von einer aus Vertretern von Staaten und
Nichtregierungsorganisationen
zusammengesetzten
Expertenrunde
verabschiedeten
Schlussempfehlungen zur Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verweisen
zunächst auf „gemeinsame Merkmale“, welche die Gruppe von der Gesellschaft
unterscheidet. Derartige Merkmale seien normalerweise angeboren, unveränderbar oder auf
andere Weise grundlegend für die menschliche Würde.312 Dieser Ansatz ist entwicklungsoffen
und wendet den Ansatz der geschützten Merkmale nicht in einer den externen Ansatz
ausschließenden Weise an.
Auch nach dem Kommissionsentwurf wird die Formulierung der bestimmten sozialen Gruppe
nicht auf genau definierte kleine Personengruppen beschränkt.313 In der Endfassung wurde
das Erfordernis der sozialen Wahrnehmung lediglich als interpretatives Begriffselement
eingeführt. Mit dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 RL 2004/83/EG
unvereinbar wäre zwar eine Auslegung, die beim Fehlen interner Merkmale externe
Merkmale ausreichen ließe. Es ist jedoch kaum ein Fall denkbar, indem eine Gruppe eine
deutlich erkennbare Identität aufweist und hierfür nicht interne geschützte Merkmale
ursächlich sind. Vielmehr kann zur Auslegung der internen auf externe Merkmale wie
umgekehrt zur Konkretisierung der externen auf interne Merkmale zurückgegriffen werden.
In diesem Fall wird die bestimmte soziale Gruppe sowohl durch geschützte Merkmale wie
auch durch eine nach außen abgegrenzte Identität geprägt.
Zunächst ist festzuhalten, dass Gruppen, die durch ein geschütztes Merkmal miteinander
verbunden sind, in ihrem Herkunftsland wahrscheinlich durch die übrige Gesellschaft als
abgegrenzte Gruppe angesehen werden, daher zumeist mit der inhaltlichen
Begriffsbestimmung des internen Merkmals zugleich auch das externe Merkmal bestimmt
worden ist. Insbesondere bei der Begriffsbestimmung des dritten internen Merkmals gewinnt
das externe Merkmal eine besondere Auslegungsfunktion. Ob ein Merkmal oder eine
High Court of Australia, 190 CLR 225 (1997) – A v. MIMA.
James C. Hathaway/Michelle Foster, Membership of a Particular Social Group, IJRL 2003, 477 (484).
312
San Remo Expert Roundtable on International Protection, 6 – 8 September 2001, Summary Conclusions
on Membership of a Particular Social Group, Nr. 5.
313
Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001, in: BR-Drs. 1017/01, S. 24.
310
311
141
Glaubensüberzeugung fundamental für die Identität oder das Gewissen ist, ist insbesondere
auch davon abhängig, wie die Gruppe durch die umgebende Gesellschaft wahrgenommen
wird. Die Frage, ob auf das Merkmal oder die Gewissensüberzeugung verzichtet werden
kann, stellt sich nicht, wenn die umgebende Gesellschaft tolerant gegenüber der bestimmten
sozialen Gruppe eingestellt ist. Ist dies nicht der Fall, ist es gerade das die Identität
bestimmende fundamentale Merkmal, welches die Gruppe von der umgebenden Gesellschaft
deutlich abgrenzt. Insbesondere beim dritten internen Merkmal verschränken sich damit
interner und externer Ansatz. Mit der Berücksichtigung der gesellschaftlichen Zuschreibung
wird der Begriff der bestimmten sozialen Gruppe mithin nicht aufgelöst, sondern werden die
Feststellungsbehörden verpflichtet zu prüfen, ob eine bestimmte Gruppe in einem bestimmten
kulturellen Kontext als bestimmte soziale Gruppe identifizierbar ist.314
Das wesentliche Kriterium bei der Begriffsbestimmung der bestimmten sozialen Gruppe ist
eine Kombination von Merkmalen, über die die Mitglieder der Gruppe verfügen können, mit
anderen Merkmalen, die außerhalb ihrer Verfügungsgewalt liegen. Bei der Auslegung und
Anwendung dieses Verfolgungsgrundes ist deshalb Bedacht auf verbindende und gemeinsame
Merkmale wie die ethnische, kulturelle, linguistische Abstammung, Bildung, familiärer
Hintergrund, wirtschaftliche Aktivitäten und gemeinsam geteilte Werte zu nehmen. Im
besonderen Maße erheblich sind auch die Einstellungen anderer sozialer Gruppen gegenüber
der bestimmten sozialen Gruppe innerhalb der Gesellschaft des Herkunftslandes. Das Gewicht
und damit die Identität einer bestimmten sozialen Gruppe stehen häufig auch im direkten
Verhältnis zu deren Wahrnehmung durch andere.315 Es ist also das Merkmal des Andersseins
und des Andersdenkenden,316 das die Gruppe von der umgebenden Gesellschaft abgrenzt.
Zu Begriffsbestimmung der internen Merkmale ist deshalb auch das in Art. 9 Abs. 2 Buchst.
b) – d) RL 2004/83/EG bezeichnete Diskriminierungsverbot heranzuziehen. Dem Begriff der
bestimmten sozialen Gruppe ist damit ein Moment fehlender Abgeschlossenheit immanent,
das in der Lage ist, auf unterschiedliche Gruppenformen im Kontext von Verfolgungen zu
reagieren.317 Bei dieser Begriffsbestimmung kommt es indes nicht darauf an, dass alle
Mitglieder der Gesellschaft verfolgt werden. Es geht bei der Prüfung des Verfolgungsgrundes
nicht um die inhaltliche Bestimmung der Verfolgung, sondern um die Bestimmung der
Merkmale einer bestimmten sozialen Gruppe. Es müssen nicht wie bei der gruppengerichteten
Verfolgung alle Mitglieder der bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werden oder von
Verfolgung bedroht sein. Vielmehr geht es darum, ob eine bestimmte soziale Gruppe
aufgrund bestimmter Merkmale nach außen eine fest umrissene Identität aufweist.
cc)
Verfolgung wegen der sexuellen Ausrichtung (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 1
RL 2004/83/EG)
(1)
Begriffsbestimmung der bestimmten sozialen Gruppe
Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 1 RL 2004/83/EG kann je nach den
Gegebenheiten im Herkunftsland des Antragstellers als soziale Gruppe auch eine Gruppe
gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Dabei
dürfen indes als sexuelle Ausrichtung im Sinne der Richtlinie keine Handlungen verstanden
werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten (Art. 10 Abs. 1
Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 1. HS RL 2004/83/EG). Nach der Begründung des
T. Alexande Aleinikoff, „Membership in a Particular Social Group“: Analysis and proposed
Conclusions, S. 27.
315
Guy S. Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, S. 47 f.
316
BVerwGE 67, 184 (186) = NVwZ 1983, 674 = InfAuslR 1983, 228 = D 7; BVerfGE 54, 341 (357) =
EZAR 200 Nr. 1 = NJW 1980, 2641 = C 3.
317
Guy S. Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, S. 47 f.
314
142
Kommissionsentwurfs lässt sich eine Gruppe anhand eines wesentlichen Merkmals wie der
sexuellen Ausrichtung definieren, das so bedeutsam für die Identität ist, das von den
Mitgliedern nicht verlangt werden darf, darauf zu verzichten. Der Verweis auf die sexuelle
Ausrichtung impliziere allerdings nicht, dass Homosexuelle diesen Verfolgungsgrund in
jedem Fall geltend machen könnten.318
Die Richtlinie 2004/83/EG ordnet das Merkmal der sexuellen Ausrichtung damit weder den
angeborenen noch den unveränderbaren, sondern den Merkmalen zu, deren Verzicht wegen
der Bedeutung für die Identität nicht verlangt werden darf. Demgegenüber ist nach Ansicht
des BVerwG und der völkerrechtlichen Literatur die homosexuelle Veranlagung ein
unabänderliches persönliches Merkmal.319 Ebenso wie bei der »Rasse«, »Nationalität«,
»Hautfarbe« und »Religion« handelt es sich um ein unabänderliches persönliches Merkmal,
das der persönlichen Disposition entzogen ist. Dieser Ansatz verengt allerdings den Kreis der
Schutzberechtigten auf die auf die Homosexualität unentrinnbar festgelegten Personen,
schließt damit anders als die Richtlinie die Antragsteller aus, die nicht derart unveränderbar
auf die homosexuelle Neigung festgelegt sind, gleichwohl wegen homosexueller Praktiken
eine deutlich abgegrenzte Identität aufweisen und deshalb verfolgt werden. Die Richtlinie ist
damit offener, verlangt keine unentrinnbare Neigung, also ein unveränderbares Merkmal,
sondern eine die Identität des Antragsteller prägende (geschütztes Merkmal) und dadurch
nach außen deutlich abgrenzbar homosexuelle Praxis (externes Merkmal). Auch
heterosexuelle oder nicht auf homosexuelle Praktiken unentrinnbar festgelegte Personen
können unter diesen Voraussetzungen eine bestimmte soziale Gruppe bilden.
UNHCR ordnet Asylanträge aus Gründen einer unterschiedlichen sexuellen Ausrichtung den
geschlechterbezogenen Verfolgungsgründen zu. Die Sexualität oder sexuellen Praktiken eines
Antragstellers oder einer Antragstellerin könnten für den Antrag dann von Bedeutung sein,
wenn die Person wegen ihrer Sexualität oder sexuellen Praktiken Verfolgungshandlungen
ausgesetzt sei. In vielen derartigen Fällen habe sich der Betreffende geweigert,
gesellschaftlich oder kulturell definierten Rollenbildern oder Erwartungen zu entsprechen, die
man mit seinem Geschlecht verbinde. Das betreffe gewöhnlich Anträge von Homosexuellen,
Transsexuellen oder Transvestiten, die öffentlichen Anfeindungen, Gewalt, Misshandlungen
oder schwerer oder vielfältiger Diskriminierung ausgesetzt seien. Wo Homosexualität unter
Strafe stehe, könne die Verhängung schwerer Strafen für homosexuelles Verhalten
Verfolgung bedeuten, wie dies in manchen Kulturen auch bei Frauen der Fall sei, die sich
nicht dem Verschleierungsgebot beugten. Auch dort, wo homosexuelle Praktiken keinen
Straftatbestand darstellten, wäre der Antrag einer Person begründet, wenn der Staat
diskriminierende Praktiken oder Übergriffe gegen sie billige oder dulde, oder wenn der Staat
außerstande sei, sie wirksam vor solchen Übergriffen zu schützen.320
In der australischen Praxis werden Homosexuelle grundsätzlich als bestimmte soziale Gruppe
anerkannt. Ob eine derartig bestimmte soziale Gruppe wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit
verfolgt wird, ist abhängig von den tatsächlichen und rechtlichen Umständen und muss für
jeden Einzelfall gesondert entschieden werden. Danach reicht das bloße homosexuelle
Selbstverständnis oder die bloße Geltung hierauf abzielender Strafnormen nicht aus. Vielmehr
müssen gewichtige Anhaltspunkte dafür sprechen, dass diese Normen normalerweise auch
angewendet werden.321 Auch die holländische und US-amerikanische Rechtsprechung
318
Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001 , BR-Drs. 1017/01, S. 24.
BVerwGE 79, 143 (147); BVerwG, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 117; Hess.VGH, InfAuslR 1987,
24; Hathaway, The Law of Refugee Status, S. 163.
320
UNHCR, Geschlechtsspezifische Verfolgung, S. 6
321
Australian Refugee and Humanitarian Division, Particular Social Group: An Australian Persepective,
2001, S.23.
319
143
nehmen im Blick auf die Verfolgung von Homosexuellen auf den Verfolgungsgrund der
bestimmten sozialen Gruppe Bezug. Verständig interpretiert würde dieser Begriff auch die
Verfolgung »aufgrund der sexuellen Orientierung« erfassen.322
Man kann seine religiöse und politische Grundentscheidung in verschiedenen Formen
ausdrücken, sie einschränken, bei Gefahr zurücknehmen, freilich niemals ohne Gefahr
psychischer Schädigungen vollständig aufgeben. Ebenso findet die sexuelle Orientierung
ihren Ausdruck in den unterschiedlichsten Formen und kann daher auch in Abhängigkeit von
den äußeren Umständen eingeschränkt und teilweise zurückgenommen werden, jedoch
ebenfalls ohne Gefahr psychischer Schäden niemals vollständig. Geschützt ist jedoch
sexuelles Verhalten an sich323 und damit die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung324.
Wird die sexuelle Orientierung als unveränderbares Merkmal bezeichnet, wird der Kreis der
bestimmten sozialen Gruppe sehr eng gezogen. Liegt die Unentrinnbarkeit neigungsgemäßen
Verhaltens nicht vor, mag man dem Antragsteller zumuten, auf die weitere homosexuelle
Betätigung zu verzichten. Dies ist der Annsatz des BVerwG. Die australische Rechtsprechung
hat bislang offen gelassen, ob dem Antragsteller zugemutet werden kann, sich bei seinen
homosexuellen Praktiken Zurückhaltung aufzuerlegen.325 Der Ansatz der Richtlinie
2004/83/EG ist indes weitergehend und ordnet die sexuelle Ausrichtung den geschützten
Merkmalen zu, die zwar nicht unabänderlich sind, deren Verzicht wegen der
Identitätsprägung jedoch nicht verlangt werden darf. Ob dies der Fall ist, ist maßgebend vom
Selbstverständnis des Antragstellers und seiner deutlich abgegrenzten Identität abhängig.
(2)
Sexuelle Ausrichtung als identitätsbestimmendes Merkmal
Nach der für die Auslegung von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG maßgebenden Richtlinie
2004/83/EG ist bei Verfolgungen wegen der sexuellen Ausrichtung danach zu fragen, ob
diesen der Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
zugrunde liegt. Selbstverständlich können im Einzelfall auch die anderen Verfolgungsgründe
maßgebend sein. Wie bereits ausgeführt, wird nach der Begründung des
Kommissionsentwurfs die sexuelle Ausrichtung als geschütztes Merkmal definiert, das so
bedeutsam für die Identität ist, das von den Mitgliedern nicht verlangt werden darf, darauf zu
verzichten. Der Verweis auf die sexuelle Ausrichtung impliziert allerdings nicht, dass
Homosexuelle diesen Verfolgungsgrund in jedem Fall geltend machen könnten.326 Danach
kann einem Antragsteller ein Verzicht auf seine sexuelle Ausrichtung nicht abverlangt
werden, wenn diese bedeutsam für seine Identität ist. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich
zunächst nach dem Selbstverständnis des Antragstellers. In welchem Umfang entsprechende
sexuelle Praktiken als die Identität prägendes Merkmal anerkannt werden, ist anhand der
internationalen Menschenrechtsnormen zu bewerten. Sind danach die sexuellen Praktiken
erlaubt, kommt es nicht auf eine neigungsmäßige Festlegung, sondern auf die
identitätsbestimmende Funktion der sexuellen Ausrichtung an. Regelmäßig wird der
Antragsteller eine nach außen abgegrenzte Identität geltend machen können, wobei auch die
sozialen, kulturellen, religiösen, familiären, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse im
Herkunftsland mit in den Blick zu nehmen sind.
322
Rade van State, IJRL 1989, 246; U.S. Board of Immigration Appeals, 20 I&N Dec. 819 (1990) –
Toboso-Alfonso..
323
BVerwGE 79, 143 (147) = EZAR 201 Nr. 13 = NVwZ 1988, 838 = InfAuslR 1988, 230.
324
BVerwGE 85, 12 (18) = = EZAR 202 Nr. 17 = NVwZ 1990, 1179 = InfAuslR 1990, 211.
325
Australian Refugee and Humanitarian Division, Particular Social Group: An Australian Persepective,
2001, S.23.
326
Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001 , BR-Drs. 1017/01, S. 24.
144
Maßgebend für den Ausgangspunkt der Begriffsbestimmung ist, dass die Freiheit der
sexuellen Selbstbestimmung grundsätzlich geschützt ist.327 Nach Maßgabe dieses universellen
Ansatzes sind auch nationale Einschränkungen der sexuellen Selbstbestimmung im
Herkunftsland zu bewerten. Zu dem durch die Menschenrechte geschützten persönlichen
Bereich gehört auch homosexuelles Verhalten als »eine wesentliche Ausdrucksmöglichkeit
der menschlichen Persönlichkeit«.328 Auch in der deutschen Rechtsprechung wird
hervorgehoben, dass die sexuelle Prägung eines Menschen zu den elementaren Bestandteilen
seiner Persönlichkeit gehört.329 Der EGMR behandelt Fragen der sexuellen Selbstbestimmung
im Rahmen von Art. 8 Abs. 1 EMRK. Im Falle einer transsexuellen Beschwerdeführerin, die
sich auf ihr Recht auf statusrechtliche Behandlung als Frau berufen hatte, stellte der
Gerichtshof den ihr grundsätzlich gewährten Konventionsschutz nicht in Frage, sondern
befasste sich ausschließlich mit der Frage, was der Begriff »Achtung« in derartigen Fällen in
positiver Hinsicht von den Vertragsstaaten verlange.330
(3)
Glaubhaftmachung individueller sexueller Praktiken
Danach sind Feststellungen dahin zu treffen, dass sich der Asylsuchende bereits in der
Vergangenheit homosexuell betätigt hat. Die Prüfung wird regelmäßig den Zeitraum seit dem
Erreichen der Pubertät in den Blick nehmen. Ein Asylsuchender kann jedoch aus Scham oder
aus Angst vor der damit verbundenen gesellschaftlichen Ächtung seine homosexuelle
Veranlagung über einen mehr oder weniger langen Zeitraum unterdrückt haben, sodass er erst
zu einem weitaus späteren Zeitpunkt das persönliche Risiko einzugehen wagt, entsprechend
seiner sexuellen Veranlagung zu leben. Selbst die Eheschließung mit einer Frau muss nicht
als zwingender Beweis für die fehlende Unentrinnbarkeit der homosexuellen Neigung
gewertet werden. Denn gerade die bürgerliche Ehe mag dem ansonsten der allgemeinen
Ächtung und möglicherweise Verfolgung zum Opfer fallenden Homosexuellen einen
angemessenen Schutz bieten. Hat der Antragsteller erst im erwachsenen Alter seine
homosexuelle Betätigung im Bundesgebiet aufgenommen, sind Feststellungen unerlässlich,
ob und unter welchen Bedingungen es ihm vor seiner Ausreise aus seinem Heimatstaat
gelungen war, die Richtung seines sexuellen Triebverhaltens nach außen zu verbergen und ob
nach der Art seiner Veranlagung erwartet werden kann, er könne nach seiner Rückkehr in
seinen Heimatstaat ebenso wie vor seiner Ausreise seine konkrete Lebensführung gestalten.
Derartige Feststellungen kann das Verwaltungsgericht nicht ohne die Hinzuziehung eines
Sexualwissenschaftlers treffen.
Liegen diese Voraussetzungen vor, wird die Entscheidungsfindung erleichtert. Ist aufgrund
der festgestellten unentrinnbaren homosexuellen Prägung des Asylsuchenden mehr oder
weniger zwangsläufig die Weiterführung homosexueller Praktiken im Herkunftsland zu
erwarten, droht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgung.331 Insoweit ist auch
das öffentliche Bekenntnis zur homosexuellen Veranlagung im Bundesgebiet mit zu
berücksichtigen.332 Da es jedoch nicht auf die unentrinnbar festgelegte Neigung, sondern auf
die aus der Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung folgende allgemein anerkannte
menschenrechtliche Schutzverbürgung ankommt, darf der Antrag nicht allein deshalb
327
328
BVerwGE 80, 12 (18).
EGMR, NJW 1984, 541 (543) - Dudgeon; ebenso für transsexuelles Verhalten EGMR, HRLJ 1992, 358
(361).
329
330
331
332
VG Gießen, NVwZ-Beil. 1999, 119.
EGMR, HRLJ 1992, 358 ((361) (§ 44)) – B. v. France.
VG Leipzig, InfAuslR 1999, 309 (310).
VG Leipzig, U. v. 15. 11. 2000 – A 7 K 32574/96.
145
abgelehnt werden, weil der Antragsteller in der Vergangenheit keine im Herkunftsstaat
verbotenen sexuellen Praktiken verfolgt hat und insoweit auch nicht neigungsmäßig zwingend
festgelegt war. Vielmehr kommt es entsprechend den oben erwähnten Grundsätzen darauf an,
dass er jetzt glaubhaft derartige Praktiken verfolgt und die Behörden im Herkunftsland gegen
diese vorgehen.
dd)
Verfolgung aufgrund des Geschlechts (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 zweiter
Halbsatz RL 2004/83/EG)
(1)
Allgemeines
Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 2. HS der Richtlinie können bei der
Begriffsbestimmung der bestimmten sozialen Gruppe „geschlechterbezogene Aspekte“
berücksichtigt werden. Die Richtlinie berücksichtigt damit eine seit Jahren im Schrifttum
erhobene Forderung nach Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgungen und die
entsprechende Staatenpraxis. Ausgehend von der Erkenntnis, dass Frauen häufig bedeutend
weniger in politische Aktivitäten verstrickt sind als Männer und sexuelle Gewalt, wie etwa
Vergewaltigung, aus Gründen erfahren, die nicht in der Konvention genannt sind, wird
empfohlen, derartige Schutzbegehren dem Begriff der sozialen Gruppe zuzuordnen.333 Nach
der Richtlinie rechtfertigen indes geschlechterbezogene Aspekte für sich allein genommen
nicht die Annahme, dass die Verfolgung auf einem Verfolgungsgrund beruht. Die
Begründung des Kommissionsentwurfs weist darauf hin, dass der Verweis auf das Geschlecht
nicht impliziere, dass Frauen diesen Verfolgungsgrund in jedem Fall geltend machen
könnten.334 Demgegenüber kann nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG eine Verfolgung wegen
der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn die
Verfolgung allein an das Geschlecht anknüpft. Während danach allein der Hinweis auf das
Geschlecht nach der Richtlinie bei einer geltend gemachten Verfolgung nicht als zureichend
für die Darlegung des Verfolgungsgrundes angesehen wird, sondern die Darlegung eines
zusätzlichen Aspektes gefordert wird, geht der deutsche Gesetzgeber über das
Gemeinschaftsrecht hinaus und verzichtet auf die Darlegung zusätzlicher Erfordernisse, wenn
der geltend gemachten Verfolgung ein geschlechterbezogener Verfolgungsgrund zugrunde
liegt. Nach Ansicht der Rechtsprechung darf daher die Richtlinie nicht zu einer restriktiven
Anwendung des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG herangezogen werden.335
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle dürfte es jedoch zwischen dem
gemeinschaftsrechtlichen und dem deutschen Ansatz zu keinen unterschiedlichen Ergebnissen
kommen. Auch nach Ansicht von UNHCR bedeutet zwar eine geschlechterbezogene Analyse
der GFK nicht, dass alle Frauen automatisch Anspruch auf den Statusbescheid haben. Die
Flüchtlingsdefinition schließe jedoch bei richtiger Auslegung mit geschlechtsspezifischer
Verfolgung begründete Asylanträge ein, ohne dass es insoweit der Darlegung eines
zusätzlichen Aspektes bedarf. Aus den Beschlüssen des Exekutivkomitees des Programms
von UNHCR folgt ein feststehender Grundsatz, dass bei der Auslegung und Anwendung des
Flüchtlingsbegriffs in seiner Gesamtheit stets auf eine mögliche geschlechtsbezogene
333
James C. Hathaway, The Law of Refugee Status, S. 162; Jacqueline R. Castel, Rape, IJRL 1992, 39
(51); Nurjehan Mawani, IJRL 1993, 240 (244); Anders B. Johnsson, IJRL 1989, 221 (223); Ninety Kelley, IJRL
1989, 233 (235 f.); Jacqueline Greatbatch, IJRL 1989, 518 (526).
334
Kommissionsentwurf, in: BR-Drs. 1017/01, S. 24
335
Hess.VGH, U. v. 23. 5. 2005 – 3 UE 3457/04.A.
146
Dimension zu achten ist.336 Daher bestehe auch keine Notwendigkeit, die Definition des
Flüchtlingsbegriffs der GFK durch einen weiteren Grund zu ergänzen.337
(2)
Bestimmung des Begriffs des Geschlechts (Gender)
Der Begriff „geschlechterbezogene Aspekte“ in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 2. HS
RL 2004/83/EG verweist auf den Begriff der „geschlechtsspezifischen Verfolgung“, der an
sich keine rechtliche Bedeutung hat. Letzterer ist vielmehr ein Überbegriff, mit dem die
verschiedenen Antragsgründe zusammengefasst werden, in denen das Geschlecht für die
Feststellung der Statusberechtigung eine Rolle spielt. Um das Wesen der
geschlechtsspezifischen Verfolgung zu verstehen, müssen die beiden Bedeutungen des
Begriffs „Geschlecht“, die biologische („sex“) und die soziale („gender“), definiert und
getrennt betrachtet werden. Der Begriff „Geschlecht“ in seiner sozialen Bedeutung bezeichnet
die Beziehungen zwischen Frauen und Männern auf der Grundlage gesellschaftlich oder
kulturell üblicher oder definierter Identitäten, Rechtsstellungen, Rollen und Aufgaben, die
dem einen oder anderen Geschlecht zugewiesen sind. Demgegenüber bezeichnet
„Geschlecht“ im biologischen Sinne unterschiedliche biologische Merkmale.338
Genderspezifische Merkmale werden als klare Beispiele für eine bestimmte soziale Gruppe
bezeichnet, die durch ein angeborenes und unveränderbares Merkmal miteinander verbunden
ist.339 Der Begriff „Gender“ ist jedoch weder statisch noch von Natur aus vorgegeben,
sondern erhält im Laufe der Zeit sozial oder kulturell entstandene Inhalte. 340 Faktoren für eine
derartige soziale Begriffsbestimmung geschlechterbezogener Aspekte sind das biologische
Geschlecht, das Alter, der eheliche Status, der familiäre und verwandschaftliche Hintergrund,
der frühere wirtschaftliche und soziale Status sowie berufliche Hintergrund oder ethnische
oder Stammeszugehörigkeiten. Ob diese Faktoren unveränderbar sind, ist abhängig von dem
kulturellen und sozialen Kontext, in dem die Frau lebt.341 In Ward interpretiert der Oberste
Gerichtshof in Kanada den Genderbegriff im engen Zusammenhang mit dem sprachlichen
Hintergrund und der sexuellen Orientierung.342 Externe Faktoren führen mithin zur
Herausbildung einer von der umgebenden Gesellschaft deutlich abgegrenzten Identität. Auch
beim Begriff der geschlechterbezogenen Aspekte ist damit zur Begriffsbestimmung auf die
gegenseitige Verschränkung interner mit externen Merkmalen Bedacht zu nehmen und kann
so der gemeinschaftsrechtliche mit dem deutschen Ansatz in Übereinstimmung gebracht
werden.
So verstanden, kann der Begriff „Geschlecht“ in § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in seiner
sozialen Dimension „Gender“ als solcher ausreichen, damit eine glaubhaft gemachte
Verfolgung als Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
eingeordnet werden kann. Zunächst erscheint das „Geschlecht“ als geschütztes (angeborenes)
Merkmal im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 erster Spiegelstrich 1. Alt. der
Richtlinie. Das interne (geschützte) Merkmale erfährt seine soziale Begriffsbestimmung durch
die bezeichneten kulturellen, sozialen und familiären Kriterien im Sinne einer nach außen fest
umrissenen Identität (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 zweiter Spiegelstrich RL). Zwar
rechtfertigen nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 2. HS der Richtlinie
336
337
338
339
340
341
UNHCR, ExCom, Nr. 39 (1985), Nr. 73 (1993), Nr. 77 (g) (1995), Nr. 79 (o) (1997), Nr. 87 (1999).
UNHCR, Geschlechtsspezifische Verfolgung, 7. Mai 2002, S. 3 f.
UNHCR, Geschlechtsspezifische Verfolgung, S. 3.
Hathaway, The Law of Refugee Status, S. 162.
UNHCR, Geschlechtsspezifische Verfolgung, S. 3.
Refugee Women’s Lgal Group, Gender Guidelines for the Determination of Asylum Claims in the UK,
S. 17.
342
Supreme Cout of Canada, 30. 6. 1993 – No. 21937 – Ward.
147
geschlechterbezogene Aspekte für sich allein nicht die Annahme eines Verfolgungsgrundes.
Wird jedoch ein interne und externe Merkmale miteinander verschränkender Ansatz
angewendet, also der soziale Begriff „Gender“herausgearbeitet, knüpft die allein an einen
derartigen Begriff des „Gender“ ausgerichtete Verfolgung auch nach der Richtlinie an die
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe an.
Wegweisend für die Zuordnung des Begriffs „Geschlecht“ zum Verfolgungsgrund der
„bestimmten sozialen Gruppe“ ist die Entscheidung Islam and Shah des House of Lords des
Vereinigten Königreichs, in der die Lordrichter den Fall pakistanischer Frauen zu beurteilen
hatten, die von ihren Ehemännern verstoßen und des Ehebruchs beschuldigt worden waren,
sodass diese für den Fall der Rückkehr die Auspeitschung oder Steinigung zu befürchten
hatten. Lordrichter Steyn stellte zunächst fest, dass Frauen in Pakistan als bestimmte soziale
Gruppe angesehen werden können. Aus historischer Sicht sei auf den Umstand hinzuweisen,
dass selbst unter den brutalsten und repressivsten Systemen wie Nazideutschland und
Stalinismus einige Angehörige der von Verfolgung betroffenen Gruppen dieser hätten
entgehen können. Diese bedeute jedoch nicht, dass diese Gruppen nicht als bestimmte soziale
Gruppen verstanden werden könnten. Sofern man die Frauen in Pakistan als solche nicht als
bestimmte soziale Gruppe ansehen wolle, sei jedoch zu bedenken, dass die Antragstellerinnen
durch das Zusammentreffen von drei Charakteristika geprägt würden: das Geschlecht der
Antragstellerinnen, der gegen sie erhobene Verdacht des Ehebruchs sowie ihre ungeschützte
Position in Pakistan. Diese Merkmale würden keinen Aspekt von Verfolgung beinhalten. Die
betroffenen Frauen könnten vielmehr mit praktizierenden Homosexuellen verglichen werden,
die durch den Staat nicht geschützt würden. In konzeptioneller Hinsicht existiere eine solche
Gruppe unabhängig von der Verfolgung.343
Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass in der Rechtsprechung der
Vertragsstaaten wie auch nach Ansicht des UNHCR die Gruppe der Frauen in einem
bestimmten Herkunftsland eine bestimmte soziale Gruppe bilden können. Vorausgesetzt wird
indes stets die glaubhaft gemachte Verfolgung der Antragstellerin. Die Verfolgung selbst ist
jedoch kein Begriffselement des Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten
sozialen Gruppe.In Übereinstimmung mit dieser Ansicht steht § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG.
Üblich ist häufig auch die Bildung von bestimmten Untergruppen von Frauen.344 Dies ist
jedoch keine zwingende Voraussetzung für die Begriffsbestimmung. Vielmehr ist
entscheidend, dass aufgrund bestimmter sozialer, kultureller, religiöser oder weiterer Faktoren
ein bestimmter inhaltlich geprägter Genderstatus bestimmte Frauen von der umgebenden
Gesellschaft deutlich abgrenzt und diese wegen dieser Faktoren als andersartig betrachtet
werden.
Dies erklärt, warum Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 RL 2004/83/EG feststellt, dass
geschlechtsspezifische Aspekte berücksichtigt werden können und nach § 60 Abs. 1 Satz 3
AufenthG eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
auch an das Geschlecht anknüpfen kann. Damit wird die Anerkennung
geschlechtsspezifischer Verfolgung nicht in das Ermessen der Behörde gestellt. Die
Feststellung von Verfolgung aus Gründen der Konvention ist vielmehr eine
Rechtsentscheidung.345 Die Richtlinie 2004/83/EG und auch der deutsche Gesetzgeber weisen
die Feststellungsbehörden lediglich darauf hin, bei der Bestimmung einer bestimmten sozialen
Gruppe auf den geschlechtsspezifischen Aspekt Bedacht zu nehmen. Allein der Hinweis auf
das Geschlecht der Antragstellerin begründet indes keine bestimmte soziale Gruppe. Es
343
344
345
Lordrichter Steyn, House of Lords, IJRL 1999, 496 (504 f.) – Islam and Shah.
Nancy Kelly, IJRL 1994, 517 (527).
BVerwGE 49, 211 (212) = EZAR 210 Nr. 1 = DÖV 1976, 94.
148
müssen vielmehr besondere Charakteristika dargelegt werden, um den Genderstatus als
Grundlage der bestimmtener sozialen Gruppe ermitteln zu können. Verfolgung kann insofern
geschlechtsspezifisch sein, als sie aufgrund des Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder
des geschlechtsabhängigen Rollenbildes einer Person erlebt wird.346
h) Verfolgung wegen der politischen Überzeugung (Art. 10 Abs. 1 Buchst. e) RL
2004/83/EG)
Nach Art. 10 Buchst. e) der RL ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung
insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 der
RL bezeichneten potenziellen Verfolger sowie deren Politik oder Verfahren betrifft, eine
Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt. Dabei ist es unerheblich, ob der
Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
Das Vertreten einer der Politik der Verfolger entgegenstehenden politischen Überzeugung
allein ist nicht ausreichend. Der Antragsteller muss vielmehr glaubhaft machen, dass die
Verfolger von seiner politischen Überzeugung Kenntnis erlangt haben oder wahrscheinlich
erlangen werden oder ihm eine politische Überzeugung zuschreiben, dass diese Überzeugung
von den Verfolgern nicht toleriert wird und dass er deshalb Gefahr läuft, wegen seiner
politischen Überzeugung verfolgt zu werden. Auch eine Handlung kann Ausdruck einer
politischen Überzeugung sein. Objektiv unbedeutende politische Ansichten oder Handlungen
und auch Handlungen, die der Antragsteller selbst nicht als politisch einstuft oder einstufen
will, sind erheblich, wenn diese zum Anlass von Verfolgungen genommen werden.
Es wird nicht immer möglich sein, einen kausalen Zusammenhang zwischen der zum
Ausdruck gebrachten Meinung und der Verfolgung herzustellen. Häufig werden
Verfolgungshandlungen als Bestrafung angeblich krimineller Handlungen gegen die
herrschende Regierung deklariert. Deshalb sind in derartigen Fällen Ermittlungen anzustellen
über die politische Überzeugung des Antragstellers, die seinem Verhalten zugrunde liegt,
sowie darüber, dass seine politische Überzeugung Ursache für die von ihm befürchtete
Verfolgung ist.225 Hilfreiche Hinweise können insoweit etwa eine unverhältnismäßige oder
diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c) der RL) oder die
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit der Folge unverhältnismäßiger oder
diskriminierender Bestrafung (Art. 9 Abs. 2 Buchst. d) der RL) geben.
IV. Subsidiärer Schutz (Art. 15 bis 19 RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG)
1. Allgemeines
Die Richtlinie enthält in Art. 15 die materiellen Vorgaben für die Gewährung des subsidiären
Schutzes347 und bezeichnet das maßgebliche Entscheidungskriterium mit dem Begriff
„ernsthafter Schaden“. Beim subsidiären Schutz ersetzt der Begriff des ernsthaften Schadens
den Begriff der Verfolgungshandlung nach Art. 9 RL 2004/83/EG. In der deutschen
Gesetzgebung wurden früher in § 53 AuslG 1990 und werden nach geltendem Recht in § 60
Abs. 2 bis 7 AufenthG die tatbestandlichen Voraussetzungen des subsidiären Schutzes
geregelt. Allerdings setzen die Regelungen in § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG sowohl den
346
UNHCR, Auslegung von Art. 1 GFK, April 2001, S. 9
347
S. hierzu ausführlich Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung. Erläuterungen zur Richtlinie
2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie), Teil 2, Kap. 11 bis 13, § 35 bis § 42.
149
gemeinschaftsrechtlichen subsidiären Schutz um und enthalten darüber hinaus noch die
Rechtsgrundlagen für den nationalen subsidiären Schutz.
Der subsidiäre Schutzstatus ergänzt die in der GFK festgelegten Schutzregelungen für
Flüchtlinge. In der Staatenpraxis sind Regelungen für den Aufenthalt von Personen entwickelt
worden, die nicht als Flüchtlinge anerkannt werden, deren Rückführung in das Herkunftsland
jedoch aus den verschiedensten Gründen nicht möglich ist. Der subsidiäre Schutzstatus muss
darüber hinaus vom vorübergehenden Schutzstatus (RL 2001/55/EG, § 24 AufenthG) getrennt
werden. Während der vorübergehende Schutz ein vorübergehendes Konzept zur Lösung von
Massenfluchtbewegungen darstellt, handelt es sich beim subsidiären Schutzstatus um ein
Konzept zur Gewährung dauerhaften internationalen Schutzes als Alternative zum
Flüchtlingsschutz.
Subsidiärer Schutz zugunsten schutzbedürftiger Personen ist ein positiver Ansatz, um
pragmatisch auf bestimmte, internationalen Schutz hervorrufende Notlagen zu reagieren. Der
subsidiäre Schutz bezieht sich auf Personen, die zwar von schwerwiegenden
Menschenrechtsverletzungen (Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende
Behandlung) betroffen sind, indes keinen hierfür maßgebenden Verfolgungsgrund darlegen
können (Art. 15 Buchst. a) und b) RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 2 und 3 AufenthG) sowie auf
Personen, die zwar ernsthafte individuelle Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit
infolge willkürlicher Gewalt befürchten, hierfür jedoch keine individualbezogene Furcht vor
Verfolgungshandlungen geltend machen können (Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG, § 60
Abs. 7 Satz 2 AufenthG).
Nur im Blick auf die Personen, die nicht unter die Bestimmungen der GFK fallen, die aber als
Flüchtlinge im weiteren Sinne angesehen werden können, darf auf den subsidiären Schutz
zurück gegriffen werden. Subsidiäre Schutzformen dürfen deshalb nicht in einer Weise
angewendet werden, welche das internationale Schutzsystem für Flüchtlinge aushöhlt.
Deshalb ist es unzulässig, immer dann auf den subsidiären Schutz auszuweichen, wenn es
schwierig oder zeitaufwändig wäre, die Flüchtlingseigenschaft festzustellen. Befindet sich
eine Person in einer Situation, in welcher die Kriterien der Flüchtlingseigenschaft erfüllt sind,
kann die Gewährung lediglich subsidiären Schutzes deshalb eine Verletzung der sich aus dem
Flüchtlingsrecht ergebenden Verpflichtungen darstellen.
Wegen des gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrangs sind für die Gewährung des
subsidiären Schutzes vorrangig die Voraussetzungen nach Art. 15 RL 2004/83/EG
maßgebend. Soweit § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG darüber hinausgehende tatbestandliche
Voraussetzungen festlegt, kann zusätzlich zum gemeinschaftsrechtlichen nationaler
subsidiärer Schutz gewährt werden.
2. Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe (Art. 15 Buchst. a) RL 2004/83/EG, § 60
Abs. 3 AufenthG)
Die drohende Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe begründet einen ernsthaften
Schaden und vermittelt subsidiären Schutz, soweit keine Ausschlussgründe (Art. 17 RL
2004/83/EG) Anwendung finden. Nach dem Völkerrecht ist die Todesstrafe nicht generell
untersagt und vermittelt deshalb die drohende Verhängung oder Vollstreckung der
Todesstrafe keinen zwingenden Refoulementschutz, sondern nur, wenn in der Art und Weise
der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe eine unmenschliche oder erniedrigende
Behandlung oder Bestrafung zum Ausdruck kommt. Die Richtlinie 2004/83/EG knüpft
demgegenüber an neuere völkerrechtliche Entwicklungen an und vermittelt bei drohender
150
Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, sofern kein Ausschlussgrund eingreift,
subsidiären Schutz. Findet ein Ausschlussgrund nach Art. 17 RL 2004/83/EG Anwendung, ist
offen, ob nach der Richtlinie die Abschiebung untersagt ist. Demgegenüber ist nach § 60 Abs.
3 AufenthG unabhängig davon, ob ein Ausschlussgrund nach § 25 Abs. 3 Satz 2 3. Alt.
AufenthG eingreift, die Abschiebung zwingend untersagt.
Unter der Todesstrafe wird die absichtliche Tötung zur Vollstreckung eines durch ein
staatliches Gericht verhängten Todesurteils im Falle eines vom Gesetz mit dem Tode
bestraften Verbrechens verstanden. Gezielte Tötungen durch nichtstaatliche Gruppierungen
oder extralegale Hinrichtungen sowie die Praxis des Verschwindenlassens durch staatliche
Sicherheitskräfte oder paramilitärische oder ähnliche Gruppierungen erfüllen demgegenüber
den Begriff der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. Zwar ist bei
einer drohenden Doppelbestrafung die Abschiebung grundsätzlich zulässig. Subsidiärer
Schutz wird jedoch vermittelt, wenn im Rahmen des im Herkunftsstaat drohenden erneuten
Strafverfahrens die Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht.
Ob nach der Abschiebung die Todesstrafe verhängt oder vollstreckt werden wird, ist von zwei
Komponenten abhängig, nämlich davon, dass der Betroffene eine Straftat verübt hat, die nach
dem Recht des Herkunftslandes mit dem Tode bedroht ist, und den Behörden bekannt ist oder
wahrscheinlich bekannt werden wird, dass er eine derartige Straftat verübt hat. Der Betroffene
muss Umstände und Tatsachen darlegen, welche die ernsthafte Möglichkeit begründen, dass
den Behörden der Herkunftslandes bekannt ist oder wahrscheinlich bekannt werden wird, dass
er eine Straftat begangen hat, die nach dem Recht des Herkunftslande mit dem Tode bedroht
ist. Dabei ist insbesondere eine Kumulation entsprechender Verdachtsmomente zu bedenken.
Präklusionsvorschriften sind zurückhaltend anzuwenden.
In die Prognoseprüfung sind solche Nachteile einzustellen, für deren Annahme konkrete und
ernsthafte Anhaltspunkte bestehen. Nach dem maßgeblichen Beweismaß reichen wegen des
Gewichts der bedrohten Rechtsgüter bereits „geringe Risiken“ aus. Es müssen mithin
konkrete und ernsthafte Anhaltspunkte dafür vorgetragen werden, dass die Behörden von der
entsprechenden Tat etwa durch Denunziationen Dritter oder Beobachtung der
Auslandsvertretung Kenntnis erlangt haben. Demgegenüber begründet die bloß abstrakte
Hypothese einer drohenden Todesstrafe keinen subsidiären Schutz. Es reicht aus, dass die
Behörden des Herkunftslandes den Betroffenen einer Tat, die mit dem Tode bedroht ist,
verdächtigen. Er muss eine derartige Tat weder begangen noch deretwegen mit Haftbefehl
gesucht werden. Verbindliche Spezialitätszusagen werden im ausländerrechtlichen Verfahren
nicht abgegeben. Steht zur behördlichen Überzeugung fest, dass im konkreten Einzelfall die
Todesstrafe verhängt werden wird, vermögen zwischenstaatliche Vereinbarungen über den
Verzicht auf die Strafvollstreckung die Prognose nicht zu beeinflussen
3.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Art. 15
Buchst. b) RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 2 AufenthG)
a)
Absolute Schutzwirkung des Folterverbotes
Die drohende Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im
Herkunftsland begründet ein zwingendes Abschiebungsverbot und vermittelt subsidiären
Schutz, soweit keine Ausschlussgründe (Art. 17 RL 2004/83/EG) Anwendung finden. Das
Abschiebungsverbot ist absolut, darf deshalb weder im Notstand, in Kriegszeiten oder zur
Abwehr terroristischer Gefahren eingeschränkt werden (vgl. Art. 21 RL 2004/83/EG in
Verbindung mit Art. 3, 15 Abs. 2 EMRK). Findet ein Ausschlussgrund Anwendung, kann
151
danach zwar keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden (Art. 17 RL 2004/83/EG, § 25 Abs. 3
Satz 2 3. Alt. AufenthG), die Abschiebung ist jedoch untersagt (§ 60 Abs. 2 in Verb. mit §
60a Abs. 2 AufenthG)
b)
Begriff der Folter
Nach dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter prägen den Folterbegriff vier
tatbestandliche Elemente: Es muss eine dem Staat zurechenbare Handlung festgestellt werden,
die Schmerzzufügung muss einen bestimmten Intensitätsgrad erreichen, die Handlung muss
vorsätzlich begangen werden und sie einen bestimmten Zweck erfüllen. Dem Folterbegriff ist
damit ein objektives wie subjektives Element immanent. In objektiver Hinsicht wird eine
unmenschliche Behandlung, die ein besonders ernsthaftes und grausames Leiden hervorruft,
vorausgesetzt. In subjektiver Hinsicht muss der Maßnahme ein vorsätzliches und willkürliches
Handeln zugrunde liegen.
Die Trennlinie zwischen Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung wird
anhand der Intensität der Leidenszufügung gezogen. Die erforderliche Abgrenzung ist relativ.
Sie ist abhängig von den Umständen des Einzelfalles, wie z.B. der Dauer der Maßnahme,
ihren körperlichen und psychischen Auswirkungen und in manchen Fällen vom Geschlecht,
Alter und vom Gesundheitszustand des Opfers. Die Ziel-Mittel-Relation ist ein immanentes
Kriterium des Folterbegriffs Daher wird die Trennlinie auch anhand des subjektiven
Elementes vollzogen. Während der Folterbegriff stets ein vorsätzliches und willkürliches
Handeln voraussetzt, wird dies beim Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden
Behandlung nicht notwendigerweise vorausgesetzt.
c)
Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung
Anders als der relativ klare Folterbegriff ist der Begriff der unmenschlichen oder
erniedrigenden Behandlung einer präzisen begrifflichen Erfassung nur eingeschränkt
zugänglich. Weder wird begriffsnotwendig ein zweckgerichtetes Handeln noch ein
Handlungsbegriff überhaupt vorausgesetzt. Ausgangspunkt für die Abgrenzung ist der
Folterbegriff. Die notwendige Abgrenzung, ob die Maßnahme ein ernsthaftes und grausames
Leiden hervorruft, wird nach Maßgabe des Relativitätstest vorgenommen. Fehlt es an dem für
den Folterbegriff erforderlichen Schweregrad der Maßnahme, kann das verursachte Leiden
gleichwohl als unmenschlich oder erniedrigend angesehen werden. Ob dies der Fall ist, wird
ebenfalls anhand des Relativitätstests ermittelt.
„Gesetzlich zulässige Maßnahmen“ (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 Übereinkommen gegen Folter) sind
solche Maßnahmen, die nicht über das Maß an Unmenschlichkeit oder Erniedrigung
hinausgehen, welches notwendigerweise mit jeder legitimen Behandlung oder Bestrafung
verbunden ist. Um gleichwohl von einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung
ausgehen zu können, müssen im konkreten Einzelfall zusätzliche Faktoren festgestellt
werden. Der Schwerpunkt der Fälle unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder
Bestrafung betrifft behördliche Misshandlungen einschließlich Vernehmungen. Der
erforderliche Grad der Leidenszufügung ist erreicht, wenn eine Person während des amtlichen
Gewahrsams körperlich angegriffen wird und ihr dabei Schmerzen nicht unerheblicher Art
zugefügt werden, sofern die angewandte Gewalt ihre Rechtfertigung nicht im rechtmäßigen
Gesetzesvollzug findet. Körperliche Misshandlungen während des oder im Zusammenhang
mit behördlichem Gewahrsam kommen in unterschiedlichen Formen vor. Als unmenschliche
Behandlung wird etwa das tagelange Stehenlassen, der gänzliche Entzug von Nahrung und
Wasser sowie von Schlaf zur Aussagen- und Geständniserzwingung, das Zerstören des
152
landwirtschaftlichen Betriebes zwecks Vertreibung, die Hausdurchsuchung und anschließende
kurzfristige Inhaftierung sowie die Unterbindung der ärztlichen Versorgung zur Abgabe einer
belastenden Erklärung angesehen.
Die Anwendung körperlicher oder seelischer Gewalt im Rahmen behördlicher
Vernehmungen, um von den Betroffenen oder einer dritten Person eine Aussage oder ein
Geständnis zu erlangen, erfüllt den Folterbegriff. Abgrenzungsprobleme zur unmenschlichen
Behandlung entstehen insbesondere bei der Anwendung psychischer Vernehmungsmethoden.
Die Anwendung der Prügelstrafe als Disziplinarmaßnahme erfüllt zwar also solche nicht
notwendigerweise den für eine unmenschliche Behandlung notwendigen Schweregrad. Durch
die Art ihrer Ausführung wird sie jedoch häufig einen erniedrigenden Charakter aufweisen.
Auspeitschungen und andere unter Berufung auf die Sharia ausgeübte körperliche
Bestrafungen stellen im Blick auf den Schweregrad der Leidenszufügung eine
„unmenschliche“ Behandlung oder Bestrafung wie auch in Ansehung der Umstände der
Vollstreckung eine „erniedrigende“ Bestrafung dar.
Die Haftbedingungen, unter denen eine Person festgehalten wird, können ungeachtet ihres
gesetzmäßigen Charakters unter verschiedenen Gesichtspunkten als unmenschliche oder
erniedrigende Strafe angesehen werden. In Betracht zu ziehen sind die gesamten äußeren
Umstände des Haftvollzugs wie etwa die Art und Weise der Ernährung, die Dichte der
Zellenbelegung, die medizinische Versorgung und die sanitäre und hygienische Situation
sowie Ausgestaltung der Kontaktmöglichkeiten. Um als unmenschlich oder erniedrigend
gewertet zu werden, müssen die Haftumstände auf jeden Fall über das notwendigerweise mit
einer legitimen Bestrafung verbundene Element der Leidenszufügung oder Erniedrigung
hinausgehen. Insbesondere müssen die kumulative Wirkung der einzelnen Haftbedingungen
wie auch die spezifischen Haftbedingungen des Betroffenen in Betracht gezogen werden.
Hochsicherheitsgefängnisse, die das Ziel verfolgen, zwecks Verhinderung weiterer
Verbrechen den Austausch von Informationen zwischen den Gefangenen und mit der
Außenwelt zu unterbinden, verfolgen einem legitimen Zweck. Gleichwohl dürfen die
Gefangenen nicht durch die Art und Weise des Vollzugs der Haft einer Not und Bedrängnis
ausgesetzt werden, die das notwendigerweise mit der Haft verbundene Maß von
Leidenszufügung überschreiten. Insbesondere ist für die Gesundheit und das Wohlbefinden
der Gefangenen unter Berücksichtigung der tatsächlichen Inhaftierungsbedingungen
angemessen Vorsorge zu tragen. Während der Verdacht terroristischer Aktivitäten und die
Annahme einer hierauf beruhenden besonderen Gefährlichkeit der Häftlinge eine besondere
Gestaltung der Haftbedingungen rechtfertigt, sind Einschränkungen der Schutzbestimmungen
zugunsten der körperlichen Integrität terroristischer Straftaten Verdächtigter jedoch unter
keinen Umständen erlaubt.
Um zu beurteilen, ob die Anordnung von Einzelhaft („solitary confinement“) eine
unmenschliche Maßnahme darstellt, sind die zugrundeliegenden besonderen Umstände, deren
besondere Strenge und verfolgtes Ziel sowie deren Auswirkungen auf die betroffene Person
zu berücksichtigen. Jedenfalls zerstört die vollständige sensorische Isolation in Verbindung
mit der totalen sozialen Isolation die Persönlichkeit des Gefangenen. Die Praxis der
„incommunicado detetenion“, d. h. der vollständigen Unterbindung von Kontakten zu
Rechtsanwälten, Ärzten, Richtern, Familienangehörigen oder Freunden und Bekannten stellt
zwar als solche keine unmenschliche Behandlung dar. Im Rahmen der gebotenen
Gefahrenprognose kommt dieser Praxis jedoch deshalb eine erhebliche Bedeutung zu, weil
diese ein gewichtiges Indiz für die ernsthafte Möglichkeit darstellt, dass der Betroffene nach
der Abschiebung gefoltert oder unmenschlicher Behandlung ausgesetzt werden wird.
153
Die Praxis der Verwaltungshaft stellt zwar als solche keine unmenschliche Maßnahme dar.
Das Fehlen von Verfahrensgarantien oder deren Unzulänglichkeit insbesondere in Ansehung
des Rechts auf eine unabhängige Überprüfung der Verwaltungshaft ist jedoch ein gewichtiges
Indiz für die ernsthafte Möglichkeit, dass der Betroffene nach der Abschiebung gefoltert oder
unmenschlicher Behandlung ausgesetzt werden wird.
Zwar stellen psychiatrische Zwangsmaßnahmen, d.h. aus therapeutischen Gründen
erforderliche Maßnahmen als solche weder eine unmenschliche noch eine erniedrigende
Behandlung dar. Es muss jedoch der überzeugende Nachweis geführt werden, dass eine
therapeutische Notwendigkeit für deren Anwendung bestanden hat bzw. besteht. Bei der
Anwendung psychiatrischer Zwangsmaßnahmen darf darüber hinaus nicht die typische
Situation der Unterlegenheit und Abhängigkeit der wegen Geisteskrankheit eingewiesenen
Person ausgenutzt werden. Unter besonderen Umständen und bei der gebotenen
Gesamtbetrachtung können psychiatrische Zwangsmaßnahmen wie auch die Art der
Bedingungen der Unterbringung unmenschlich oder erniedrigend sein.
Die Abschiebung ungeachtet ernsthafter Gesundheitsgefährdungen kann Art. 3 EMRK
verletzen. Während nach Art. 3 EMRK auch Risikofaktoren im Rahmen des Vollzugs der
Abschiebung erfasst werden, nimmt Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG eine
zielstaatsbezogene Reduzierung der Gesundheitsgefährdungen vor. Nur die unzureichende
medizinische Versorgung im Abschiebezielstaat findet deshalb bei der Anwendung der
Richtlinie Berücksichtigung. Sind im Rahmen des Vollzugs der Abschiebung
Risikoerhöhungen zu besorgen, haben die Mitgliedstaaten nach ihrem innerstaatlichen Recht
wegen Art. 3 EMRK den Vollzug auszusetzen
d)
Verfahrensrechtliche Anforderungen
Der Antragsteller muss die seinem persönlichen Erlebnis- und Erfahrungsbereich
zuzuordnenden Umstände und Tatsachen, die für die von ihm befürchtete Gefahr von Folter
oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung maßgebend sind, von
sich aus konkret, in sich stimmig und erschöpfend darlegen (Darlegungslast). Wegen des
besonderen Gewichts der bedrohten Rechtsgüter ist dabei von den Präklusionsvorschriften
zurückhaltend Gebrauch zu machen. Die Behörde trifft angesichts der Schwere der drohenden
Rechtsgutverletzung eine besonders strenge Untersuchungspflicht. Sie hat im Rahmen der
Darlegungslast, aber gegebenenfalls auch von sich aus sämtliche relevante Umstände und
Tatsachen, welche für die Prognoseprüfung von Bedeutung sind, zu ermitteln.
Der Antragsteller muss ein „tatsächliches Risiko“ darlegen, dass er im Abschiebezielstaat
Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Dabei ist
zwischen einer unerheblichen „bloßen Möglichkeit“ sowie dem beachtlichen „ernsthaften
Risiko“ einer derartigen Behandlung zu differenzieren. Der hierfür maßgeblichen Prognose ist
allein mit der Feststellung, dass im Zielstaat der Abschiebung Folter ein weit verbreitetes
Phänomen ist und das dort herrschende System sich rigoroser Methoden der Machterhaltung
bedient und tatsächliche oder mutmaßliche politische Gegner mit allen nur erdenklichen
Mitteln bekämpft, nicht Genüge getan. Für die individuelle Prognoseentscheidung kommt
allerdings einer ständigen Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter
Menschenrechtsverletzungen (Art. 3 Abs. 2 Übereinkommen gegen Folter) eine gewichtige
Indizwirkung zu.
154
Wie bei der Flüchtlingsentscheidung ist in den Fällen, in denen der Antragsteller bereits in der
Vergangenheit Folterungen oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erlitten hat,
der Wahrscheinlichkeitsmaßstab herabzusetzen (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Wird
bezogen auf das Herkunftsland die Gefahr von Folter oder unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung oder Bestrafung festgestellt, besteht Anspruch auf Gewährung
subsidiären Schutzes, soweit keine Ausschlussgründe (Art. 17 RL 2004/83/EG) Anwendung
finden. Die entgegenstehende deutsche Rechtsprechung, die auch Möglichkeiten der
Abschiebung in Drittstaaten prüft, ist mit dem gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang
nicht vereinbar.
4.
Ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit (Art. 15
Buchst. c) Rl 2004/83/EG, § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG)
a)
Allgemeines
Subsidiärer Schutz nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG setzt eine ernsthafte individuelle
Bedrohung im Rahmen eines internationalen oder internen bewaffneten Konfliktes voraus.
Hat die Bedrohung ihre Ursache nicht in einem derartigen Konflikt, können indes die
Voraussetzungen von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung
(Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG) oder des nationalen subsidiären Schutzes nach § 60 Abs.
7 Satz 1 AufenthG gegeben sein. Der subsidiäre Schutz nach Art. 15 Buchst. c) RL
2004/83/EG ist ein Rechtsstatus, der nach Anerkennung des individuellen Schutzbedürfnisses
zuerkannt wird. Demgegenüber ist vorübergehender Schutz nach der Richtlinie 2001/55/EG
eine Ausnahmeregelung für unüberschaubare Notsituationen, in denen das Schutzbedürfnis
auf der Hand liegt und vorerst keine oder nur eine geringe Möglichkeit besteht, das
Schutzbedürfnis jedes Einzelnen festzustellen.
b)
Tatbestandliche Voraussetzungen von Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG
aa)
Begriff des internationalen bewaffneten Konfliktes
Der Begriff des „innerstaatlichen bewaffneten Konflikt“ zielt auf eine Situation, in der die
Regierung einen internen Konflikt nicht mehr mit den herkömmlichen administrativen Mitteln
und den verfügbaren polizeilichen Kräften zu lösen vermag und Militär einsetzen muss.
Weitere Voraussetzungen können dem Begriff als solches nicht unmittelbar entnommen
werden. Zu weitgehend sind bereits deshalb die Einschränkungen in den Hinweisen des
Bundesinnenministeriums zur Anwendung der Qualifikationsrichtlinie vom 13. Oktober 2006,
dass „örtlich und zeitlich begrenzte Bandenkriege“ unerheblich und nur
Auseinandersetzungen „ab einer bestimmten Größenordnung“ zu berücksichtigen seien.
Damit werden weder der Begriff des „innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes“ noch der
Schutzzweck der entsprechenden humanitären Normen zutreffend erfasst. Eindeutig ist der
Fall, in dem auf der Gegenseite oppositionelle Kräfte den Streitkräften der Regierung
gegenüberstehen, welche deren Machtmonopol in Frage stellen. Hierbei stehen den
Streitkräften der Regierung abtrünnige Streitkräfte oder andere organisierte Gruppen
gegenüber, die „unter einer verantwortlichen Führung“ eine solche Kontrolle über einen Teil
des Staatsgebietes ausüben, dass „sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen
durchführen“ können. Diese Voraussetzungen waren etwa in den „klassischen“
Bürgerkriegen, wie den amerikanischen Sezessionskriegen 1861 bis 1865 oder im spanischen
Bürgerkrieg 1936 bis 1939 gegeben.
155
Die „klassische“ Situation sich gegenüberstehender kämpfender Streitkräfte wird etwa für
Art. 1 des II. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1977 vorausgesetzt. Die für
den gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Konventionen maßgebenden Voraussetzungen des
„innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes“ liegen jedoch weit unterhalb dieser Kriterien. Auf
der den Genfer Konventionen vorausgehenden Bevollmächtigtenkonferenz wurde eine
Kriterienliste zur Definition des bewaffneten Konfliktes bewusst vermieden. Abzugrenzen ist
dieser Begriff vielmehr von bloßen Akten reinen Banditentums oder einer unorganisierten und
kurzfristigen Erhebung.348 Nach dem autoritativen Kommentar des Internationalen Komitees
des Roten Kreuzes beherrschen zwar die Konfliktbeteiligten in vielen Situationen bewaffneter
Konflikte einen Teil des Landes und besteht auch häufig irgendeine Art von Front. Dies ist
jedoch keine zwingende begriffsnotwendige Voraussetzung für das Vorliegen eines
innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes.349 Danach setzt der Begriff des innerstaatlichen
bewaffneten Konfliktes ein Ausmaß an Feindseligkeiten voraus, dessen die Regierung mit den
normalen polizeilichen Mitteln nicht mehr Herr werden kann.350 Dabei ermöglicht die
definitorische Unbestimmtheit von Art. 3 eine flexible Handhabung und dem IKRK die
Möglichkeit, Hilfestellungen in einer Vielzahl von Fallgestaltungen anzubieten.351 Einigkeit
besteht darin, dass Art. 3 auf bewaffnete Konflikte mit weit unterhalb der für die Anwendung
des II. Zusatzprotokolls geforderten Intensität Anwendung finden soll. Wegen des
Schutzzwecks des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen soll der Anwendungsbereich
dieser Norm so weit wie möglich gezogen werden. Vorausgesetzt werden lediglich
Kampfhandlungen einer „gewissen Intensität“.352
Der Begriff des bewaffneten innerstaatlichen Konfliktes ist deshalb nicht beschränkt auf
bewaffnete Kräfte mit der Fähigkeit zu anhaltenden und koordinierten Kampfhandlungen. Ein
örtlich begrenzter und nicht lediglich kurzfristiger Bandenkrieg ist vielmehr ebenso zu
berücksichtigen, wenn hierdurch die unbeteiligte Zivilbevölkerung in schwerwiegender Weise
dauerhaft in Mitleidenschaft gezogen wird. Es kommt damit in erster Linie auf die
Auswirkungen des Konfliktes auf die unbeteiligte Zivilbevölkerung in der entsprechenden
Region an. Da der Zweck von Art. 3 der Genfer Konventionen der größtmögliche Schutz der
unbeteiligten Zivilbevölkerung vor den Auswirkungen eines Konfliktes ist, bestimmt diese
normative Vorgabe auch die Reichweite der Norm und damit auch die Bandbreite der in
Betracht zu ziehenden Konflikte. Mit dem Begriff der „willkürlichen Gewalt“ verweist Art.
15 Buchst. c) RL 2004/83/EG auf derartige Auswirkungen und bestimmt damit entsprechend
dem Schutzzweck von Art. 3 der Genfer Konventionen die Bandbreite der in Betracht
kommenden bewaffneten Konflikte.
Festzuhalten ist damit, dass Kampfhandlungen und vergleichbare etwa terroristische Aktionen
zwar eine gewisse Intensität aufweisen müssen. Abzugrenzen ist dieses Erfordernis von
internen Störungen und Spannungen, wie etwa isolierte und sporadische Gewaltaktionen und
vergleichbare Handlungen.353 Für die erforderliche Abgrenzung von Bedeutung ist jedoch,
dass der Internationale Gerichtshof auf den Konflikt zwischen den „Contras“ und der
Regierung von Nikaragua den Begriff des „bewaffneten innerstaatlichen Konfliktes“ im Sinne
348
Pictet, The Geneva Conventions of 12 August 1949. Commentary. IV Geneva Convention, 1958, S. 36.
Pictet, The Geneva Conventions of 12 August 1949. Commentary. IV Geneva Convention, 1958, S. 36.
350
Gasser, Armed Conflict within the Territory of a State, in: Im Dienst an der Gemeinschaft, Festschr. für
D. Schindler zum 65. Geburtstag, Haller u.a. (Hrsg.), 1989, S. 225 (231).
351
Kalshoven, The Netherlands Yearbook of International Law 1977, 107 (113).
352
Bothe, Fiedenssicherung und Kriegsrecht, in: Völkerrecht, Graf Vitzthum, 1997, S. 581 (661).
353
Meron, The American Journal of International Law 1983, 589 (599); Meron, American Journal of
International Law 1984, 559 (561).
349
156
von Art. 3 der Genfer Konventionen angewendet hat354). Die Contras hatten die Regierung
von Nikaragua nicht mit fortdauernden militärischen Operationen, begangen von
koordinierten Streitkräften unter zentralem Kommando angegriffen, sondern über einen
längeren Zeitraum eine Vielzahl von vereinzelten militärischen und terroristischen
Operationen unternommen, ohne dabei jemals effektive Herrschaft über eine bestimmte
Region des Landes zu erzielen. Durch die im Rahmen von über einen längeren Zeitraum
durchgeführte Vielzahl vereinzelter militärischer und terroristischer Operationen erachtete der
Gerichtshof die für die Anwendung von Art. 3 der Genfer Konvention erforderliche „gewisse
Intensität“ der Auseinandersetzungen wie selbstverständlich für gegeben, ohne dies auch nur
zu begründen.
Weder eine territoriale Herrschaft noch zentral ausgeführte militärische Kommandos noch
eine systematische, bestimmten Gruppierungen zugeordnete Aktionen sind hiernach für die
Feststellung einer „bewaffneten innerstaatlichen Konfliktes“ maßgebend. Vielmehr erachtete
der Internationale Gerichtshof für seine Entscheidung für maßgebend, dass der gemeinsame
Art. 3 der Genfer Konvention eine gewohnheitsrechtliche Regel darstellt, die als solche die
unbeteiligte Zivilbevölkerung gegen bestimmte Formen von Menschenrechtsverletzungen
schützt und unter allen Umständen die Konfliktbeteiligten dazu anhält, den Schutz der
Zivilbevölkerung sicherzustellen.355 Die in Art. 3 zum Schutze von Nichtkombattanten
enthaltenen Verpflichtungen haben einen nicht aufhebbaren humanitären und bindenden
gewohnheitsrechtlichen Charakter.356
bb)
Begriff der „willkürlichen Gewalt“
Nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG muss nach der Feststellung eines innerstaatlichen
bewaffneten Konfliktes festgestellt werden, ob es in dessen Rahmen zu „willkürlicher
Gewalt“ kommt. Die Wahrscheinlichkeit willkürlicher Gewalt ist im innerstaatlichen Konflikt
höher als im internationalen Konflikt, da sich die Konfliktbeteiligten nach den Erfahrungen
der Vergangenheit in internationalen Konflikten eher an die humanitären Regeln des
Völkerrechts halten wie im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. Das humanitäre Recht
findet dagegen in innerstaatlichen Konflikten kaum Beachtung. Das hat insbesondere seinen
Grund darin, dass die herkömmlichen Adressaten des Völkerrechts, die Staaten, in diesen
Kriegen eher unbedeutend sind. Die regulären Armeen der Regierung sind zumeist nichts
anderes als marodierende Banden. Die halb staatlichen, halb privaten Akteure werden von den
Sanktionsdrohungen des Völkerrechts nicht wirksam erfasst. Darüber hinaus fehlt es auch an
wirksamen Durchsetzungsmechanismen gegen diese marodierenden Gruppierungen. Mit den
Mitteln des humanitären Rechts kann der entgrenzten Gewalt in diesen Konflikten kaum noch
wirksam begegnet werden.
Ursprünglich ging man beim internen Konflikt davon aus, dass dem territorialen Nationalstaat
vergleichbare Akteure, nämlich Konfliktbeteiligte, die zu kollektiv ausgeübter organisierter
Gewalt fähig sind, identifiziert werden könnten. Löst sich diese Symmetrie jedoch auf, weil
die zentralstaatlichen Instanzen erodieren und oppositionelle Gruppierungen zwar zur
Gewaltanwendung, nicht indes zu organisierter, in der Lage sind, lösen sich auch die
schützende Kategorien des Rechts im nationalstaatlichen Rahmen auf. Strategie im
klassischen militärischen Sinne verschwindet. An ihre Stelle treten die typischen Formen des
„low intensity conflicts“, das sind militärische Geplänkel, Bombenanschläge, terroristische
354
International Court of Justice, Entscheidung vom 27. Juni 1986, Reports of Judgments 1986, 14 (114) Nicaragua v. U.S.
355
International Court of Justice, Reports of Judgments 1986, 14 (114) - Nicaragua v. U.S.
356
Meron, Human Rights and Humanitarian Norms as Customary Law, 1989, S. 35.
157
Anschläge und Massaker. Jede Grausamkeit ist erlaubt, ja geradezu erforderlich, um den
Mythos eines mit Blut besiegelten Existenz- und Gründungskampfes zu begründen. Der
Schrecken, den sie verbreitet, ist erwünscht, als „heiliger Schrecken“ unter den eigenen
Leuten, als Terror bei den anderen.357 Auch die Grenze zwischen Kriegführung und
terroristischen Aktivitäten löst sich auf. Überall ist Krieg. Da bei diesen in immer kürzeren
Abständen auftretenden nationalstaatlichen Auflösungsprozessen oft nicht klar ist, wer gegen
wen und warum kämpft, können diese Aktivitäten auch nicht irgendeiner klassischen
Kategorie von Krieg untergeordnet werden.358
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Begriff „low intensity war“ zutreffend
die mit diesem verbundenen „willkürlichen Gewaltmuster“ erfasst. Tendenziell bricht der
bewaffnete innerstaatliche Konflikt in unterentwickelten Staaten aus, geführt durch eine
begrifflich entgrenzte Gemengelage von Kriegsakteuren. Kriegziele sind von kriminellen und
terroristischen ununterscheidbar; Gewalt ist totalisierend, aber nicht Ausdruck regulärer
Schlachten, sondern in Form potenziell jederzeit und überall gegen die Zivilbevölkerung
gerichteter ausbrechender Menschenrechtsverbrechen. Die hergebrachten Strukturen des
schützenden Rechts sind aufgelöst. Willkürliche Gewaltmuster prägen das tägliche Leben. Im
Begriff „low intensity war“ manifestiert sich die gesamte, durch den Begriff „Bürgerkrieg“
nicht ansatzweise erfasste Komplexität der „neuen Kriege“.
cc)……Begriff der „ernsthaften individuellen Bedrohung“
Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG verlangt eine ernsthafte und darüber hinaus auch
individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit. Aus dem Gesamtzusammenhang
von Art. 15 RL 2004/83/EG folgt, dass die ernsthafte Bedrohung infolge „willkürlicher
Gewalt“ bestehen muss. Zusätzliche beweisrechtliche Anforderungen werden nicht gefordert.
Vielmehr geht es hierbei um Gefährdungen, die nach ihrem Charakter, ihrer Intensität und
dem Grad der Gefährdung weit unterhalb der Schwelle verbleiben, deren Überschreitung
bereits den Schutzstatus nach Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG auslöst.359 Für die
Anwendung von Art. 3 EMRK, der inhaltlich dem Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG
zugrunde liegt,360 muss ein „konkretes Risiko“, also ein ernsthaftes Risiko einer derartigen
Behandlung dargelegt werden.361
Würde man für die individuelle Bedrohung nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004(83/EG denselben
Ansatz wie für Art. 15 Buchst. b) RL 204/83/EG zugrunde legen, also eine zeitlich und örtlich
jederzeit für den Einzelnen bestehende Bedrohung fordern, würde das Wesen der
„willkürlichen Gewalt“ verkannt und hätte es einer eigenständigen Regelung der individuellen
Bedrohung in Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG nicht bedurft. Denn ernsthafte individuelle
Bedrohungen im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes sind, sofern sie die materielle und
prognoserechtliche Schwelle der unmenschlichen Behandlung überschreiten, stets erheblich
nach Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG.
Der Grad der Wahrscheinlichkeit sowie auch die Anforderungen an die auf eine Einzelperson
abzielende Bedrohung nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG liegen demnach erheblich
unterhalb der materiellen und prognoserechtlichen Schwelle der unmenschlichen Behandlung
nach Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG. Wie sich aus den infolge einer Situation
357
358
359
360
361
Preuß, Krieg, Verbrechen, Blasphemie, 2002, S. 45.
Habsbawm, Das Zeitalter der Extreme, 1995, S. 690.
In diesem Sinne schon Treiber zu § 53 Abs. 6 AuslG 1990, in: GK – AuslR II - § 53 AuslG Rdn. 233.
Entwurf der Kommission KOM(2001)510endg., Ratsdokument 13620/01, in: BR-Drs. 1017/01, S. 29.
EGMR, NVwZ 1992, 869 (870), § 111, § 115 – Vilvarajah.
158
„willkürlicher Gewalt“ vorherrschenden Gewaltmustern im Rahmen bewaffneter interner
Konflikte ergibt, sind die Auswirkungen derartiger Gewalt für den Einzelnen nicht
vorhersehbar. Daher sind die Ermittlungen vorrangig auf die allgemeinen Umstände im
Herkunftsland zu richten. Wird ein bewaffneter innerstaatlicher Konflikt festgestellt, wird
dieser zumeist durch Muster willkürlicher Gewalt geprägt sein, sodass für den Einzelnen eine
Bedrohung seiner Rechtsgüter Leben oder Unversehrtheit beachtlich wahrscheinlich ist.
Spezifische persönliche Umstände können das Gefährdungsrisiko erhöhen, dürfen jedoch für
die Prognose einer individuellen Bedrohung nicht gefordert werden.
Schutzbedürftig im Sinne von Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG sind generell Personen, die
wegen einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens, ihrer Freiheit oder ihrer persönlichen
Sicherheit im Herkunftsland internationalen Schutz benötigten, sich dabei aber auf keinen
anerkannten Konventionsgrund nach der GFK (vgl. auch Art. 10 RL 2004/83/EG) berufen
können. Das Schutzbedürfnis dieser Personen hat regelmäßig seine Ursache in einem
bewaffneten Konflikt oder in schwerwiegenden Störungen der öffentlichen Ordnung.
Insbesondere sind damit Personen erfasst, die vor den wahllosen Folgen von Gewalt und den
damit einhergehenden Ausschreitungen im Rahmen einer Konfliktsituation ohne definierbares
Verfolgungselement fliehen362 oder deshalb nicht dorthin zurückkehren können. In
Übereinstimmung hiermit hat der Ministerrat des Europarates in der Empfehlung (2001)18
Personen für schutzbedürftig angesehen, die wegen einer Bedrohung ihres Lebens, ihrer
Sicherheit oder Freiheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten
Konfliktes in ihrem Herkunftsland zu fliehen gezwungen waren.
Aus den vorstehenden Erläuterungen folgt, dass das in Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG
entwickelte Konzept mit den in Art. 1 Abs. 2 der OAU-Flüchtlingskonvention sowie in der
Deklaration von Cartagena vorgesehenen Schutzformen vergleichbar ist.363 Der Antragsteller
muss danach nicht „für seine Person“ darlegen, dass ihm wegen des in seiner Herkunftsregion
herrschenden internen bewaffneten Konfliktes infolge willkürlicher Gewalt Bedrohungen des
Lebens oder der Unversehrtheit drohen. Vielmehr unterstellt die Richtlinie, dass unter diesen
tatsächlichen Voraussetzungen eine ernsthafte individuelle Bedrohung in der Herkunftsregion
des Antragstellers besteht. Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG erfordert nämlich nicht die
Feststellung einer den Antragsteller persönlich betreffenden Gefahr, sondern – losgelöst von
den persönlichen Verhältnissen des Antragstellers – die Feststellung „willkürlicher Gewalt“.
Die afrikanischen wie auch die lateinamerikanische Modelle haben ihren Grund in der als
unzureichend empfundenen Verfolgungskonzeption von Art. 1 A Abs. 2 GFK, die eine für
den Einzelnen bestehende Verfolgungsfurcht beruhend auf einen der dort genannten fünf
Gründe voraussetzt. Damit erlaubt diese Konzeption auch in Ansehung von Verfolgungen, die
sich gegen größere Personengruppen richten, gleichwohl nur eine Lösung auf der Basis eines
individuellen Verfolgungsansatzes. Üblicherweise muss danach der Antragsteller darlegen,
dass er für seine Person Verfolgung befürchtet. Dieser Voraussetzung liegt die Vorstellung
zugrunde, dass der gegen den Einzelnen gerichteten Verfolgung eine zweckgerichtete
Diskriminierung im Sinne der fünf Verfolgungsgründe von Art. 1 A Nr. 2 GFK, Art. 10 Abs.
1 RL 2004/83/EG zugrunde liegt.364 Die Kritik richtet sich gegen das Beweiserfordernis, das
dem Einzelnen auferlegt, darzulegen, dass er aus der allgemeinen, eine Gruppe von Personen
geltenden Bedrohung individuell herausgehoben werden wird („singled out“ for persecution).
In der deutschen Rechtsprechung ist dieses Problem unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der
362
UNHCR, Komplementäre Schutzformen, April 2001, Rdn. 11^.
Mandal, Complementary Protection 2004, S. 19.
364
Hathaway, The Law of Refugee Status, 1991, S. 91 ff.; Goodwin-Gill, The Refugee in International
Law, 2. Aufl. 1996, S. 77.
363
159
„gruppengerichteten Verfolgung“ bekannt.
Diese Grenzziehung wird anhand der Frage vollzogen, ob der Einzelne allein oder zusammen
mit anderen Opfer von Diskriminierungen werden wird oder ob Verletzungshandlungen eher
zufällig erfolgen.365 Bei internen bewaffneten Konflikten und vergleichbaren Situationen
werden viele Personen nicht deshalb Opfer von gewaltsamen Handlungen, weil sie durch die
Aggressoren als Feinde identifiziert werden, sondern weil sie eher zufällig in den durch
generelle Gewalt und bewaffnete Auseinandersetzungen geprägten Kontext geraten. In
derartigen Situationen werden diese Personen nicht zielgerichtet zum Zwecke der Verfolgung
identifiziert. Gleichwohl ist ihr Leben aufgrund der allgemeinen Bedrohung in Gefahr.366
Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG, Art. 1 Abs. 2 OAU-Konvention und die CartagenaErklärung lösen den Zusammenhang zwischen der auf Verfolgungsgründen beruhenden
Diskriminierung des Einzelnen auf und beseitigen darüber hinaus auch das Erfordernis der
Verfolgung. Weil es auf den Aspekt der gezielten Diskriminierung anhand der in Art. 1 Abs.
2 GFK und Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG bezeichneten Diskriminierungsverbote nicht
ankommt, entfällt auch die Heraushebung des Einzelnen aus der allgemeinen Bedrohung
sowie das Erfordernis der Feststellung einer konkreten Verfolgungsgefahr. Vielmehr tritt an
die Stelle der gezielten, auf Verfolgungsgründen beruhenden Diskriminierung die Feststellung
einer generellen Gefahr (general violence, disturbance of public order, armed conflict). Liegt
diese vor, bedarf es nicht des Nachweises, dass der Einzelne im Rahmen dieser Gefahr mit auf
bestimmten Diskriminierungsgründen beruhenden Verfolgungen rechnen muss.
Ausgangspunkt der Prüfung ist damit die nach objektiven Kriterien festzustellende und eine
unbestimmte Vielzahl von Personen betreffende Situation genereller Gewalt, in den Worten
der Richtlinie „willkürlicher Gewalt“. Während das afrikanische und lateinamerikanische
Modell insoweit eine weite Bandbreite von Gründen bezeichnen, schränkt die
gemeinschaftsrechtliche Konzeption den Bezugsrahmen für die Beachtlichkeit willkürlicher
Gewalt auf internationale oder interne bewaffnete Konflikte ein. Außerdem löst die EU das
dadurch hervorgerufene Flüchtlingsproblem anders als Afrika und Lateinamerika nicht über
den Flüchtlingsbegriff, sondern über den subsidiären Schutzstatus.
Ebenso wie in Afrika und in Lateinamerika erfordert Art. 15 Buchst. c) RL 2004/84/EG indes
nicht die Feststellung eines individuell identifizierbaren „ernsthaften Schadens“ im konkreten
Einzelfall. Als ernsthafter Schaden gilt vielmehr bereits die „Bedrohung“ infolge
„willkürlicher Gewalt“. Während in den vorhergehenden Fallgruppen der Begriff „ernsthafter
Schaden“ materiell durch den Verweis auf die „Todesstrafe“ und „Folter oder unmenschliche
oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ definiert wird, verknüpft Art. 15 Buchst. c)
RL 2004/83/EG ein materielles Prüfungskriterium „ernsthaft“ mit dem Prognosekriterium
„Bedrohung“. Dass auf eine präzise Beschreibung der Konturen des „ernsthaften Schadens“
im Rahmen eines Bürgerkrieges verzichtet, also nicht etwa wie in § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG die Darlegung einer „erheblichen konkreten Gefahr“ gefordert wird, weist darauf
hin, dass die Mitgliedstaaten keine präzise und auf den Einzelnen gerichtete „Gefahr für sein
Leben oder seine Unversehrtheit“, sondern feststellen müssen, ob aus dem internen Konflikt
ernsthafte Gefahren für Leib und Leben von Zivilpersonen hervorgehen können. Ist dies der
Fall, wird durch den Begriff „willkürliche Gewalt“ die Prognoseprüfung erheblich gelockert
Daraus ist zu schließen, dass nicht die Feststellung eines dem Antragsteller konkret drohenden
individuellen ernsthaften Schadens verlangt werden darf, sondern lediglich eine „Bedrohung“
365
366
Kälin, in: International Journal of Refugee Law 1991, 435 (438).
Kälin, in: International Journal of Refugee Law 1991, 435 (438).
160
festzustellen ist, die ihren Grund in „willkürlicher Gewalt“ im Rahmen eines internationalen
oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts hat. Sie erfordern also zunächst die Prüfung, ob
aufgrund des festgestellten internen bewaffneten Konfliktes „ernsthafte individuelle“
Verletzungen dieser Rechtsgüter in der von Auseinandersetzungen betroffenen Region
festzustellen sind oder ob die zivile Bevölkerung von den bewaffneten Auseinandersetzungen
weitgehend verschont bleibt und deshalb ernsthafte individuelle Bedrohungen des Lebens und
der Unversehrtheit von zivilen Personen eher eine Randerscheinung des Konfliktes sind,
wobei Muster „wahlloser“, also „willkürlicher“ Gewalthandlungen nicht mehr als
Randerscheinungen verstanden werden können, sondern in die für die Feststellung einer
Bedrohung erforderliche Prognoseprüfung einzustellen sind.
Wie das afrikanische und lateinamerikanische Modell verzichtet auch die europäische
Konzeption auf eine Prognoseprüfung anhand individualisierbarer konkreter
Gefährdungsmomente. Darauf weist auch die Begründung des Kommissionsentwurfs hin.
Hiernach muss der Antragsteller zwar nachweisen, dass er begründete Furcht um sein Leben
oder seine Unversehrtheit hat. Die hierfür maßgebenden Umstände und Tatsachen müssen
jedoch nicht personenspezifisch sein. Vielmehr muss der Antragsteller nur darlegen, dass
seine Furcht in seinem ganz bestimmten Fall begründet ist.367 Damit wird wie bei den anderen
regionalen Konzeptionen dem Erfordernis der begründeten individuellen Furcht durch den
Hinweis genügt, dass diese ihren Grund in den eher zufälligen, aber gleichwohl gefährlichen,
wenn auch ziellosen Auswirkungen intensiver Kämpfe und damit zusammenhängender
Schutzlosigkeit hat.368 UNHCR weist in diesem Zusammenhang folgerichtig darauf hin, dass
mit dem Erfordernis der „individuellen Bedrohung“ in Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG
keine zusätzliche Hürde errichtet und keine Verschärfung der Beweislast eingeführt werden
sollte. Situationen allgemeiner Gewalt seien gerade durch die „fehlende Zielgerichtetheit“ und
die Unvorhersehbarkeit der Risiken gekennzeichnet, denen die Zivilbevölkerung ausgesetzt
sei. Die Risiken müssten aber unmittelbar drohen und dürften nicht eine entfernt liegende
Möglichkeit darstellen.369
Der im deutschen Text der Richtlinie gewählte Begriff der „willkürlichen Gewalt“ entspricht
nicht dem englischen Text. Dort wird der Begriff „indiscriminate violence“ verwendet.
Während der deutsche Begriff „willkürlich“ („arbitrary“) auf den Verursacher und dessen
subjektive Vorstellungen Bezug nimmt, kommt es für den dem humanitärem Völkerrecht
entnommenen Begriff „indiscriminate“ („unterschiedslos“, „wahllos“) auf den Charakter der
Gewalt als solche an. Dem humanitären Völkerrecht ist das Gebot immanent, beim Einsatz
von Waffen zwischen militärischen Objekten und der unbeteiligten Zivilbevölkerung zu
trennen. Waffen, die diese Leistung nicht erbringen können, oder militärische oder
terroristische Operationen, die „unterschiedslos“ oder „wahllos“ sämtliche in deren Radius
befindliche Personen treffen können, verletzen das Völkerrecht. Es kommt damit nicht auf die
subjektive Vorstellung, also darauf, ob die Maßnahmen „willkürlich“ angewendet werden,
vielmehr darauf an, ob der militärische Kampf oder terroristische Einsatz ohne Rücksicht auf
die unbeteiligte Zivilbevölkerung durchgeführt wird.
dd)
Begriff der Zivilperson
Nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG muss die ernsthafte individuelle Bedrohung auf eine
Zivilperson gerichtet sein. Ebenso bestimmt § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, dass der
Antragsteller „Angehöriger der Zivilbevölkerung“ sein muss. Im internationalen Konflikt
367
368
369
Kommissionsentwurf v. 12. Sept. 2001, in: BR-Drs.1017/01. S. 29.
Arboleda, in: International Journal of Refugee Law 1991, 185 (195).
UNHCR, Kommentar zur Richtlinie 2004/83/EG, Mai 2005, S. 32.
161
kann die Unterscheidung zwischen der Zivilbevölkerung und den kämpfenden Streitkräften
vergleichsweise relativ leicht gezogen werden. Der Gegenbegriff zur „Zivilperson“ ist der
„Kombattant“ (vgl. Art. 3 Haager Landkriegsordnung von 1907). Der Begriff Kombattant
kommt in zwei Bedeutungen vor: Einerseits wird die Unterscheidung für zwei Gruppen
innerhalb der Streitkräfte verwendet, so z. B. für diejenigen Angehörigen der Streitkräfte, die
zum Kampf bestimmt sind, sowie Personen, die zwar zur Armee gehören und Uniform tragen,
aber nicht zum Kampf bestimmt sind, etwa Verwaltungsbeamte, Militärärzte, Sanitäter und
Militärgeistliche. Letztere können, mit Ausnahme des Sanitätspersonals und der
Militärgeistlichen, am Kampf teilnehmen. In diesem Fall dürfen auch Kampfhandlungen
gegen sie vorgenommen werden.370
Dem Erfordernis, dass eine „Zivilperson“ in ihren Rechtsgütern ernsthaft bedroht sein muss,
kann daher nur eingeschränkte Bedeutung zukommen. Darüber hinaus ist im Zeitpunkt der
Entscheidung (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) der Richtlinie) jeder Antragsteller eine
„Zivilperson“. Die Unterscheidung in Kombattant und Nichtkombattant hat ohnehin
vorrangige Bedeutung für das anwendbare Recht nach der Gefangennahme im Kriegsgebiet.
Außerhalb des Kriegsgebietes und damit außerhalb der Hoheitsgewalt des Kriegsgegners, d.h.
auch im Feststellungsverfahren der Mitgliedstaaten verliert diese Unterscheidung jegliche
rechtliche Bedeutung. Denn hier ist nicht Kriegsrecht, sondern Friedensrecht anzuwenden.
Allenfalls für die Prognoseprüfung kann es von Bedeutung sein, ob eine früher erlebte
ernsthafte individuelle Bedrohung im Kriegsgebiet in die Prüfung einzustellen ist. Hat der
Antragsteller diese Bedrohung erlebt, als er den Status eines Kombattanten besaß, ist sie bei
der Prognoseprüfung nicht zu berücksichtigen. Maßgebend ist jedoch die in die absehbare
Zukunft gerichtete Gefahrenprognose und damit die Frage, ob der Antragsteller im Falle der
Rückkehr als Zivilperson ernsthafte Rechtsgütergefährdung befürchten muss. Dass er früher
den Status eines Kombattanten hatte, schließt nicht zwingend aus, dass er im Falle der
Rückkehr als Zivilperson individuelle Bedrohungen seiner Rechtsgüter erfahren muss. Hat er
allerdings vor der Ausreise im Kriegsgebiet als Kombattant oder Nichtkombattant etwa an
Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder die Menschlichkeit teilgenommen
oder eine schwere Straftat begangen, entfällt der subsidiäre Schutz unabhängig davon, ob eine
individuelle Bedrohung festgestellt worden ist (vgl. Art. 17 Abs. 1 Buchst. a) und b) der
Richtlinie). In diesem Fall kann aber Refoulementschutz nach Art. 3 EMRK geboten sein
(vgl. Art. 21 der Richtlinie).
c)
Verbot der Anwendung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG
aa)
Allgemeines
Zwar bezieht der Gesetzgeber die verfahrensrechtliche Sperrwirkung in § 60 Abs. 7 Satz 3
AufenthG auch auf § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und damit auf die Umsetzungsnorm von Art.
15 Buchst. c) RL 2004/83/EG. Danach ist die Sperrwirkung nicht anwendbar, „solange eine
Entscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG noch nicht getroffen ist“ (§ 60 Abs. 7 Satz 3
AufenthG). Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht problematisch an diesem Ansatz ist einerseits,
dass er Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG – also nach Art. 15 Buchst. c) RL
2004/83/EG – dann der verfahrensrechtlichen Sperrwirkung unterwerfen will, wenn eine
Entscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG getroffen ist, und andererseits, dass er nach seinem
Wortlaut auch Anwendung finden kann, wenn in der Innenministerkonferenz zwar eine
Entscheidung, aber auch eine gegen eine generelle Anordnung nach § 60a Abs. 1 Satz 1
AufenthG getroffen wird.
370
Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Band. Kriegsrecht, 2. Auflage, 1969, S. 140 f.
162
bb)
Bedeutung des Erwägungsgrundes Nr. 26 RL 2004/83/EG
Zwar stellen nach Erwägungsgrund Nr. 26 RL 2004/83/EG „Gefahren“, denen die
Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt ist, für sich
genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar. Art. 15 Buchst. c) RL
2004/83/EG verknüpft jedoch das Erfordernis der „individuellen Bedrohung“ mit dem
Moment „willkürlicher Gewalt“. Nicht „generelle Gewalt“ als solche, sondern die
„unvorhersehbaren wahllosen Folgen willkürlicher Gewalt“ vermitteln deshalb den
subsidiären Schutzstatus. Art. 15 Buchst. c) einerseits sowie Erwägungsgrund Nr. 26 RL
2004/83/EG andererseits können bereits aufgrund ihrer Begrifflichkeit wie auch ihrer
Zweckrichtung nicht aufeinander bezogen werden.
Erwägungsgrund Nr. 26 ist auf Gefahren gemünzt, denen die Bevölkerung oder eine
Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind. Der verwendete Begriff der
Gefahr bezieht sich jedoch auf eine Situation, die nicht in das Stadium eines durch
„willkürliche Gewalt“ geprägten „internen bewaffneten Konfliktes“ gelangt ist. Anschaulicher
als der deutsche verdeutlicht dies der englische Text. Danach begründen Risiken, welche die
Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe im Allgemeinen ausgesetzt ist, „normally“ keine
individuelle Bedrohung. Erwägungsgrund Nr. 26 kann danach dahin verstanden werden, dass
in Situation, die nicht die Gefahrenschwelle von Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG erreicht
haben, generelle Gefahren, die jedermann treffen können, nicht berücksichtigt werden. Auf
die besondere Situation des bewaffneten Konfliktes ist danach Erwägungsgrund Nr. 26 RL
2004/83/EG nicht gemünzt. Bestätigt wird diese Auslegung durch die Verwendung des
Begriffs „indiscriminate violence“ in Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG. Wird Gewalt
ausgeübt, die nach ihrem Charakter, ihrer Struktur wie auch ihren unterschiedslosen
Auswirkungen „wahllos“ („indiscriminate“) jeden in einem bestimmten Gebiet treffen kann,
handelt es sich nicht mehr um Risiken, die das gesellschaftliche Zusammenleben
normalerweise („normally“) mit sich bringt. Ist danach die Situation im Herkunftsland von
willkürlichen Gewaltmustern geprägt, herrscht keine in Erwägungsgrund Nr. 26 RL
2004/83/EG vorausgesetzte Situation lediglich „allgemeiner“, sondern „willkürlicher“ Gewalt
im Sinne von Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG vor. Nur wenn allgemeine Gefahren nicht
Ausdruck „innerstaatlicher bewaffneter Konfliktes“ sind, stellen sie „für sich genommen“
(Erwägungsgrund Nr. 26 RL 2004/83/EG) keinen ernsthaften Schaden dar.
Darüber hinaus spricht auch der Gesamtzusammenhang der Richtlinie 2004/83/EG gegen die
Anwendung der Sperrwirkung. Zunächst ist nämlich – bezogen auf die Herkunftsregion des
Antragstellers - zu prüfen, ob dort für diesen eine ernsthafte individuelle Bedrohung des
Lebens oder der Unversehrtheit besteht. Wird diese Frage bejaht, ist anschließend zu prüfen,
ob dem Antragsteller in anderen Teilen des Herkunftslandes interner Schutz gewährt werden
wird (vgl. Art. 8 RL 2004/83/EG). Demgegenüber prüft die deutsche Rechtsprechung bei der
Anwendung der Sperrwirkung im Rahmen des verfassungsunmittelbaren Prüfungsdurchgriffs
lediglich, ob in irgendeinem Landesteil die Voraussetzungen der extremen Gefahr nicht
gegeben sind, ohne zuvor bezogen auf die Herkunftsregion einen „ernsthaften Schaden“ zu
ermitteln.
Diese Vorgehensweise ist mit der Richtlinie 2004/83/EG nicht vereinbar, weil zunächst die in
der Herkunftsregion bestehende Situation zu prüfen ist. Denn nach Art. 18 RL 2004/83/EG
erkennen die Mitgliedstaaten den subsidiären Schutzstatus zu, wenn der Antragsteller die
Voraussetzungen von Kap. II und Kap. V der Richtlinie 2004/83/EG erfüllt. Art. 15 Buchst. c)
RL 2004/83/EG ist eine Regelung im Rahmen von Kapitel V. Deshalb müssen zunächst die
163
entsprechenden tatbestandlichen Voraussetzungen geprüft werden. Anschließend ist dem
Einwand der internen Schutzes nachzugehen, da Art. 8 RL 2004/83/EG eine Norm im Kapitel
II der Richtlinie darstellt. Da die deutsche Rechtsprechung bei der Anwendung der
Sperrwirkung die Situation in der Herkunftsregion unberücksichtigt lässt, deren
Berücksichtigung aber nach Art. 18 RL 2004/83/EG unerlässlich ist, verletzt die
Sperrwirkung in § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG, soweit sie auch auf § 60 Abs. 7 Satz 2
AufenthG bezogen ist, Art. 18 RL 2004/83/EG
Eine Richtlinie darf nicht nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts eines Mitgliedstaates,
sondern muss nach gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen ausgelegt werden. Nach der
Rechtsprechung des EuGH kann eine Begründungserwägung einer Verordnung zwar dazu
beitragen, Aufschluss über die Auslegung einer Rechtsvorschrift zu geben. Sie kann jedoch
selbst nicht eine solche Rechtsvorschrift darstellen.371 Dementsprechend ist es nach Nr. 10 des
„Gemeinsamen Leitfadens des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission“372
Zweck der Erwägungsgründe, die wichtigsten Bestimmungen des verfügenden Teils in
knapper Form zu begründen, ohne deren Wortlaut wiederzugeben oder zu paraphrasieren. Sie
dürfen aber keine Bestimmungen mit normativem Gehalt und auch keine politischen
Willensbekundungen enthalten. Die Erwägungsgründe sind jener Teil des Rechtsaktes, der die
Begründung enthält und zwischen den Bezugsvermerken und dem verfügenden Teil des
Rechtsaktes steht. Sie werden im Gegensatz zum verfügenden Teil „so formuliert, dass ihe
Unverbindlichkeit deutlich wird“ (Nr. 10.1 des Gemeinsamen Leitfadens).
Eine Vielzahl von rechtlichen Gründen lässt danach ein Verständnis, das unter Berufung auf
Erwägungsgrund Nr. 26 RL 2004/83/EG den individuellen Zugang zum Schutzsystem des
Art. 18 RL 2004/83/EG sperrt, nicht zu. Ein derartiges Verständnis würde die lediglich auf die
Auslegung von Bestimmungen der Richtlinie zielende unverbindliche Funktion des
Erwägungsgrundes Nr. 26 RL 2004/83/EG überdehnen. Denn es wiese diesem die Funktion
zu, ausgerichtet am Vorbild der Rechtsprechung des BVerwG den Zugang zum subsidiären
Schutzsystem, der im verfügenden Teil der Richtlinie geregelt wird, in mechanistischer und
starrer Weise zu sperren. Die Bezugnahme der Sperrwirkung in § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG
auf § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und damit auf Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG verletzt
damit den gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang.
5.
Nationaler subsidiärer Schutz (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG)
a)
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verb. mit Art. 3 EMRK
Nach Auffassung des BVerwG hat der Gesetzgeber mit der deklaratorischen Verweisung auf
die EMRK in § 53 Abs. 4 AuslG 1990, jetzt § 60 Abs. 5 AufenthG, bewusst die Beachtung
unmittelbar aus der EMRK selbst folgender Abschiebungsverbote anerkannt und angeordnet.
Gleichzeitig habe er die von § 53 Abs. 4 AuslG 1990 erfassten zielstaatsbezogenen
Abschiebungsverbote aus der EMRK als zwingende rechtliche Abschiebungshindernisse
ausgestaltet, die bereits dem Erlass einer Abschiebungsandrohung in einen entsprechenden
Zielstaat entgegenstünden. Schutz vor der Abschiebung komme danach nicht schon dann in
Betracht, wenn der hohe Menschenrechtsstandard, zu dessen Einhaltung sich die
Vertragsstaaten der EMRK verpflichtet hätten, im Zielstaat der Abschiebung nicht oder nicht
in vollem Umfang gewährleistet erscheine.373
371
372
373
EuGH, U. v. 13. 7. 1989, Rs. 215/88, § 31 – Casa Fleichhandel.
http://eur-lex.europa.eu/de/technleg/10.htm
BVerwGE 111, 223 (229 f.) = NVwZ 2000, 1302 (1303).
164
Der EGMR habe seine Rechtsprechung zu Refoulementverboten bisher nur auf Art. 3 EMRK
gestützt und nicht entschieden, ob sich auch aus anderen Konventionsnormen als Art. 3
EMRK ein Verbot der Abschiebung wegen der Verhältnisse im Zielstaat ergeben könne.
Diese Frage sei dahin zu entscheiden, dass eine Abschiebung eines Ausländers nicht nur
unzulässig sei, wenn ihm im Zielstaat unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe.
Ein Abschiebungsverbot komme vielmehr auch dann in Betracht, wenn im Einzelfall andere
in der EMRK verbürgte, von allen Vertragsstaaten als grundlegend anerkannte
Menschenrechtsgarantien in ihrem Kern bedroht seien.374
Verletzungen von Art. 3 EMRK sind danach zunächst im Rahmen von Art. 15 Buchst. b) der
Richtlinie, § 60 Abs. 2 AufenthG zu prüfen. Insoweit wird ein über die Richtlinie
hinausgehender nationaler subsidiärer Schutz nicht relevant. Wird eine unmenschliche oder
erniedrigende Behandlung behauptet, ist der subsidiäre Schutz stets nach Maßgabe von § 60
Abs. 2 AufenthG zu prüfen. Über Art. 3 EMRK hinausgehende Refoulementverbote sind im
Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG zu prüfen. Die deutsche Rechtsprechung hat insoweit aus
Art. 6 und 9 EMRK ein Refoulementverbot hergeleitet. Das Gemeinschaftsrecht enthält
hierzu jedoch keine bindenden Vorgaben. Vielmehr findet insoweit ein spezifischer nationaler
subsidiärer Schutz Anwendung, dessen Konkretisierung allerdings eine Berücksichtigung der
Rechtsprechung des EGMR erfordert.
Das BVerwG schränkt den Anwendungsbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG außerhalb des
Refoulementschutzes nach Art. 3 EMRK allerdings grundsätzlich auf die Abschiebung in
Staaten ein, die nicht Vertragsstaaten der EMRK sind.375 Es begründet diese Einschränkung
damit, die bisher ergangenen Entscheidungen des EGMR zum Refoulementschutz aus Art. 3
EMRK hätten, soweit ersichtlich, nur Abschiebungen in Nicht-Vertragsstaaten betroffen.
Deshalb seien die Grundsätze zum Refoulementschutz aus der EMRK „nur eingeschränkt auf
die Abschiebung in einen Vertragsstaat anwendbar.“ Denn hier stehe die eigene
Verantwortung des Abschiebezielstaates als Vertragsstaat für die Einhaltung der
Konventionsrechte im Vordergrund. Ein Mitverantwortung des abschiebenden Staates, den
menschenrechtlichen Mindeststandard im Zielstaat der Abschiebung zu wahren, bestehe nur
dann, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und
irreparable Misshandlungen drohten und effektiver Rechtsschutz – auch durch den EGMR –
nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen sei.“376
b)
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verb. mit Art. 9 EMRK (Verletzung
der Religionsfreiheit)
Nach Auffassung des BVerwG ist bei drohenden Eingriffen in die Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK eine Abschiebung „nur in krassen Fällen“
unzulässig, wenn nämlich „die drohenden Beeinträchtigungen von ihrer Schwere her dem
vergleichbar sind, was nach der bisherigen Rechtsprechung wegen menschenunwürdiger
Behandlung zu einem Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK geführt“ habe. 377 Werde etwa
Apostaten eine Teilnahme an Gottesdiensten abseits der Öffentlichkeit nicht oder nicht ohne
Gefahr für Leib, Leben oder persönliche Freiheit ermöglicht, sei weiter zu prüfen, ob der
Betroffene durch diese Beschränkung der Religionsausübung persönlich betroffen sei. Dazu
sei zu prüfen, ob diese Form der Glaubensausübung im Bereich des „forum internum“,
374
BVerwGE 111, 223 (229 f.) = NVwZ 2000, 1302 (1303); so bereits BVerwG, U. v. 11.11.1997 –
BVerwG 9 C 13.96; BVerwG, U. v. 11. 11. 1997 – BVerwG 9 C 54.96.
375
BVerwGE 111, 223 (…) = NVwZ 2000, 1302 (1303).
376
BVerwGE 122, 271 (277) = EZAR 51 Nr. 2.
377
BVerwGE 111, 223 (…) = NVwZ 2000, 1302 (1303).
165
nämlich die Teilnahme an Gottesdiensten gemeinsam mit anderen Christen, insbesondere
anderen Apostaten, abseits der Öffentlichkeit nach dem Selbstverständnis der betroffenen
Religionsgemeinschaft unter den besonderen Bedingungen der Diaspora in einem Land mit
fundamentalistischer Staatsreligion zum schlechthin unverzichtbaren Bestandteil des
religiösen Lebens gehöre. Dabei sei auch zu bedenken, dass staatliche Beschränkungen und
Verbote in die Öffentlichkeit hineinwirkender Formen religiöser Betätigung, wie etwa die
Missionierung oder des Tragens religiöser Symbole in der Öffentlichkeit,378 unabhängig
davon, ob sie nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft zum unverzichtbaren
Inhalt der Religionsausübung gehörten, allein noch keine erhebliche Verfolgung darstellten.379
Darüber hinaus seien Feststellungen dazu gefordert, ob der Asylsuchende durch eine
Beschränkung von derartigen Gottesdienstbesuchen auch selbst in seiner religiös-personalen
Identität betroffen sei. Da das religiöse Existenzminimum – sofern nicht die Zugehörigkeit zu
einer Glaubensgemeinschaft als solche unter Strafe gestellt werde – für jeden Gläubigen je
nach dem Grad seiner praktizierten religiösen Betätigung unterschiedlich zu bestimmen sei,
komme es darauf an, ob die Gottesdienstbesuche abseits der Öffentlichkeit gerade für den
Asylsuchenden selbst unverzichtbar seien. Hierfür könne neben den eigenen Angaben des
Asylsuchenden über die von ihm bei einer Rückkehr beabsichtigte Ausübung seines Glaubens
und der stets zu prüfenden Ernsthaftigkeit des während des Asylverfahrens im Bundesgebiet
vollzogenen Glaubenswechsels u. a. auch dessen bisherige religiöse Betätigung und der Grad
der Verbundenheit mit einer Kirchengemeinde oder anderen Gläubigen im Bundesgebiet ein
Indiz sein.380
c)
Refoulementschutz wegen Kriegsdienstverweigerung
In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist umstritten, ob die EMRK ein Recht auf
Kriegsdienstverweigerung enthält. Einerseits wird vertreten, dass die Abschiebung in ein
Land, das ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht kenne, nicht Art. 9 EMRK
verletze.381 Demgegenüber geht die Gegenmeinung davon aus, dass eine Einberufung zum
Wehrdienst verbunden mit der Gefahr, bei der Ableistung des Grundwehrdienstes
unmenschlich behandelt zu werden, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG
begründen könne. Dem Betroffenen sei es aber zuzumuten, nach Mitteln und Wegen zu
suchen, der Einberufung nicht Folge zu leisten. Damit werde dem Betroffenen kein nach
hiesigem Rechtsverständnis strafbares Verhalten angesonnen. Es erscheine vielmehr nicht
unzumutbar, von dem Betroffenen zu erwarten, dass er sich wie ein Großteil der russischen
Wehrpflichtigen verhalte, sich also gewissermaßen an den in seinem Herkunftsland
gegebenen Verhältnissen und Gepflogenheiten ausrichte.382
Der EGMR hatte früher Beschwerden niederländischer Soldaten, die aus Gewissensgründen
Befehlsverweigerung begangen hatten, im Blick auf Art. 5 EMRK nicht als
Konventionsverletzung
angesehen.383
Im
Falle
eines
tschetschenischen
Kriegsdienstverweigerers, der wegen seines Einsatzes in der tschetschenischen Armee im
ersten Tschetschenienkrieg durch russische Behörden eine Art. 3 EMRK zuwiderlaufende
378
S. aber Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) der Richtlinie, § 17 Rdn. 10 bis 12.
BVerwGE 120, 16 ff. (24?) = InfAuslR 2004, 319 (322) = NVwZ 2004, 1000 = AuAS 2004, 125; unter
Hinweis auf BVerwGE 74, 31 (40) = EZAR 202 Nr. 7 = NVwZ 1986, 569 = D 19.
380
BVerwGE 120, 16 ff. (24?) = InfAuslR 2004, 319 (322) = NVwZ 2004, 1000 = AuAS 2004, 125.
381
OVG Hamburg, NVwZ-RR 1999, 342 (343) = InfAuslR 1999, 105 = AuAS 1998, 275, mit zahlreichen
Hinweisen.
382
BayVGH, B. v. 21. 6. 2001 – 11 B 97.34642; ähnlich für die GFK BayVGH, NVwZ-Beil. 1999, 3.
383
EGMR, HRLJ 1986, 321 ((331 ff.) (§ 42 ff.)) – de Jong et. al v. The Netherlands.
379
166
Behandlung befürchtete, hatte er hingegen die Beschwerde für zulässig erklärt. Dabei hatte
die niederländische Regierung eingewendet, der Beschwerdeführer könne in anderen
Landesteilen der Russischen Föderation Schutz erlangen. Demgegenüber hatte der
Beschwerdeführer darauf hingewiesen, dass er durch den russischen Geheimdienst und damit
landesweit verfolgt werde.384 Im Falle eines Geistlichen der Zeugen Jehovas, der sich für
seine Dienstpflichtverweigerung auf die Militärdienstbefreiung zugunsten anderer anerkannter
Religionsgemeinschaften berufen hatte und deshalb inhaftiert worden war, erkannte der
Gerichtshof in der freiheitsentziehenden Maßnahme eine Diskriminierung der
Glaubensgemeinschaft der „Zeugen Jehovas“. Die Inhaftierung wegen der
Dienstverpflichtverletzung des Beschwerdeführers sei deshalb nach dem innerstaatlichen
Recht nicht gerechtfertigt gewesen und damit willkürlich.385 In einem weiteren Fall eines
Zeugen Jehovas, der sich bei einer generellen Mobilmachung geweigert hatte, eine Uniform
zu tragen und allein deswegen zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war, stellte der
Gerichtshof eine Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 9 EMRK fest.386
Das BVerwG hat unter ausführlicher Auseinandersetzung mit der auslieferungsrechtlichen
Rechtsprechung des BGH zwar Zweifel daran geäußert, ob der Schutz aus Art. 4 Abs. 3 GG
so weit reiche, dass deutsche Stellen durch Überstellung eines Ausländers an sein Heimatland
nicht daran wirken dürften, dass dieser gegen sein Gewissen zur Ableistung des
Militärdienstes gezwungen werde. Eine Entscheidung dieser Frage könne indes auf sich
beruhen. Jedenfalls wäre den Belangen des ausländischen Kriegsdienstverweigerers
ausreichend Rechnung getragen, wenn man ihm gestattete , sein Anliegen einredeweise
gegenüber aufenthaltsbeendenden Maßnahmen geltend zu machen. Keinesfalls gebiete es Art.
4 Abs. 3 GG, dem betroffenen Ausländer in solchen Fällen ein förmliches
Anerkennungsverfahren nach Art. des im Kriegsdienstverweigerungsrechts geregelten
Verfahrens zur Verfügung zu stellen.387
Danach steht ausländischen Kriegsdienstverweigerern aus Gewissengründen zwar kein Recht
auf Durchführung eines auf Art. 4 Abs. 3 GG beruhenden förmlichen
Anerkennungsverfahrens ihres Status als Kriegsdienstverweiger zu. Die Ausländerbehörde hat
vor dem Vollzug aufenhaltsbeendender Maßnahmen jedoch eine geltend gemachte
Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu beachten. Dabei ist keine Beschränkung
auf ernsthafte Gewissenskonflikte, die sich auf völkerrechtswidrige Einsätze beziehen,
zulässig. Vielmehr ist bei der Gewährung des Abschiebungsschutzes Art. 4 Abs. 3 GG im
vollen Umfang zu berücksichtigen. Danach kommt es ausschließlich auf ein glaubhaft
begründetes Vorbringen an, dass der Kriegsdienst aus Gewissengründen verweigert wird und
im Abschiebezielstaat ungeachtet dessen die Einberufung zum Kriegs- und/oder Wehrdienst
droht.
d)
Refoulementschutz wegen Verletzung des Rechtes auf ein faires Verfahren (Art. 6
EMRK)
Der EGMR weist darauf hin, dass das Recht auf einen fairen Prozess im Strafverfahren, wie
dies in Art. 6 EMRK ausgedrückt wird, einen herausragenden Platz in jeder demokratischen
Gesellschaft einnehme. Deshalb schließe er nicht aus, dass ausnahmsweise eine Verletzung
von Art. 6 EMRK durch eine Auslieferungsentscheidung in Fällen vorliegen könnte, in denen
EGMR, Entscheidung v. 3. Juli 2001 - Application No. 58964/00 – K.K.C. v. the Netherlands.
EGMR, Entscheidung v. 25. April 1997 - Application No. 54/1996/673/859-860 – Tsirlis and
Kouloumpas v. Greece.
386
Entscheidung v. 6. April 2000 - Application No. 34369/87 – Thlimmenos. v. Greece.
387
BVerwG, InfAuslR 2005, 432, unter Hinweis auf BGHSt 27, 191 = NJW 1977, 1599.
384
385
167
der flüchtige Straftäter im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen
Prozess erfahren habe oder ihm eine solche drohe.388 Da nach Auffassung des Gerichtshofes
die Fakten in Soering eine solche Gefahr nicht ersichtlich machten, verneinte er eine
Verletzung von Art. 6 EMRK.
Der Gerichtshof hat seine Auffassung wiederholt bekräftigt und festgestellt, er könne nicht
ausschließen, dass ausnahmsweise Art. 6 EMRK dann einer Auslieferung entgegenstehen
könne, wenn der flüchtige Straftäter eine krasse Verletzung des Rechts auf einen fairen
Prozess erlitten hätte oder ihm eine solche Verletzung drohe.389 So drohe ohne Zweifel eine
Verletzung des Rechts auf einen fairen Prozess, wenn der Angeklagte in Abwesenheit
verurteilt worden und deshalb nicht in der Lage sei, sich vor dem Gericht zu verteidigen und
Rechtsmittel gegen ein Urteil einzulegen. Die Auslieferung verletze deshalb Art. 6 EMRK,
wenn vernünftige Gründe dagegen sprächen, dass nach der Auslieferung des Verfolgten das
Verfahren neu eröffnet werde und er deshalb das in Abwesenheit erlassene Strafurteil
verbüßen müsse. Der Beschwerdeführer müsse in derartigen Fällen aber den krassen
Verfahrensverstoß belegen.390
Bezugnehmend auf diese Rechtsprechung erkennt auch die deutsche Rechtsprechung an, dass
aus Art. 6 EMRK ein Abschiebungsverbot folgen kann. Dies komme aber nur in krassen
Fällen in Betracht, wenn dem Betroffenen im Abschiebezielstaat hierdurch
Beeinträchtigungen drohten, die einen äußersten menschenrechtlichen Mindeststandard
unterschritten und in einen absolut geschützten Menschenrechtskern eingriffen und damit von
ihrer Schwere her dem vergleichbar seien was nach der bisherigen Rechtsprechung wegen
menschenunwürdiger Behandlung zu einem Abschiebungsverbot geführt habe.391 Auch die
grundlegenden Strukturen eines fairen Strafverfahrens gehörten zu dem menschenrechtlichen
Mindeststandard, dessen Missachtung in einem anderen Staat eine Abschiebung dorthin
unzulässig machen könne. Die Garantie für ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK
stelle einen unantastbaren Grundwert dar, den es zu schützen gelte.392
Ein mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender „besonders schwerer Verstoß gegen die
Garantie eines fairen Verfahrens könne deshalb im Einzelfall zu einem Abschiebungsverbot
führen, soweit dadurch der Menschenwürdekern der Garantie verletzt werde. Dies setze
voraus, dass die drohende Beeinträchtigung nach Qualität und Quantität dem vergleichbar sei,
was ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK wegen menschenunwürdiger Behandlung
begründe. Für diese Beurteilung seien alle Umstände des Einzelfalles maßgebend. Zu
berücksichtigen seien insbesondere die Art der Behandlung bzw. Strafe sowie der
Zusammenhang, in dem sie erfolge, die zeitliche Dauer der Maßnahme sowie psychische und
physische Auswirkungen unter Berücksichtigung der Konstitution des Betroffenen. 393 Der
Gerichtshof hat andererseits darauf hingewiesen, dass Art. 6 EMRK auf Verfahren über die
Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung von Ausländern keine Anwendung findet.394
Insbesondere in diesem Zusammenhang gewinnt die Tatsache Bedeutung, dass der Zielstaat
der Abschiebung Vertragsstaat der EMRK ist. Das BVerwG hat deshalb nicht abschließend
erörtert, welche ausländerrechtlichen Folgen Verletzungen des Beweisverwertungsverbotes
EGMR, EZAR 933 Nr. 1 = NJW 1990, 2183 = EuGRZ 1989, 319 = B 1 – Soering.
EGMR, Series A No. 240, § 110 - Drozd and Janousek; EGMR, Entscheidung v. 16. Oktober 2001 –
Nr. 71555/01, § 32 – Einhorn.
390
EGMR, Entscheidung v. 16. Oktober 2001 – Nr. 71555/01, § 33 – Einhorn.
391
BVerwGE 122, 271 (280 f.) = EZAR 51 Nr. 2; Thür.OVG, NVwZ-Beil. 1999, 19 (20OVG NW, U. v.
26. 5. 2004 – 8 A 3852/03.A.
392
OVG NW, U. v. 26. 5. 2004 – 8 A 3852/03.A.
393
OVG NW, U. v. 26. 5. 2004 – 8 A 3852/03.A.
394
EGMR, InfAuslR 2001, 109 = EZAR 933 Nr. 1 – Maaouia; ThürOVG, NVwZ 1998, 1100 (1101).
388
389
168
(vgl. Art. 15 Übereinkommen gegen Folter) im Falle der Türkei nach sich ziehen. Verstöße
gegen Verfahrensgarantien seien in aller Regel korrigierbar. Daher sei allenfalls in
Ausnahmefällen denkbar, dass dem Betroffenen schwere und insbesondere irreparable
Beeinträchtigungen drohten. Nach den Feststellungen der Vorinstanz sei in der Türkei
effektiver Rechtsschutz erreichbar.395
e)
Subsidiärer Schutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
aa)
Allgemeines
Wie die Vorgängernorm des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990 vermittelt § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG subsidiären Schutz, wenn im Abschiebezielstaat für den Antragsteller eine
erhebliche, konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Norm ist
Auffangnorm für alle individuell-konkreten Gefahren, die nicht bereits in Art. 15 RL
2004/83/EG und § 60 Abs. 5 AufenthG enthalten sind. Am engsten verwandt ist § 60 Abs. 7
Satz 1 AufenthG mit Art. 15 Buchst. c) der Richtlinie. Soweit es um die Gefahrenschwelle,
die Individualisierbarkeit der Gefahr sowie die anzuwendenden Prognosegrundsätze geht, ist
§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nahezu identisch mit Art. 15 Buchst. c) der Richtlinie.
Zwischen beiden Normen gibt es jedoch einen bedeutsamen Unterschied: Art. 15 Buchst. c)
RL 2004/83/EG ist auf Bedrohungen infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines
internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes eingeschränkt. Diese
Einschränkung enthält § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht. Entwicklungsgeschichtlich ergibt
sich damit ein paradoxer Befund. Die Rechtsprechung des BVerwG hatte in den 1990er
Jahren unter Hinweis auf § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG 1990 sowie § 54 AuslG 1990 versucht,
individuelle Gefahren, die ihre Ursache in einem bewaffneten Konflikt haben, aus dem
Anwendungsbereich von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990 auszuschließen. Art. 15 Buchst. c)
der Richtlinie reagiert auf diese Rechtsprechung, in dem er gerade Bedrohungen infolge
willkürlicher Gewalt im Rahmen bewaffneter Konflikte zum Gegenstand des subsidiären
Schutzes macht.
bb)
Betroffene Rechtsgüter
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG müssen die Rechtgüter Leib, Leben oder persönliche
Freiheit gefährdet sein. Das Rechtsgut Leben umfasst zugleich auch die „Leibesgefährdung“.
Die relevanten Bedrohungsfaktoren lassen zumeist keine hinreichend zuverlässigen
Schlussfolgerungen zu, ob durch diese lediglich die körperliche sowie seelische
Unversehrtheit oder darüber hinaus auch das Leben betroffen ist. Auch wenn im Einzelfall
das Rechtsgut Leben nicht betroffen ist, kann aus prognoserechtlicher Sicht eine Bedrohung
der Unversehrtheit nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Im Rahmen der
Prognoseprüfung lässt sich zumeist gar nicht vorhersehen, ob aufgrund der festgestellten
Tatsachen Lebensgefahren drohen oder lediglich die körperliche oder geistige Unversehrtheit
bedroht ist.
Der Begriff „Leib“ verweist auf Beeinträchtigungen der körperlichen und seelischen
Unversehrtheit, also auf Folter und Misshandlungen. „Leibesgefährdungen“ sind insbesondere
gesundheitliche Gefahren, die in der Vergangenheit den Hauptanwendungsfall des § 53 Abs.
6 Satz 1 AuslG 1990, § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dargestellt haben. Auch eine ohne
Verletzung der äußerlichen Integrität des Leibes mögliche, gravierende Störung der inneren
BVerwGE 122, 271 (280 f.) = EZAR 51 Nr. 2 – Metin Kaplan; OVG NW, U. v. 26. 5. 2004 – 8 A
3852/03.A – Metin Kaplan.
395
169
Lebensvorgänge, d. h. eine schwere Gesundheitsgefährdung ist bei der Anwendung und
Auslegung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu beachten.396 Der Begriff „Freiheit“ ist ein
offener Begriff. Er umfasst grundsätzlich alle Freiheitsrechte. Das notwendige Korrektiv
erfolgt durch das Erfordernis der Individualisierbarkeit der Freiheitsbedrohung und das
Moment der erheblichen konkreten Gefahr. Es ist deshalb im Ansatz unzulässig, den
Freiheitsbegriff von vornherein auf Freiheitsentziehungen im Sinne des Art. 104 GG
einzuschränken,397 wenn auch im Ergebnis beide Ansichten zum selben Ergebnis führen. Der
Freiheitsbegriff ist prinzipiell offen. Da aber nur erhebliche und konkrete Gefahren der
Freiheitsrechte subsidiären Schutz begründen, wird man wohl in Anlehnung an die
Rechtsgüter Leib und Leben eine vom Gewicht und Intensität her vergleichbare
Rechtsgutverletzung fordern müssen.
cc)
Erfordernis der erheblichen Gefahr
Dem Erfordernis der „Erheblichkeit“ in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt eine materielle
Funktion zu, d. h. es zielt auf den Umfang des Bedrohungserfolges. Denn die Bedrohung der
Rechtsgüter Leib, Leben oder Freiheit ist in unterschiedlichen Abstufungen möglich. Die
Bedrohung des Rechtsgutes Leben ist allerdings keiner Abstufung zugänglich. Das Leben ist
entweder bedroht oder nicht. Demgegenüber sind Bedrohungen der Rechtsgüter Leib und
Leben in unterschiedlicher Intensität möglich. Nicht jede geringfügige Bedrohung der
körperlichen oder seelischen Unversehrtheit oder der Freiheit der Person, sondern nur
erhebliche Gefahren sollen den subsidiären Schutzstatus nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
begründen. Es bedarf eines nicht unerheblichen Umfangs der Verletzung der bezeichneten
Rechtsgüter. Da die Feststellung Prognosetatsachen betreffen und deshalb Grundlage
prognostischer Einschätzungen sind, kann eine präzise Abstufung des Bedrohungserfolges
nicht verlangt werden. Es reicht die ernsthafte Möglichkeit (§ 26 Rdn. 5 ff.) aus, dass Leib,
Leben oder Freiheit erheblich gefährdet sind.
Durch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden auch die Gefahren erfasst, die nicht dem Zielstaat
zuzurechnen sind. Im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist es deshalb unerheblich, ob
die Gefahren von staatlichen Behörden ausgehen, von diesen offen oder stillschweigend
geduldet werden oder ob sie aufgrund nichtstaatlicher Bedrohungen bestehen. In diesen Fällen
ist aber stets zu prüfen, ob dem Betroffenen ein Ortswechsel zuzumuten ist.398
dd)
Begriff der konkreten Gefahr
Der Begriff der „konkreten Gefahr“ in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezieht sich auf den
Gefährdungsgrad.399 Er ist in Abgrenzung zur „allgemeinen Gefahr“ (vgl. § 60 Abs. 6
AufenthG) zu bestimmen. Eine allgemeine Gefahr ist nur möglich, indes noch nicht
hinreichend wahrscheinlich. Anders als bei Bedrohungen nach Art. 15 Buchst. c) der
Richtlinie, § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, bei denen bei erlittenen oder unmittelbar
bevorstehenden Bedrohungen vor der Ausreise wegen Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ausreicht,
dass eine Bedrohung nicht ausgeschlossen werden kann, ist bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
auch in derartigen Fällen der normale Beweismaßstab anzuwenden.400 Bei einer beachtlichen
396
Wilhelm Treiber, in: GK-AuslR, II - § 53 AuslG Rdn. 235.
Wilhelm Treiber, in: GK-AuslR, II - § 53 AuslG Rdn. 235
398
BVerwGE 99, 324 (…) = EZAR 046 Nr. 6 = NVwZ 1996, 199 = AuAS 1996, 32 = D 58; BVerwG,
EZAR 043 Nr. 26; VGH BW, EZAR 043 Nr. 12; VGH BW, EZAR 043 Nr. 25; Günther Renner, AuslR, 8.
Aufl., 2005, § 60 AufenthG Rdn. 52; Wilhelm Treiber, in: GK-AuslR, II - § 53 AuslG Rdn. 233.
399
Wilhelm Treiber, in: GK-AuslR, II - § 53 AuslG Rdn. 237.
400
BVerwG, InfAuslR 1995, 24 (…)?; BVerwGE 99, 331 (…)?; BVerwG, NVwZ 1999, 668 (…) = EZAR
043 Nr. 30 = AuAS 1999, 76.
397
170
Wahrscheinlichkeit einer drohenden Rechtsgutverletzung wird das Ermessen nach § 60 Abs. 7
Satz 1 AufenthG aber regelmäßig auf Null reduziert.
Im Rahmen der Prognoseprüfung kann zumeist nicht zuverlässig vorhergesagt werden, ob der
Bedrohungserfolg materiellrechtlich gesehen nur geringfügig, sondern weitergehend ist. Es
geht damit um die Eintrittswahrscheinlichkeit der Gefahr. Nicht jede abstrakte oder nur
entfernt liegende Möglichkeit der Rechtsgutbeeinträchtigung, die noch nicht hinreichend
wahrscheinlich ist, löst danach den Schutzanspruch aus, sondern nur die „ernsthafte“
Möglichkeit. Konkret ist danach eine Gefahr für die Rechtsgüter Leib, Leben oder Freiheit,
wenn die hierfür sprechenden Umstände nach ihrer Intensität und Dichte von einem solchen
Gewicht sind, dass sich hieraus die ernsthafte Möglichkeit ihrer Verletzung für den Fall der
Rückkehr ergibt.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG muss die Gefahr „für diesen Ausländer“ drohen. Damit
muss die Gefahr individualisierbar sein. Es geht letztlich um die sachgerechte
prognoserechtliche Einschätzung, ob die aufgezeigten, festgestellten oder sonstwie
erkennbaren Gefahren dem Antragsteller persönlich drohen. Eine Gefahrenquelle kann
gleichzeitig die bezeichneten Rechtsgüter einer Vielzahl von Personen oder aller Angehörigen
der Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe bedrohen und damit für jeden Einzelnen aus
dieser Gruppe eine konkrete, individuelle Gefahr darstellen. Selbst wenn eine allgemeine
Gefahr etwa durch Kriegsereignisse, Kriegsstrategien, bestimmte Verfolgungspraktiken oder
Naturkatastrophen für eine Vielzahl von Personen besteht, wird dadurch nicht begriffslogisch
ausgeschlossen, dass gleichzeitig auch eine individuelle Gefährdung des Einzelnen bestehen
kann. Letztlich geht es stets um eine prognoserechtliche Bewertung, ob aufgrund des
Charakters, der Intensität sowie des Umfangs derartig allgemeiner Gefahren die ernsthafte
Möglichkeit besteht, dass diese auch für den Antragsteller drohen.
Auf individualbezogene Gefahren, die ihren Ursprung in allgemeinen Gefahren haben, findet
grundsätzlich § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Anwendung. Nur für den Fall, in dem allgemeine
Gefahren nicht zugleich auch individualbezogenen Charakter haben, entfällt eine Anwendung
von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. In diesem Fall kann aber Abschiebungsschutz aus einer
generellen Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG folgen. Man kann die subsidiären
Schutznormen des § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG insgesamt als Ausdruck verfassungs- und
völkerrechtlicher Wertsetzungen verstehen und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auf individuelle
Bedrohungen, die ihren Grund in allgemeinen Gefahren haben, auslegen und anwenden.
#
In diesem Sinne hatte das BVerfG die fachgerichtliche Rechtsprechung dazu angehalten, bei
der Interpretation des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG die Ausstrahlungswirkungen der
Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu beachten.401 Diese
Rechtsprechung ist mithin so zu verstehen, dass aus der Verfassung keine zusätzlichen
Abschiebungshindernisse abgleitet werden müssen, sondern der in § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG geregelte subsidiäre Schutz im Sinne eines grundrechtsorientierten Verständnisses
ausgelegt und angewendet werden soll. Dies gilt zunächst auf materieller, aber auch auf
prognoserechtlicher Ebene insbesondere für individuelle Bedrohungen als Folge allgemeiner
Gefahren:
Stets ist festzustellen, welche Gefährdungsmomente im Einzelnen für die Anwendung des
Begriffs der individuellen Bedrohung herangezogen werden können. Sind diese Folge der
Praxis willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes, findet nicht § 60 Abs.
401
BVerfG (Kammer), NVwZ 1992, 660=InfAuslR 1993, 176 0 C 27a.
171
7 Satz 1 AufenthG, sondern Art. 15 Buchst. c) der Richtlinie Anwendung. Erscheint die
allgemeine Gefahr nicht als Ausdruck eines bewaffneten Konfliktes und hat sie für den
Einzelnen eine Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit zur Folge, ist Abschiebungsschutz nach §
60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Nach dem Referentenentwurf greift in diesem Falle
nur dann eine verfahrensrechtliche Sperrwirkung ein, wenn eine generelle Anordnung nach §
60a Abs. 1 AufenthG ergangen ist (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthGE). Das Fehlen einer solchen
Anordnung zwingt die zuständigen Behörden, über den Antrag zu entscheiden, ohne dabei
beweisverschärfende Grundsätze ins Spiel zu bringen (Rdn…).
ee)
Keine Anwendung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG bei
Gesundheitsgefährdungen
Nach der Rechtsprechung ist bei der Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 die
verfahrensrechtliche Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG zu beachten. Dies gilt
indes grundsätzlich nicht bei zielstaatsbezogenen Gesundheitsgefährdungen. Die
Rechtsprechung der Instanzgerichte wendete frühere die verfahrensrechtliche Sperrwirkung
nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG allerdings auch auf Gesundheitsgefährdungen an. Dies
wurde damit begründet, eine allgemeine Gefahr könne insbesondere auch dann vorliegen,
wenn die Erkrankung, an der der Betroffene leide, in seinem Herkunftsland so verbreitet sei,
dass die Frage, ob ihretwegen Abschiebungsschutz gewährt werden solle, eine Befassung der
obersten Landesbehörde sowie eine bundeseinheitliche Praxis und damit eine politische
Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfordere.402
Das BVerwG hat seine bisherige Position in dieser Frage geändert. Während es jahrelang
auch bei einer durch Krankheit bedingten Gefahr eine „extreme individuelle
Gefahrensituation“ und damit eine „Gefährdung mit dieser besonderen Intensität“ verlangt
hat,403 stuft es in seiner neueren Rechtsprechung die Kriterien herab: Die befürchtete
Verschlimmerung der gesundheitlichen Beeinträchtigung als Folge fehlender
Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat müsse lediglich zu einer „erheblichen
Gesundheitsgefahr“ führen. Eine (erhöhte) „existenzielle“ oder „extreme“ Gefahr, die den
Betroffenen im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem Tod oder
schwersten Verletzungen ausliefern würde, habe das BVerwG jedoch nur bei
verfassungskonformere Durchbrechung der verfahrensrechtlichen Sperrwirkung gefordert.404
Ausdrücklich stellt das Gericht klar, die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers
aufgrund der Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung verschlimmert, sei in der Regel als
individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 bs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter
Anwendung zu prüfen ist.405 Das BVerwG hat aber einschränkend festgestellt, eine
Gesundheitsgefährdung aufgrund zielstaatsbedingter unzureichender Versorgungslage sei
ausnahmsweise dann als allgemeine Gefahr oder Gruppengefahr im Sinne von § 60 Abs. 7
Satz 4 AufenthG zu qualifizieren, wenn es – etwa bei Aids – um eine große Anzahl
Betroffener im Zielstaat gehe und deshalb ein Bedürfnis für eine ausländerpolitische
Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Aufenthg bestehe.406 Es muss daher zwischen dem
singulären Charakter einer Erkrankung und einer Erkrankung, die „eine große Anzahl
Betroffener“ erfasst differenziert. Letztere Voraussetzungen können nur ausnahmsweise
angenommen werden.
402
BVerwG, NVwZ 1998, 973 (973 f.) = = InfAuslR 1998, 409 = AuAS 243; OVG Rh-Pf, NVwZ-Beil.
2004, 11 (12).
403
Zuletzt BVerwGE 122, 103 (108) = NVwZ 2005, 462 = InfAuslR 2005, 120.
404
BVerwG, B. v. 24. 5. 2006 – BVerwG 1 B 118.05
405
BVerwG, AuAS 2007, 30 (31).
406
BVerwG, AuAS 2007, 30 (31).
172
ff)
Einwand der Nachsorge
Zwar kann nach der Rechtsprechung die Ausländerbehörde grundsätzlich den Wegfall der
Gefahrenlage bewirken, indem sie für den Ausländer die tatsächliche Behandlung vor Ort
sicherstellt und finanziert.407 Die von der zuständigen Behörde in diesem Zusammenhang
ergriffenen oder zugesagten Maßnahmen müssen jedoch so konkret und Erfolg versprechend
sein, dass sie eine Unterbrechung des Kausalverlaufs erwarten lassen, der ansonsten alsbald
zum sicheren Tod oder zu schwersten Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit des
Ausländers führen würde. Nicht ausreichend ist es hingegen, wenn alternativ verschiedene
Maßnahmen zugesagt werden, deren Erfolgsaussichten ungeprüft sind, oder wenn diese
Maßnahmen lediglich geeignet erscheinen, das ansonsten zu erwartende Geschehen um eine
Zeitspanne hinauszuschieben, die einer dann eintretenden Aktualisierung der Gefahr nicht die
zeitliche Nähe zum Abschiebungsakt nähme.408 Die von den zuständigen Behörde in diesem
Zusammenhang ergriffenen oder zugesagten Maßnahmen müssen jedoch so konkret und
Erfolg versprechend sein, dass sie eine Unterbrechung des Kausalverlaufs erwarten lassen, der
ansonsten eine nicht unwesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes zur Folge
hat.
Darüber hinaus kann die gebotene Nachsorge nicht lediglich auf die Gewährleistung des
Übergangs in Form einer Erstbetreuung beschränkt bleiben. Vielmehr entfällt ein
zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis nur dann, wenn die erforderliche weiterreichende
und auf Dauer angelegte medizinische Versorgung sichergestellt ist.409 Es darf also nicht nur
eine zeitnahe medizinische Versorgung in den Blick genommen werden. Dabei lässt
jedenfalls die Sicherstellung einer medizinischen Versorgung lediglich für einen Zeitraum
von zwei Monaten nach der Abschiebung das Abschiebungshindernis nicht entfallen. 410 Bei
psychischen Erkrankungen muss der in den Blick zu nehmende Zeitraum wegen der
spezifischen Ausprägung dieser Krankheit bedeutend länger sein.
407
VG Braunschweig, AuAS 2005, 137; VG Göttingen, NVwZ-RR 2004, 536.
VG Braunschweig, NVwZ-RR 2004, 300, Unzulässigkeit der Abschiebung eines an Bluthochdruck
leidenden Armeniers.
409
OVG Rh-Pf, NVwZ-Beil. 2004, 11 (13).
410
OVG Rh-Pf, NVwZ-Beil. 2004, 11 (13); a. A. BayVGH, NVwZ-Beil. 2004, 14 (15), die finanzielle
Übernahme der medizinischen Versorgung für drei Monate ist ausreichend .
408
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