Dr. Reinhard Marx Mainzer Landstr. 127a 60327 Frankfurt am Main T. 0049-69-24271734 F. 0049-69-24271735 [email protected] www.ramarx.de Grundkurs zum Ausländer- und Asylrecht 1 Gliederung: A. I. II. III. IV. Erteilung, Verlängerung und Verfestigung von Aufenthaltstiteln Seite 9 Arten der Aufenthaltstitel 9 Duldung (§ 60a AufenthG) 10 Erteilung des Aufenthaltstitels 10 1. Funktion des Prüfungsschemas 10 2. Erlaubnisfreier und genehmigungsbedürftiger Aufenthalt 11 a) Allgemeines 11 b) Erlaubnisfreier Aufenthalt 11 c) Genehmigungsbedürftiger Aufenthalt 12 d) Gegenstandbereich des Aufenthaltstitels 13 aa) Funktion des Aufenthaltzwecks 13 bb) Zweckwechsel 13 3. Zeitpunkt des Antrags und der Behördenentscheidung 14 a) Zweck des zweiten Prüfungsschritts 14 b) Antragstellung nach der Einreise 15 c) Antragsbedürftigkeit des Verwaltungsverfahrens 15 d) Kein formelles Anragserfordernis 15 e) Antrag vor der Einreise 15 aa) Zuständige Behörde 15 bb) Vorabzustimmungsverfahren 17 Muster: Antrag auf Erteilung der Vorabzustimmung (§ 31 Abs. 3 AufenthV) 17 cc) Rechtsmittel 18 Muster: Remonstration gegen die Versagung des Visums 18 Muster: Verpflichtungsklage und einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO auf Erteilung des Visums 19 4. Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen (§ 5 AufenthG) 20 a) Funktion der Erteilungsvoraussetzungen 20 b) Begriff des Regelfalles 20 c) Die einzelnen Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG 20 aa) Sicherung des Lebensunterhaltes (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 in Verb. mit § 2 Abs. 3 AufenthG) 20 bb) Geklärte Identität und Staatsangehörigkeit (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG) 21 cc) Ausweisungsgrund (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) 21 dd) Interessen der Bundesrepublik (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) 23 ee) Passpflicht (§§ 3, 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) 24 ff) Versagungsgrund nach (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) 25 gg) Sperrwirkung der Ausweisung und Abschiebung (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) 26 hh) Sperrwirkung der Ausweisung und Abschiebung (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) 27 Verlängerung des Aufenthaltstitels 29 1. Fortbestand der Ersterteilungsvoraussetzungen (§ 8 Abs. 1 AufenthG) 29 2. Ausnahmen vom Erfordernis der Ersterteilungsvoraussetzungen 31 2 V. VI. B. 3. Rechtzeitige Antragstellung 32 4. Ausschluss der Verlängerung (§ 8 Abs. 2 AufenthG) 32 5. Geltungsdauer des Aufenhthaltstitels 32 Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG) 34 1. Funktion der Niederlassungserlaubnis 34 2. Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis (§ 9 Abs. 2 bis 4 AufenthG) 36 a) Allgemeines 36 b) Besitz der Aufenthaltserlaubnis (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) 36 c) Sicherung des Lebensunterhaltes (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 in Verb. mit § 2 Abs. 3 AufenthG) 38 d) Kein Ausweisungsgrund (§ 5 Nr. 2 AufenthG) 39 e) Altersvorsorge (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) 40 aa) Anwndungsbereich der Vorschrift 40 bb) Umfang der Altersvorsorge 40 f) Straffällig gewordene Antragsteller (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG) 41 g) Ordnungsgemäße Beschäftigung (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG) 42 h) Sonstige Berufsausübungserlaubnis (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) 42 i) Sprachliche Integrationsvoraussetzungen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) 42 j) Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) 42 k) Wohnraumerfordernis (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 in Verb. mit § 2 Abs. 4 AufenthG) 45 l) Anfrage bei den Sicherheitsbehörden bei konkreten Zweifeln (§ 73 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) 46 Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (§ 9a bis § 9 c AufenthG) 46 1. Funktion der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten 46 2. Voraussetzungen für die Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten 47 a) Allgemeine Erteilungsvorazussetzungen 47 aa) Allgemeine Grundsätze 47 bb) Fünfjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet mit Aufenthaltstitel (§ 9a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 AufenthG) 48 cc) Anrechnungsverbote 50 dd) Sicherung des Lebensunterhaltes (§ 9a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) 51 ee) Integrationsvoraussetzungen (§ 9a Abs. 1 Nr. 3 und 4 AufenthG) 52 ff) Ausschlussgrund der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung (§ 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG) 53 3. Umfang derErlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (§ 9a Abs. 1 AufenthG) 53 4. Erlöschensgründe (§ 51 Abs. 9 AufenthG) 55 5. Aufenthaltserlaubnis für langfristig Aufenthaltsberechtigte aus anderen Mitgliedstaaten (§ 38a AufenthG) 55 Vorläufiger Rechtsschutz gegen die Versagung der Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels 56 3 I. II. III. C. I. II. III. IV. D. I. II. III. Antrag auf Anorndung der aufschiebenden Wirkung des Widespruchs gegen die Versagungsverfügung nach § 80 nAbs. 5 VwGO 56 1. Zulässigkeit des Eilrechtsschutzantrags 56 a) Verfahrensrechtliche Funktion des Antrags auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels 56 b) Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 81 Abs. 3 AufenthG) 57 d) Antrag auf Verlängerung oder Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels (§ 81 Abs. 4 AufenthG) 59 aa) Funktion der Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4AufenthG59 bb) Anwendungsbereich der Fortgeltungsfiktion 60 cc) Verspätete Antragstellung 61 dd) Ausschluss der Fortgeltungsfiktion 63 e) Form des Eilrechtsschutzantrags (§ 80 Abs. 5 VwGO) 63 Muster: Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen die Versagungsverfügung 63 f) Antrag auf Erlass eines Hängebeschlusses 64 Muster: Antrag auf Erlass eines Hängebeschlusses 65 2. Begründetheit des Antrags 65 a) Gemeinschaftsrecht 65 Muster: Eilrechtsschutz gegen die Versagungsverfügung gegenüber Unionsbürgern 66 b) Keine eingeschränkte Prüfungsbefugnis 67 c) Allgemeine Entscheidungskriterien 67 3. Wirkung des stattgebenden Beschlusses 68 Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VGO 69 1. Zulässigkeit des Antrags 69 Muster: Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung und Hilfsweise – auf Erlass einer einstweiligen Anordnung 69 2. Begründetheit des Antrags 70 Hauptsacheverfahren 70 Struktur des Asylverfahrens 71 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 71 Ausländerbehörde 72 Bundespolizei 73 Aufnahmeeinrichtung 73 Einleitung des Asylvefahrens 74 Antragsabhängiges Verfahren 74 Muster: Asylrechtlicher Antragsschriftsatz mit Begründung 75 Persönliche Meldepflicht (§ 23 Abs. 1 AsylVfG) 76 Ausschluss vom Asylverfahren 78 1. Allgemeines 78 2. Zuständigkeit eines Dublin II-Staates (§ 27a AsylVfG) 79 a) Vorbemerkung 79 b) Kein Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens nach Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO 79 c) Zuständigkeitskriterien nach der Dublin II-VO 80 d) Berücksichtigung des Grundsatzes der Familieneinheit 82 e) Versäumung der Überstellungsfrist nach Art. 19 Abs. 4 Dublin II – VO 83 4 f) E. I. II. III. F. I. II. III. Keine Anwendung der Dublin II-VO bei Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG 83 g) Ausschluss des Eilrechtsschutzes 83 3. Asylfolgeangtrag nach erneuter Einreise 84 Sachverhaltsaufklärung 84 Grundrechtsverwirklichung durch Verfahrensschutz 84 Umfang des Untersuchungsgrundsatzes 85 Persönliche Anhörung des Antragstellers 86 1. Funktion der Anhörung nach § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG 86 2. Umfang der Darlegungslast 87 a) Persönliche Umstände und Tatsachen 87 b) Allgemeine Verhältnisse im Herkunftsland 87 c) Verhandlungsleitung und verfahrensrechtliche Fürsorge 87 d) Behördliche Verpflichtung zu Vorhalten 88 e) Praktische Empfehlungen zur persönlichen Anhörung 89 Materielle Entscheidungsgrundlagen 90 Praktische Bedeutung im Asylverfahren 90 Gegenstandsbereich des Asylverfahrens 91 1. Allgemeines 91 2. Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) 92 3. Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs 93 a) Verhältnis der Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs zu denen des subsidiären Schutzes 93 b) Funktion des Flüchtlingsbegriffs 94 c) Prüfstruktur des Flüchtlingsbegriffs 94 aa) Verfolgungshandlung + Wegfall des nationalen Schutzes + Verfolgungsgründe 94 bb) Abweichungen der Flüchtlingseigenschaft vom Begriff der „politischen“ Verfolgung 96 Begriff des Flüchtlings nach Art. 2 Buchst. c) RL2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) 97 1. Begriff der Verfolgungshandlung (Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie) 97 a) Vorbemerkung 97 b) Begriff der Verfolgungshandlung (Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie) 97 c) Funktion der in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichneten Regelbeispiele 99 2. Wegfall des nationalen Schutzes 101 a) Vorbemerkung 101 b) Verfolgungsakteure (Art. 6 RL 2004/83/EG) 102 aa) Allgemeines 102 bb) Nichstaatliche Akteure (Art 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG) 103 cc) Prüfung bei Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure 105 dd) Schutzversagen 106 ee) Maßgeblichkeit der Schutzlehre 107 d) Zumutbarkeit der Beantragung nationalen Schutzes (Art. 7 RL 2004/83/EG) 109 aa) Prüfungsstrukturen 109 Umfang der Darlegungslasten bei Verfolgung durch den Staat oder diesem vergleichbare Organisationen 109 5 cc) 3. Ratio der Darlegungslast bei Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure 111 dd) Umfang der Darlegungslast bei Verfolgung durch nichtsaatliche Akteure 112 ee) Wirksamer nationaler Schutz vor der Ausreise (Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG) 113 ff) Zumutbarkeit der Schutzbeantragung 114 gg) Schutzgewährung durch de facto-Autoritäten (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG) 116 hh) Schutzgewährung durch internationale Organisationen 117 d) Individuelle Schutzgewährung nach Rückkehr 117 aa) Allgemeine Grundsätze 117 bb) Verfahrensrechtliche Funktion der Vorverfolgung (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG) 118 e) Prognoserechtlicher Schutzstandard (Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83EG) 120 aa) Funktion der generellen Schutzgewährleistung 120 bb) Abgrenzung zwischen ernsthaften und lediglich entfernt liegenden Möglichkeiten 122 cc) Individueller Zugang zum nationalen Schutzsystem 122 f) Interner Schutz (Art. 8 RL 2004/83/EG) 123 aa) Begriff der internen Schutzalternative 123 bb) Voraussetzungen des internen Schutzes 124 (1) Prüfungsschema 124 (2) Ungefährdeter Zugang zum Ort der internen Schutzalternative 124 (3) Praktische Hindernisse im Sinne von Art. 8 RL 2004/83/EG 125 (4) Zumutbarkeit des Aufsuchens des Ortes des internen Schutzes 126 (5) Sicherheit vor dem Zugriff der Verfolger 126 (6) Zumutbarkeit der Lebensverhältnisse am Ort der internen Schutzalternative 127 (7) Keine Aufrechnung zwischen den am Herkunftsort und am Ort des internen Schutzes bestehenden allgemeinen Gegebenheiten 127 Verfolgungsgründe (Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie) 130 a) Zuschreibung geschützter Merkmale (Art. 10 Abs. 2 RL 2004/83) 130 b) Verfolgung wegen der Rasse (Art. 10 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG) 131 c) Verfolgung wegen der Religion (Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG) 131 aa) Umfang des Schutzbereichs 131 bb) Prüfungsstufen 133 cc) Prognoserechtliche Folgerungen aus dem weiten Religionsbegriff 133 dd) Glaubenswechsel 135 d) Verfolgung wegen der Nationalität (Art. 10 Abs. 1 Buchst. c) RL 2004/83/EG) 136 e) Verfolgung wegen des Geschlechts (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) RL 2004/83/EG) 137 aa) Allgemeines 137 6 Begriff der „bestimmten sozialen Gruppe“ (Art. 1 A Nr. 2 GFK) 137 (1) Kein innerer Zusammenhalt der Gruppe 137 (2) Geschützte Merkmale (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 erster Spiegelstrich RL 2004/83/EG) 138 (3) Erfordernis einer fest umrissenen Identität (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 zweiter Spiegelstrich RL 2004/83/EG 138 (4) Verschränkung des externen und internen Ansatzes 140 cc) Verfolgung wegen der sexuellen Ausrichtung (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 RL 2004/83/EG 141 (1) Begriffsbestimmung der sozialen Gruppe 141 (2) Sexuelle Ausrichtzung als identitätsbestimmendes Merkmal 143 (3) Glaubhaftmachung individueller sexueller Praktiken 144 cc) Verfolgung aufgrund des Geschlechts (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 zweiter Halbsatz RL 2004/83/EG) 145 (1) Allgemeines 145 (2) Bestimmung des Begriffs des Geschlechts (Gender) 146 f) Verfolgung wegen der politischen Überzeugung (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) RL 2004/83/EG) 148 Subsidiärer Schutz (Art. 15 RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) 148 1. Allgemeines 148 2. Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe (Art. 15 Buchst. a) RL 2004/83/EG) 149 3. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG) 150 a) Absolute Schutzwirkung des Folterverbotes 150 b) Begriff der Folter 151 c) Begriff der unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung 151 d) Verfahrensrechtliche Anforderungen 153 4. Ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit (Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG; § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG 154 a) Allgemeines 154 b) Tatbestandliche Voraussetzungen von Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG 154 aa) Begriff des internationalen bewaffneten Konfliktes 154 bb) Begriff der „willkürlichen Gewalt“ 156 cc) Begriff der „ernsthaften individuellen Bedrohung“ 157 dd) Begriff der Zivilperson 160 c) Verbot der Anwendung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG 161 aa) Allgemeines 161 bb) Bedeutung des Erwägungsrundes Nr. 26 RL 2004/83/EG 161 5. Nationaler subsidiärer Schutz (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) 163 a) Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verb. mit Art. 3 EMRK 163 b) Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verb. mit Art. 9 EMRK (Verletzung der Religionsfreiheit) 164 c) Refoulementschutz wegen Kriegsdienstverweigerung 165 d) Refoulementschutz wegen Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) 166 e) Subsidiärer Schutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG 168 bb) IV. 7 aa) bb) cc) dd) ee) ff) Allgemeines Betroffene Rechtsgüter Erfordernis der erheblichen Gefahr Begriff der konkreten Gefahr Keien Anwendung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei Gesundheitsgefährdungen Einwand der Nachsorge 168 168 169 169 171 171 8 A. Erteilung, Verlängerung und Verfestigung von Aufenthaltstiteln I. Arten der Aufenthaltstitel 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zählt abschließend die Aufenthaltstitel auf: Aufenthaltserlaubnis (§ 7 AufenthG) Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG) das Visum (§ 6 AufenthG) die Erlaubnis zum Daueraufenthalt (§ 9a AufenthG) Das Gesetz nennt die Aufenthaltserlaubnis: - zum Zwecke der Studienbewerbung und des Studiums (§ 16 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) - zum Zwecke der Teilnahme an Sprachkursen, die nicht der Studienvorbereitung dienen (§ 16 Abs. 5 AufenthG) - zum Zwecke des Schulbesuchs in Ausnahmefällen (§ 16 Abs. 5 AufenthG) - zum Zwecke der betrieblichen Aus- und Weiterbildung (§ 17 AufenthG) - zum Zwecke der Erwerbstätigkeit (Abschnitt 4) - aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen (Abschnitt 5) - zum Zwecke der Familienzusammenführung (Abschnitt 6). In begründeten Fällen kann eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen im AufenthG nicht vorgesehenen Aufenthaltszweck erteilt werden (§ 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Der Prüfung der einzelnen materiellen Voraussetzungen, unter denen ein Aufenthaltstitel erteilt werden kann, voran geht zunächst stets die formelle Prüfung. Jemand kann einen materiellen Anspruch haben, kann diesen aber unter Umständen nicht durchsetzen, weil Regelerteilungsgründe nicht oder Versagungsgründe vorliegen. Illustrativ hierfür sind etwa die Vorschriften gegen die Umgehung der Einreisevorschriften, die allerdings nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG geheilt werden kann, sowie die Sperrwirkung der Ausweisung. Solange die Sperrwirkung nicht befristet worden ist, ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch dann gesperrt (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), wenn ein Rechtsanspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis besteht. Deshalb ist stets eine sehr sorgfältige und präzise Prüfung der formellen Erteilungsvoraussetzungen geboten. Das AufenthG unterscheidet in Rechtsansprüche auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (z.B. § 24 Abs. 1, § 25 Abs. 1 und 2, § 26 Abs. 3, § 28 Abs. 1 Satz 1, § 30 Abs. 1, § 31 Abs. 1, § 32 Abs. 1 bis 3, § 33, § 35, § 37 Abs. 1, § 38 Abs. 1 AufenthG), in Regel- oder Sollansprüche (§ 25 Abs. 3 Satz 1, § 25 Abs. 5 Satz 2, § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) und in Ermessenstatbestände. Ein Anspruch liegt vor, wenn die Ausländerbehörde nach einer Rechtsvorschrift eine gebundene Entscheidung zu treffen hat. In diesem Fall werden nach der auf die Regelerteilungs- und Versagungsgründe bezogenen formellen Prüfung lediglich die anspruchsbegründenden Voraussetzungen der Rechtsvorschrift geprüft und findet gegebenenfalls eine volle inhaltliche und rechtliche Kontrolle durch das Verwaltungsgericht statt. Nach überwiegender Auffassung liegt ein Anspruch auch dann vor, wenn das Gesetz einen Regelanspruch festlegt. Auch in diesem Fall ist „im Regelfall“ eine gebundene Entscheidung zu treffen, ohne dass Raum für eine Ermessensausübung besteht. Die Beurteilung, ob ein Regel- oder Ausnahmefall vorliegt, obliegt der Ausländerbehörde und unterliegt der uneingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Diese Grundsätze gelten auch für den Sollanspruch (vgl. § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Auch in diesem Fall ist im Regelfall so zu verfahren, wie es das Gesetz bestimmt. Ob im atypischen Ausnahmefall im 9 Anwendungsbereich der Norm und auf ihren Inhalt bezogen automatisch Ermessen auszuüben ist, ergibt sich jeweils aus dem materiellen Recht und der Systematik des Gesetzes. Bei dieser Beurteilung handelt es sich um die Auslegung einer Sollnorm. So wird etwa in den Nachzugsfällen, in denen ein gesetzlicher Anspruch vorliegt und zugleich eine atypische Fallkonstellation im Blick auf die Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG glaubhaft gemacht wird, nicht nach Ermessen entschieden. Die Mehrzahl der Erteilungsgründe des AufenthG sind als Ermessensnormen ausgestaltet (vgl. z. B. § 16 bis § 21 AufenthG). Hier hat die Ausländerbehörde zunächst die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermessensnorm zu ermitteln und anschließend im Rahmen der Ermessensausübung die maßgebenden öffentlichen und individuellen Belange und Interesse festzustellen, ihr Gewicht zu bestimmen und gegeneinander abzuwägen. Die gerichtliche Kontrolle ist auf Ermessensfehler (§ 114 VwGO), also Ermessensmangel, Ermessensfehlgebrauch oder Ermessensüberschreitung sowie auf die Überprüfung der tatsächlichen Voraussetzungen der Ermessensnorm beschränkt. Eine Ermessensreduzierung (auf Null) ist nicht mit einem gesetzlichen Anspruch identisch. Sofern das Gesetz den Begriff des gesetzlichen Anspruchs verwendet (z.B: § 10 Abs. 1 AufenthG), ist die Ermessensreduzierung deshalb nicht eingeschlossen, wohl aber, wenn der Begriff Anspruch verwendet wird, wie etwa in § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Alt., § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG), da nur eine Entscheidungsalternative besteht.1 II. Duldung (§ 60a AufenthG) Bei der Duldung handelt es sich um die „zeitweise Aussetzung der Abschiebung“ (§ 60a Abs. 2 AufenthG), also nicht um einen besonderen Aufenthaltstitel. Vielmehr dokumentiert die Duldung einen nicht rechtmäßigen Aufenthalt und beseitigt nicht die Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1 AufenthG. Allerdings ist der geduldete Aufenthalt als solcher nicht strafbar (vgl. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Wird die Duldungsbescheinigung (§ 60a Abs. 4 AufenthG) nicht als Ausweisersatz ausgestellt, erfüllt der Duldungsinhaber indes den Straftatbestand nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (vgl.§ 58 Nr. 2 AufenthV).2 Die Duldung erlischt mit der Ausreise (vgl. § 60a Abs. 5 Satz 1 AufenthG). III. Erteilung des Aufenthaltstitels 1. Funktion des Prüfungsschemas Die Rechtsvorschriften über die Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels sollen sicherstellen, dass die Zuwanderung politisch gesteuert werden kann. In der Verwaltungspraxis kommt daher der strikten Einhaltung der entsprechenden Vorschriften für die Begründung und Fortführung eines rechtmäßigen Aufenthaltes eine besondere Funktion zu. Bei jedem ausländerrechtlichen Sachverhalt sind die Vorschriften über die Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels von Bedeutung. Da die Fallgestaltungen in ihrem zeitlichen Ablauf, ihrer faktischen Komplexität und ihrer materiell-rechtlichen Ausprägung häufig sehr kompliziert sind, empfiehlt sich für die anwaltliche Beratung und Vertretung die Verwendung eines Prüfungsschemas, wie es in Schaubild 1 graphisch dargestellt und in diesem Abschnitt im Einzelnen erläutert wird. Für die Bearbeitung ausländerrechtlicher Verfahren soll das Prüfungsschema dem Anwalt die rechtliche Durchdringung des zur Prüfung gestellten Sachverhalts erleichtern. Es empfiehlt 1 A.A. Hans-Peter Welte, InfAuslR 2006, 50 (52). 10 sich deshalb, jeden ausländerrechtlichen Sachverhalt anhand dieses Schemas zu untersuchen. Wegen der sehr formalen und aufeinander abgestimmten Einreise- und Verlängerungsvorschriften kann die Verwendung des Prüfungsschemas einerseits dazu führen, dass erfolglose Prozesse vermieden werden und die Verhandlungslösung mit der Ausländerbehörde gesucht wird. Andererseits soll es dem Anwalt Hilfestellungen in den Fällen geben, in denen nicht zwingend Vorschriften der Durchführung des Verwaltungsverfahrens im Inland im Wege stehen. 2. Erlaubnisfreier und genehmigungsbedürftiger Aufenthalt a) Allgemeines Das AufenthG unterscheidet den erlaubnisfreien vom genehmigungsbedürftigen Aufenthalt. § 4 Abs. 1 AufenthG bekräftigt den traditionellen Erlaubnisvorbehalt, dass Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels bedürfen, sofern nicht durch Gemeinschaftsrecht, Assoziationsrecht zwischen der EWG und Türkei (vgl. § 4 Abs. 5 AufenthG) oder durch Rechtsverordnung ein Aufenthaltsrecht besteht. b) Erlaubnisfreier Aufenthalt Die AufenthV regelt im Abschnitt 2 die Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels. Nach § 15 AufenthV richtet sich die Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern für Kurzaufenthalte nach Gemeinschaftsrecht, insbesondere nach dem SDÜ. Dieses trägt der Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes und insbesondere der EU-Visum-Verordnung Nr. 539/2001 (EUVisaVO) Rechnung. Die Verordnung bewirkt eine weitgehende Verdrängung des nationalen Rechts und regelt in § 1 Abs. 2, dass sichtvermerksfreie Drittstaatsangehörige (EUVisaVO Anhang II) für einen Aufenthalt, der drei Monate nicht überschreitet, nicht der Visumpflicht unterliegen. Zeitlich über diese Dauer hinausgehende Aufenthalte werden nicht von der Verordnung erfasst und unterliegen damit auch nicht dem gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang, sodass die nationalen Vorschriften des AufenthG sowie der AufenthV Anwendung finden. Allerdings regelt die Verordnung entsprechend der international üblichen Praxis nur die Einreise über die EU-Außengrenzen und nicht die Einreise über die EU-Binnengrenzen und nicht den Aufenthalt nach der Einreise. Der Aufenthalt nach dem Übertritt über eine EUAußengrenze wird vielmehr durch Art. 20 Abs. 1 SDÜ geregelt.3 Dieser macht das Recht sichtvermerksfreier Drittstaatsangehöriger auf Bewegungsfreiheit im gesamten SchengenRaum von den Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Buchst. a), c) bis e) SDÜ abhängig. Art. 20 SDÜ begründet somit im Blick auf die Aufenthaltsvoraussetzungen die notwendige Ergänzung zur EUVisaVO und deren Einreisebestimmungen. Art. 20 SDÜ und EUVisaVO zusammen gewährleisten damit, dass aus der Einreise über eine EU-Außengrenze und dem anschließenden Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ein rechtseinheitlicher Vorgang entstehen kann.4 Inzwischen wird sogar davon ausgegangen, dass Art. 20 SDÜ den Charakter von unmittelbar geltendem Gemeinschaftsrecht aufweist und dementsprechend durch EUVisaVO und Art. 20 SDÜ ein verbindliches, in sich geschlossenes System der Sichtvermerksfreiheit von Drittstaatsangehörigen nach Anhang II der EUVisaVO bei Kurzaufenthalten begründen.5 Maßgebend für das den erlaubnisfreien Aufenthalt regelnde Gemeinschaftsrecht ist der Begriff des Kurzaufenthaltes. Ein Kurzaufenthalt ist nach § 1 3 Volker Westphal Edgar Stoppa, InfAuslR 2001, 309 (309 f.), Dirk Ostgathe/ Christian Nowicke, ZAR 2005, 360. 4 Dirk Ostgathe/ Christian Nowicke, ZAR 2005, 360 (361 f.). 5 Dirk Ostgathe/ Christian Nowicke, ZAR 2005, 362, mit Hinweisen. 11 Abs. 2 AufenthV ein Aufenthalt im gemeinsamen Gebiet der Schengen-Staaten von höchstens drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten vom Tag der ersten Einreise an.6 Nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ können sich sichtvermerksfreie Drittstaatsausländer im Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten frei bewegen, höchstens jedoch drei Monate innerhalb einer Frist von sechs Monaten vom Datum der ersten Einreise an. Nach Ablauf der Frist von sechs Monaten können sie erneut die ihnen nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ zustehenden Rechte auf einen genehmigungsfreien Aufenthalt von drei Monaten innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten wahrnehmen. Für das Gemeinschaftsgebiet ordnet Art. 1 Abs. 2 EUVisaVO an, dass Staatsangehörige der in der Liste in Anhang II aufgeführten Drittländer von der Visumpflicht für einen Aufenthalt, der insgesamt drei Monate nicht überschreitet, befreit sind. Maßgebend für die Frage der erlaubnisfreien Einreise ist danach die Liste in Anhang II der EUVisaVO. Diese Liste gilt sowohl für die EUVisaVO wie auch für Art. 20 Abs. 1 SDÜ. Die erlaubnisfreie Einreise wie auch der erlaubnisfreie Aufenthalt sind also zunächst davon abhängig, ob der Drittstaatsausländer auf der Anlage II der EUVisaVO verzeichnet ist. Darüber hinaus steht der Aufenthalt unter dem Vorbehalt, dass es sich um einen Kurzaufenthalt handelt. Nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ ist der Aufenthalt für drei Monate innerhalb von sechs Monaten erlaubt. Hingegen ist nach Art. 1 Abs. 2 EUVisaVO nur ein Aufenthalt von drei Monaten erlaubt. Darüber hinaus wird vorausgesetzt, dass keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Während SDÜ und die EUVisaVO die Frage der Erwerbstätigkeit nicht regeln, bestimmt § 17 Abs. 1 AufenthV, dass die Befreiung entfällt, sofern im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Da nach § 17 Abs. 1 AufenthV „für die Einreise“ ein Aufenthaltstitel erforderlich ist, wenn die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit geplant ist, führt die bereits bei der Einreise bestehende Erwerbsabsicht zur unerlaubten Einreise. Lag die entsprechende Absicht bei der Einreise nicht nachweislich vor, führt dies allerdings nicht zu einer gleichsam rückwirkend unerlaubten Einreise. Konsequenz ist, dass der Betreffende wegen unerlaubter Einreise zurückgewiesen (§ 15 Abs. 1 AufenthG) und zurückgeschoben (§ 57 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) wird. Ihm kann mangels Vorliegens der entsprechenden Erteilungsvoraussetzungen kein Aufenthaltstitel erteilt werden (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG kann dieser Rechtsversagungsgrund jedoch beseitigt werden. c). Genehmigungsbedürftiger Aufenthalt Liegen die Voraussetzungen für einen erlaubnisfreien Aufenthalt nicht vor, bedürfen auch visumsfreie Drittstaatsausländer der Genehmigung der Einreise und des Aufenthalts. Beabsichtigen sie mithin einen längeren Aufenthalt oder die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, bedürfen ansonsten sichtvermerksfreie Drittstaatsausländer für die Einreise und den Aufenthalt einer behördlichen Genehmigung (vgl. auch Art. 4 Abs. 3 EUVisaVO). Darüber hinaus bedürfen visumpflichtige Drittstaatsausländer auch für einen Kurzaufenthalt der vorherigen Genehmigung (§ 4 Abs. 1 AufenthG, Art. 21 SDÜ, Art. 1 Abs. 1 EuVisaVO). Nach Art. 1 Abs. 1 der EUVisaVO benötigen die Drittstaatsausländer, die in Anhang I dieser Verordnung aufgeführt sind, beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten ein Visum. Eine Regelung, wonach im Anschluss an die Einreise auch für den Aufenthalt ein Aufenthaltstitel erforderlich ist, enthält die Visum-Verordnung nicht. Insoweit ist nationales Recht zu beachten. Danach fordert § 4 Abs. 1 AufenthG für den Aufenthalt den Besitz eines Aufenthaltstitels. 6 S. hierzu auch Dirk Ostgathe/ Christian Nowicke, ZAR 2005, 360. 12 d) Gegenstandsbereich des Aufenthaltstitels aa) Funktion des Aufenthaltszwecks Drittstaatsausländer bedürfen unabhängig davon, ob sie sichtvermerksfrei einreisen dürfen oder nicht, für einen längerfristigen Aufenthalt oder für einen Aufenthalt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit eines nationalen Aufenthaltstitels. Der Aufenthaltstitel wird zu den im AufenthG bezeichneten unterschiedlichen Aufenthaltszwecken (Kapitel 2 Abschnitt 3 bis 7) erteilt (§ 7 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Das AufenthG allein enthält 54 unterschiedliche Aufenthaltszwecke (vgl. Nr. 7.1.1.1 bis Nr. 7.1.1.2 VAH), von denen zehn zu einer Niederlassungserlaubnis führen können (Nr. 7.1.1.2 VAH) und die übrigen zu einer Aufenthaltserlaubnis. Der Zweck ist aus dem Aufenthaltstitel ersichtlich. Der Erteilungsgrund wird in das Klebeetikett eingetragen. Damit wird neben dem Erteilungsgrund auch Art und Umfang der Berechtigung zur Erwerbstätigkeit erkennbar (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Je nach dem verfolgten Aufenthaltszweck ergeben sich aus dem Aufenthaltstitel unterschiedliche Rechtsfolgen, etwa hinsichtlich der Möglichkeiten der Verfestigung, des Familiennachzugs, der Erwerbstätigkeit oder des Zugangs zu sozialen Leistungen. Die strikte Unterteilung der Aufenthaltstitel nach Aufenthaltszwecken schließt weder ein anfängliches noch ein späteres Überlagern oder Zusammentreffen mehrerer Aufenthaltszwecke aus.7 Zwar ist das Verhältnis mehrerer nacheinander oder gleichzeitig verfolgter Aufenthaltszwecke nicht allgemein geregelt. Sie schließen sich teilweise aus (vgl. § 16 Abs. 2 AufenthG), sind jedoch teilweise auch nebeneinander zulässig (vgl. § 16 Abs. 3 AufenthG). Teilweise werden mit dem Aufenthalt notwendigerweise zwei Zwecke, z.B. Familienzusammenführung oder Wiederkehr und Erwerbstätigkeit, verfolgt. Der Antragsteller ist gehalten, sei es im Antragsverfahren gegenüber der deutschen Auslandsvertretung oder gegenüber der Ausländerbehörde den Erteilungsgrund präzis zu bezeichnen. Dieser bestimmt den Umfang der Prüfung. Der Antragsteller mag während des anhängigen Verfahrens die Angabe des Aufenthaltszwecks ändern. Ändert er den Aufenthaltszweck nach Erteilung des Aufenthaltstitels, liegt ein Zweckwechsel vor. Häufig mag darüber hinaus der Zweckwechsel während des Antragsverfahrens negative Auswirkungen auf die behördliche Entscheidung haben, so etwa, wenn anstelle des zunächst beantragten Visums zur Familienzusammenführung ein Visum zu Besuchszwecken beantragt wird. bb) Zweckwechsel Wird ein Aufenthaltstitel zu einem anderen Zweck, als der dem Aufenthaltstitel bislang zugrunde liegende, erteilt, handelt es sich um einen Zweckwechsel. Die Ausländerbehörde prüft, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für den nunmehr geltend gemachten Erteilungsgrund vorliegen, keine Ausschlussgründe eingreifen und übt, soweit erforderlich, Ermessen aus. Gibt sie dem den Zweckwechsel erstrebenden Antrag statt, wird eine neue Aufenthaltserlaubnis erteilt. Im Falle der Versagung gilt die bisherige Aufenthaltserlaubnis bis zum Ablauf ihrer Geltungsdauer weiter (Nr. 7.1.2.2 Satz 1 bis 3 VAH). Ein Zweckwechsel 7 Günter Renner, AuslR, 8. Aufl., § 7 AufenthG Rd. 8. 13 ist grundsätzlich während des Studiums (§ 16 Abs. 2 AufenthG) sowie während einer betrieblichen Aus- oder Weiterbildung ausgeschlossen. Ein Zweckwechsel liegt auch vor, wenn zu dem bisherigen Aufenthaltszweck eine weiterer hinzutritt oder von mehreren einer wegfällt. Nach der Eheschließung eines Erwerbstätigen dient der Aufenthalt gleichzeitig zwei Zwecken. Nach der Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft entfällt der Zweck der Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft (§ 27 Abs. 1 AufenthG) oder er geht in ein selbständiges Aufenthaltsrecht über (§ 31 AufenthG). Einen Zweckwechsel stellt es nicht dar, wenn das zum Zwecke des Kindernachzugs ausgestellte Visum nach Einreise in eine Aufenthaltserlaubnis umgewandelt wird. Es handelt sich hierbei auch nicht um einen Antrag auf Ersterteilung, sondern um einen Verlängerungsantrag.8 Die Berufung auf eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen hat jedoch zur Folge, dass die Behörde einen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach jeder in Betracht kommenden Vorschrift des 5. Abschnitts des AufenthG zu prüfen hat.9 Hat der Antragsteller etwa die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 oder Abs. 5 AufenthG beantragt und wird nachträglich eine Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG erlassen, so ist bei noch anhängigem Antragsverfahren von Amts wegen zu prüfen, ob der Antragsteller auch die Voraussetzungen nach der Anordnung erfüllt. 3. Zeitpunkt des Antrags und der Behördenentscheidung a) Zweck des zweiten Prüfungsschritts Den ausländerrechtlichen Regelungen ist der Grundsatz zu entnehmen, dass der Aufenthaltstitel grundsätzlich vor der Einreise in Form des Sichtvermerks (Visums) zu beantragen ist. Lassen die Rechtsvorschriften die Antragstellung nach der Einreise nicht zu, ist der Antrag stets zwingend vor der Einreise zu stellen. Der zweite Prüfungsschritt hat den Zeitpunkt des Antrags, also die Frage zum Gegenstand, ob der Antrag vor oder nach der Einreise zu stellen ist. Dies darf nicht mit der Frage verwechselt werden, ob Einreise und Aufenthalt erlaubnisfrei sind. Wer etwa zu einem Kurzaufenthalt erlaubnisfrei einreisen darf, muss weder vor noch nach der Einreise einen Antrag stellen. Beabsichtigt er hingegen einen längerfristigen Aufenthalt oder die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, darf er grundsätzlich nicht erlaubnisfrei einreisen, sondern muss den Antrag vor der Einreise stellen. Einige Personengruppen können allerdings den Antrag nach der Einreise stellen. Sichtvermerkspflichtige Drittstaatsausländer müssen auch bei einem beabsichtigten Kurzaufenthalt den Antrag stets vor der Einreise stellen. Ein sichtvermerkspflichtiger Drittstaatsausländer, der ohne Visum einreist, reist illegal ein und erfüllt einen Ausweisungssowie einen Straftatbestand (§§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 14 Abs. 1 AufenthG). Auch der weitere Aufenthalt kann ausweisungs- und strafrechtliche Konsequenzen haben (§§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 4 Abs. 1 AufenthG). Ist der Antrag vor der Einreise zu stellen, sind Rechtsmittel gegen die Versagungsverfügung oder andere behördliche Maßnahmen regelmäßig erfolglos, wenn keine Heilungsmöglichkeiten über § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bestehen. 8 9 Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726. BVerwG, NVwZ 2006, 1418 = InfAuslR 2006, …; OVG NW, InfAuslR 2007, 109. 14 b) Antragstellung nach der Einreise Unter bestimmten Voraussetzungen kann der Antrag nach der Einreise in das Bundesgebiet gestellt werden. Der Gesetzgeber hat diese Fälle in § 5 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 AufenthG sowie in § 39 bis § 41 AufenthV geregelt. c) Antragsbedürftigkeit des Verwaltungsverfahrens Die Gewährung des Aufenthaltstitels setzt einen Antrag voraus (mitwirkungsbedürftiger Verwaltungsakt).10 Gegenstand des behördlichen Verfahrens bildet ein konkreter, auf einen bestimmten Aufenthaltszweck gerichteter Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels.11 Der Antrag ist sowohl für die Ersterteilung wie für die Verlängerung des Aufenthaltstitels erforderlich (§§ 4 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1, 81 Abs. 4 AufenthG). Ergänzend ist die Vorschrift des § 22 Satz 2 Nr. 1 des VwVfG des jeweiligen Landes heranzuziehen. Insbesondere bei handschriftlichen Eintragungen des ausländischen Antragstellers auf den amtlichen Vordrucken muss die Behörde stets den wirklichen Sinn des Antragsbegehrens ermitteln. Das folgt aus der auch im öffentlichen Recht anzuwendenden Vorschrift des § 133 BGB, dem zufolge bei der Auslegung von Willenserklärungen der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdruckes zu haften ist. Die Behörde hat den Antragsteller zu diesem Zweck zu belehren, zu beraten und persönlich anzuhören (§§ 25, 28 VwVfG). Den Antragsteller treffen andererseits besondere Mitwirkungspflichten (vgl. § 82 AufenthG). d) Kein formelles Antragserfordernis Den Regelungen in §§ 4 Abs. 1 Satz 1, 8 Abs. 1, 80 Abs. 4, 81 AufenthG kann kein formelles Antragserfordernis entnommen werden. Nach der Verwaltungspraxis ist der Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels dagegen durch Verwendung von Formblattmustern bei der Auslandsvertretung bzw. der zuständigen Ausländerbehörde zu stellen. Allein der persönlich in mündlicher oder schriftlicher Form oder schriftsätzlich durch den Rechtsanwalt gestellte Antrag wird regelmäßig ohne persönliche, formblattmäßige Antragstellung nicht bearbeitet. Die Rechtswirksamkeit des gestellten Antrags, insbesondere die Frage der Rechtzeitigkeit des gestellten Antrags für den Eintritt der Fiktionswirkungen nach § 81 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 AufenthG ist indes nicht von der Verwendung von Formblättern abhängig. Vielmehr hat die Behörde jedes irgendwie geäußerte schriftliche, mündliche oder sonstwie geäußerte Begehren als Antrag auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels zu behandeln, wenn sich hieraus mit hinreichender Klarheit ein Antragsbegehren ergibt. Die Verwendung von Vordrucken dient der effektiven Bearbeitung des Antrags und kann dem Antragsteller nachträglich im Rahmen seiner ihm nach § 82 AufenthG obliegenden Mitwirkungspflichten auferlegt werden. Jedenfalls wird durch das formlose Begehren rechtswirksam ein Antrag gestellt. d) Antrag vor der Einreise aa) Zuständige Behörde 10 BVerwG, AuAS 1999, 218 (219). Richter, NVwZ 1999, 726. 11 15 Der Antrag vor der Einreise ist bei der zuständigen diplomatischen oder berufskonsularischen Vertretung (Auslandsvertretung), d.h. der Auslandsvertretung, in deren Amtsbezirk der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, zu stellen (§ 71 Abs. 2 AufenthG). Es wird sich in aller Regel, muss aber nicht zwingend das Herkunftsland des Antragstellers, sein. Für die Erteilung von Schengen-Visa ist der Staat zuständig, in dem das Hauptreiseziel liegt (Art. 12 Abs. 2 Satz 1 SDÜ; Nr. II 1, 1.1). Für die Verlängerung eines Visums nach der Einreise ist die Ausländerbehörde zuständig (§ 6 Abs. 3 AufenthG). Unterhält die Bundesrepublik in einem Staat keine Auslandsvertretung oder kann sie vorübergehend keine Visa erteilen, richtet sich die Zuständigkeit für die Visaerteilung nach der Vertretungsregelung der Schengen-Staaten (Nr. 71.2.1. Satz 4 VAH). Die Antragstellung hat persönlich oder durch den legitimierten Vertreter zu erfolgen. Die Antragstellung setzt die Anwesenheit des Antragstellers im jeweiligen Staat voraus, sie kann aber bereits während des Besuchsaufenthaltes vom Bundesgebiet aus vorbereitet und begleitet werden. Die erforderliche persönliche Vorsprache bei der Botschaft ist in diesem Fall nach der Rückkehr in den Heimatstaat geboten. Die Zuständigkeit der Auslandsvertretung entfällt allerdings, wenn der Antragsteller mit dem Ziel in das Bundesgebiet eingereist ist, hier seinen Daueraufenthalt zu begründen.12 Das Visum kann mit Ermächtigung der zuständigen Auslandsvertretung oder des Auswärtigen Amtes ausnahmsweise auch von einer anderen als der für den gewöhnlichen Aufenthalt des Antragstellers zuständigen Auslandsvertretung, zumeist also einer grenznahen Auslandsvertretung erteilt werden (Nr. 71.2.2 VAH). Das Auswärtige Amt kann auch durch Weisung nach § 71 Abs. 2 AufenthG eine örtlich unzuständige Auslandsvertretung ermächtigen, ein Visum zu erteilen. Allerdings enthält das geltende Recht über das frühere Recht (vgl. § 9 Abs. 1 AuslG 1990; § 9 Abs. 2 DVAuslG) weit hinausgehende Ausnahmen von der Anwendung der Voraussetzungen nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Danach kann ungeachtet der Nichterfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG der Aufenthaltstitel erteilt werden, wenn die Voraussetzungen eines Rechtsanspruchs erfüllt sind oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen (§ 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). In der Gesetzesbegründung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nach der zweiten Alternative in besonders gelagerten Einzelfällen, in denen bisher eine grenznahe Auslandsvertretung zur Visumerteilung ermächtigt wurde, auf die Nachholung des Visumverfahrens verzichtet werden kann. Sofern kein bloßer Kurzaufenthalt geplant ist, hat die Auslandsvertretung grundsätzlich die Zustimmung der für den vorgesehenen Aufenthaltsort zuständigen Ausländerbehörde einzuholen (§ 31 AufenthV). Die Auslandsvertretung entscheidet ungeachtet dessen in eigener Verantwortung über das Visum aufgrund der jeweils maßgebenden materiellen Vorschriften der §§ 5 ff. AufenthG. Die Zustimmung der Ausländerbehörde für einen Aufenthalt von länger als drei Monaten oder zu Erwerbszwecken ist zwingende Voraussetzung für die Erteilung des Visums. Wird sie verweigert, muss der Antrag abgelehnt werden.13 Andererseits liegt es im grundsätzlich weiten Ermessen der Auslandsvertretung, ob sie einen Sichtvermerk erteilt, auch wenn die Ausländerbehörde bereits zugestimmt hat.14 Die Auslandsvertretung 12 OVG Berlin, InfAuslR 2004, 200 = AuAS 2004, 122. 13 BVerwG, InfAuslR 1990, 326 (327); Teipel, ZAR 1995, 163 (164). BVerwG, InfAuslR 1990, 326 (327). 14 16 muss nachträglich ihr bekannt werdende Tatsachen, welche die Ausländerbehörde noch nicht kennt, berücksichtigen. Sie hat entweder die Ausländerbehörde erneut mit dem Vorgang zu befassen oder sie kann ihr Ermessen ohne erneute Beteiligung der Ausländerbehörde mit der Folge ausüben, dass der Antrag abgelehnt wird.15 Diese Rechtsprechung ist freilich auf Rechtsansprüche nicht anwendbar. Das Zustimmungsverfahren bleibt ein behördeninternes Verfahren, auch wenn in der Verwaltungspraxis die Einholung der Zustimmung oft vom Antragsteller selbst beantragt wird oder die Ausländerbehörde eine Vorabzustimmung erteilt oder versagt. Unterbleibt das vorgesehene Zustimmungsverfahren, kann es bis zur Klageerhebung nachgeholt werden. Weder die Zustimmung noch deren Versagung ist ein Verwaltungsakt und deshalb nicht selbständig anfechtbar. Es fehlt insoweit an der gebotenen Außenwirkung (§ 35 VwVfG). Im Verwaltungsprozess hat die obligatorische Mitwirkung der Ausländerbehörde nach § 31 AufenthV die notwendige Beiladung der entsprechenden Körperschaft zur Folge (§ 65 Abs. 2 VwGO). Die Zustimmung ist bis zur Visumerteilung rücknehmbar oder widerrufbar, falls die für sie maßgebenden Voraussetzungen nicht vorlagen oder nachträglich wegfallen. Nach diesem Zeitpunkt ist die Rücknahme ausgeschlossen.16 bb) Vorabzustimmungsverfahren Die Ausländerbehörde kann auf Antrag des einreisewilligen Antragstellers oder eines Dritten in dringenden Fällen, im Falle eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, eines öffentlichen Interesses oder im Falle des § 18 oder § 19 AufenthG der Visumerteilung vor der Beantragung des Visums bei der Auslandsvertretung zustimmen (Vorabzustimmung).17 In der Verwaltungspraxis wurde bereits früher von dieser Möglichkeit in den Fällen Gebrauch gemacht, in denen wegen der Anwendung zwingender Versagungsgründe der Antrag nicht im Bundesgebiet gestellt werden konnte. Aufgrund der Vorschrift des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG wird die Bedeutung der Vorabzustimmung in der Praxis abnehmen. In der Verwaltungspraxis wurde die Praxis der Vorabzustimmung zunehmend restriktiver gehandhabt. Zunächst wurde früher lediglich bei Rechtsansprüchen von der Vorabzustimmung Gebrauch gemacht. Schließlich mussten für die Erteilung der Vorabzustimmung zusätzlich besondere humanitäre Gründe nachgewiesen werden. Nach dem Wortlaut des § 31 Abs. 3 AufenthV kann diese Verwaltungspraxis keinen Bestand mehr haben. Vielmehr ist eine großzügige Handhabung angezeigt. Regelmäßig erteilt die zuständige Auslandsvertretung nach Vorlage der Vorabzustimmung das Visum. Es bleibt aber eine Entscheidung der Auslandsvertretung (§ 71 Abs. 2 AufenthG). In seltenen Ausnahmefällen lehnt die Auslandsvertretung allerdings ungeachtet der Vorabzustimmung den Antrag ab. Der beratende Rechtsanwalt kann diese Fälle nicht vorhersehen. Er sollte sich dennoch auf das Verfahren der Vorabzustimmung einlassen und den Mandanten auf die regelmäßig lediglich theoretische Möglichkeit der deutschen Auslandsvertretung hinweisen, der Vorabzustimmung nicht Folge zu leisten. Muster: Antrag auf Erteilung der Vorabzustimmung (§ 31 Abs. 3 AufenthV) Landrat des Kreises… 15 16 17 Oliver Maor, ZAR 2005, 185 (189). Günter Renner, AuslR, 8. Auflage, 2005, § 6 AufenthG Rd. 45. S. hierzu Teipel, ZAR 1995, 163 (164). 17 Ausländerbehörde Betr.: Erteilung der Vorabzustimmung Sehr geehrte Damen und Herren, ich beziehe mich auf die Ihnen vorliegende Vollmacht sowie das mit Ihnen am … geführte fernmündliche Gespräch und beantrage, dem Antragsteller zum Zwecke der Visumerteilung gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG durch das deutsche Generalkonsulat in Istanbul eine Vorabzustimmung zu erteilen bzw. dem Generalkonsulat per Faxschreiben mitzuteilen, dass der Erteilung des Visums zugestimmt wird. cc) Rechtsmittel Wird das beantragte Visum abgelehnt, ist die Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Auswärtige Amt, zu richten. Ein Widerspruchsverfahren findet nicht statt. Zuständiges Verwaltungsgericht ist das Verwaltungsgericht Berlin (§ 52 Nr. 2 Satz 4 VwGO). Der Rechtsweg ist bei der Versagung eines Visums zu touristischen Zwecken allerdings ausgeschlossen (§ 83 Satz 1 AufenthG). Interessengerecht ist die gerichtliche Auseinandersetzung über die Versagung eines Visums zu touristischen Zwecken ohnehin nicht. Hier kann der außerrechtliche Behelf der Remonstration erhoben werden, um von der Behörde die für die Versagung maßgebenden Gründe zu erfahren und durch sach- und fallbezogenen Gegenvortrag auf die behördliche Entscheidung Einfluss nehmen zu können Visumentscheidungen bedürfen der Schriftform (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Sie werden jedoch weder begründet noch mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen (§ 77 Abs. 2 AufenthG). In der Verwaltungspraxis wird teilweise eine kurze standardisierte Begründung gegeben. Der Antragsteller erfährt selten die maßgeblichen Versagungsgründe. Ist lediglich ein Besuchervisum beantragt worden, kann gegen die Versagung kein Rechtsmittel eingelegt werden (§ 83 Satz 1 AufenthG). Aus diesem Grund wird in der Verwaltungspraxis der außerrechtliche Rechtsbehelf der Remonstration erhoben. In der Verwaltungspraxis wird dem Bevollmächtigten im Beteiligungsverfahren nach § 31 AufenthV nach schriftlicher Zustimmung durch die zuständige Auslandsvertretung durch die Ausländerbehörde Akteneinsicht gewährt. Auf die Remonstration hin hat die Behörde die Gründe für die Ablehnung mitzuteilen. Da regelmäßig neue Gründe und Nachweise vorgelegt werden, kann die Remonstration auch als neuer Antrag behandelt werden. Durch Erhebung der Remonstration erfährt der Antragsteller die Ablehnungsgründe und kann im Rahmen des Remonstrationsverfahrens Gegenvorstellungen erheben. Ob der Bevollmächtigte in diesem Stadium des Verwaltungsverfahrens ein Akteneinsichtsrecht hat, ist umstritten. Ist die Visumentscheidung anfechtbar und entschließt der Antragsteller sich zur Klageerhebung, ist diese wegen der fehlenden Rechtsbehelfsbelehrung innerhalb eines Jahres nach Zustellung zu erheben (vgl. § 58 Abs. 2 VwGO). Muster : Remonstration gegen die Versagung des Visums Botschaft der Bundesrepublik Deutschland 18 – Visaabteilung – Betr.: Sehr geehrte Damen und Herren, unter Vollmachtsvorlage bitte ich im Rahmen der Remonstration um Überprüfung Ihrer Verfügung vom sowie um Mitteilung der diese tragenden Gründe. Scheitern außergerichtliche Einigungsbemühungen in den Fallen eines beantragten Daueraufenthaltes, kann Verpflichtungsklage beim zuständigen Verwaltungsgericht Berlin gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben werden. Die angefochtene Verfügung ist die Versagungsentscheidung in Gestalt des Remonstrationsbescheides. Beim Remonstrationsbescheid handelt es sich nicht um einen Widerspruchsbescheid. Dieser ersetzt vielmehr die ursprüngliche Versagungsentscheidung. Das früher zuständige Obergericht hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dem Rechtssuchenden selbstredend auch im Falle der Visumversagung die Möglichkeit der Beantragung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO eröffnet wird.18 Muster: Verpflichtungsklage und einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO auf Erteilung des Visums An das Verwaltungsgericht Berlin Verpflichtungsklage und Eilrechtsschutzantrag nach § 123 VwGO der türkischen Staatsangehörigen – Klägerin/Antragstellerin – gegen die Bundesrepublik Deutschland, endvertreten durch das Auswärtige Amt – Beklagte/Antragsgegnerin – wegen Visumserteilung Unter Vollmachtsvorlage erhebe ich die Klage und werde beantragen: Die Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung der Verfügung des Generalkonsulats der Bundesrepublik Deutschland Izmir vom , zugestellt am , der Klägerin ein Visum zur Durchführung des Ehetermins vor dem Standesamt Frankfurt am Main am zu erteilen. Des Weiteren wird beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO die Antragsgegnerin zu verpflichten, zur Durchführung des Ehetermins vor dem Standesamt Frankfurt am Main am und ausschließlich auf diesen Zweck begrenzt ein Visum für die Dauer von einer Woche zu erteilen. 18 OVG NW, Beschl. v. 28.7.1999–17 B 1409/99. 19 4. Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen (§ 5 AufenthG) a) Funktion der Erteilungsvoraussetzungen Die Vorschrift des § 5 AufenthG fasst die Erteilungs- und Versagungsvorschriften der §§ 6–9 AuslG 1990 in vereinfachter Form zusammen. Die Differenzierung des früheren Rechtes in zwingende Versagungsgründe nach § 8 AuslG 1990 für Rechtsansprüche und in – bei Ermessenstatbeständen zusätzlich zu prüfenden – Regelversagungsgründen (§ 7 Abs. 2 AuslG 1990) hatte sich in der Praxis nicht bewährt.75 Daher unterscheidet § 5 AufenthG mit Ausnahme von Abs. 1 Nr. 3 nicht mehr danach, ob ein Rechtsanspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht oder nach Ermessen entschieden werden kann. In dieser Vorschrift werden die Erteilungsvoraussetzungen von grundlegendem staatlichen Interesse festgelegt. Abweichende Regelungen finden sich in § 5 Abs. 3 AufenthG und in den spezialgesetzlichen Erteilungsvorschriften. Während nach bisherigem Recht die Versagungsgründe regelmäßig zwingender Natur waren (vgl. §§ 8 Abs. 1, 17 Abs. 2, 24 Abs. 1 Nr. 6, 27 Abs. 1 Nr. 5 AuslG 1990), löst das geltende Recht diese Rigidität auf und legt in § 5 Abs. 1 AufenthG Regelerteilungsvoraussetzungen für alle Aufenthaltstitel und in § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG Erteilungsvoraussetzungen für die Aufenthaltserlaubnis und die Niederlassungserlaubnis fest. Zwar sind die Erteilungsgründe des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ebenso wie die des § 8 Abs. 1 AuslG 1990 zwingender Natur. Das Gesetz enthält jedoch in § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG Ausnahmen hiervon. b) Begriff des Regelfalles Die Worte „in der Regel“ in § 5 Abs. 1 1. Hs. AufenthG stellen einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, dessen Anwendung durch die Behörde der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Danach beziehen sich die in § 5 Abs. 1 AufenthG genannten Gründe auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind durch einen „atypischen Geschehensablauf“ gekennzeichnet, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht des gesetzlichen Regelversagungsgrundes beseitigt.19 Danach liegt etwa dann ein Ausnahmefall vor, wenn der Versagung des Aufenthaltstitels höherrangiges Recht entgegensteht, insbesondere die Versagung mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Ehe und Familie, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) unvereinbar ist.20 c) Die einzelnen Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG aa) Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG) Die Erteilung des Aufenthaltstitels setzt in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Mit dieser Regel-Erteilungsvoraussetzung soll die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel verhindert werden. Zweck dieser Erteilungsvoraussetzung ist es daher, die öffentlichen Haushalte davor zu bewahren, den Lebensunterhalt eines Ausländers mit öffentlichen Mitteln sichern zu müssen.21 Der 19 20 21 BVerwGE 94, 35 (43, 44) = EZAR 028 Nr. 2. BVerwGE 102, 12 (17) = InfAuslR 1997, 16; BVerwG, InfAuslR 1997, 240 (241); 1999, 332 (333). OVG Berlin, InfAuslR 2006, 277 (278). 20 tatsächliche Bezug von Sozialleistungen stellt bereits einen Regelversagungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 55 Nr. 6 AufenthG dar. Der Sozialleistungsbezug des deutschen Ehegatten rechtfertigt allerdings nicht die Ausweisung nach § 55 Nr. 6 AufenthG und damit nicht die Annahme des Regelversagungsgrundes nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Dies mag anders sein, wenn der Sozialleistungsbezug des deutschen Ehepartners gerade auf der Unterhaltspflichtverletzung des ausländischen Ehepartners beruht.22 Für die Berechnung des Lebensunterhaltes werden folgende Daten zugrundegelegt: - - für Haushaltsvorstände oder Alleinstehende mit Euro 345,-- für die alten Bundesländer mit Euro 331,-- für die neuen Bundesländerbeziffert (§ 20 Abs. 2 SGB II) bestimmt. Für den Partner ab Beginn des 19. Lebensjahres betragen die entsprechenden Werte Euro 311,--/298,--, für nicht erwerbsfähige Angehörige der Bedarfsgemeinschaften (§ 7 Abs. 3 SGB II) bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres Euro 207,--/199,-und ab Beginn des 15. Lebensjahres Euro 276.--/265,--. Zu den Einzelheiten dieses Regelerteilungsgrundes wird verwiesen auf Marx, Aufenhalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 3. Auflage, 2007, S. 151 bis 158 bb) Geklärte Identität und Staatsangehörigkeit (§ 5 Abs. 1a AufenthG) Nach § 5 Abs. 1a AufenthG wird für die Erteilung des Aufenthaltstitels regelmäßig vorausgesetzt, dass die Identität des Antragstellers und, falls er nicht zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt ist, die Staatsangehörigkeit geklärt ist. Identität und Staatsangehörigkeit sind im Regelfall durch die Vorlage eines gültigen Passes (§ 3 in Verb. mit § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) nachzuweisen. Praktische Bedeutung hat dieser Regelerteilungsgrund vorrangig für die Erteilung des Aufenthaltstitels vor der Einreise. Da der Antragsteller nicht im Besitz eines Passes ist (s. aber Art. 28 StlÜb), greift § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG ein. Sowohl für die Erteilung wie für die Verlängerung des Aufenthaltstitels muss die Identität des Antragstellers geklärt sein. Die zweite Alternative der Vorschrift zielt auf Staatenlose. Sofern diese einen Reiseausweis eines anderen Staates, zumeist des Staates des gewöhnlichen Aufenthaltes, besitzen, muss dieser im Zeitpunkt der Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels noch eine Rückkehrberechtigung enthalten. Die Staatenlosigkeit als solche stellt kein gegenüber der Ausländerbehörde feststellungsfähiges Rechtsverhältnis dar, weil sich aus dieser nicht unmittelbar Rechte und Pflichten des Antragstellers und der Behörde ergeben. Vielmehr stellt sie allein ein Tatbestandsmerkmal für unterschiedliche, sich aus verschiedenen Rechtsnormen ergebende Rechtsbeziehungen dar. Die Staatenlosigkeit kann zwar ein tatsächliches Abschiebungshindernis vermitteln, muss es aber etwa bei Übernahmebereitschaft eines anderen Staates nicht.23 Sofern ein gültiger Pass oder Passersatz nicht nachgewiesen werden kann, sind die Identität und Staatsangehörigkeit durch andere geeignete Mittel nachzuweisen (z.B. Geburtsurkunde, andere amtliche Dokumente). Als Drittstaatsangehörige sind auch Personen zu behandeln, bei denen noch nicht geklärt ist, ob sie Deutsche oder Unionsbürger sind (Nr. 5.1.1.3 Satz 3 22 23 OVG NW, InfAuslR 1999, 67 (68). OVG Hamburg, InfAuslR 2005, 311 21 VAH). Die zur Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit erforderlichen Maßnahmen nach § 49 Abs. 1 und 2 AufenthG veranlasst grundsätzlich die Ausländerbehörde (§ 71 Abs. 4 AufenthG). Eine Aufenthaltserlaubnis, die vom Antragsteller unter Angabe falscher Personalien erwirkt worden ist und die auf den falschen Namen lautet, ist jedenfalls dann nicht nach § 44 VwVfG nichtig, wenn sie mit einem Passfoto des Betroffenen verbunden und diesem zuzuordnen ist.24 cc) Ausweisungsgrund (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) Die Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis setzt nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt. Es reicht die Erfüllung eines Ausweisungstatbestandes aus. Ob die Ausweisung im Einzelfall fehlerfrei verfügt werden könnte, ist hingegen unerheblich. Daher ist keine hypothetische Prüfung durchzuführen, ob der Antragsteller ausgewiesen werden könnte oder würde, und ob der Ausweisung Schutzvorschriften entgegenstehen. Bei der Feststellung, ob ein Ausweisungsgrund vorliegt, ist daher unbeachtlich, ob die Ausweisungsbeschränkungen des § 56 AufenthG gegeben sind (Nr. 5.1.2.1 VAH). Hat die Behörde aber bei einem Ausländer, der nach Art. 3 Abs. 3 ENA besonderen Ausweisungsschutz genießt, auf die Ausweisung verzichtet, kann sie sich nachträglich nicht auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG berufen. Grundsätzlich liegt nach Nr. 5.1.2.1 VAH auch dann ein Ausweisungsgrund vor, wenn das im EFA für den dort begünstigten Personenkreis geregelte Verbot der Ausweisung wegen Sozialhilfebedürftigkeit vorliegt. Begründet wird dies damit, dass das EFA lediglich der Ausweisung wegen Sozialhilfebedürftigkeit, nicht aber der Versagung der Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis aus diesem Grund entgegenstehe. Das geltende Recht weicht indes von der früheren Rechtslage ab. Nach der früheren Rechtslage lag ein Ausweisungsgrund vor, wenn der Unterhaltsberechtigte Sozialhilfe tatsächlich in Anspruch nahm oder – zwar nicht in Anspruch nahm, aber – in Anspruch nehmen musste (vgl. § 46 Nr. 6 AuslG 1990). Lag das Einkommen des Unterhaltsverpflichteten unter der Grenze, die nach dem Regelsatz bei Berücksichtigung aller Unterhaltsberechtigten erreicht werden musste, lag ein Ausweisungsgrund vor, so dass die Aufenthaltsgenehmigung regelmäßig weder erteilt noch verlängert wurde. Nach geltendem Recht liegt nur noch dann ein Ausweisungsgrund vor, wenn ein Unterhaltsberechtigter tatsächlich Sozialhilfe in Anspruch nimmt (vgl. § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG). Die zweite Alternative ist weggefallen, so dass ein zu geringes Einkommen bezogen auf alle Unterhaltsberechtigten dem Antragsteller nicht mehr entgegengehalten werden kann. Der Ausweisungsgrund muss jedoch noch aktuell vorliegen, darf also nicht verbraucht sein. Es muss dadurch also aktuell eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland zu befürchten sein (Nr. 5.1.2.2 (VAH). Je gewichtiger jedoch der Ausweisungsgrund ist, umso weniger strenge Voraussetzungen sind an die Prüfung des aktuellen Vorliegens einer Gefährdung zu stellen. Ausweisungsgründe nach § 53, § 54 und § 55 Nr. 1 bis 3 AufenthG liegen solange vor, wie eine Gefährdung fortbesteht. Längerfristige Obdachlosigkeit, Sozialhilfebezug und Inanspruchnahme von Erziehungshilfe (§ 55 Nr. 5 2. Alt., Nr. 6 und 7 AufenthG) können demgegenüber keine Grundlage für die Versagung bilden, wenn diese Umstände zwischenzeitlich weggefallen sind. Ein Ausweisungsgrund ist unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes auch dann unbeachtlich, wenn er aufgrund einer Zusicherung der Ausländerbehörde verbraucht ist (Nr. 5.1.2.2 VAH). 24 VGH BW, AuAS 2004, 245 (246). 22 Da es sich um einen Regelerteilungsgrund handelt, sind atypische Ausnahmefälle zu berücksichtigen. Dabei sind die Dauer der Aufenthaltszeit, in der keine Straftaten begangen wurden, im Verhältnis zur Gesamtaufenthaltsdauer zu setzen. Ein langjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet und die damit regelmäßig einhergehende Integration kann unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine atypische Fallgestaltung in der Weise begründen, dass schutzwürdige Belange des Antragstellers im Bundesgebiet zu berücksichtigen sind und ein Aufenthaltstitel je nach dem Grad der Entfremdung vom Herkunftsland grundsätzlich nur noch zur Gefahrenabwehr aus wichtigem Grund versagt werden darf (Nr. 5.1.4.1 VAH). Hat der Antragsteller die Inanspruchnahme sozialhilferechtlicher Leistungen etwa wegen unverschuldeter Arbeitslosigkeit oder eines unverschuldeten Unfalls nicht zu vertreten und hält er sich seit vielen Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf, ist dieser Umstand insbesondere dann zu seinen Gunsten zu gewichten, wenn er aufgrund seiner Sondersituation dem deutschen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht oder die Minderung der Erwerbsfähigkeit einen ergänzenden Bezug von Leistungen nach SGB II oder SGB XII erforderlich macht ((Nr. 5.1.4.2 VAH). Dies gilt auch bei der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG (Nr. 5.1.4.2 VAH). Bei langjährigem Aufenthalt ist auch zu berücksichtigen, ob diese Leistungen nur in geringer Höhe oder nur für eine Übergangszeit in Anspruch genommen werden (Nr. 5.1.4.3 VAH). Bei Obdachlosigkeit kann eine Abweichung von der Regel gerechtfertigt sein, wenn es sich um einen Ausländer handelt, der zusammen mit seinen Familienangehörigen seit längerer Zeit im Bundesgebiet lebt, beschäftigt ist und folglich seine Existenzgrundlage und die seines Ehegatten sowie seiner minderjährigen Kinder verlieren würde, wenn er mangels Aufenthaltstitel das Bundesgebiet verlassen müsste und ihm unter Berücksichtigung seines Lebensalters im Heimatstaat der Aufbau einer Existenzgrundlage nicht mehr ohne weiteres zumutbar wäre (Nr. 5.1.4.4 VAH). dd) Interessen der Bundesrepublik (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG) Soweit kein Anspruch auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht, darf der Aufenthalt des Ausländers nicht aus einem sonstigen Grund Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigen oder gefährden. Für das Vorliegen eines Anspruchs kommt es nicht allein darauf an, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Anspruchsnorm erfüllt sind. Ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ist vielmehr grundsätzlich nicht gegeben, wenn trotz Vorliegens der anspruchsbegründenden Tatbestandsvoraussetzungen einer Anspruchsnorm eine der allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen, z.B. die Sicherung des Lebensunterhalts, nicht vorliegen und hiervon nur nach behördlichem Ermessen abgewichen werden kann.25 In einem solchen Fall findet § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG mithin Anwendung. Der Regelversagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG stellt eine Art Auffangtatbestand für die Ermessensverwaltung dar. Die Ausländerbehörde hat unter Berücksichtigung des bisherigen Werdegangs des Antragstellers eine Prognoseentscheidung zu treffen Nr. 5.1.3.0, Satz 5 VAH). Der Begriff der Interessen der Bundesrepublik Deutschland umfasst in einem weiten Sinne sämtliche öffentlichen Interessen. Die Regelerteilungsvoraussetzung erfordert nicht die Beeinträchtigung eines „erheblichen“ öffentlichen Interesses. Eine Gefährdung öffentlicher Interessen ist anzunehmen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet öffentliche Interessen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit beeinträchtigen wird (Nr. 5.1.3.0 VAH). Unverändert gehört das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Aufenthaltsrechts einschließlich der Einreisevorschriften zu den öffentlichen Interessen. Dieses Interesse ist verletzt, wenn der Antragsteller in das Bundesgebiet einreist und sich die Art des von ihm angestrebten und 25 OLG Sachsen, AuAS 2006, 242 (243). 23 danach erteilten Aufenthaltstitels mit dem tatsächlich angestrebten Aufenthaltstitel oder – Zweck nicht deckt. Auch im Visumverfahren findet der Regelerteilungsgrund bereits im Stadium der Gefährdung Anwendung, ohne dass sich die Gefahr in einer tatsächlich feststehenden Interessenbeeinträchtigung verwirklicht haben muss (Nr. 5.1.3.1.1 VAH). § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bestimmt als Voraussetzung für die Erteilung eines längerfristigen oder dauerhaften Aufenthaltstitels, dass das Visumverfahren nicht nur ordnungsgemäß, sondern auch unter vollständiger Angabe insbesondere des Aufenthaltszwecks durchgeführt worden ist. Mit § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG wird die Funktion des Visumverfahrens als wichtigstes Steuerungsinstrument der Zuwanderung gewährleistet (Nr. 5.2.1 VAH). Dieser Versagungsgrund trägt mithin dem öffentlichen Interesse Rechnung, die Einreise auf dem gesetzlich vorgesehenen Weg zu steuern und zu kontrollieren. Dies verbietet es grundsätzlich, den ohne das ordnungsgemäße Visum begründeten Aufenthalt nachträglich im Wege der Erteilung eines Aufenthaltstitels zu legalisieren. Im Blick auf die Ermessensverwaltung findet dieses öffentliche Interesse bereits und zusätzlich im Regelversagungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG seinen Ausdruck. Die Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kommt nur zum Tragen, wenn ein Visum erforderlich ist. Dies ist nicht der Fall, soweit der Antragsteller nach § 39 bis § 41 AufenthV den Aufenthaltstitel nach der Einreise einholen darf. Darüber hinaus sind die Ausnahmen nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu beachten. Dem Antragsteller, der bereits eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und deren Verlängerung oder die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Zweck begehrt, kann bei dieser Gelegenheit ein früherer Visumverstoß nicht mehr vorgehalten werden (§ 39 Abs. 1 Nr. 1 AufenthV). Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG wird für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder einer Niederlassungserlaubnis vorausgesetzt, dass die Einreise mit dem erforderlichen Visum erfolgte (Nr. 1) und die für die Erteilung des Visums maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht wurden (Nr. 2). Diese Vorschrift entspricht § 8 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG 1990. Die Versagungsgründe nach § 8 AuslG 1990 hatten zwingenden Charakter und standen der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung aus Rechtsgründen entgegen. Das galt nicht nur für Rechtsansprüche, sondern erst recht für Ermessensentscheidungen. An diese Rechtslage knüpft § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG an. Regelfall dieser Norm ist mithin, dass die Zustimmung der Ausländerbehörde nicht eingeholt wurde (vgl. § 31 AufenthV). Nach ihrem Zweck, eine wirksame Einreisekontrolle bereits vor der Einreise zu gewährleisten, erfasst die Norm indes auch den Fall, dass die Ausländerbehörde aufgrund der Angaben des Antragstellers im Visumantrag einem Visum zugestimmt hat, das den nach der Einreise hervorgetretenen Aufenthaltszweck gar nicht erlaubt (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Bei der Prüfung des Versagungsgrundes ist bezogen auf den konkreten Antrag stets die Frage zu beantworten, ob der Antragsteller ausnahmsweise den von ihm beantragten Aufenthaltstitel erst nach der Einreise einholen darf. Dies richtet sich nach § 39 bis § 41 AufenthG. In diesem Fall greift der Versagungsgrund nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht ein. Ist dies nicht der Fall, liegt der besondere Versagungsgrund nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vor, weil 24 insoweit nach § 4 Abs. 1 AufenthG Sichtvermerkszwang besteht. Für den nunmehr beantragten Aufenthaltstitel fehlt das „erforderliche Visum“. Allerdings kann der Verstoß gegen den Versagungsgrund des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nach Maßgabe des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG geheilt werden. ee) Passpflicht (§§ 3, 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) Nach § 3 Abs. 1 AufenthG besteht Passpflicht, also die Pflicht zum Besitz eines gültigen und anerkannten Passes. Die Erfüllung dieser Pflicht erstreckt sich einerseits auf die Einreise (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und andererseits auf die Erteilung und Verlängerung eines Aufenthaltstitels (§ 5 Abs. 1 Nr. 4, § 8 Abs. 1 AufenthG). Pass ist ein Ausweisdokument, das als Identitätsnachweis dient und zur Rückkehr in einen anderen Staat berechtigt. Die andauernde Geltungsdauer des Passes und die Rückkehrberechtigung sind danach zentrale Erteilungsvoraussetzungen. Die Geltungsdauer des Passes ist für die Festsetzung der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels maßgebend. Auf § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG beruht der Grundsatz, dass die Geltungsdauer des befristeten Aufenthaltstitels nicht die Gültigkeitsdauer des Passes überschreiten darf. Die Passpflicht besteht unabhängig von der Pflicht zur Mitführung des Passes oder Passersatzes beim Grenzübertritt (§ 13 Abs. 1 AufenthG) und den ausweisrechtlichen Pflichten nach § 48 AufenthG, § 56, § 57 AufenthV. Durch den Besitz eines gültigen Passes wird den Behörden die Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG) sowie die Rückkehrberechtigung seines Inhabers ohne weiteres ermöglicht. Ein gültiger Pass, den ein Staat an seine Angehörigen ausstellt, beinhaltet die völkerrechtlich verbindliche Erklärung des ausstellenden Staates, dass der Inhaber sein Staatsangehöriger ist (Nr. 3..0.8 VAH). Diesen Staat trifft deshalb nach allgemeinem Völkerrecht gegenüber dem Aufenthaltsstaat eine Verpflichtung auf Rückübernahme des Passinhabers. Da ausschließlich der Staat, dessen Staatsangehörigkeit ein Ausländer besitzt, rechtlich zur Feststellung der Namensführung berechtigt ist, gilt der in einem solchen Pass eingetragene Name des Inhabers als rechtlich verbindlich festgestellt. Aufgrund dessen erübrigt sich eine Identitätsfeststellung nach § 49 AufenthG (Nr. 3.0.8 VAH). Stellt hingegen ein Staat einen Passersatz an eine Person aus, die dieser nicht als eigenen Staatsangehörigen in Anspruch nimmt, wird die Feststellungsbefugnis zur Namensführung nicht ausgeübt, sondern nur der Inhaber bezeichnet. Wie weit die Indizwirkung der Eintragungen im Passersatz reicht, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab (Nr. 3.0.9 VAH). Der Regelerteilungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG erfordert, dass der Antragsteller passpflichtig ist und weder einen Pass noch einen Passersatz besitzt. Er betrifft also nicht die nach §§ 5 ff. AufenthV von der Passpflicht befreiten Personen. Ausländer, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG von der Anwendung des AufenthG ausgenommen sind, unterliegen gemäß § 8 FreizügG/EU nur einer dort geregelten Ausweispflicht. Ein Verstoß gegen diese führt für sich allein nicht zu einer die Freizügigkeit beschränkenden Maßnahme. Die Passpflicht erstreckt sich nicht auf die Ausländer, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG von der Anwendung des AufenthG ausgenommen sind. Ein Verstoß gegen die Passpflicht ist nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG strafbewehrt. Ein Verstoß gegen die Passpflicht liegt nicht vor, wenn der Pass in Verwahrung genommen wird (Nr. 3.1.4 VAH). Verstößt ein Unionsbürger gegen die Passpflicht, handelt er lediglich ordnungswidrig (vgl. § 10 FreizügG/EU). Ein Verstoß gegen die Pass- und Visumpflicht liegt nicht vor, wenn der Ausländer einen gültigen Aufenthaltstitel besitzt, aus einem seiner Natur nach lediglich vorübergehenden Grund mit einem gültigen Pass das Bundesgebiet verlässt, diesen im 25 Ausland verliert und innerhalb der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels mit einem neuen Pass in das Bundesgebiet einreist (Nr. 3.0.3 VAH). Es ist jedoch § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG zu berücksichtigen. ff) Versagungsgrund nach § 5 Abs. 4 AufenthG Der Versagungsgrund nach § 5 Abs. 4 AufenthG findet Anwendung, wenn ein Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 5 oder Nr. 5a AufenthG vorliegt. Der Versagungsgrund gilt uneingeschränkt sowohl für Aufenthaltstitel, die im Ermessenswege erteilt werden können, wie auch für solche, auf die ein gesetzlicher Anspruch besteht (Nr. 5.4.2 VAH). Ebenso wie bei § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist es nicht erforderlich, dass der Antragsteller auch ermessensfehlerfrei ausgewiesen werden könnte. Insoweit wird auf die entsprechenden Ausführungen zum Regelerteilungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG verwiesen. Der Aufenthaltstitel ist nach § 5 Abs. 4 AufenthG zu versagen, wenn die Voraussetzungen des § 54 Nr. 5 AufenthG erfüllt sind. Danach reichen Tatsachen aus, welche die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Antragsteller einer Vereinigung angehört, die den Terrorismus unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat. Auf zurückliegende Mitgliedschaften oder Unterstützungshandlungen kann die Versagung indes nur gestützt werden, soweit diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründet. Mit dem Hinweis auf „sicherheitsgefährdendes Handeln“ in § 5 Abs. 4 Satz 2 AufenthG hat der Gesetzgeber für die Rechtsanwendung hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er keinen substanzlosen Unterstützungsbegriff schaffen wollte, sondern einen an schwerwiegende Straftaten und darauf beruhender individueller Verantwortlichkeit ausgerichteten Handlungsbegriff. Die Definition des Befreiungstatbestandes ist deshalb bereits bei der Auslegung und Anwendung des Versagungsgrundes erheblich. Durch den Verweis auf § 54 Nr. 5a AufenthG knüpft der Gesetzgeber an die Vorgängervorschrift des § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG 1990 an, die durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz mit Wirkung zum 1. Januar 2002 eingeführt worden war, um die Einreise von Personen zu verhindern, die terroristische oder gewaltbereite Aktivitäten begehen oder unterstützen. Dieser Versagungsgrund bezweckt die „Abwehr von Sicherheitsgefährdungen durch Gewaltanwendung“. Schutzgut ist „insbesondere auch die Fähigkeit des Staates, Beeinträchtigungen und Störungen seiner Sicherheit nach innen und außen abzuwehren.“ Der Verdacht der Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung, einer Beteiligung an Gewalttätigkeiten bei Verfolgung politischer Ziele oder eines öffentlichen Aufrufs zur Gewaltanwendung reicht nicht aus, selbst wenn die Annahme sich auf Tatsachen stützt. Nach § 73 Abs. 2 Satz 1 AufenthG können die Ausländerbehörden vor der Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels die bei ihr gespeicherten personenbezogenen Daten an die dort bezeichneten Sicherheitsbehörden übermitteln. Nach Nr. 73.2.1 VAH enthält diese Vorschrift darüber hinaus auch eine Rechtsgrundlage für Anfragen der Ausländerbehörden bei den Sicherheitsbehörden. Ebenso wie vor der Visumerteilung müsse auch vor aufenthaltsrechtlich wichtigen Entscheidungen die Möglichkeit gegeben sein, das Wissen aller mit der Bekämpfung des Terrorismus befassten staatlichen Stellen für die Feststellung des Versagungsgrundes nach § 5 Abs. 4 AufenthG heranzuziehen. Für eine Regelanfrage in Ansehung bestimmter Herkunftsländer stellt die Vorschrift indes keine Rechtsgrundlage dar. 26 Dagegen spricht bereits der Gesetzeswortlaut („können“). Es muss daher für die Übermittlung wie für die Anfrage ein konkreter Anlass bestehen. In begründeten Fällen können Ausnahmen vom Versagungsgrund des § 5 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zugelassen werden (§ 5 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Die Ausnahmevorschrift bezieht sich auf beide Fallvarianten des § 5 Abs. 4 Satz 1 AufenthG und setzt voraus, dass die Antragsteller sich gegenüber den zuständigen Behörden offenbart und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand nimmt. Insoweit obliegt die Beurteilung den Sicherheitsbehörden. gg) Sperrwirkung der Ausweisung und Abschiebung (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) Ausweisung und Abschiebung bewirken ein Einreise- und Aufenthaltsverbot (gesetzliche Sperrwirkung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Das gilt auch für Maßnahmen nach altem Recht (vgl. § 102 Abs. 1 AufenthG). Sie führen zudem zu einer Ausschreibung zur Einreiseverweigerung im SIS (Art. 96 Abs. 3 SDÜ) und bewirken damit eine Einreisesperre für das gesamte Gebiet der Schengen-Staaten. Die Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung betreffen auch Gemeinschaftsangehörige. Es liegt daher ein zwingender Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) vor, der durch antragsgemäße Befristung aufgehoben werden kann (§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Ausnahmen sind nach §§ 23a Abs. 1 Satz 1, 25 Abs. 1–5 AufenthG zulässig. Der Zweck der Sperrwirkung, eine effektive Kontrolle der Wiedereinreise sicherzustellen, wird insbesondere an der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG deutlich. Während nach der früheren Rechtsprechung des BVerwG eine der Ausweisung beigefügte Frist bereits vor 26 der Ausreise ablaufen konnte, sodass ohne zwischenzeitliche Ausreise der Aufenthalt legalisiert werden konnte, beginnt nach § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG die Frist erst mit dem Tag der Ausreise oder Abschiebung zu laufen,27 sdass eine Ausweisung nicht durch Befristung des Versagungsgrundes während des Inlandsaufenthaltes unterlaufen werden kann. Ist der Antragsteller indes erneut eingereist, bedarf es für den Fristbeginn nicht der erneuten Ausreise.28 Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts darf die Aufhebung der Sperrwirkung nicht von der Ausreise abhängig gemacht werden.29 Die Sperrwirkung der Ausweisung tritt unmittelbar kraft Gesetzes (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) ein. Umstritten ist, ob für den Eintritt der Sperrwirkung der Ausweisung Vollziehbarkeit vorauszusetzen ist. Bei der Abschiebung tritt die Sperrwirkung mit dem tatsächlichen Vollzug ein. Die Abschiebungsandrohung reicht nicht. 26 BVerwGE 60, 284 (285); 69, 137 (141). 27 28 OVG Bremen, InfAuslR 1998, 442 (443); VGH BW, InfAuslR 1998, 433 (434). OVG Hamburg, InfAuslR 1992, 250 (251); BVerwG, InfAuslR 2000, 176 (180) = AuAS 2000, 74. 29 Vgl. auch EuGH, NJW 1983, 1250 (1251). 27 hh) Sperrwirkung des abgelehnten Asylantrags (§ 10 Abs. 3 AufenthG) § 10 Abs. 3 AufenthG legt eine abgestufte Sperrwirkung fest: Ist der Asylantrag unanfechtbar abgelehnt oder vom Antragsteller zurückgenommen worden, darf vor der Ausreise nur nach dem humanitären Vorschriften (§ 22 bis § 26 AufenthG) ein Aufenthaltstitel erteilt werden, d.h. der Zugang zu anderen Aufenthaltstiteln ist versperrt. Ist hingegen der Aufenthaltstitel nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt worden, darf überhaupt kein Aufenthaltstitel erteilt werden, d.h. es findet nicht lediglich eine eingeschränkte, sondern eine absolute Sperrwirkung Anwendung. § 10 Abs. 3 AufenthG bezweckt, dass Antragsteller, deren Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden ist, nur eingeschränkt die Möglichkeit erhalten, einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Die eingeschränkte wie absolute Sperrwirkung findet für den Fall des Verzichts (§ 14a Abs. 3 AsylVfG) sowie in den Fällen, in denen ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht (§ 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG), keine Anwendung. Die obergerichtliche Rechtsprechung räumt dem Betroffenen wegen der Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG die prozessuale Befugnis ein, einen als offensichtlich abgelehnten Asylantrag mit dem Ziel der Aufhebung des Offensichtlichkeitsausspruchs isoliert anzufechten. Da diese Möglichkeit vor dem 1. Januar 2005 nicht bestanden habe, könne die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht auf Altfälle angewendet werden. Insoweit würden sich aus der Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs. 4 GG Bedenken gegen die Anwendbarkeit des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auf vor dem 1. Januar 2005 als offensichtlich unbegründet abgelehnte Asylanträge ergeben.30 Die Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG hindert auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 22 bis § 26 AufenthG. Dies ist, wie der Vergleich zwischen § 23a Abs. 1 Satz 1 und § 25 Abs. 5 AufenthG verdeutlicht, ungereimt. Während über die Aufenthaltserlaubnis nach § 23a AufenthG in Abweichung von allen gesetzlichen Erteilungsvoraussetzungen entschieden wird, ist etwa den Sollansprüchen nach § 25 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 5 Satz 2 AufenthG die Sperrwirkung entgegenzuhalten. Dadurch wird ein rechtmäßiger Aufenthalt unmöglich gemacht. Der Bescheid des Bundesamtes muss ausdrücklich auf die Norm des § 30 Abs. 3 AsylVfG verweisen. Eine qualifizierte Asylablehnung nach § 30 Abs. 1 und 2 AsylVfG begründet nur die eingeschränkte Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Nicht durchdacht erscheint, dass der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eines Kind, dessen Asylantrag nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt wird, die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auch dann entgegenzuhalten ist, wenn der Antrag der Eltern bzw. des personensorgeberechtigten Elternteil nicht gesperrt wird. Hier kann eine Ermessensreduzierung auf Null (Rdn…) aus verfassungsunmittelbaren Gründen (Art. 6 Abs. 1 und 2 GG) und damit eine Durchbrechung der Sperrwirkung angenommen werden. Lässt der asylrechtliche Statusbescheid die maßgebliche Rechtsgrundlage der qualifizierten Asylablehnung offen, kann die Ausländerbehörde dem Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht die absolute Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG entgegenhalten. In diesem Fall findet aber die eingeschränkte Sperrwirkung Anwendung, d.h. der Aufenthaltstitel darf nur nach Maßgabe des humanitären Abschnitts des AufenthG erteilt werden. Wird ein Klageverfahren durchgeführt und die Klage abgewiesen, kann die absolute 30 Hess.VGH, U. v. 1. 9. 2006 – 9 UE 1650/06, mit Hinweisen. 28 Sperrwirkung keine Anwendung finden.31 Das Verwaltungsgericht prüft nämlich im Hauptsacheverfahren nicht die Rechtmäßigkeit des Offensichtlichkeitsurteils. Jedenfalls in den Fällen, in denen im Eilrechtsschutzverfahren die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet wird, liegt dem die gerichtliche Einschätzung zugrunde, dass die Voraussetzungen für das Offensichtlichkeitsurteil nicht vorliegen. Die absolute Sperrwirkung findet deshalb keine Anwendung. Hat der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (z. B. § 28 Abs. 1, § 30 Abs. 1, § 32 Abs. 2 und 3 AufenthG), ist über diesen durch die Ausländerbehörde eine Entscheidung herbeizuführen. Die Sperrwirkung findet weder in der eingeschränkten noch in der absoluten Form Anwendung (§ 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Der Ermessensreduzierung auf Null ist dem Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtlich gleichgestellt.32 Dafür spricht, dass § 10 Abs. 1 AufenthG den Begriff „gesetzlicher Anspruch“, § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG hingegen den Begriff „Anspruch auf Erteilung“ verwendet. Die Rechtsprechung des BVerwG hatte sich zunächst nur im Blick auf gesetzliche Ansprüche gegen die Einbeziehung der Ermessensreduktion gewandt.33 Im Blick auf § 9 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1990, der ebenfalls den Begriff „Anspruch auf Erteilung“ verwendet, hat das BVerwG sich indes ebenfalls gegen die Einbeziehung der „Ermessensreduzierung auf Null“ ausgesprochen. Es hat dies damit begründet, die Ermessensreduzierung begründe keinen gesetzlichen Anspruch. Insoweit gelte nichts anderes als in den Fällen eines gesetzlichen Anspruchs.34 Im Falle eines „Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels“ (§ 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG) steht damit § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bei krankheitsbedingten oder sonstigen Härtegründen der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. In diesem Falle kann der Antrag im Bundesgebiet bearbeitet werden (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. AufenthG). Im Falle eines Ermessenstatbestandes (z. B. § 16 Abs. 4, 30 Abs. 2, § 32 Abs. 4 AufenthG) muss der Antragsteller indes ausreisen und ein Visumverfahren durchführen. Im Hinblick auf Art. 15, 18 und 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist die Anwendung der Sperrwirkung unvereinbar mit Gemeinschaftsrecht. Dementsprechend wird nach § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG die Sperrwirkung durchbrochen, wenn der Antragsteller den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG für subsidiär Schutzberechtigte anstrebt. Die obergerichtliche Rechtsprechung ging unter Hinweis auf den Sollcharakter des § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG von einem strikten Rechtsanspruch im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG aus, sofern es der Ausländerbehörde nicht ausnahmsweise gelang, eine atypische Interessenlage darzulegen.35 § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG macht im Hinblick auf § 25 Abs. 3 AufenthG eine derartige Einschränkung nicht. Sie wäre auch mit Art. 15, 18 und 24 Abs. 2 RL 2004/83/EG unvereinbar. Im Hinblick auf § 25 Abs. 5 AufenthG ist die Anwendung der Sperrwirkung jedenfalls insoweit ungereimt, soweit dringende inlandsbezogene Härtegründe für die Entscheidung maßgebend sind. IV. Verlängerung des Aufenthaltstitels 31 Günter Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005, § 10 AufenthG Rdn. 14. VG Freiburg, InfAuslR 2005,388 (390), für den gleich gelagerten Fall des § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. AufenthG; wohl auch Klaus Dienelt, ZAR 206, 120 (122 f.); so auch Nieders.MdI, Informations- und Schulungsmaterial zum ZuwG, August 2004, S. 19; dagegen Frank Wenger, Kommentar zum ZuwG, § 10 AufenthG Rdn. 5.; Nr. 10.3.1 VAH, anders jedoch Nr. 5.2.3 VAH. Nr. 10.3.1 VAH; offen gelassen Jochen Zühlke, ZAR 2006, 280.. 33 BVerwGE 101, 265 (271) = EZAR 011 Nr. 9 = InfAuslR 1997, 21; BVerwG, NVwZ-RR 2004, 687 = EZAR 017 Nr. 21. 34 BVerwG, NVwZ-RR 2004, 687 (688). 35 Hess.VGH, U. v. 1. 9. 2006 – 9 UE 1650/06. 32 29 1. Fortbestand der Ersterteilungsvoraussetzungen (§ 8 Abs. 1 AufenthG) Bei der Verlängerung des Aufenthaltstitels geht es um die weitere Aufenthaltsgewährung im Anschluss an einen genehmigten Aufenthalt ohne Wechsel des Aufenthaltstitels. Dabei gelten nach § 8 Abs. 1 AufenthG bei der Verlängerung des Aufenthaltstitels im Rechts- wie im Ermessensbereich grundsätzlich dieselben Rechtsvorschriften wie bei der Ersterteilung. Es sind aber gesetzliche Erleichterungen zu berücksichtigen. Eine Zweckänderung wird nicht als Verlängerungs-, sondern als Erstantrag mit allen verfahrensrechtlichen Konsequenzen behandelt. Einen Zweckwechsel stellt es aber nicht dar, wenn das zum Zweck des Kindernachzugs ausgestellte Visum nach Einreise in eine Aufenthaltserlaubnis umgewandelt wird. Es handelt sich hierbei auch nicht um einen Antrag auf Ersterteilung, sondern um einen Verlängerungsantrag.36 Die Erteilung der Niederlassungserlaubnis befreit von den aufgezeigten verfahrensrechtlichen Einschränkungen. Der befristete Aufenthaltstitel darf hingegen nur für einen Zeitraum erteilt werden, für den die Erteilungsvoraussetzungen vorliegen und gesetzliche Versagungsgründe nicht gegeben sind. Daher ist die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels stets abhängig von der Geltungsdauer des Reiseausweises (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG). Die Geltungsdauer der Verlängerung ist grundsätzlich so zu bestimmen, dass sie am Tage nach dem Ablauf der Geltungsdauer der bisherigen Geltungsdauer beginnt. Das gilt auch dann, wenn die Behörde erst zu einem späteren Zeitpunkt über die Verlängerung der Geltungsdauer entscheidet (Nr. 8.1.4 Satz 1 und 2 VAH). Erfüllt der Antragsteller die zeitlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis, soll die Ausländerbehörde ihn auf die Möglichkeit der Antragstellung hinweisen (§ 82 Abs. 3 AufenthG). Werden die entsprechenden Nachweise nicht vorgelegt, darf die Aufenthaltserlaubnis befristet verlängert werden (Nr. 8.1.3 VAH). Eine zu einem früheren Aufenthaltstitel erteilte Zustimmung der Arbeitsverwaltung zu einer Beschäftigung gilt im Rahmen ihrer zeitlichen Begrenzung fort, sofern das Beschäftigungsverhältnis andauert (§ 14 Abs. 2 BeschVerfV). Die Behörde hat vor der Verlängerung insbesondere den Zweck nach Kapitel 2 Abschnitt 3, 4, 5 oder 6 des AufenthG, die Erteilungsvoraussetzungen und Versagungsgründe nach §§ 5 Abs. 2 Satz 1 und 10 AufenthG zu prüfen. Bei der Verlängerung findet die Sperrwirkung nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG keine Anwendung, weil diese bereits vor der Ersterteilung zwingend zu beseitigen war. Die Gewährung eines befristeten Aufenthaltsrechts im Rahmen der Ermessensverwaltung gibt dem Antragsteller zwar grundsätzlich keinen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Über die Verlängerung ist jedoch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und des Vertrauensschutzes zu entscheiden. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass während des bisherigen Aufenthaltes schutzwürdige persönliche, wirtschaftliche oder sonstige Bindungen zum Bundesgebiet entstanden sein können. In solchen Fällen ist im Rahmen einer Güter- und Interessenabwägung zu prüfen, ob die Beendigung des Aufenthaltes zumutbar ist (z.B. Dauer des Aufenthalts, Grad der Verwurzelung, beanstandungsfreier Aufenthalt) und sind darüber hinaus auch die in § 55 Abs. 3 AufenthG bezeichneten Belange zu berücksichtigen. Nicht um die Verlängerung des bisherigen Aufenthaltstitels, sondern um die Beantragung eines neuen Aufenthaltstitels handelt es sich, wenn der Antragsteller die Verlängerung zu 36 Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726. 30 einem anderen Aufenthaltszweck beantragt.37 Ein Übergang vom Deutschkurs zum Überbrückungsstudium und Studium beinhaltet indes keinen Wechsel des Aufenthaltszwecks.153 Ist die Verlängerung des Aufenthaltstitels nicht ausgeschlossen worden (vgl. § 8 Abs. 2 AufenthG), kann die Zweckänderung nach Ermessen genehmigt werden. Dabei können auch im Gesetz nicht vorgesehene Aufenthaltszwecke berücksichtigt werden (§ 7 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Für die Prüfungsphase findet die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG Anwendung. Nach § 8 Abs. 3 AufenthG hat die Ausländerbehörde die Verletzung der nach § 44a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG bestehenden Pflicht zur Teilnahme am Integrationskurs bei der Verlängerungsentscheidung zu berücksichtigen. Die Gründe, aus denen die Verpflichtung hervorgeht, sind aktenkundig zu machen. Der Erlass eines gesonderten Bescheides über die Teilnahmeverpflichtung ist nicht erforderlich, da die Behörde lediglich eine bereits bestehende Pflicht rein verwaltungstechnisch berücksichtigt und keine eigenständige Regelung – auch nicht in Form eines feststellenden Verwaltungsaktes – trifft (Nr. 8.3.2 VAH). Auf die nicht ordnungsgemäßen Teilnahme kann etwa durch die Bestimmung einer kürzeren Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis im Rahmen der Verlängerungsentscheidung reagiert werden (Nr. 8.3.5 VAH). Gegen die Versagung der Verlängerung dürfte regelmäßig der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sprechen. Die Verlängerungsversagung ist ausgeschlossen, wenn auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ein Rechtsanspruch besteht (s. aber § 8 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). § 8 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bestimmt, dass bei einer im behördlichen Ermessen stehenden Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis die „wiederholte und gröbliche Verletzung“ der Teilnahmepflicht der Antrag abgelehnt werden soll. Unter diesen Voraussetzungen kann die Aufenthaltserlaubnis auch dann versagt werden, wenn ein Anspruch auf Verlängerung lediglich nach dem AufenthG besteht. Im Hinblick auf Asylberechtigte, Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte steht dem Art. 24 RL 2004/83/EG entgegen, weil dort eine derartige Einschränkung nicht gemacht wird. Dies gilt auch die Familienangehörigen dieses Personkreises (vgl. Art. 23 RL 2004/83/EG). Es muss sich um eine gröbliche Verletzung der Teilnahmepflicht handeln. Gröblich ist mehr als „grobe Fahrlässigkeit“ (vgl. hierzu § 20 Abs. 2 Satz 1, § 22 Abs. 3 Satz 2, § 23 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG). Der Gesetzgeber hat bewusst den Begriff „grobe Fahrlässigkeit“ nicht verwendet, weil ihm dies angesichts der gravierenden Folgen einer Versagungsentscheidung nicht als verhältnismäßig erscheint. Der Betroffene muss also bewusst und gewollt sowie in Kenntnis seiner entsprechenden Teilnahmeverpflichtung und darüber hinaus nach den erkennbaren Umständen auch in einer Weise gegen seine Verpflichtung verstoßen, dass der Vorwurf der gröblichen Pflichtverletzung berechtigt ist. Dies setzt voraus, dass er zuvor durch die Behörde auf den Umfang seiner Verpflichtung und die Folgen einer Pflichtverletzung hingewiesen worden ist. Aus den Gesamtverhalten des Betroffenen muss erkennbar sein, dass er sich uneinsichtig, beharrlich, hartnäckig und wiederholt geweigert hat, der Teilnahmeverpflichtung nachzukommen. 2. Ausnahmen vom Erfordernis der Ersterteilungsvoraussetzungen Der Grundsatz, dass bei der Verlängerung dieselben Vorschriften wie bei der Ersterteilung zu beachten sind, findet etwa dann keine Anwendung, wenn ungeachtet der Einreise ohne 37 OVG NW, EZAR 014 Nr. 11; OVG NW, InfAuslR 2001, 212 = AuAS 2001, 86. 31 erforderliches Visum ein Aufenthaltstitel erteilt worden ist.38 Ebenso ist im Rahmen der Verlängerung des Aufenthaltstitels der Rückgriff auf einen Ausweisungsgrund unzulässig, wenn dieser bei der Ersterteilung oder vorangegangenen Verlängerungsentscheidung der Behörde bekannt war und nicht zuungunsten des Antragstellers gewertet wurde. 39 Sieht die Behörde im Rahmen des § 5 Abs. 3 AufenthG von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ab, kann sie darauf hinweisen, dass eine Ausweisung wegen einzeln zu bezeichnender Ausweisungsgründe, die Gegenstand eines noch nicht abgeschlossenen Straf- oder anderen Verfahrens sind, möglich ist (§ 5 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Macht die Ausländerbehörde in derartigen Fällen nach Verfahrensabschluss nicht unverzüglich von den Ausweisungsmöglichkeiten Gebrauch, kann sie die entsprechenden Ausweisungsgründe nicht dem Verlängerungsantrag entgegenhalten. Darüber hinaus macht das Gesetz einige bedeutsame Ausnahmen: Bei Ehegatten kann die Aufenthaltserlaubnis abweichend vom Unterhaltssicherungserfordernis (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und vom Wohnraumerfordernis (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) verlängert werden (§ 30 Abs. 3 AufenthG). Es dürfen aber ernsthafte Bemühungen um die Sicherstellung des Lebensunterhaltes gefordert werden. Die Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist anwendbar. Bei Kindern kann die Aufenthaltserlaubnis verlängert werden, solange die Voraussetzungen für die Niederlassungserlaubnis noch nicht vorliegen (§ 34 Abs. 3 AufenthG). Demgegenüber bestimmte früher § 20 Abs. 4 AuslG 1990, dass die Aufenthaltserlaubnis abweichend vom Unterhalts- und Wohnraumerfordernis zu verlängern ist. In der Verwaltungspraxis wurde indessen bei Sozialhilfebedürftigkeit regelmäßig die Verlängerung versagt (vgl. Nr. 20.6.2.3 AuslG-VwV). Das geltende Recht wandelt den Rechtsanspruch auf Verlängerung in einen Ermessenstatbestand um. Die Altergrenzen nach § 32 Abs. 1 bis 4 AufenthG sind bei der Verlängerung nicht mehr zu berücksichtigen.40 Solange kein eigenständiges Aufenthaltsrecht besteht (§ 34 Abs. 2 AufenthG), setzt die Verlängerung die Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft mit mindestens einem Elternteil voraus. Bei Wegfall des Zwecks (§ 27 Abs. 1 AufenthG) wegen der Ausreise der Eltern ist die Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe des § 37 AufenthG zu verlängern (§ 34 Abs. 2 Satz 2 AuslG). Sind beide Elternteile nach Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels verstorben, kommt eine Verlängerung nach § 34 AufenthG nicht in Betracht. Im Falle der Aufnahme bei oder der Betreuung durch Verwandte kommt aber wohl eine Lösung nach § 36 AufenthG in Betracht. Solange die Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG nicht gegeben sind, kann die Aufenthaltserlaubnis bei Volljährigen nach Ermessen unter Berücksichtigung der Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG verlängert werden. 3. Rechtzeitige Antragstellung Wesentlich für die Aufenthaltsverfestigung ist die rechtzeitige Antragstellung, da andernfalls der für die Verfestigung erforderliche ununterbrochene rechtmäßige Aufenthalt unterbrochen wird (s. aber § 26 IV AufenthG). Fraglich ist, ob die verspätete Antragstellung die 38 39 VGH BW, InfAuslR 1995, 104 (105); VGH BW, InfAuslR 1988, 471 (472). Hess. VGH, EZAR 030 Nr. 5. 40 Nieders.OVG, NVwZ-RR 2006, 726. 32 Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes unterbricht. Nach § 81 Abs. 4 AufenthG wird auch im Falle der verspäteten Antragstellung vom Zeitpunkt der Antragstellung an die Erlaubnisfiktion begründet. Dies spricht dafür, dass keine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit eintritt. Jedenfalls kann die Behörde über § 85 AufenthG die Unterbrechung heilen. Stellt der Antragsteller am Tag nach Ablauf der Geltungsdauer den Verlängerungsantrag, tritt keine Unterbrechung ein, da der Antrag auf den Beginn des Tages zurückwirkt. 41 Der Antragsteller erhält eine Fiktionsbescheinigung (§ 81 Abs. 5 AufenthG). Da es sich indes um ein gesetzliches Aufenthaltsrecht handelt, hat die Geltungsdauer der Bescheinigung keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des verfahrensabhängigen Aufenthaltrechtes. Beantragt der Antragsteller deshalb verspätet die Verlängerung der Geltungsdauer der Bescheinigung, ist dies insoweit unschädlich (vgl. § 81 Abs. 4 AufenthG). Erst mit Bekanntgabe der Versagungsverfügung wird die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts unterbrochen (§ 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Im Falle der verspäteten Antragstellung bleibt es aber bei der Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes. Unterbrechungen bis zu einem Jahr können indes außer Betracht bleiben (vgl. § 85 AufenthG). Wird die Behördenentscheidung durch die Behörde selbst oder durch das Gericht aufgehoben, tritt keine Unterbrechung ein (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Auch hier kann im Falle des verspäteten Antrags § 85 AufenthG weiterhelfen. 4. Ausschluss der Verlängerung (§ 8 Abs. 2 AufenthG) § 8 Abs. 2 AufenthG eröffnet der Ausländerbehörde die Möglichkeit, die Verlängerung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis durch eine Nebenbestimmung (§ 36 VwVfG) auszuschließen. Dies betrifft z.B. kurzfristige Arbeitsverhältnisse, bei denen eine Verfestigung nicht zulässig ist (Saisonarbeitnehmer, Werkvertragsarbeitnehmer), oder Aufenthalte aufgrund spezifischer Postgraduiertenprogramme der Entwicklungszusammenarbeit, bei denen die Geförderten sich verpflichtet haben, nach Abschluss der Hochschulförderung zurückzukehren. Auf diese Weise soll die Ausländerbehörde von vornherein Klarheit über die fehlende Perspektive der Aufenthaltsverfestigung schaffen (Nr. 8.2.1 VAH). Die Rechtsfolge der Nichtverlängerbarkeit tritt entgegen Nr. 8.2.2 VAH nicht kraft Gesetzes ein. § 8 Abs. 2 AufenthG ist auch keine Nebenbestimmung (so Nr. 8.2.3 VAH), sondern eine materielle Rechtsgrundlage für die Sperrung der Verfestigung. Hat die Behörde die Form der auflösenden Bedingung gewählt, erlischt die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis unabhängig von § 8 Abs. 2 AufenthG mit Eintritt der auflösenden Bedingung (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). § 8 Abs. 2 AufenthG gibt der Ausländerbehörde vielmehr die Möglichkeit, von vornherein den Zugang zur Verfestigung zu sperren. Stellt der Antragsteller gleichwohl den Verlängerungsantrag, greifen die Wirkungen des § 81 Abs. 4 AufenthG ein. In der Sache steht der Verlängerung der Geltungsdauer allerdings der Hinweis auf die Nichtverlängerbarkeit bei der Ersterteilung hingewiesen hat. Erweist sich im Nachhinein, dass die Behörde den Hinweis auf die Nichtverlängerbarkeit nicht hätte geben dürfen, steht § 8 Abs. 2 AufenthG der Verlängerung nicht entgegen. 5. Geltungsdauer des Aufenthaltstitels 41 OVG Hamburg, InfAuslR 2000, 71 (72); a.A. OVG NW, InfAuslR 1999, 451 (452); OVG NW, InfAuslR 2000, 115 (116); s. auch OVG Rh-Pf, InfAuslR 2004, 106 = AuAS 2004, 61. 33 Der erstmals erteilte Aufenthaltstitel wird grundsätzlich befristet erteilt (§ 7 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Ausnahmen gelten für hoch qualifizierte Ausländer, denen unter den Voraussetzungen des § 19 Abs. 1 AufenthG bereits bei der Einreise eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden kann. Für die Gestaltung der Befristung der Aufenthaltserlaubnis ist der beabsichtigte Aufenthaltszweck maßgebend (§ 7 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Grundsätzlich wird die bisherige Verwaltungspraxis wohl fortgeführt werden, wonach die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels zunächst auf zwei Jahre, in besonders gelagerten Fällen auf ein Jahr befristet wird, bis nach Ablauf von fünf Jahren des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis der Anspruch auf die Erteilung des Niederlassungserlaubnis entsteht (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Das Gesetz gibt für besondere Fallgruppen bestimmte Fristen vor: So kann nach Abschluss des Studiums die Aufenthaltserlaubnis bis zu einem Jahr verlängert werden (§ 16 Abs. 4 AufenthG). Das eigenständige Aufenthaltsrecht des Ehegatten entsteht zunächst für die Dauer eines Jahres (§ 31 Abs. 1 AufenthG). Bei selbständig Erwerbstätigen wird die Aufenthaltserlaubnis auf längstens drei Jahre befristet (§ 21 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Anschließend entsteht unter den Voraussetzungen des § 21 Abs. 4 Satz 2 AufenthG ein Anspruch auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis. Die Aufenthaltserlaubnis kann in der Regel nicht verlängert werden, wenn die zuständige Behörde dies bei einem seiner Zweckbestimmung nach nur vorübergehenden Aufenthalt bei der Erteilung oder der zuletzt erfolgten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen hat (§ 8 Abs. 2 AufenthG). Die Rechtsfolge der Nichtverlängerbarkeit tritt kraft Gesetzes ein. § 8 Abs. 2 AufenthG hat im früheren Recht keine direkte Entsprechung. Sie dürfte sich aber im Wesentlichen auf Fälle beziehen, in denen nach früherem Recht eine Aufenthaltsbewilligung (§ 28 AuslG 1990) erteilt wurde. Sie soll dementsprechend bei kurzfristigen Aufenthalten, bei denen eine Aufenthaltsverfestigung nicht beabsichtigt ist, oder bei Aufenthalten aufgrund spezifischer Postgraduiertenprogramme der Entwicklungszusammenarbeit, bei denen sich die Geförderten verpflichtet haben, nach Abschluss der Hochschulfortbildung zurückzukehren, Anwendung finden. Studenten haben demgegenüber nach Abschluss des Studiums unter den Voraussetzungen des § 16 Abs. 4 AufenthG grundsätzlich die Möglichkeit, innerhalb eines Jahres einen Arbeitsplatz zu suchen und anschließend den Aufenthalt zu verfestigen. Zwar kann die Behörde die Nichtverlängerbarkeit auch erst bei der Verlängerungsentscheidung anordnen. Es muss sich aber um Fälle handeln, in denen für die Beteiligten von Anfang an der nur vorübergehende Zweck des Aufenthaltes klar war. Andernfalls wäre eine derartige Praxis mit dem verfassungskräftigen Grundsatz des Vertrauensschutzes kaum vereinbar. Die Nichtverlängerbarkeit wird durch Nebenbestimmung angeordnet (§ 12 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die Rechtsfolge der Nichtverlängerbarkeit tritt nach der gesetzlichen Begründung kraft Gesetzes ein. Dem kann nicht gefolgt werden. Die Fristsetzung ist eine Nebenbestimmung im Sinne von § 36 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG. Die Form der auflösenden Bedingung ist auf Fristsetzungen nicht anwendbar. Ist die Frist abgelaufen und hat der Betroffene rechtzeitig den Verlängerungsantrag gestellt, gilt der Aufenthalt zunächst als rechtmäßig fort (§ vgl. § 81 Abs. 4 AufenthG). § 8 Abs. 2 AufenthG ordnet an, dass nach Fristablauf in der Regel die Nichtverlängerbarkeit eintritt. Das Gesetz geht damit selbst davon aus, dass die Nichtverlängerbarkeit nicht kraft Gesetzes eintritt. Vielmehr wird der Behörde für den Regelfall die Möglichkeit der Versagung eingeräumt. Damit wird dem Antragsteller allerdings nicht der Rechtsschutz genommen. Nach § 26 Abs. 2 AufenthG darf die Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert werden, wenn das Ausreisehindernis oder die sonstigen einer Aufenthaltsbeendigung entgegenstehenden Gründe entfallen sind. 34 V. Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG) 1. Funktion der Niederlassungserlaubnis Das AufenthG wandelt die Verfestigungsregelungen des alten Rechts grundlegend um. Das geltende Recht kennt nur noch die Aufenthaltserlaubnis und die Niederlassungserlaubnis. Neu hinzugekommen ist aufgrund der Umsetzung der Richtlinie 2003/109/EG die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG nach §§ 9a ff. AufenthG, die gegenüber der Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG weitergehende Recht im Gemeinschaftsgebiet und auch einen stärkeren Ausweisungsschutz vermittelt. Grundsätzlich können alle Aufenthaltstitel des AufenthG in das Verfestigungsstadium gelangen, wenn nicht im Einzelfall die Aufenthaltserlaubnis entsprechend ihrer Zweckbestimmung nur einen vorübergehenden Aufenthalt zulässt (§§ 8 Abs. 2, 26 Abs. 2 AufenthG). Darüber hinaus erlaubte das alte Recht nicht den direkten Sprung in die Verfestigung. Vielmehr setzte die stärkste Verfestigungsform, die Aufenthaltsberechtigung, regelmäßig einen achtjährigen Besitz der Aufenthaltserlaubnis voraus (vgl. § 27 Abs. 2 Nr. 1 AuslG 1990). Nunmehr erlaubt § 19 Abs. 1 AufenthG, Hochqualifizierten unmittelbar zu Beginn des Aufenthalts im Bundesgebiet die Niederlassungserlaubnis zu erteilen, vermittelt den besonderen Ausweisungsschutz aber erst nach einem fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Im Grundsatz setzt die höchste Verfestigungsstufe indes den fünfjährigen Besitz der Aufenthaltserlaubnis voraus (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Sämtliche Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis müssen im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorliegen.42 Die Niederlassungserlaubnis fasst die früheren Verfestigungsstufen „unbefristete Aufenthaltserlaubnis“ (§ 24 AuslG 1990) und „Aufenthaltsberechtigung“ (§ 27 AuslG 1990) zusammen und regelt einen einheitlichen Verfestigungstitel, der grundsätzlich nach fünf Jahren Besitz der Aufenthaltserlaubnis unter den Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG auf Antrag erworben wird. Das frühere Stufensystem ist damit aufgehoben. Die Niederlassungserlaubnis gilt unbefristet. Die Geltungsdauer ist damit nicht begrenzt und kann auch nicht durch nachträgliche Befristung (§ 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) befristet werden. Ebenso wenig dürfen der Niederlassungserlaubnis zwecks Befristung aufschiebende oder auflösende Bedingungen beigegeben werden, da die Anordnung von Nebenbestimmungen grundsätzlich unzulässig ist (§ 9 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Die Niederlassungserlaubnis berechtigt kraft Gesetzes zur Ausübung jeder nichtselbständigen und selbständigen Erwerbstätigkeit (§ 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt., § 9 Abs. 1 Satz 2 1. Hs. AufenthG) und darf mit Ausnahme eines Verbotes bzw. einer Beschränkung der politischen Betätigung nach § 47 AufenthG (§ 9 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) und einer wohnsitzbeschränkenden Auflage im Falle des § 23 Abs. 2 Satz 2 AufenthG grundsätzlich nicht mit Nebenbestimmungen versehen werden, es sei denn, das AufenthG ordnet diese ausdrücklich an (§ 9 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Die Niederlassungserlaubnis verleiht immer ein eigenständiges Aufenthaltsrecht (Nr. 9.1.1 Satz 3 VAH). Damit löst sich die Akzessorietät des bisherigen Aufenthaltstitels auf. § 8 Abs. 1 AufenthG ist nicht mehr anwendbar. Unklar ist allerdings, ob die Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG ein dauerhaftes eigenständiges Aufenthaltsrecht vermittelt oder konzeptionell an den asylrechtlichen Status gebunden bleibt. Der Fortfall der 42 BVerwG, InfAuslR 2002, 281 (282). 35 Erteilungsvoraussetzungen führt nicht zur Zurückstufung zur befristeten Aufenthaltserlaubnis. Vielmehr kann die Niederlassungserlaubnis nur unter den Voraussetzungen des § 52 AufenthG widerrufen werden. Der Wegfall der Erteilungsvoraussetzungen ist kein Widerrufsgrund. Die Erlöschensgründe des § 51 AufenthG gelten allerdings auch für die Niederlassungserlaubnis. Durch Ausweisung (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) erlischt danach die Niederlassungserlaubnis. Es ist allerdings der erhöhte Ausweisungsschutz zu beachten (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Wer einen längeren, sechs Monate übersteigenden Auslandsaufenthalt beabsichtigt und nicht die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 AufenthG erfüllt, muss zur Vermeidung des Verlusts des Aufenthaltsrechts den Antrag nach § 51 Abs. 1 Nr. 7AufenthG stellen, auf den er einen Sollanspruch hat (§ 51 Abs. 4 AufenthG). Gegen derartige Verlustfolgen schützt letztendlich nur die Einbürgerung. Andererseits setzt die Einbürgerung kein Stufenverhältnis dergestalt voraus, dass vor der Einbürgerung zunächst eine Niederlassungserlaubnis erworben werden müsste (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG). Die Niederlassungserlaubnis wird zumeist aufgrund eines gesetzlich geregelten Rechtsanspruchs erworben. In einigen Sonderfällen steht ihre Erteilung im behördlichen Ermessen (§ 19, § 21 Abs. 4 Satz 2, § 26 Abs. 4 AufenthG). In allen Fällen sind die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG neben den spezifischen Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG zu erfüllen. Für Flüchtlinge, Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte greift jedoch die Ausnahmevorschrift des § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ein. Von den allgemeinen Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG werden in einer Reihe von Fällen bedeutsame Ausnahmen von den einzelnen Voraussetzungen oder insgesamt (vgl. z.B. § 26 Abs. 3 AufenthG) zugelassen. 2. Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis (§ 9 Abs. 2 bis 4 AufenthG a) Allgemeines Die in § 9 Abs. 2 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen sind zusätzlich zu den Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG zu prüfen. Anders als § 5 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AufenthG erkennt § 9 Abs. 2 AufenthG keine atypischen Ausnahmesituationen an, lässt jedoch bedeutsame Ausnahmen im Blick auf einzelne Voraussetzungen kraft Gesetzes zu (§ 19, § 21 Abs. 4, § 23 Abs. 2, § 28 Abs. 2, § 35, § 38 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Die Erteilung der Niederlassungserlaubnis richtet sich in diesen Fällen ausschließlich nach den dort genannten Voraussetzungen und den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5. § 9 Abs. 2 AufenthG ist hingegen auf die Sonderfälle nicht anwendbar (Nr. 9.1.2 Satz 2 und 3 VAH). Für die unbefristete Aufenthaltserlaubnis des alten Rechts hatte das BVerwG entschieden, es bestehe nicht lediglich ein Anspruch auf Erteilung „zu einem beliebigen Zeitpunkt“, sondern auch auf Legalisierung des aufenthaltsrechtlichen Status für die Vergangenheit. 43 Daher konnte ein Antragsteller, der auf seinen Antrag eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis mit Wirkung für die Zukunft erhalten hatte, bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen die unbefristete Erlaubnis auch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der 43 BVerwG, NVwZ 1996, 1225 (1226) = EZAR 017 Nr. 9; BVerwG, NVwZ 1998, 191 (192) = EZAR 015 Nr. 15; BVerwG, NVwZ 1999, 306 = InfAuslR 1999, 69 = AuAS 1999, 26; VGH BW, InfAuslR 1998, 485; ebenso Richter, NVwZ 1999, 726 (727); dagegen Renner, NVwZ 1993, 729 (733). 36 Antragstellung beanspruchen, wenn er ein schutzwürdiges Interesse hieran hatte.44 An dieser Rechtsprechung ist auch für die Niederlassungserlaubnis festzuhalten. Notfalls ist für den Fall, dass über den rechtzeitig mit den gesetzlich geforderten Nachweisen gestellten Antrag nicht unverzüglich entschieden worden ist, auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis ex tunc zu klagen.45 Die rückwirkende Erteilung hat zur Folge, dass der Antragsteller so zu behandeln ist, dass er seit dem Zeitpunkt der Rückwirkung im Besitz der Niederlassungserlaubnis ist. b) Besitz der Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) Grundlegende Voraussetzung für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis ist der ununterbrochene Besitz der Aufenthaltserlaubnis seit fünf Jahren. Hochqualifizierten kann von vornherein eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden (§ 19 Abs. 1 AufenthG). Für Asylberechtigte und Flüchtlinge, selbständig Erwerbstätige sowie deutsch-verheiratete Antragsteller reicht der dreijährige Besitz der Aufenthaltserlaubnis aus. Dabei wird im ersten Fall vorausgesetzt, dass das Bundesamt mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme nicht vorliegen (§§ 26 Abs. 3, 21 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Für die anderen Personen, die aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis besitzen (vgl. § 25 Abs. 3 und 5 AufenthG), sind sieben Jahre Besitz der Aufenthaltserlaubnis gefordert (§ 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Insoweit sind die Anrechnungsregeln des § 26 Abs. 4 Satz 2 und § 102 Abs. 2 AufenthG zu beachten. Bei mehreren Asylverfahren wird nur die Dauer des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unmittelbar vorangegangenen Asylverfahrens berücksichtigt.46 Im Zeitpunkt der Entscheidung muss der Besitz der Aufenthaltserlaubnis noch andauern. Gefordert wird ein ununterbrochener Besitz von fünf Jahren. § 85 AufenthG findet auch im Rahmen des § 9 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG Anwendung.47 Damit wird allerdings nicht die zeitliche Lücke, die durch die kurzfristige Unterbrechung entstanden ist, angerechnet. 48 Denn angerechnet werden können nur rechtmäßige Aufenthaltszeiten. Nicht unterbrochen wird der Besitz der Aufenthaltserlaubnis bei rechtzeitiger Verlängerung der Geltungsdauer wegen der Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG. Im Falle der Versagung der Verlängerung der Geltungsdauer tritt dann keine Unterbrechung ein, wenn die Behörde von sich aus oder aufgrund gerichtlicher Verpflichtung die Geltungsdauer verlängert (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Zeiten des Besitzes eines nationalen Visums werden angerechnet (§ 6 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). Unterbrochen wird der Besitz der Aufenthaltserlaubnis durch einen Auslandsaufenthalt, der nach Maßgabe des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis führt. Reist der Betroffene erneut ein und erhält er eine Aufenthaltserlaubnis, werden auf den anschließend gestellten Antrag auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis die Zeit des früheren Besitzes der Aufenthaltserlaubnis oder Niederlassungserlaubnis, wenn der Antragsteller im Zeitpunkt der Ausreise im Besitz einer Niederlassungserlaubnis war, abzüglich der Zeit der dazwischen liegenden Auslandsaufenthalte, die zum Erlöschen der Niederlassungserlaubnis führten, angerechnet. 44 BVerwG, NVwZ 1999, 306 = InfAuslR 1999, 69 = AuAS 1999, 26; VGH BW, InfAuslR 1998, 485 (486). 45 BVerwG, NVwZ 1999, 306 = InfAuslR 1999, 69 = AuAS 1999, 26; VGH BW, InfAuslR 1998, 485 (486). 46 BVerwG, InfAuslR 1998, 10 (12) = NVwZ 1998, 191 = EZAR 015 Nr. 15. 47 OVG Hamburg, InfAuslR 2000, 71 (73) zur identischen Vorläufernorm des § 97 AuslG 1990; a.A. VGH BW, EZAR 017 Nr. 3; Renner, NVwZ 1993, 729 (733). 48 Günter Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, § 9 AufenthG 11; a.A. Kay Hailbronner, AuslR, § 9 AufenthG Rdn. 6. 37 Angerechnet werden höchstens vier Jahre (§ 9 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AufenthG). Ist die Zeit des Auslandsaufenthaltes länger als die Voraufenthaltszeit, werden danach keine Zeiten angerechnet (Nr. 9.4.3.1 Satz 3 VAH). Ist für die Erlangung der Niederlassungserlaubnis eine kürzere Dauer als fünf Jahre erforderlich, kann bei entsprechend langer Voraufenthaltszeit bereits unmittelbar nach der Einreise die Niederlassungserlaubnis erteilt werden (Nr. 9.4.3.1 Satz 4 VAH). Führt der Auslandsaufenthalt nicht zum Erlöschen des Aufenthaltsrechts, werden höchstens sechs Monate für jeden Auslandsaufenthalt, der nicht zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis führte, angerechnet (§ 9 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG). Die Anrechnung ist nur möglich, wenn der Antragsteller während des Auslandsaufenthaltes im Besitz der Aufenthaltserlaubnis war. War die Aufenthaltserlaubnis während des Auslandsaufenthaltes wegen Ablauf der Geltungsdauer erloschen, kann die Zeit danach nicht angerechnet werden (Nr. 9.4.2 VAH). Daraus folgt, dass ein nur vorübergehender Auslandsaufenthalt, der nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 oder Nr. 7 AufenthG zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis führt, auf die erforderliche Zeit des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG angerechnet wird. Läuft während eines derartigen Auslandsaufenthaltes, der als solcher nicht zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis führt, die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis ab, wird die Zeit danach nicht angerechnet. Die Behörde kann aber nach § 85 AufenthG die Unterbrechung heilen, sodass die Zeit ab Verlängerung der Geltungsdauer berücksichtigt wird. Den Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis stehen diejenigen Zeiten gleich, in denen der Antragsteller zwar keinen Aufenthaltstitel besessen, aber nach der von der Ausländerbehörde oder dem Verwaltungsgericht inzident vorzunehmenden Prüfung einen Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis gehabt hat.49 Nicht angerechnet werden Zeiten der Untersuchungshaft und anschließenden Strafhaft, der fiktiven Abschiebungsaussetzung nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG und der Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Demgegenüber sind nach § 85 AufenthG außer Betracht gebliebene Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes unschädlich, d.h., diese Zeiten sind auf die geforderte Zeit des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis anzurechnen. Auf die Art und Rechtsgrundlage der Aufenthaltserlaubnis kommt es grundsätzlich nicht an. Für generelle Ausnahmen fehlt es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmungen.50 Deshalb eröffnet eine nach dem AufenthG erteilte Aufenthaltserlaubnis unabhängig von dem ihr zugrunde liegenden Erteilungsgrund den Zugang zur Verfestigung. Für die Aufenthaltsbefugnis enthalten § 26 Abs. 4, § 102 Abs. 2, § 104 Abs. 2 AufenthG spezielle Übergangsregelungen. Daraus folgt, dass Zeiten des Besitzes der Aufenthaltsbefugnis nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht berücksichtigt werden können, da die Verfestigung insoweit über § 26 Abs. 4 AufenthG speziell geregelt wird. Unklar war, ob Zeiten des Besitzes der Aufenthaltsbewilligung vor dem 31. Dezember 2004 angerechnet werden können. Die Verwaltungspraxis lehnte dies bislang ab. Der Gesetzgeber hatte zwar zunächst lediglich für die Fortgeltung der Aufenthaltsbewilligung über § 101 Abs. 2 AufenthG eine Übergangsregelung getroffen. Daraus konnten keine Anhaltspunkte für die Anrechnung bei der Verfestigung entnommen werden. Die frühere Rechtsprechung hatte entscheidungserheblich darauf abgestellt, ob der Antragsteller im Zeitpunkt der Behördenentscheidung im Besitz einer verlängerungsfähigen Aufenthaltserlaubnis war. Unter dieser Voraussetzung wurden auch Zeiten einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 4 AAV 49 50 BVerwGE 118, 166 (169), mit Verweis auf BVerwGE 115, 352 (356). Günter Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, § 9 AufenthG 13. 38 angerechnet, obwohl nach § 4 Abs. 6 AAV die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis gesperrt war. Als maßgebend für die Anrechung wurde angesehen, dass „eine Aufenthaltsverfestigung durch jede Eingliederung des Ausländers in das wirtschaftliche und soziale Leben der Bundesrepublik Deutschland“ eintrete. Die für die Fünfjahresfrist maßgebende „Integrationskomponente“ werde auch dadurch erfüllt, dass der Betroffene sich zunächst nur befristet im Bundesgebiet hätte aufhalten dürfen. Eine Unterscheidung nach verschiedenen Aufenthaltszwecken sei mithin nicht geboten.51 Dies spricht dafür, alle Formen der früheren Aufenthaltsgenehmigung bei der Anrechnung unter der Voraussetzung zu berücksichtigen, dass der Betroffene im Zeitpunkt der Entscheidung im Besitz einer verlängerungsfähigen Aufenthaltsgenehmigung war. Nunmehr hat der Gesetzgeber indes bestimmt, dass die Zeit eines rechtmäßigen Aufenthaltes zum Studium oder zur Ausbildung nur zur Hälfte angerechnet wird (§ 9 Abs. 4 Nr. 3 AufenthG). Ursprünglich ließen sich dem AufenthG keine Regelungen entnehmen, die eine Berücksichtigung der Aufenthaltserlaubnis nach § 16 AufenthG im Rahmen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ausschlossen.52 Die Vorschrift des § 9 Abs. 4 Nr. 3 AufenthG ist so gefasst, dass er sowohl die Aufenthaltsbeweilligung des § 28 AuslG 1990 wie auch die Aufenthaltserlaubnis nach § 17, § 17 AufenthG erfasst. c) Sicherung des Lebensunterhalts (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 in Verb. mit § 2 Abs. 3 AufenthG) Der Gesetzgeber erachtet die Unterhaltssicherung für derart zentral, dass er dieses Erfordernis wiederholt, obwohl bereits § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG dies verlangt und bei der Entscheidung über die Niederlassungserlaubnis die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen ohnehin zu beachten sind. Maßgebend für den Begriff der Unterhaltssicherung ist die Legaldefinition in § 2 Abs. 3 AufenthG. Für Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung keine Altersvorsorge leisten können, entfällt die Nachweispflicht (§ 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG). d) Kein Ausweisungsgrund (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) Grundsätzlich sind zusätzlich zu den besonderen Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu berücksichtigen. Daher ist bei der Entscheidung über die Niederlassungserlaubnis auch zu prüfen, ob der Antragsteller für seine Familienangehörigen oder für sonstige Haushaltsangehörige Sozialleistungen in Anspruch nimmt (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2 in Verb. mit § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG). Dabei hat die Ausländerbehörde aber zusätzlich zu prüfen, ob der Sozialleistungsbezug von Familienangehörigen den mit dem abstrakten Regelerteilungsgrund verbundenen Zweck überhaupt berührt. Das kommt dann in Betracht, wenn die begehrte Aufenthaltsverfestigung auch tatsächlich die mit dem Regelerteilungsgrund geschützten fiskalischen Interessen der Bundesrepublik beeinträchtigt. Das ist regelmäßig und typischerweise der Fall, wenn der Ehegatte und die minderjährigen ledigen Kinder des Antragstellers Sozialleistung beziehen, weil deren aufenthaltsrechtlicher Status mit dem Aufenthaltsrecht des Vaters und Ehemannes zusammenhängt und nach § 9 Abs. 3 Satz 1 AufenthG verfestigt wird, falls diesem ein Niederlassungserlaubnis erteilt wird.53 51 52 Nieders.OVG, AuAS 2002, 26 (27). Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, § 9 AufenthG 14; a.A. Nr. 9.2.1.2 VAH. 53 BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142). 39 Eine in diesen Fällen mit der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis notwendigerweise verbundene „Verfestigung“ auch des Sozialleistungsbezugs der Familienangehörigen widerspricht den fiskalischen Interessen der Bundesrepublik. Das muss für alle Fallkonstellationen gelten, in denen die Aufenthaltsverfestigung zugleich Auswirkungen auf die Aufenthaltsrechte von Familienangehörige und andere Personen hat, deren Sozialhilfebezug sich der Antragsteller im Sinne eines abstrakten Regelerteilungsgrundes entgegen halten lassen muss. In allen anderen Fällen jedoch, in denen der aufenthaltsrechtliche Status dieses Personenkreises – und damit auch der den ausländerrechtlichen Anforderungen zuwiderlaufende Sozialleistungsbezug – von der Rechtsstellung des Antragstellers unabhängig ist, werden die fiskalischen Interessen der Bundesrepublik tatsächlich nicht nachteilig betroffen und steht eine teleologische Auslegung der Berücksichtigung des Sozialleistungsbezugs entgegen.54 Das gilt beispielsweise auch, wenn ein deutscher Familienangehöriger des Antragstellers Sozialleistungen in Anspruch nimmt. Unter solchen Umständen kann der nach dem abstrakten Gesetzeswortlaut vorliegende Ausweisungsgrund des „Sozialleistungsbezugs“ in seiner Funktion als Regelerteilungsgrund einer Aufenthaltsverfestigung nicht entgegenstehen. Leiten die ausländischen Eltern ihr Aufenthaltsrecht in keiner Weise von dem Antragsteller ab und hat die Erteilung der Niederlassungserlaubnis weder auf das Aufenthaltsrecht der Eltern des Antragstellers noch auf deren Sozialleistungsbezug Auswirkungen, hat die dem Antragsteller erteilte Niederlassungserlaubnis keine rechtlich oder tatsächlich erhebliche Rückwirkung auf die Situation der Eltern.55 e) Altersvorsorge (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) aa) Anwendungsbereich der Vorschrift § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG lehnt sich an § 27 Abs. 2 Nr. 3 AuslG 1990 an. Neu ist die Anrechnungsregel nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 2. Hs. AufenthG. Im Gesamtergebnis bedeutet diese Regelung aber eine Verschärfung der Verfestigungsregelungen. Da die Zwischenstufe der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis abgeschafft worden ist, für die das Erfordernis der Altersvorsorge nicht galt, wird den Antragstellern, die keine 60 Monate Pflichtbeiträge oder vergleichbare Aufwendungen nachweisen können, die Verfestigung verweigert mit der Folge, dass bis zum Nachweis der Altersvorsorge bei jeder Verlängerung die Ersterteilungsvoraussetzungen nachgewiesen werden müssen (vgl. § 8 Abs. 1 AufenthG). Da der Einbürgerungsanspruch nicht den Nachweis der Altersvorsorge voraussetzt (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG), kann anstelle der Niederlassungserlaubnis die Einbürgerung beantragt Für Asylberechtigte und Flüchtlinge sowie selbständig Erwerbstätige gilt dieses Erfordernis nicht (vgl. § 26 Abs. 3, § 21 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Antragsteller, die vor dem 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis waren, müssen nicht den Nachweis der Altersvorsorge erbringen (§ 104 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Dies gilt auch für Antragsteller, die sich in einer Ausbildung befinden, die zu einem anerkannten schulischen oder beruflichen Bildungsabschluss führt (§ 9 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Maßgebend ist, dass die Schulausbildung mit einem Abschluss endet. Deshalb wird auch der Besuch der Berufsfachschule berücksichtigt, nicht aber ein Praktikum, Volontariat oder 54 55 BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142). BVerwG, InfAuslR 2005, 139 (142 f.). 40 Berufsvorbereitungsmaßnahmen. Die Ausbildung muss sich allgemein für den Abschluss eignen und das Erreichen des Abschlusses darf nicht von vornherein unmöglich sein. Es ist aber keine individuelle Erfolgsprognose anzustellen.56 Ebenso entfällt die Nachweispflicht für Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung keine Altersvorsorge leisten können (§ 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG). bb) Umfang der Altersvorsorge Die Versorgung im Alter braucht anders als der laufende Unterhalt nicht gesichert sein. Anwartschaften müssen aber in der vorgeschriebenen Form und Höhe nachgewiesen werden. Die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG geforderten Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung ergeben eine Anwartschaft auf Leistungen bei Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit sowie Erreichen des Rentenalters. Die ersatzweise zugelassene private Vorsorge muss nach Art und Höhe ähnliche Leistungen gewährleisten. „Vergleichbar“ sind alle Werte. Die private Altersvorsorge muss nach den gegenwärtigen Verhältnissen und Berechnungsmethoden Bezüge erwarten lassen, die ähnlich wie die gesetzliche Rente dem bisherigen Lebenszuschnitt angemessen sind. Die weitere Entrichtung von Beiträgen wird unterstellt, indes nicht verlangt und geprüft. Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung führen zum Erwerb eines Anspruchs auf Rente, einerseits für den Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben mit Erreichen der entsprechenden Altersgrenze sowie andererseits im Falle eines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben infolge Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit. Diese beiden Ansprüche bilden den Maßstab für die Vergleichbarkeit der gesetzlichen mit der privaten Altervorsorge (Nr. 9.3.2.1 Satz 4 VAH). Der Nachweis von Aufwendungen für einen Anspruch auf Versicherungsleistungen, die denen aus der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar sind, setzt nicht voraus, dass der Antragsteller im Zeitpunkt der Erteilung der Niederlassungserlaubnis einen Versorgungsanspruch erworben hat, der den Lebensunterhalt ausreichend sichert. Entscheidend ist, ob unter der Voraussetzung, dass die private Altersvorsorge weitergeführt wird, Ansprüche in gleicher Höhe erworben werden, wie sie entstehen würden. wenn der Antragsteller sechzig Monatsbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet hätte und künftig weitere Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichten würde (Nr. 9.2.3.1 Satz 1 und 2 VAH). Ist der Rentenfall bereits eingetreten, kommt es nur auf die Entrichtung der Beiträge für 60 Monate in der Vergangenheit an. Die Höhe der tatsächlichen Rentenleistungen hat allerdings für die Sicherung des Lebensunterhalts Bedeutung. Grundlage für die Ermittlung sowohl im Blick auf die gesetzliche wie auch auf die private Altersvorsorge ist ein Einkommen, mit dem der Lebensunterhalt des Antragstellers gesichert ist (Nr. 9.2.3.1 Satz 5 VAH). Danach reicht es für den Nachweis der Altersvorsorge aus, dass der Antragsteller im fraglichen Zeitraum ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ausgeübt hat, dessen monatliche Einkünfte oberhalb des sozialhilferechtlichen Regelsatzes liegen. Entsprechendes gilt für die private Altersvorsorge. Anzurechnen sind Zeiten der Kinderbetreuung und der häuslichen Pflege. Voraussetzung ist, dass Ausfallzeiten aufgrund einer Erwerbstätigkeit oder aus sonstigen Gründen versicherungsrechtlich überhaupt anzusetzen sind. Rentenrechtliche Zeiten, die allein durch Kindererziehung angerechnet werden, genügen dann nicht, wenn überhaupt keine Versicherungsansprüche aufgrund eigener Beitragsleistungen im Rahmen einer Erwerbstätigkeit erlangt werden, weil der Antragsteller niemals im Inland aufgrund einer Erwerbstätigkeit Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder an berufsständische 56 Günter Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, § 9 AufenthG 24 41 Versorgungseinrichtungen entrichtet hat oder entsprechend in geeigneter Weise privat Vorsorge getroffen hat (Nr. 9.2.3.2 VAH). f) Straffällige Antragsteller (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG) Der Erteilung der Niederlassungserlaubnis dürfen keine Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung unter Berücksichtigung der Schwere oder der Art des Verstoßes gegen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder eine vom Antragsteller ausgehende Gefahr entgegenstehen. Abzuwägen sind diese Gründe mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts und den im Bundesgebiet bestehenden Bindungen. Damit hat der Gesetzgeber die früheren klaren Regelungen durch eine offene Klausel ersetzt. Es besteht allerdings die Gefahr, dass nunmehr die Ausländerbehörden sich von den früheren Maßstäben lösen werden und auch bei lediglich geringfügiger Straffälligkeit die Niederlassungserlaubnis versagen werden. Dies wäre mit dem Zweck der Neuregelung aber nicht vereinbar. Der Gesetzgeber begründet die neue offene Klausel mit den früheren Unklarheiten. Mit der früheren Regelung habe ein Signal gesetzt werden sollen, dass „erhebliche Straftaten“ den Zugang zur Verfestigung sperrten. Neben der Berücksichtigungsregel bezogen auf geringfügige Straftaten hätte allerdings noch der Regelerteilungsgrund des Vorliegens eines Ausweisungsgrundes geprüft werden müssen. Das Vorhandensein von Ausweisungsgründen hätte danach in der Regel und erhebliche Straftaten oberhalb der in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG a.F. aufgezeigten Grenze stets der Erteilung der Niederlassungserlaubnis entgegengestanden. Anforderungen, die für jede Aufenthaltserlaubnis gegolten hätten, hätten erst recht für die Niederlassungserlaubnis Anwendung finden müssen. Dem habe indes die Rechtsprechung entgegengestanden. Nunmehr werde nach dem Vorbild der Daueraufenthaltsrichtlinie anstelle eines starren Kriteriums eine Abwägung vorgeschrieben. Dadurch würde die Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG der nach § 9a AufenthG angeglichen. g) Ordnungsgemäße Beschäftigung (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG) Arbeitnehmer müssen den Nachweis führen, dass ihre Beschäftigung erlaubt ist. § 18 AufenthG regelt die entsprechenden Voraussetzungen. Arbeitnehmer müssen über einen Aufenthaltstitel verfügen, der ihnen die Beschäftigung erlaubt (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Die Erlaubnis muss unbefristet (z.B. aufgrund einer Vorschrift des AufenthG oder aufgrund des § 46 Abs. 2 BeschV oder § 9 BeschVerfV) vorliegen. Arbeitnehmer im Sinne des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG ist jeder, der eine Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs. 2 AufenthG ausübt. Für Ehegatten und Partner einer lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft genügt es, wenn einer der Partner diese Voraussetzung erfüllt (§§ 9 Abs. 3 Satz 1, 27 Abs. 2 AufenthG). Zwar verweist § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG nicht auf § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG. Das Erfordernis der ordnungsgemäßen Beschäftigung gilt jedoch nur, soweit die an einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung leidenden Antragsteller Arbeitnehmer sind. Diese Auslegung des Gesetzes liegt in der Ratio der Ausnahmeregelungen für diesen Personenkreis. h) Sonstige Berufsausübungserlaubnisse (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 AufenthG) Wie § 24 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1990 verlangt § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 AufenthG, dass der Antragsteller im Besitz der sonstigen für eine dauerhafte Beschäftigung erforderlichen Erlaubnisse ist. Diese Regelung betrifft selbständig erwerbstätige Antragsteller (vgl. auch § 21 AufenthG). Sofern in diesem Zusammenhang für die Ausübung bestimmter Berufe besondere Erlaubnisse (z.B. Notare, Rechtsanwälte, Ärzte, Heilpraktiker, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker, gewerberechtliche Eraubnisse) vorgeschrieben sind, ist der entsprechende 42 Nachweis zu führen. Die Antragsteller müssen danach im Besitz der jeweils erforderlichen besonderen Berufsausübungserlaubnisse für eine dauernde Tätigkeit sein. Einer Dauererlaubnis zur selbständigen Erwerbstätigkeit steht es gleich, wenn die Berufsausübung wie etwa im Einzelhandel ohne Genehmigung erlaubt ist. Die Berufsausübungserlaubnis muss dem Antragsteller eine dauerhafte Berufsausübung erlauben. Ungeachtet einer etwaigen Befristung liegt eine Erlaubnis zur dauernden Berufsausübung vor, wenn durch die Befristung lediglich bezweckt wird, die Berufstauglichkeit erneut zu prüfen (Nr. 9.2.6.2 Satz 1 VAH). Einer Dauererlaubnis zur selbständigen Erwerbstätigkeit steht es gleich, wenn die Berufsausübung wie etwa im Einzelhandel ohne Genehmigung erlaubt ist (Nr. 9.2.6.2 Satz 2 VAH). Für Ehegatten und Partner einer lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft genügt es, wenn einer der Partner diese Voraussetzung erfüllt (§§ 9 Abs. 3 Satz 1, 27 Abs. 2 AufenthG). Zwar wird in § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG nicht auf § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 AufenthG hingewiesen. Den Nachweis sonstiger Berufsausübungserlaubnisse haben jedoch nur die an einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung leidenden Antragsteller zu erbringen, die einer entsprechenden Erwerbstätigkeit nachgehen. Diese Auslegung des Gesetzes liegt in der Ratio der Ausnahmeregelungen für diesen Personenkreis. i) Sprachliche Integrationsvoraussetzungen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG) Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG setzt die Erteilung der Niederlassungserlaubnis voraus, dass der Antragsteller „über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt“. Die Neuregelung bedeutet eine gravierende Verschärfung gegenüber dem alten Recht. Danach setzte die Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Antragsteller über Deutschkenntnisse verfügte, die eine mündliche Verständigung auf einfache Art ermöglichten (vgl. § 24 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990). Für die Aufenthaltsberechtigung wurden keine weiteren Voraussetzungen gefordert. Dazu wurde allgemein die persönliche Vorsprache bei der Behörde verlangt (§ 70 Abs. 4 Satz 1 AuslG 1990). Der Antragsteller brauchte die deutsche Sprache weder zu beherrschen noch Deutsch lesen oder schreiben können. Vorausgesetzt wurde allerdings, dass sich der Antragsteller im Alltagsleben ohne nennenswerte Schwierigkeiten verständigen konnte. Eine schriftliche Sprachprüfung war nicht zulässig. Nunmehr verlangt § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG den Nachweis ausreichender Sprachkenntnisse und gleicht damit die Nachweispflichten den entsprechenden Voraussetzungen im Einbürgerungsverfahren an (§ 11 Nr. 1 StAG). Die Fähigkeit, sich auf einfache Weise mündlich verständigen zu können, reicht nicht aus.185 Der Gesetzgeber bewertet ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache als „wesentliche Integrationsvoraussetzung“ und als Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Danach liegen ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache vor, wenn sich der Antragsteller im täglichen Leben einschließlich der Kontakte mit Behörden in seiner deutschen Umgebung sprachlich zurechtzufinden vermag und mit ihm ein seinem Alter und Bildungsstand entsprechendes Gespräch geführt werden kann. Dazu gehört nach § 3 Abs. 2 IntV auch, dass der Antragsteller einen deutschsprachigen Text des alltäglichen Lebens lesen, verstehen und die wesentlichen Inhalte mündlich wiedergeben kann (Leseprobe). Ein Text des täglichen Lebens ist z.B. ein Zeitungsartikel oder eine Werbebroschüre. Die Definition des zu fordernden Sprachniveaus orientiert sich an dem gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen 43 für Sprachen und wird auf der Stufe B 1 der selbständigen Sprachanwendung festgelegt (Nr. 9.2.7 Satz 6 AufenthG) Die Leseprobe wird durch das Zeugnis über den erfolgreichen Abschluss eines Integrationskurses ersetzt (§ 9 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. §§ 43–45 AufenthG). Allerdings haben nur nach dem In-Kraft-Treten des AufenthG erstmals einreisende Antragsteller Anspruch auf Teilnahme am Integrationskurs (§ 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Bei den anderen Antragstellern wird wie im Einbürgerungsverfahren eine Leseprobe durchgeführt werden. Ist vor dem 1. Januar 2005 ein Antrag auf Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis (§§ 24 ff. AuslG 1990) oder Aufenthaltsberechtigung (§ 27 AuslG 1990) gestellt worden, reicht der Nachweis aus, dass die Verständigung in deutscher Sprache mündlich auf einfache Art (vgl. § 24 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990) möglich ist (vgl. § 104 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Im Falle der Entscheidung gilt der Aufenthaltstitel als Niederlassungserlaubnis (§ 104 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 101 Abs. 1 AufenthG). Ebenso reicht bei den Antragstellern, die am 1.1.2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, die Fähigkeit aus, sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen zu können (§ 104 Abs. 2 AufenthG). Darüber hinaus wird von der erhöhten Sprachkompetenz abgesehen, wenn der Antragsteller sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen kann und zugleich entweder nur einen geringen Integrationsbedarf hat (§ 44a Abs. 3 Nr. 2 AufenthG) oder dessen Teilnahme am Integrationskurs auf Dauer unmöglich oder unzumutbar ist (§ 44a Abs. 2 Nr. 3 AufenthG). Eine zwingende Ausnahmeregelung enthält § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG für Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung ausreichende Sprachkenntnisse nicht nachweisen können. Die Art der Krankheit oder Behinderung muss ursächlich für die fehlende Sprachkompetenz sein. Dieser Vorschrift liegt der Gedanke zugrunde, dass auch behinderten Antragstellern eine Aufenthaltsverfestigung möglich sein muss. In der Gesetzesbegründung wird darauf hingewiesen, dass insoweit Fälle vorkommen, in denen auch durch die sinnvolle Berücksichtigung der spezifischen Einschränkungen bei Art und Inhalt der Prüfungen nicht geholfen werden könne, weil Behinderte überhaupt nicht in der Lage seien, Deutsch zu sprechen oder Kenntnisse der deutschen Gesellschaft zu erwerben. Im Übrigen kann zur Vermeidung einer Härte eine Ausnahme zugelassen werden (§ 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Eine Härte kann z.B. vorliegen, wenn eine körperliche, geistige oder seelische Erkrankung oder Behinderung die Erfüllung oder Voraussetzung zwar nicht unmöglich macht, aber dauerhaft wesentlich erschwert, wenn der Antragsteller bei der Einreise bereits über 50 Jahre alt war, wenn wegen der Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen der Besuch eines Integrationskurses auf Dauer unmöglich oder unzumutbar war. In Betracht kommen auch Fälle nach § 44a Abs. 2 Nr. 3 AufenthG, in denen sich der Antragsteller nicht auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen kann, sodass die Ausnahmeregelung nach § 9 Abs. 2 Satz 5 AufenthG nicht greift. Aus den geltend gemachten nachzuweisenden Gründen muss sich unmittelbar nachvollziehen lassen, dass im Einzelfall eine Erschwernis vorliegt (Nr. 9.2.10.2 VAH). j) Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 AufenthG) Der Nachweis wird durch Vorlage des Zeugnisses über den erfolgreichen Abschluss eines Integrationskurses geführt (§ 9 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Allerdings haben nur nach dem InKraft-Treten des AufenthG erstmals einreisende Antragsteller Anspruch auf Teilnahme am Integrationskurs (§ 44 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Unklar ist, welche Nachweiserfordernisse im 44 Blick auf die anderen Antragsteller bestehen. Auch hier gelten die zwingenden und die nach Ermessen anzuwendenden Ausnahmeregelungen des § 9 Abs. 2 Satz 3–5 AufenthG). Nach § 9 Abs. 2 Satz 2 AufenthG sind die Voraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG nachgewiesen, wenn ein Integrationskurs erfolgreich abgeschlossen wurde. Zur Teilnahme an einem Integrationskurs berechtigt sind jedoch nur die Antragsteller, die erstmals eine Aufenthaltserlaubnis zu den in § 44 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bezeichneten Zwecken oder eine Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2 AufenthG erhalten. Damit entfällt die Berechtigung für die im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Gesetzes rechtmäßig im Bundesgebiet lebenden Ausländer. Für die Niederlassung reicht deshalb die Verständigung in deutscher Sprache mündlich auf einfache Art aus, wenn wegen erkennbar geringen Integrationsbedarfs (§ 44 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG) oder wegen Nachweises der Teilnahme an vergleichbaren Bildungsangeboten im Bundesgebiet (§ 44a Abs. 2 Nr. 2 AufenthG) kein Anspruch auf Teilnahme am Integrationskurs besteht (§ 9 Abs. 2 Satz 5 AufenthG). Darüber hinaus findet auf alle Antragsteller, die am 1. Januar 2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis sind, der herabgestufte Maßstab Anwendung (§ 104 Abs. 2 AufenthG). Deutsch-verheiratete Antragsteller erhalten die Niederlassungserlaubnis abweichend von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG, wenn sie sich auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen können (§ 28 Abs. 2 Satz 1 2. Hs. AufenthG). Eine zwingende Ausnahmeregelung enthält § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG für Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung ausreichende Sprachkenntnisse nicht nachweisen können. Im Übrigen kann zur Vermeidung einer Härte eine Ausnahme zugelassen werden (§ 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Die Ausländerbehörde kann den Antragsteller jedoch unter den Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zur Teilnahme am Integrationskurs auffordern und von der erfolgreichen Teilnahme die Erteilung der Niederlassungserlaubnis abhängig machen. In den Fällen der zwingenden Ausnahmeregelungen der Vorschriften der §§ 9 Abs. 2 Satz 3, 26 Abs. 3, 28 Abs. 2 Satz 1 2. Hs. und 104 Abs. 2 AufenthG hat die Behörde die Aufforderung zu unterlassen und die Niederlassungserlaubnis zu erteilen. Im Übrigen bleibt abzuwarten, wie das Spannungsverhältnis zwischen der humanitären Härteregelung nach § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG und der Aufforderungsmöglichkeit nach § 44a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG sich in der Verwaltungspraxis gestalten wird. Dies wird sicherlich auch von den verfügbaren und zumutbar erreichbaren Kursplätzen abhängen (§ vgl. § 44a Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 1. Hs. AufenthG). Geht die Ausländerbehörde nach § 44a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor und kommt der Antragsteller aus von ihm zu vertretenden Gründen seiner Verpflichtung, am Integrationskurs teilzunehmen, nicht nach, hat dies nicht nur eine zehnprozentige Leistungsverkürzung zur Folge (§ 44a Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Vielmehr wird in diesem Fall die Niederlassungserlaubnis nicht erteilt und kann auch die Verlängerung der befristeten Aufenthaltserlaubnis versagt werden (§ 44a Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 8 Abs. 3 AufenthG). Die Behörde hat den Antragsteller auf diese Folgen seiner verschuldeten Nichtteilnahme hinzuweisen (§ 44a Abs. 3 Satz 1 1. Hs. AufenthG). k) Wohnraumerfordernis (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 i.V.m. § 2 Abs. 4 AufenthG) Der Antragsteller hat den Nachweis zu führen, dass er über ausreichenden Wohnraum für sich und seine Familienangehörigen verfügt (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 AufenthG). Als ausreichender Wohnraum wird nicht mehr gefordert als für die Unterbringung eines Wohnungssuchenden in einer öffentlich geförderten Sozialmietwohnung. Der Wohnraum ist nicht ausreichend, wenn 45 er den auch für Deutsche geltenden Rechtsvorschriften hinsichtlich Beschaffenheit und Belegung nicht genügt (§ 2 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG). Es bleibt damit bei der bisherigen Verwaltungspraxis. Danach muss der Wohnraum einer menschenwürdigen Unterbringung dienen. Eine abgeschlossene Wohnung wird aber nicht verlangt. Eine Gemeinschafts- oder Obdachlosenunterkunft hat allerdings lediglich den Zweck, vorübergehend Abhilfe zu schaffen und wird deshalb als nicht ausreichend angesehen. Eine abgeschlossene Wohnung mit Küche, Bad und WC wird in der Verwaltungspraxis stets als ausreichend angesehen, wenn für jede Person über sechs Jahre zwölf Quadratmeter und für jede Person unter sechs Jahre zehn Quadratmeter zur Verfügung stehen. Eine Unterschreitung der maßgeblichen Wohnungsgröße um bis zu 10 % ist unschädlich. Kinder unter zwei Jahren werden nicht berücksichtigt (§ 2 Abs. 4 Satz 3 AufenthG). Der Wohnraum insgesamt ist maßgebend. Alle in der Wohnung dauerhaft in familiärer Lebensgemeinschaft lebenden Angehörigen sind in Betracht zu ziehen. Zu berücksichtigen sind nur die tatsächlich mit dem Antragsteller zusammenlebenden Familienangehörigen, nicht jedoch der getrennt lebende Ehegatte sowie das volljährige Kind mit eigener Wohnung. Die Nachweispflicht entfällt für Antragsteller, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung keine Altersvorsorge leisten können (§ 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Dies hat der Gesetzgeber zwar nicht ausdrücklich geregelt, dürfte aber in der Ratio der Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG liegen. l) Anfrage bei den Sicherheitsbehörden bei konkreten Zweifeln (§ 73 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) Nach § 73 Abs. 2 Satz 2 AufenthG haben die Ausländerbehörden die bei ihnen gespeicherten personenbezogenen Daten an den BND, den MAD, das Zollkriminalamt, an das Landesamt für Verfassungsschutz, das Landeskriminalamt oder die zuständigen Behörden der Polizei zu übermitteln, wenn dies zur Feststellung von Versagungsgründen gemäß § 5 Abs. 4 AufenthG oder zur Prüfung von Sicherheitsbedenken geboten ist. Nach Nr. 73.2.2 VAH ist diese Vorschrift so zu verstehen, dass vor der Erteilung der Niederlassungserlaubnis zwingend die Nachfrage durchzuführen ist. Diese Interpretation des § 72 Abs. 2 Satz 2 AufenthG steht mit dem Gesetzeswortlaut nicht im Einklang. Danach muss die Datenübermittlung geboten sein. Hätte der Gesetzgeber die Regelanfrage einführen wollen, hätte er dies deutlich z.B. durch Verwendung der Formulierung „in der Regel“ oder durch eine zwingende Anweisung wie in § 37 Abs. 2 StAG für die Einbürgerungsbehörden angeordnet. Der Wortlaut von § 73 Abs. 2 Satz 2 AufenthG lässt nur die Auslegung zu, dass konkrete Anhaltspunkte die Anfrage rechtfertigen müssen. Konkrete Anhaltspunkte können nicht aus der bloßen Staatsangehörigkeit des Antragstellers erschlossen werden. VI. 1. Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (§ 9a bis § 9c AufenthG) Funktion der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten . 46 Mit § 9a bis § 9c AufenthG werden die Vorgaben der Richtlinie 2003/109/EG (Daueraufenthaltsrichtlinie), insbesondere die in Art. 4 bis 8 RL 2003/109/EG enthaltenen Regelungen, umgesetzt. Neben der Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG wird mit § 9a AufenthG die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten eingeführt, die bei Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen erteilt wird. In die Aufenthaltstitel von Drittstaatsangehörigen, welche im Bundesgebiet diese Rechtsstellung besitzen, ist die Bezeichnung „Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG“ einzutragen (vgl. auch § 2 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, Art. 8 Abs. 3 Satz 3 RL 2003/109/EG). Die Daueraufenthaltsrichtlinie führt mit dem Titel „Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG“ einen europäischen Aufenthaltstitel ein.57 Während einerseits Drittstaatsangehörigen, welche den Titel „Erlaubnis zum DaueraufenthaltEG“ im Bundesgebiet erworben haben, damit Mobilität im Gemeinschaftsgebiet vermittelt wird, wird andererseits langfristig Aufenthaltsberechtigten, denen in einem anderen Mitgliedstaat die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilt wurde, nach § 38a AufenthG im Bundesgebiet Mobilität nach Maßgabe der Bestimmungen in Kapitel III der Richtlinie 2003/109/EG gewährt. Die Richtlinie knüpft an die Entstehung eines Daueraufenthaltsrechts andere, zumeist engere Voraussetzungen als sie für die Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG vorgeschrieben sind. Nach der gesetzlichen Begründung soll die Umsetzung der Daueraufenthaltsrichtlinie einerseits nicht zur Folge haben, dass eine Niederlassungserlaubnis nach deutschem Recht unter wesentlich anderen Voraussetzungen als bisher erteilt wird. Der Status eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ist nach den Vorgaben der Richtlinie hinsichtlich der mit ihm verbundenen Rechtsfolgen durchweg mindestens so günstig gestaltet wie die Rechtsstellung eines Inhabers einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG. Es würde deshalb andererseits keinen Sinn machen, wenn Drittstaatsangehörige, die nach der Daueraufenthaltsrichtlinie den Status eines langfristig Daueraufenthaltsberechtigten beanspruchen könnten, diesen unter wesentlich leichteren Voraussetzungen erhalten könnten als die Niederlassungserlaubnis, die nur gleiche oder weniger Rechte vermittele. Daher nutzt der Gesetzgeber mit der Ausgestaltung des § 9a bis § 9c AufenthG die Möglichkeiten, die den Mitgliedstaaten nach der Daueraufenthaltsrichtlinie optional zur Verfügung stehen, um über die Mindestanforderungen hinaus Voraussetzungen an die Verleihung der Rechtsstellung des langfristig Daueraufenthaltsberechtigten festzulegen, insoweit, als diese solchen Bedingungen im Wesentlichen entsprechen, die auch bisher an die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis geknüpft wurden. Bei der Umsetzung der Richtlinie sei auch berücksichtigt worden, dass nach Art. 13 Satz 1 RL 2003/109/EG die Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung dauerhafter oder unbefristeter Aufenthaltstitel günstigere Voraussetzungen als in der Richtlinie vorgesehen einräumen könnten. Die bisher, teils großzügigen Erteilungstatbestände für die Niederlassungserlaubnis (§ 19, § 21 Abs. 4, § 23 Abs. 2, § 26 Abs. 3 und 4, § 28 Abs. 2, § 31 Abs. 3, § 35 und § 38 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) könnten damit aufrechterhalten werden. Bei den an Ehegatten anknüpfenden Privilegierungen (§ 9c Abs. 4 Satz 2 AufenthG) wird deshalb die lebenspartnerschaftliche Gemeinschaft (vgl. § 27 bs. 2 AufenthG) nicht berücksichtigt. 2. Voraussetzungen für die Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten a) Allgemeine Erteilungsvoraussetzungen 57 Christoph Hauschild, ZAR 2003, 350 (353). 47 aa) Allgemeine Grundsätze In § 9a Abs. 2 und 4, § 9b und § 9c AufenthG werden die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen für die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten festgelegt. Nach § 9a Abs. 1 AufenthG ist die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG ein unbefristeter Aufenthaltstitel. Hinsichtlich der entsprechenden Berechtigung finden die Vorschriften über die Erteilung der Niederlassungserlaubnis entsprechend Anwendung (§ 9a Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG wird im Wesentlichen der Niederlassungserlaubnis gleichgestellte (§ 9a Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Erst nach Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten hat der Berechtigte den entsprechenden Status (Art. 4 Abs. 1 RL 2003/109/EG). In der Anwendungspraxis soll die Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten regelmäßig mit der Erteilung eines Aufenthaltstitels mit der Zusatzbezeichnung „Erlaubnis zum DaueraufenthaltEG“ einhergehen. Die Erteilungstatbestände des § 19, § 21 Abs. 4, § 23 Abs. 2, § 26 Abs. 3 und 4, § 28 Abs. 2, § 31 Abs. 3, § 35 und § 38 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG werden durch die Einführung der Daueraufenthalt-EG nicht berührt. Inhaber einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG können die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erwerben, wenn sie zugleich die Voraussetzungen für die Gewährung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erfüllen. Die Daueraufenthaltsrichtlinie enthält lediglich drei Mindestvoraussetzungen, die von allen Mitgliedstaaten einzuhalten sind: Der Nachweis eines ununterbrochenen fünf Jahre dauernden rechtmäßigen Aufenthaltes (Art. 4 Abs. 1), der Nachweis fester und regelmäßiger Einkünfte (Art. 5 Abs. 1 Buchst. a)) sowie der Nachweis einer Krankenversicherung (Art. 5 Abs. 1 Buchst. b)). Die weiteren in Art. 4, 5, 6 und 7 der Richtlinie erwähnten Erteilungsvoraussetzungen sind optional ausgestaltet, werden aber in § 9a bis § 9c AufenthG überwiegend zur Voraussetzung für die Gewährung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten gemacht. bb) Fünfjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet mit Aufenthaltstitel (§ 9a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 AufenthG) Nach § 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG muss sich der Antragsteller seit fünf Jahren im Bundesgebiet aufhalten. Dies entspricht Art. 4 Abs. 1 RL 2003/109/EG, wonach der Antragsteller sich während dieses Zeitraums ununterbrochen rechtmäßig im Mitgliedstaat aufgehalten haben muss. § 9b AufenthG enthält besondere Regelungen über die Anrechnung von Aufenthaltszeiten. Sofern die Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG bereits vor Ablauf der Fünfjahresfrist erworben wird, kann diese nicht zugleich die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten vermitteln. Nach Ablauf der Fünfjahresfrist können nach deutschem Recht privilegierte Antragsteller diese Rechtsstellung allerdings erwerben, sofern die Aufenthaltszeiten anrechenbar (vgl. § 9b AufenthG) sind. Nach der Richtlinie bedeutet „ununterbrochen“, dass Zeiten, in denen der Drittstaatsangehörige sich nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates aufgehalten hat, die geforderte Aufenthaltsdauer nicht unterbrechen und in die Anrechnung einfließen, wenn sie sechs aufeinander folgende Monate nicht überschreiten und insgesamt zehn Monate innerhalb des Zeitraums von fünf Jahren nicht überschreiten (Art. 4 Abs. 3 Abs. 1 RL 2003/109/EG). Dementsprechend werden nach § 9b Satz 1 Nr. 1a AufenthG Zeiten eines Auslandsaufenthaltes angerechnet, in denen der Antragsteller einen Aufenthaltstitel besaß und in denen er sich wegen einer Entsendung aus beruflichen Gründen im Ausland aufgehalten hat, soweit ihre Dauer jeweils sechs Monate nicht überschritten oder die Ausländerbehörde 48 eine Frist nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG bestimmt hat. Alternativ werden nach § 9a Satz 1 Nr. 1b AufenthG Zeiten eines Auslandsaufenthaltes ohne Beschränkung auf berufliche Gründe angerechnet, wenn sie sechs aufeinander folgende Monate und innerhalb eines Zeitraumes von fünf Jahren insgesamt zehn Monate nicht überschreiten. Für die Fälle, in denen der Auslandsaufenthalt aus beruflichen Gründen erforderlich war, macht der Gesetzgeber nicht von Art 4. Abs. 3 Satz 2 RL 2003/109/EG Gebrauch und beschränkt die Anrechnungsfähigkeit von Auslandsaufenthalten wie Art 4. Abs. 3 Satz 1 RL 2003/109/EG auf eine Zeit von insgesamt zehn Monaten. Abweichend von Art 4. Abs. 3 Satz 2 RL 2003/109/EG verlangt § 9b Satz 1 Nr. 1 AufenthG, dass der Antragsteller während des Auslandsaufenthaltes im Besitz eines Aufenthaltstitels gewesen sein muss und macht auch nicht von der auf „spezifische Gründe oder zeitlich begrenzte Ausnahmesituationen“ erweiterten Öffnungsklausel des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 RL 2003/109/EG Gebrauch, sondern schränkt diese Möglichkeit ausschließlich auf „berufliche Gründe“ ein. Solche beruflich bedingten Auslandsaufenthalte führten vor allem höher qualifizierte Ausländer, wie etwa Wissenschaftler, qualifizierte Dienstleister oder Führungskräfte der Wirtschaft durch. Voraussetzung für die Anrechnung sei einerseits, dass berufliche und nicht private Gründe den Hauptanlass für den Auslandsaufenthalt bildeten. Andererseits werde klargestellt, dass die Ausländerbehörde eine verlängerte Wiedereinreisefrist nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG bestimmt haben müsse oder die Dauer jedes einzelnen anzurechnenden Auslandsaufenthaltes sechs Monate nicht überschritten haben dürfe, was die Bestimmung der Wiedereinreisefrist nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG entbehrlich mache. Die Anknüpfung an die Entscheidung der Ausländerbehörde nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG sei erforderlich, um klarzustellen, dass Auslandsaufenthalte, die nach dieser Vorschrift zum Erlöschen des Aufenthaltstitels führen würden, zumindest nach § 9b Satz 1 Nr. 1 AufenthG vollständig anrechnungsfähig seien. Dementsprechend unterbrechen Zeiten eines Auslandsaufenthaltes, die danach nicht angerechnet werden, die Fünfjahresfrist nicht, wenn dieser nicht zum Erlöschen des Aufenthaltstitels geführt hat. Sie werden andererseits aber auch nicht angerechnet (§ 9b Satz 3 2. Hs. AufenthG). Die gesetzliche Begründung ist missverständlich und erweckt den Eindruck, § 9b Satz 1 Nr. 1 AufenthG gehe über § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG hinaus. Dies trifft jedoch nicht zu, weil die Vorschrift den Auslandsaufenhalt auf eine sechs Monate nicht übersteigende Frist (§ 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG) oder auf einen darüber hinausgehenden behördlich genehmigten Auslandsaufenthalt (§ 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG) beschränkt. Der Gesetzgeber will aus beruflichen Gründen bedingte Auslandsaufenthalte gegenüber aus anderen Gründen bedingten Auslandsaufenthalten privilegieren. Selbstverständlich unterbindet § 9b Satz 1 Nr. 1a AufenthG nicht das Recht des Antragstellers die Unterbrechung der Rechtmäßigkeit durch einen Antrag nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG abzuwenden. Angerechnet auf die Frist nach § 9b Satz 1 Nr. 1b AufenthG werden bei nicht beruflich bedingten Auslandsaufenthalten allerdings höchstens zehn Monate, auch wenn im Übrigen der länger als sechs Monate dauernde Aufenthalt wegen der antragsgemäßen behördlichen Genehmigung die Frist von zehn Monaten überschreitet. Lediglich im Hinblick auf die Anrechnung von Auslandsaufenthalten unterscheiden sich damit beruflich bedingte von anders begründeten Auslandsaufenthalten. In beiden Fällen ist allerdings § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG zu beachten, sodass ein längerer als sechs Monate dauernder und nicht behördlich genehmigter Aufenthalt zur Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes führt, die allerdings nach § 85 AufenthG geheilt werden kann. In allen übrigen Fällen endet die Anrechenbarkeit eines Aufenthaltes mit der Ausreise aus dem Bundesgebiet (§ 9b Satz 4 AufenthG). 49 Zeiten eines rechtmäßigen Aufenthalts zum Zweck des Studiums (§ 16 AufenthG) oder der Berufsausbildung (§ 17 AufenthG) werden nur zur Hälfte auf die Fünfjahresfrist nach § 9a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG angerechnet (§ 9b Satz 1 Nr. 4 AufenthG). Damit berücksichtigt der Gesetzgeber die Regelung in Art. 4 Abs. 2 2. Unterabschnitt RL 2003/109/EG. Aus § 9b Satz 1 Nr. 4 AufenthG folgt, dass der Antragsteller im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag nicht lediglich im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 AufenthG sein darf. Vielmehr muss er im Besitz eines nicht den Anwendungsverboten des § 9a Abs. 3 AufenthG zuzuordnenden Aufenthaltstitels sein. Dieses Anwendungsverbot hat seine Rechtsgrundlage in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a) RL 2003/109/EG. Hat der Antragsteller nach Abschluss des Studiums oder der Ausbildung einen nicht dem Anwendungsverbot unterfallenden Aufenthaltstitel erhalten, wird die Zeit, in der er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 oder § 17 AufenthG war, zur Hälfte angerechnet (§ 9b Satz 1 Nr. 4 AufenthG). Die gesetzliche Begründung weist darauf hin, dass zwar an Studenten die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nicht verliehen werden dürfe. Hingegen könnten sie diese beanspruchen, wenn sie nicht mehr Studenten seien, aber sich zu einem anderen Zweck (vgl. § 16 Abs. 4 in Verb. mit §§ 18 ff. AufenthG) im Bundesgebiet aufhielten. Nach § 9b Satz 1 Nr. 2 AufenthG werden Zeiten des früheren Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis und einer Niederlassungserlaubnis, in denen der Antragsteller sich im Bundesgebiet aufgehalten hat, bis zu höchstens vier Jahren angerechnet, wenn er im Zeitpunkt der Ausreise im Besitz einer Niederlassungserlaubnis oder im Bundesgebiet langfristig aufenthaltsberechtigt war, wenn die Niederlassungserlaubnis oder die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten allein wegen eines Aufenthaltes außerhalb des Bundesgebietes oder außerhalb von Mitgliedstaaten oder wegen des Erwerbs der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem anderen Mitgliedstaat erloschen ist. Ehemaligen Inhabern einer Niederlassungserlaubnis, deren Aufenthaltstitel erloschen ist, wird mit der Anrechnungsvorschrift des § 9b Satz 1 Nr. 2 AufenthG der Wiedererwerb der Rechtsstellung unter erleichterten Voraussetzungen ermöglicht. Dasselbe gilt für Antragsteller, die zwar früher keine Niederlassungserlaubnis, wohl aber die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besessen hatten. Zugleich wird damit nach der gesetzlichen Begründung Art. 9 Abs. 4 RL 2003/109/EG umgesetzt, wonach im Falle eines unverschuldeten Verlustes der Rechtsstellung eines dauerhaft Aufenthaltsberechtigten ein vereinfachtes Verfahren vorzusehen ist. Danach ist es für die Wiedererlangung der Rechtsstellung- sofern im Übrigen die allgemeinen Voraussetzungen erfüllt sind – nicht erforderlich, dass die Mindestaufenthaltszeit im Bundesgebiet erneut vollständig zurück gelegt wird, sondern dass bis zu vier Jahre angerechnet werden. Art. 9 Abs. 4 RL 2003/109/EG lässt allerdings eine Einschränkung nach Maßgabe eines Verschuldens nicht zu. Diese Erleichterung betrifft insbesondere Antragsteller, die nur deshalb ihre Rechtsstellung eines im Bundesgebiet langfristig Aufenthaltsberechtigten verloren haben, weil sie sich länger als zwölf Monate außerhalb des Gemeinschaftsgebietes aufgehalten haben (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. c) RL 2003/109/EG), oder weil sie in einem anderen Mitgliedstaat langfristig Daueraufenthaltsberechtigter geworden sind (vgl. Art. 9 Abs. 4 RL 2003/109/EG). Auch Inhaber einer Niederlassungserlaubnis, die vor Umsetzung der Daueraufenthaltsrichtlinie erloschen ist, werden nach § 9b Satz 1 Nr. 2 AufenthG mit erfasst, weil sie bereits nach § 9 Abs. 4 Nr. 1 AufenthG eine vergleichbare Vergünstigung im Blick auf die Niederlassungserlaubnis beanspruchen können. 50 cc) Anrechnungsverbote (§ 9a Abs. 3 bis 5 AufenthG) Die Vorschrift des § 9a Abs. 3 bis 5 AufenthG enthält Anwendungsverbote. Dabei beziehen sich die Anwendungsverbote auf den Aufenthaltstitel. Diese Regelungen setzen Art. 3 Abs. 2 RL 2003/109/EG um. Die betroffenen Personen können aber nachträglich einen anderen, nicht einem Awendungsverbot zuzuordnenden Aufenthaltstitel erlangt haben. Nach § 9a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG darf die Rechtsstellung nicht erteilt werden, wenn der Antragsteller einen Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des AufenthG oder eine vergleichbare Rechtsstellung in einem anderen Mitgliedstaat besitzt. Von diesem Anrechnungsverbot ausgenommen ist die Niederlassungserlaubnis nach § 23 Abs. 2 AufenthG. Der Gesetzgeber sperrt damit auch den Übergang von der nicht akzessorischen Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG zur Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten. Begründet wird dies damit, dass humanitäre Aufenthaltstitel keine geeignete Grundlage für die Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten bildeten. Da die Qualifikationsrichtlinie (RL 2004/83/EG) erst nach der Daueraufenthaltsrichtlinie erlassen worden sei und keine abschließenden Kriterien für den subsidiären Schutz vorsehe, könne sie nicht zu einer gegenteiligen Auslegung führen. § 9a Abs. 3 Nr. 5 AufenthG enthält ein Anwendungsverbot für Aufenthaltstitel, die zu einem lediglich vorübergehenden Zweck den Aufenthalt im Bundesgebiet erlauben. Hierbei handelt es sich um Aufenthaltstitel nach § 18 AufenthG in Verb. mit z.B. § 2, § 6, § 7, § 11, § 12, § 18, § 19, § 20, § 21, § 22, § 26 BeschV (vgl. § 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. a) AufenthG), um nicht verlängerungsfähige Aufenthaltstitel nach § 8 Abs. 2 AufenthG sowie um Aufenthaltstitel, die zur Familienzusammenführung an einen sich lediglich vorübergehend im Bundesgebiet aufhaltenden Stammberechtigten (vgl. § 9a Abs. 3 Nr. bc Buchst. c) AufenthG) erteilt werden. Nicht jeder zur Ausübung einer von vornherein zeitlich beschränkten Beschäftigung erlangte Aufenthaltstitel wird nach Maßgabe des § 8 Abs. 2 AufenthG erteilt, sodass der Gesetzgeber ein eigenständiges Anwendungsverbot in § 9a Abs. 3 Nr. 5b AufenthG für erforderlich erachtet. dd) Sicherung des Lebensunterhaltes (§ 9a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) Nach § 9a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG muss der Antragsteller den Lebensunterhalt für sich und seine mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Angehörigen, denen er Unterhalt zu leisten hat, durch feste und regelmäßige Einkünfte sichern (Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) RL 2003/109/EG). Beziehen der Antragsteller oder ein Familienangehöriger Sozialleistungen, steht dies der Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten entgegen.58 Die weitergehende nationale Vorschrift des § 55 Abs. 2 Nr. 6 in Verb. mit § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, die auch den Sozialleistungsbezug „sonstiger Haushaltsangehöriger“ berücksichtigt, darf nicht herangezogen werden. Vielmehr regelt § 9a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in Umsetzung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) RL 2003/109/EG abschließend diese Frage. Bei der Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ist weiter gehend als bei der Einräumung vorübergehender Aufenthaltsrechte besonders auf die Dauerhaftigkeit und Regelmäßigkeit der Einkünfteerzielung und auf die Sicherung des Lebensunterhaltes der gesamten in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familie als durch Unterhaltspflichten miteinander verbundene Wirtschaftsgemeinschaft und nicht lediglich auf den einzelnen Antragsteller abzustellen. Dies wird durch die gesetzliche Formulierung 58 OVG Hamburg, NVwZ 2006, 229 (230). 51 hervorgehoben. Nach der Systematik der Daueraufenthaltsrichtlinie kann das System eigenständiger und unabhängiger Tatbestandsvoraussetzungen, wie es in § 9 Abs. 2 AufenthG vorgesehen ist, nicht auf § 9a bis § 9c AufenthG übertragen werden. Die Regelungen in § 9a Abs. 2 Nr. 2 in Verb. mit § 9c AufenthG legen im Einzelnen in Form einer Erteilungsvoraussetzung fest, wann der Lebensunterhalt gesichert ist. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, ist davon auszugehen, dass der Lebensunterhalt nicht hinreichend gesichert ist. Danach muss der Antragsteller seine regelmäßigen Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit beziehen und hierfür die erforderlichen Erlaubnisse besitzen (§ 9c Nr. 4 AufenthG). Bei in ehelicher Lebensgemeinschaft lebenden Ehegatten genügt es, wenn diese Voraussetzung durch einen Ehegatten erfüllt wird (§ 9c Satz 1 AufenthG). Der Antragsteller muss darüber hinaus seine steuerlichen und sonstigen abgabenrechtlichen Verpflichtungen nach den Abgabegesetzen erfüllen (§ 9c Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Dies ist anhand einer Bescheinigung des zuständigen Wohnsitzfinanzamtes nachzuweisen. Derartige Bescheinigung stellen die Finanzämter im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge und mit gewerberechtlichen Verfahren aus („Auskunft in Steuersachen“). Steuerrechtliche Unregelmäßigkeiten stellen nach der gesetzlichen Begründung erfahrungsgemäß ein frühes Indiz für eine mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit dar, sodass das Erfordernis der Erfüllung abgabenrechtlicher Verpflichtungen für die Prüfung einer dauerhaften Leistungsfähigkeit des Antragstellers besonders geeignet ist. In Art. 5 RL 2003/109/EG fehlt für dieses Erfordernis eine Rechtsgrundlage. Lediglich nach Erwägungsgrund Nr. 7 können die Mitgliedstaaten Faktoren wie die Erfüllung steuerlicher Verpflichtungen berücksichtigen. Nach § 9c Satz 1 Nr. 2 AufenthG muss der Antragsteller für sich und seinen mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Ehegatten im In- oder Ausland Beiträge oder Aufwendungen für eine angemessene Alterversorgung geleistet haben, etwa in der gesetzlichen Rentenversicherung, in der privaten Altersversicherung, durch eine betriebliche Altersversorgung, oder durch einen grundsätzlich erst im Alter auszahlbaren Sparplan. In Art. 5 RL 2003/109/EG fehlt für dieses Erfordernis eine Rechtsgrundlage. Lediglich nach Erwägungsgrund Nr. 7 können die Mitgliedstaaten Faktoren wie das Alterssicherungssystem berücksichtigen. Anders als § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG regelt § 9c Nr. 2 AufenthG nicht den präzisen Umfang der Altersvorsorge, sondern erfordert lediglich eine angemessene Vorsorge. Die entsprechenden Anforderungen dürfen dem Umfang nicht über § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG hinausgehen. Nach der gesetzlichen Begründung ist im Rahmen der Prognoseentscheidung zu prüfen, ob eine im Hinblick auf das Lebensalter und die bisherige Aufenthaltszeit im Bundesgebiet angemessene Altersvorsorge aufgrund des bisherigen Versicherungsverlaufs zu erwarten ist. Zur Vermeidung von Missverständnissen führt das Gesetz verschiedene denkbare Altersvorsorgesysteme auf, in denen die Alterssicherung auch kumulativ erfolgen kann. Da die Altersvorsorge nach der Daueraufenthaltsrichtlinie ein zwar zulässiges, aber nicht zwingendes Bewertungselement für die Sicherung des Lebensunterhaltes ist, entfällt das Erfordernis der angemessenen Altersversorgung, soweit der Antragsteller aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit diese Voraussetzung nicht erfüllen kann (§ 9c Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Hinsichtlich der Lebensunterhaltssicherung insgesamt ist nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) RL 2003/109/EG eine derartige Ausnahme allerdings nicht vorgesehen. Der Antragsteller muss darüber hinaus für sich und die mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Angehörigen den Nachweis einer Krankenversicherung sowie einer 52 Pflegeversicherung führen (§ 9 c Satz 1 Nr. 3 AufenthG). Diese Regelung setzt Art. 5 Abs. 1 Buchst. b) RL 2003/109/EG um. Qualitativ muss der Krankenversicherungsschutz im Wesentlichen der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen, wobei Abweichungen hinsichtlich einzelner Leistungsdetails unschädlich sind. Der Versicherungsschutz muss unbefristet sein oder sich automatisch verlängern. Der Gesetzgeber will hiermit den Nachweis des Krankenversicherungsschutzes durch neuere Versicherungsprodukte ausschließen, die gezielt an jüngere Zuwanderer zu niedrigen Preisen veräußert werden und eine Krankenversicherung vorsehen, deren Schutz nach zehn oder fünfzehn Jahren automatisch endet. Schließlich muss der Antragsteller für sich und die mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Angehörigen den Nach weis ausreichenden Wohnraums führen (§ 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 AufenthG). Es handelt sich um ein fakultatives Erfordernis (vgl. Art. 7 Abs. 1 2. Unterabsatz RL 2003/109/EG) und ist nach der Systematik der Richtlinie Teil des Nachweises der Lebensunterhaltsicherung nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) RL 2003/109/EG, wird aber nach § 9a Abs. 2 AufenthG als Erteilungsvoraussetzungen geregelt. ee) Integrationsvoraussetzungen (§ 9a Abs. 1 Nr. 3 und 4 AufenthG) Nach § 9a Abs. 2 Satz Nr. 3 und 4 AufenthG sind ausreichende Sprachkenntnisse und das Vorhandensein von Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse nachzuweisen. Die Anforderungen richten sich nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG. Es handelt sich um fakultative Voraussetzungen nach Art. 5 Abs. 2 RL 2003/109/EG. Die Vorschriften des § 9 Abs. 2 Satz 2 bis 5 AufenthG finden entsprechende Anwendung (§ 9a Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Der Nachweis eines erfolgreich abgeschlossenen Integrationskurses reicht danach aus (§ 9a Abs. 2 in Verb. mit § 9 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Soweit der Antragsteller aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit diese Voraussetzungen nicht erfüllen kann, entfällt danach der Nachweis (§ 9a Abs. 2 in Verb. mit § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Ferner wird von dem Nachweis abgesehen, wenn der Antragsteller sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen kann und er keinen Anspruch auf Teilnahme am Integrationskurs hatte oder hierzu nicht verpflichtet wurde (§ 9a Abs. 2 in Verb. mit § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). ff) Ausschlussgrund der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung (§ 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG) Die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten wird nicht erteilt, wenn Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung unter Berücksichtigung der Schwere des Verstoßes gegen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder der vom Antragsteller ausgehenden Gefahr unter Berücksichtigung der Dauer des bisherigen Aufenthalts und dem Bestehen von Bindungen im Bundesgebiet entgegenstehen (§ 9a Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG). Der Ausschlussgrund beruht auf der in Art. 6 RL 2003/109/EG vorgesehenen Öffnungsklausel. Dort ist auch der in der Vorschrift aufgenommene Abwägungsmaßstab geregelt (Art. 6 Abs 1 2. Unterabsatz RL 203/109/EG). Ausdrücklich wird den Mitgliedstaaten aber untersagt, den Ausschluss auf wirtschaftliche Gründe zu stützen (Art. 6 Abs. 2 RL 2003/109/EG). Dies spricht dagegen, die Ausweisungsgründe in § 55 Abs. 2 Nr. 6 und 7 AufenthG in diesem Zusammenhang heranzuziehen. Allerdings können wirtschaftliche Gründe bei der Sicherung des Lebensunterhalts (Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) RL 2003/109/EG) berücksichtigt werden. 53 Nach Erwägungsgrund Nr. 8 kann der Begriff der öffentlichen Ordnung die Verurteilung wegen der Begehung einer schweren Straftat umfassen. Dies spricht dafür, dass nicht jeder geringfügige strafrechtliche Verstoß die Anwendung des Ausschlussgrundes rechtfertigt. Vielmehr muss der Verstoß ein erhebliches Gewicht haben. Insofern kann der in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG a.F. enthaltene Maßstab allenfalls als Mindestgrenze herangezogen werden, dürfte in der Regel die Anwendung des Ausschlussgrundes aber nicht rechtfertigen. 3. Umfang der Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (§ 9a Abs. 1 AufenthG) Dem Antragsteller wird die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG als unbefristeter Aufenthaltstitel erteilt. Die Vorschrift setzt Art. 8 Abs. 2 RL 2003/109/EG um. Maßgebend für die Anwendung von § 9a Abs. 1 AufenthG ist der gesamte Regelungskontext von Art. 8 RL 2003/109/EG. Danach ist vorbehaltlich der Entziehungs- und Verlustgründe des Art. 9 der Richtlinie die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten dauerhaft (Art. 8 Abs. 1 RL 2003/109/EG). Deshalb wird Anspruchsberechtigten eine „langfristige Aufenthaltsberechtigung-EG“ erteilt. Dieser Aufenthaltstitel ist mindestens fünf Jahre gültig und wird – erforderlichenfalls auf Antrag – ohne weiteres verlängert (Art. 8 Abs. 2 RL 2003/109/EG). Die „Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG“ kann in Form eines Aufklebers oder eines besonderen Dokumentes ausgestellt werden (Art. 8 Abs. 3 Satz 1 RL 2003/109/EG). Im Eintragungsfeld „Art des Aufenthaltstitels“ fügen die Mitgliedstaaten die Bezeichnung „(Erlaubnis zum) Daueraufenthalt-EG“ ein (Art. 8 Abs. 3 Satz 3 RL 2003/109/EG). Die Bescheinigung hat entsprechend der Rechtsprechung des EuGH59 zur Freizügigkeit von Unionsbürgern deklaratorischen Charakter. Diese Rechtsprechung ist deswegen auf langfristig Daueraufenthaltsberechtigte anwendbar, weil nach Erwägungsgrund Nr. 2 der RL 2003/109/EG die Rechtsstellung langfristig Aufenthaltsberechtigter an diejenige der Unionsbürger angenähert werden soll und nach Art. 11 RL 2003/109/EG langfristig Aufenthaltsberechtigte auf einer Reihe von Gebieten wie eigene Staatsangehörige behandelt werden.60 Ein Indiz für die lediglich deklaratorische Wirkung der Bescheinigung enthält Art. 9 Abs. 6 RL 2003/109/EG, wonach der Ablauf der Geltungsdauer der Bescheinigung nicht den Entzug oder Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zur Folge hat. Die Aufenthaltserlaubnis berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ 9a Abs. 1 Satz 2 in Verb. mit § 9 Abs. 1 2 1. Hs. AufenthG, Art. 11 Abs. 1 Buchst.a) RL 2003/109/EG). Der Gesetzgeber hat damit nicht von der fakultativen Möglichkeit nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. a) RL 2003/109/EG Gebrauch gemacht und den Zugang zum Arbeitsmarkt den entsprechenden Rechten eigener Staatsangehöriger und Unionsbürger nachgeordnet. Es handelt sich bei der Vorschrift des § 9a Abs. 1 Satz 2 AufenthG um einen Fall nach § 4 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG. Allerdings hat der Gesetzgeber die gebotene Umsetzung des in Art. 11 RL 2003/109/EG) enthaltenen enumerativen, auf dem Grundsatz der Gleichbehandlung beruhenden Katalogs der Rechte von langfristig Aufenthaltsberechtigten61 nur unzulänglich durchgeführt. Mit der Verweisung in § 9a Abs. 1 Satz 3 AufenthG an die an den Besitz einer Niederlassungserlaubnis anknüpfenden Rechte wird der umfassende Katalog des Art. 11 Abs. 59 60 61 EuGHE 1976, 497; EuGHE 1980, 2171. Wohl a.A. Welte, InfAuslR 2007, 45 (47). S. hierzu auch Hauschild, ZAR 2003, 305 (352). 54 1 RL 2003/109/EG ebenfalls nicht vollständig umgesetzt. Die danach zwingend zu gewährenden Rechte gehen weit über den Zugang zum Arbeitsmarkt hinaus und umfassen u.a. auch Rechte im Bereich der Bildung und Ausbildung, der sozialen Sicherheit sowie der Anerkennung bestimmter Zeugnisse (Art. 11 Abs. 1 RL 2003/109/EG). Zwar enthält Art. 11 Abs. 2 RL 2003/109/EG Einschränkungsmöglichkeiten. Diese beziehen sich indes nicht auf langfristig Aufenthaltsberechtigte, deren Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet liegt. Allerdings dürfen die Mitgliedstaaten Sozialhilfe und Sozialschutz auf Kernleistungen beschränken (vgl. Art. 11 Abs. 4 RL 2003/109/EG). Der langfristig Aufenthaltsberechtigte hat freien Zugang zum Bundesgebiet (Art. 11 Abs. 1 Buchst. h) RL 2003/109/EG) Nach Kapitel III hat er das Recht auf Aufenthalt in anderen Mitgliedstaaten nach Maßgabe der dort vorgegebenen Regelungen. Danach erwirbt der Begünstigte mit Verleihung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten das Recht, sich zur Ausübung einer nichtselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit, zur Absolvierung eines Studiums oder einer Berufsausbildung sowie für sonstige Zwecke länger als drei Monate im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten aufzuhalten (Art. 14 Abs. 1 und 2 RL 2003/109/EG). Die Mitgliedstaaten können den Zugang zum Arbeitsmarkt indes einer Arbeitsmarktprüfung unterwerfen und die Vorrangprüfung entsprechend ihrer nationalen Verfahren durchführen (Art. 14 Abs. 3 RL 2003/109/EG). Darüber hinaus können langfristig Aufenthaltsberechtigte für sich und ihre Familienangehörige nach Maßgabe der Regelungen in Art. 15 und 16 RL 2003/109/EG einen Aufenthaltstitel in einem zweiten Mitgliedstaat erwerben. 4. Erlöschensgründe (§ 51 Abs. 9 AufenthG) Die Erlaubnis zum Daieraufenthalt-EG erlischt ausschließlich nach Maßgabe der in § 51 Abs. 9 AufenthG festgelegten Gründe. § 51 Abs. 9 AufenthG setzt Art. 9 RL 2003/109/EG um. Zwingende Verlustgründe sind die Täuschung über die Erteilungsvoraussetzungen, die Ausweisung nach Art. 12 Abs. 1 RL 2003/109/EG sowie ein die Dauer von zwölf hintereinander folgenden Monaten übersteigender Aufenthalt außerhalb des Gemeinschaftsgebietes (§ 51 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 bis 3 AufenthG, Art. 9 Abs. 1 RL 2003/109/EG). Der Hinweis auf die Abschiebungsanordnung in § 51 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar, weil nur die Ausweisung nach Art. 12 RL 2003/109/EG den Verlust der Rechtsstellung bewirkt und die Daueraufenthaltsrichtlinie für eine so weitreichende Maßnahme keine Rechtsgrundlage enthält. Sie wurde zu einem Zeitpunkt verabschiedet, in dem § 58a AufenthG noch nicht einmal Gegenstand des Zuwanderungsdiskurses in Deutschland war. Auch der in Art. 9 Abs. 3 RL 2003/109/EG vorgesehene Verlustgrund, der unterhalb der in Art. 12 Abs. 1 RL 2003/109/EG bestimmten materiellen Ausweisungsschwelle liegt, ist nicht deckungsgleich mit § 58a AufenthG, weil er eine konkrete schwere, vom Berechtigten begangene Straftat voraussetzt. Die Regelung in § 51 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist Spezialregelung gegenüber § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG. Ein längerer als sechs Monate dauernder, nicht behördlich genehmigter Auslandsaufenthalt führt danach nicht zum Erlöschen des Aufenthaltstitels. Hält sich der langfristig Aufenthaltsberechtigte für einen unbestimmten Zeitraum außerhalb des Bundesgebietes, aber innerhalb des Gemeinschaftsgebietes auf, verliert er nicht den Aufenthaltstitel, es sei denn, er hält sich länger als sechs Jahre außerhalb des Bundesgebietes auf (§ 51 Abs. 9 Satz 1 Nr. 4 AufenthG, Art. 9 Abs. 4 2. Unterabs. RL 2003/109/EG) oder ihm ist in einem anderen Mitgliedstaat nach Maßgabe der Art. 23 RL 2003/109/EG die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten verliehen worden (§ 51 Abs. 9 Satz 1 Nr. 5 AufenthG, Art. 9 Abs. 4 RL 2003/109/EG). 55 5. Aufenthaltserlaubnis für langfristig Aufenthaltsberechtigte aus anderen Mitgliedstaaten (§ 38a AufenthG) Nach § 38a Abs. 1 AufenthG wird dem Antragsteller, der in einem anderen Mitgliedstaat die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, wenn er sich länger als drei Monate im Bundesgebiet aufhalten will. Mit der Einführung dieses Rechtsanspruchs setzt der Gesetzgeber die Regelungen in Art. 14 und 15 der Daueraufenthaltsrichtlinie um. Da Art. 14 Abs. 2 Buchst. c) RL 2003/109/EG auch „sonstige Zwecke“ erfasst, erlaubt die Aufenthaltserlaubnis nach § 38a Abs. 1 AufenthG jeden denkbaren Aufenthaltszweck. Art. 22 RL 2003/109/EG steht der Anwendung von § 8 Abs. 2 AufenthG entgegen, d.h. die Verfestigung des Aufenthaltsrechts darf nicht unterbunden werden (vgl. § 38a Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Kurzaufenthalte bis zu drei Monaten werden von der Daueraufenthaltsrichtlinie nicht erfasst. Für die Schengen-Staaten deckt das Recht aus Art. 21 SDÜ die Einreise in das Bundesgebiet für einen kurzfristigen Aufenthalt ab, wenn der Betroffene einen Aufenthaltstitel eines Mitgliedstaates besitzt. Im Blick auf Nichtvertragsstaaten des SDÜ ist für Kurzaufenthalte für die Einreise ein Visum erforderlich. Die Aufenthaltserlaubnis berechtigt nur zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit, wenn die in den § 18 Abs. 2, § 19, § 20 oder § 21 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen erfüllt sind (§ 38a Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Art. 14 Abs. 3 RL 2003/109/EG erlaubt den Mitgliedstaaten, eine Arbeitsmarktprüfung vorzunehmen. Wird die Aufenthaltserlaubnis für ein Studium oder für sonstige Aufenthaltszwecke erteilt, finden die § 16 und § 17 AufenthG jeweils mit der Maßgabe entsprechende Anwendung, dass in Fällen des § 17 AufenthG die Aufenthaltserlaubnis ohne Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit erteilt werden kann (§ 38a Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Eine Zustimmung kann nach Art. 14 Abs. 3 RL 2003/109/EG nur für Erwerbsaufenthalte, nicht aber für Aufenthalte zum Studium oder zur Ausbildung festgelegt werden (§ 38a Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Nur für einen Zeitraum von zwölf Monaten darf die Aufenthaltserlaubnis mit einer Nebenbestimmung nach § 39 Abs. 4 AufenthG versehen werden (§ 38a Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Die Nebenbestimmung bezieht sich auf die von der Ausländerbehörde nach § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vorzunehmende Eintragung. Der Zeitraum beginnt mit der erstmaligen Erlaubnis einer Beschäftigung bei der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis (§ 38a Abs. 4 Satz 2 AufenthG). Diese Vorschrift berücksichtigt Art. 21 Abs. 2 RL 2003/109/EG. Danach sind Nebenbestimmungen nach § 39 Abs. 4 AufenthG zur Erwerbstätigkeit nur für einen Zeitraum von zwölf Monaten erlaubt. Nach Ablauf der Frist muss kein neuer Aufenthaltstitel erteilt werden, sofern in der betreffenden Nebenbestimmung von vornherein festgelegt wurde, dass die Beschränkung zwölf Monate Anwendung findet B. Vorläufiger Rechtsschutz gegen die Versagung der Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels I. Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Versagungsverfügung nach § 80 Abs. 5 VwGO 1. Zulässigkeit des Eilrechtsschutzantrags 56 a) Verfahrensrechtliche Funktion des Antrags auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels Das vorläufige Rechtsschutzsystem im Blick auf die Erteilung und Verlängerung eines Aufenthaltstitels beruht auf den in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG näher beschriebenen aufenthaltsrechtlichen Wirkungen des verwaltungsrechtlichen Antrags. Dementsprechend beurteilt sich insbesondere auch die Zulässigkeit des Eilrechtsschutzantrags nach Maßgabe dieser Wirkungen. Obwohl im Ausgangspunkt ein Verpflichtungsbegehren, ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO das richtige Rechtsmittel, weil dem Antragsteller durch die behördliche Antragsversagung die Vergünstigung der bis dahin bestehenden Aussetzungsoder Erlaubnisfiktion entzogen wird.62 Diese Wirkung lebt nicht wieder auf. Deshalb bezieht der Eilrechtsschutz sich nach Wegfall der aufschiebenden Wirkung (§ 84 Abs. 1 AufenthG) nur auf die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht. An der Zuordnung zum Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ändert dies nichts.63 Daher kann nach übereinstimmender Ansicht nur dann, wenn der Antragsteller noch im Besitz des fiktiven Aussetzungs- oder Aufenthaltsrechtes ist, vorläufiger Rechtsschutz durch einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels und auf Aussetzung der Vollziehbarkeit erreicht werden.64 Daher ist im Rahmen der Zulässigkeit stets zu prüfen, ob der verwaltungsrechtliche Ersterteilungs- oder Verlängerungsantrag aufenthaltsrechtliche Wirkungen ausgelöst hat. Anders als das frühere Recht, das in Duldungsfiktion (§ 69 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990) und in Erlaubnisfiktion (§ 69 Abs. 3 AuslG 1990) unterschied und zwischen dem Antrag auf Ersterteilung und Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung keinen Unterschied machte (vgl. § 69 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AuslG 1990), unterscheidet das geltende Recht bei der Erlaubnisfiktion zwischen dem Antrag auf Ersterteilung (§ 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) und dem Antrag auf Verlängerungsentscheidung oder Zweckänderung (§ 81 Abs. 4 AufenthG). Beim Antrag auf Ersterteilung differenziert das Gesetz zwischen dem während des rechtmäßigen Aufenthaltes gestellten Antrag, der die Erlaubnisfiktion begründet (§ 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG), und dem verspätet gestellten Antrag, durch den die Aussetzungsfiktion bewirkt wird (§ 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Eine derartige Unterscheidung wird beim Verlängerungsantrag nicht gemacht. Vielmehr begründen alle Verlängerungsanträge, und damit auch die verspätet gestellten, die Erlaubnisfiktion (§ 81 Abs. 4 AufenthG). b) Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 81 Abs. 3 AufenthG) Beantragt ein Antragsteller, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen, die Erteilung eines Aufenthaltstitels, gilt sein Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt (§ 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Die Voraussetzungen für die Begründung der Erlaubnisfiktion sind damit die rechtmäßige Einreise und der rechtmäßige Aufenthalt sowie der fehlende Besitz eines Aufenthaltstitels. 62 Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); Hess. VGH, EZAR 030 Nr. 5; VGH BW, InfAuslR 1992, 168; VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (297); Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384) = NVwZ-Beil. 2003, 90; VG Wiesbaden, Hess. VGRspr. 1998, 87; Hess.VGH, NVwZ 2006, 111, VGH BW, InfAuslR 2007, 59 (61); beide für § 81 Abs. 4 AufenthG. 63 Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384) = NVwZ-Beil. 2003, 90. Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; 22 Nr. 5; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); Hess. VGH, EZAR 030 Nr. 5; Hess. VGH, InfAuslR 1999, 189 (190); VGH BW, EZAR 024 Nr. 7; VGH BW, InfAuslR 1992, 168; 1992, 352; VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (297); OVG Hamburg, NVwZ-RR 1996, 709; OVG NW, EZAR 030 Nr. 2; OVG MV, NVwZ-RR 1997, 256; VG Wiesbaden, Hess. VGRspr. 1998, 87; Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 51; Funke-Kaiser, in: GK-AuslR, § 69 AuslG Rn 50. 64 57 Erfasst werden damit ausschließlich die Fälle nach § 15 bis § 30 AufenthV. Der mit einem Visum einreisende Antragsteller, das einen dauerhaften Aufenthalt erlaubt, reist hingegen mit einem Aufenthaltstitel ein. Der anschließend im Inland gestellte Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels ist rechtlich ein Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels bzw. auf Zweckänderung, welcher die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG auslöst. Da der Gesetzgeber das Visum ausdrücklich als Aufenthaltstitel bezeichnet, ist in diesem Fall in der Antragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ein Verlängerungsantrag zu sehen (vgl. auch § 39 Nr. 1 AufenthV). Auch der sichtvermerkspflichtige Drittstaatsausländer, der mit einem Besuchervisum einreist, reist mit einem Aufenthaltstitel ein (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG). In diesem Fall löst unabhängig von den damit verbundenen materiellen Folgen der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zunächst die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG aus. Es handelt sich um einen Antrag auf Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels (Zweckänderung). Nach § 81 Abs. 4 AufenthG werden beide Anträge einheitlichen Rechtswirkungen unterworfen. Der Gesetzgeber wollte mit den Neuregelungen bewusst die überdifferenzierten Regelungen des früheren Rechts aufheben. Die Fälle, in denen ein Aufenthaltstitel nach der Einreise eingeholt werden kann, sind in § 39 bis 41 AufenthV geregelt. Danach handelt es sich um Antragsteller, die ohne ein Visum einreisen und nach der Einreise den Antrag stellen dürfen. Der Streit in der früheren Rechtsprechung, ob die Einreise ohne das erforderliche Visum unerlaubt ist und deshalb keine Erlaubnisfiktion begründet, ist nach geltendem Recht überholt. Die Wirkungen eines derartigen Antrags regelt § 81 Abs. 4 AufenthG. Der Gesetzgeber will, dass allen Antragstellern, die ohne Visum rechtmäßig einreisen und anschließend den Antrag auf Ersterteilung des Aufenthaltstitels stellen dürfen, unabhängig von ihren subjektiven Vorstellungen bei der Einreise hinsichtlich ihres weiteren Aufenthaltes, die Erlaubnisfiktion zugute kommt. Insbesondere visumfreie Drittstaatsausländer nach Anhang II der EUVisaVO reisen rechtmäßig ein, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen. Für den Eintritt der Fiktionswirkung ist allein maßgebend, dass der Antragsteller sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Dies ist für die Geltungsdauer des visumfreien Aufenthaltes (vgl. Art. 20 SDÜ) der Fall. Im Übrigen ist der Antrag „unverzüglich“ (vgl. § 81 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), also ohne schuldhaftes Verzögern, zu stellen. Für die Fälle des § 41 Abs. 1 und 2 AufenthV ist der Antrag innerhalb von drei Monaten nach der Einreise zu beantragen (§ 41 Abs. 3 AufenthV). Wird der Antrag verspätet gestellt, greift die Aussetzungsfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ein. Der Aufenthalt gilt bis zur behördlichen Entscheidung als erlaubt (§ 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Der Eintritt der Fiktionswirkung ist nicht davon abhängig, dass der Antrag bei der für den Antragsteller örtlich zuständigen Ausländerbehörde gestellt wird.65 Im zeitlichen Rahmen ihrer Geltung ist die Erlaubnisfiktion räumlich unbeschränkt und berechtigt den Antragsteller zur Wiedereinreise. Der Antragsteller erhält eine Fiktionsbescheinigung (§ 81 Abs. 5 AufenthG). Die Geltungsdauer der Bescheinigung hat keinen Einfluss auf den kraft Gesetzes bis zur behördlichen Entscheidung (vgl. § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) als erlaubt geltenden Aufenthalt. Vielmehr hat die Bescheinigung lediglich deklaratorische Funktion.66 Versäumt der Antragsteller innerhalb des zeitlichen Rahmens der Erlaubnisfiktion die Beantragung der Verlängerung der Fiktionsbescheinigung, ist dies ohne Einfluss auf die Rechtmäßigkeit seines Aufenthaltes. Die Fiktionswirkung ist antragsbezogen. Entscheidet die Ausländerbehörde nicht über den Antrag und lehnt stattdessen einen zu einem früheren Zeitpunkt gestellten Antrag ab, beseitigt dies nicht die eingetretene Fiktionswirkung.67 65 66 67 OVG NW, InfAuslR 2001, 515 (516). OVG Bremen, InfAuslR 2004, 154 (155); s. auch VG Potsdam, AuAS 2004, 54. VG Aachen, InfAuslR 2001, 22. 58 Wird der Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels abgelehnt, wird dem Antragsteller damit eine ihn aufenthaltsrechtlich begünstigende Position genommen, so dass er den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stellen kann. Fraglich ist, ob die Behörde dem visumfrei einreisenden Drittstaatsausländer in materiell-rechtlicher Hinsicht die Umgehung der Visumvorschriften entgegenhalten darf. Verfahrensrechtlich ist ihr dies wegen der eindeutigen Regelung des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht erlaubt. Materiell-rechtlich kann sie nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vorgehen und nach Ermessen entscheiden, ob der Verweis auf das Visumverfahren angemessen ist. Von § 81 Abs. 3 AufenthG nicht erfasst sind Antragsteller, die unerlaubt eingereist, z. B. sichtvermerkspflichtige Drittstaatsangehörige ohne Sichtvermerk, oder aufgrund eines vollziehbaren Verwaltungsaktes ausreisepflichtig sind, weil in diesen Fällen kein rechtmäßiger Aufenthalt (§ 81 Abs. 3 AufenthG), aber auch kein Aufenthaltstitel (§ 81 Abs. 4 AufenthG) vorliegt. Der Fall, dass der Antragsteller nach der Ablehnung seines Antrages vor der Ausreise einen weiteren, den früheren Antrag bloß wiederholenden Antrag stellt (vgl. § 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AuslG 1990), fällt nicht unter den Schutzgehalt der Erlaubnisfiktion (Nr. 81.3.4 VAH). Bei einem bloß wiederholenden Antrag kann daher die Fiktionsbescheinigung nicht ausgestellt werden. c) Antrag auf Verlängerung oder Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels (§ 81 Abs. 4 AufenthG) aa) Funktion der Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG Nach § 81 Abs. 4 AufenthG gilt der bisherige Aufenthalt des Antragstellers vom Zeitpunkt des Ablaufs der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels bis zur ausländerbehördlichen Entscheidung als fortbestehend. Die Vorschrift geht davon aus, dass für den Eintritt der Fiktionswirkung der Besitz eines Aufenthaltstitels maßgebend ist. Dies folgt aus der Formulierung „seines Aufenthaltstitels“ und „bisheriger Aufenthaltstitel“. Wer ohne Aufenthaltstitel, etwa als sichtvermerksfreier Drittstaatsausländer, erlaubnisfrei einreisen darf, dessen Antrag entfaltet eine der in § 81 Abs. 3 AufenthG geregelten Fiktionswirkungen. Wer mit Aufenthaltstitel einreist und anschließend den Antrag stellt, kann sich auf die Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG berufen. Wer ohne Erlaubnis und ohne Aufenthaltstitel einreist, reist illegal ein. Der nachträglich gestellte Antrag entfaltet keine Fiktionswirkung. Unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG und § 39 Nr. 5 AufenthV kann die Ausländerbehörde jedoch über diesen Antrag entscheiden. Der Wortlaut des § 81 Abs. 4 stellt allein auf den Besitz des Aufenthaltstitels ab, unterscheidet damit nicht zwischen dem Visum zu Besuchszwecken und dem Visum zu einem längerfristigen Aufenthalt. Auch der Antrag des Antragstellers, der zwar mit einem Visum, jedoch nicht mit dem für den angestrebten Aufenthaltszweck erforderlichen Visum (vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 31 AufenthV) einreist, entfaltet die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AuslG. Zwar ist die Einreise mangels erforderlichen Aufenthaltstitels unerlaubt (§ 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Der Gesetzeswortlaut des § 81 Abs. 4 AufenthG ist indes eindeutig. Der Eintritt der Fiktionswirkung ist allein davon abhängig, dass der Antragsteller mit einem Aufenthaltstitel eingereist ist und anschließend dessen Verlängerung oder Zweckänderung beantragt.68 Damit ist die frühere Rechtsprechung überholt, die verneinte, dass der im 68 Hess.VGH, NVwZ 2006, 111 (111 f.) = InfAuslR 2005, 304 = EZAR 28 Nr. 1 = AuAS 2005, 134. 59 Bundesgebiet zu einem anderen Aufenthaltszweck gestellte Antrag die Erlaubnisfiktion auslöste.69 Die Rechtsprechung berief sich auf den Ausschlussgrund der unerlaubten Einreise (§ 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AuslG 1990), der auch auf die Erlaubnisfiktion Anwendung fand (vgl. § 69 Abs. 3 Satz 3 AuslG 1990). Demgegenüber verbietet der eindeutige Wortlaut des § 81 Abs. 4 AufenthG eine derart einschränkende Auslegung. Der Gesetzgeber hat für diese Fälle jedoch das Verteilungsverfahren nach § 15a AufenthG eingeführt. Danach werden unerlaubt eingereiste Antragsteller vor der Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung oder die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf die Länder verteilt (§ 15a Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Eine Weiterleitung ist in den Fällen des § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG ausgeschlossen. Im Übrigen ist vor einer Weiterleitungsentscheidung eine Ermessensentscheidung zu treffen.70 In der Sache steht dem Verlängerungsantrag jedoch regelmäßig die fehlende allgemeine Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG entgegen. Allerdings kann dieser Mangel nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG geheilt werden. In aussichtslosen Verfahren sollte zur Vermeidung einer Durchführung des Verteilungsverfahrens das Antragsverfahren vom Ausland aus durchgeführt werden. Der Gesetzgeber erachtet die Einführung der bloßen Erlaubnisfiktion in den Fällen des § 81 Abs. 4 AufenthG nicht für ausreichend, da damit insbesondere die Frage der Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit offen bliebe. Durch die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG gilt vielmehr der bisherige Aufenthaltstitel mit allen sich daran anschließenden Rechtswirkungen bis zur behördlichen Entscheidung als fortbestehend (Nr. 814.1 VAH). Eine Erlaubnisfiktion wäre in diesen Fällen nicht ausreichend, da damit insbesondere die Frage der Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit offen bliebe. Sonderregelungen, die diese Frage im sozialrechtlichen Bereich punktuell klären müssten, werden hierdurch entbehrlich. Vielmehr ist die Frage damit für das gesamte Sozialrecht geklärt (Nr. 81.4.1 S. 2 und 3 VAH). Der Aufenthaltstitel bleibt fiktiv, mit dem aktuellen Inhalt, auch hinsichtlich etwaiger Beschränkungen bestehen und ist daher Veränderungen ebenso zugänglich wie zuvor. So sind z.B. nachträgliche Nebenbestimmungen nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zulässig. bb) Anwendungsbereich der Fortgeltungsfiktion Die Wirkungen der Fortgeltungsfiktion treten nicht nur im Falle der beantragten Verlängerung des bisherigen Aufenthaltstitels, sondern auch bei der Beantragung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Zweck ein. Entweder soll die Geltungsdauer des Aufenthaltstitels ohne Veränderung des Erteilungsgrundes verlängert (Verlängerung) oder es soll der Erteilungsgrund verändert (Zweckänderung) werden. Ein Wechsel des Aufenthaltstitels findet einerseits bei einer Änderung des Erteilungsgrundes, aber auch bei einem Formwechsel, z.B. vom Visum zur Aufenthaltserlaubnis oder von der Aufenthaltserlaubnis zur Niederlassungserlaubnis statt. Der Antragsteller erhält eine Fiktionsbescheinigung (§ 81 Abs. 5 AufenthG). Da es sich indes um ein gesetzliches Aufenthaltsrecht handelt, hat die Geltungsdauer der lediglich deklaratorischen Bescheinigung keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des verfahrensabhängigen Aufenthaltrechtes. Beantragt der Antragsteller deshalb verspätet die 69 Hess. VGH, InfAuslR 1993, 67 (69); Hess. VGH, InfAusR 1993, 71 (72 f.); Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 18; OVG Hamburg, EZAR 622 Nr. 12; OVG NW, NVwZ 1991, 910; OVG NW, InfAuslR 1991, 232; OVG NW, InfAuslR 1994, 138; OVG SH, InfAuslR 1992, 125; a.A. Nr. 58.1.1.3.2 AuslG-VwV; Hofmann, InfAuslR 1991, 351; Ott, ZAR 1994, 76 (78 f.); Pfaff, ZAR 1992, 117 (120); Hailbronner, AuslR, § 58 AuslG Rn 18; offen gelassen BVerwGE 100, 287 (290) = NVwZ 1997, 189 = InfAuslR 1996, 294. 70 Hess.VGH, AuAS 2006, 158 (159). 60 Verlängerung der Geltungsdauer der rechtzeitig beantragten Bescheinigung, ist dies insoweit unschädlich (vgl. § 81 Abs. 4 AufenthG). Erst mit Bekanntgabe der Versagungsverfügung wird die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts unterbrochen (§ 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Wird dem Antrag stattgegeben, erhält der Antragsteller den neuen Aufenthaltstitel mit den dazu gehörigen Berechtigungen oder wird der Aufenthaltstitel mit den bestehenden Berechtigungen verlängert. In beiden Fällen ist keine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit eingetreten. Die Fortgeltungsfiktion hat zur Folge, dass der Antragsteller so behandelt wird, als bestehe der Aufenthaltstitel mit den konkreten Nebenbestimmungen auch hinsichtlich der Erwerbstätigkeit fort. Bei einem Verlängerungsantrag ändert sich die Rechtsstellung damit nicht und setzt diese sich bei einer Antragsstattgabe ohne Veränderung fort. Begehrt der Antragsteller hingegen einen anderen Aufenthaltstitel, so gilt der bisherige Aufenthaltstitel bis zu Bescheidung über den Antrag auch dann fort, wenn der Antragsteller ihn tatsächlich wegen Veränderung der Verhältnisse nicht nutzen kann, z.B. nach Verlust des Arbeitsplatzes und der Aussicht auf eine andere Stelle oder nach Beendigung einer Ausbildung und bei Aussicht auf eine Anstellung. Den erst beantragten Titel mit seinen Berechtigungen besitzt der Antragsteller erst nach Antragsstattgabe.71 cc) Verspätete Antragstellung Im Falle der verspäteten Antragstellung bleibt es aber bei der Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes. Umstritten ist, ob der verspätete Antrag nach § 81 Abs. 4 AufenthG die Fortgeltungsfiktion auslöst. In der Endphase des Vermittlungsverfahrens wurde die für den verspäteten Antrag ursprünglich vorgesehene Aussetzungsfiktion gestrichen. Für die Interpretation, der Gesetzgeber habe damit ausdrücklich festhalten wollen, dass es zu den Obliegenheiten der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländer gehöre, rechtzeitig eine Verlängerung des Antrags zu beantragen (Nr. 81.4.2.2 Satz 2 VAH), kann den Gesetzesmaterialien nichts entnommen werden. Der Gesetzeswortlaut ist nicht eindeutig. Zwar legt er nahe, dass die durch Antrag ausgelöste Fortgeltungsfiktion an einen im Zeitpunkt der Antragstellung noch gültigen Aufenthaltstitel anknüpft.72 Der Gesetzeswortlaut lässt aber auch die Auslegung zu, dass der bisherige Aufenthaltstitel vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis zur behördlichen Entscheidung als fortbestehend gilt, wenn der Antragsteller die Verlängerung oder Zweckänderung beantragt. Das ist auch bei verspäteter Antragstellung der Fall,73 sodass in diesem Fall die Antragstellung rückwirkend die Fortgeltungsfiktion an den Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels anknüpft. Die Richtigkeit dieser Auslegung folgt nicht nur aus dem Wortlaut, wonach das Fortbestehen des Aufenthaltstitels allein davon abhängt, dass der Antragsteller denselben oder einen anderen Aufenthaltstitel beantragt, sondern folgt auch aus der Gesetzessystematik und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes.74 Zu unterscheiden ist insoweit zwischen den verfahrens- und materiell-rechtlichen Wirkungen des verspäteten Antrags: Die an die Verspätung anknüpfenden differenzierenden Regelungen in § 81 Abs. 3 AufenthG in Verbindung mit der Nichtdifferenzierung in den Fällen der bereits förmlich erteilten Aufenthaltserlaubnis in § 81 Abs. 4 AufenthG indiziert, dass alle Anträge – die rechtzeitigen wie die verspäteten – die selben Wirkungen auslösen sollen. Auch erscheint es sachlich kaum nachvollziehbar, solchen säumigen Antragstellern kein vorläufiges Aufenthaltsrecht und nicht 71 72 73 Günter Renner, AuslR, § 81 AufenthG Rdn. 17. Günter Renner, AuslR, § 81 AufenthG Rdn. 18. OVG NW, AuAS 2006, 143; OVG NW, InfAuslR 2006, 448 (449 f.); VG Darmstadt, InfAuslR 2005, 467. 74 VG Darmstadt, InfAuslR 2005, 467. 61 einmal den Duldungsstatus zuzuerkennen, die schon viele Jahre im Bundesgebiet leben und hier integriert sind, hingegen säumige Antragsteller mit vorläufigen Verbleibsrechten auszustatten, die nur über den vergleichsweise schwachen Aufenthaltsstatus des visumfrei einreisenden Touristen verfügen.75 Durch Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels wird der Aufenthalt unrechtmäßig (§ 50 Abs. 1 AufenthG). Kraft der Regelung des § 84 Abs. 4 AufenthG wird der unrechtmäßige Aufenthalt mit der Antragstellung erneut rechtmäßig.76 Die nach Ablauf der Geltungsdauer des bisherigen Aufenthaltstitels eintretende Unsicherheit kann der Antragsteller damit jederzeit durch die Antragstellung beseitigen. Die Probleme erheblich befristeter Verlängerungsanträge können dadurch gelöst werden, dass die beantragte Verlängerung noch einen unmittelbaren Bezug zum abgelaufenen Aufenthaltstitel haben muss, d.h. die Verspätung darf nur so geringfügig sein, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Ablauf der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels und der Antragstellung gewahrt ist.77. Ein Antrag auf Verlängerung, der erst Wochen oder sogar Monate nach Ablauf des ursprünglichen Titels gestellt wird, wäre dann ein Antrag auf Erteilung eines neuen Aufenthaltstitels.78 Weder die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 AufenthG noch die Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG kann bei verspäteter Antragstellung durch einen Wiedereinsetzungsantrag erlangt werden.79 In materiell-rechtlicher Sicht tritt keine Unterbrechung ein, wenn die Behördenentscheidung durch die Behörde selbst oder durch das Gericht aufgehoben wird (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Im Falle des verspäteten Antrags hilft § 85 AufenthG weiter. Danach können Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes bis zu einem Jahr außer Betracht bleiben. Dies hatte die frühere Rechtsprechung im Hinblick auf den verspäteten Antrag unter Bezugnahme auf die identische Vorschrift des § 97 AuslG 1990 entschieden.80 Nach den vorläufigen Anwendungshinweisen kann säumigen Antragstellern für die Fälle, in denen die verspätete Antragstellung aus bloßer Nachlässigkeit und nur mit einer kurzen Zeitüberschreitung erfolgt, in entsprechender Anwendung des § 81 Abs. 5 AufenthG eine Fiktionsbescheinigung mit der Rechtsfolge des § 81 Abs. 4 AufenthG ausgestellt werden. Der Antragsteller habe dazu Tatsachen vorzutragen und glaubhaft zu machen, die belegen, warum ihm eine rechtzeitige Antragstellung nicht möglich war. Damit könnten die vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Rechtsfolgen eines sofortigen Beschäftigungsverbotes in den Fällen vermieden werden, in denen bereits eine längerfristige Zustimmung zur Beschäftigung erteilt worden sei, also nur der aufenthaltsrechtliche Teil des Aufenthaltstitels eine kürzere Befristung enthielt, oder in den Fällen, in denen z.B. nach § 6 BeschVerfV (Fortsetzung der Beschäftigung) oder § 9 BeschVerfV (Vorbeschäftigungszeiten/längerfristiger Voraufenthalt) ohne Arbeitsmarktprüfung (nur „Lohnprüfung“) eine Zustimmung zur Fortsetzung der bisher ausgeübten Beschäftigung erfolgen könne (Nr. 81.4.2.3 VAH). Zu Recht wird gegen diese Lösung auf die Titelfunktion des § 81 Abs. 4 AufenthG hingewiesen. Die Fiktionsbescheinigung ist unmittelbare Folge der gesetzlichen Regelung 75 VG Darmstadt, InfAuslR 2005, 467 (468); ebenso Klaus Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139). Klaus Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139). 77 OVG NW, InfAuslR 2006, 448 (449 f.) = AuAS 2006, 143. 78 Klaus Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139). 79 OVG NW, AuAS 2006, 143. 80 Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 16; Hess. VGH, InfAuslR 1996, 133 (134); Hess. VGH, InfAuslR 2002, 426 (428); a.A. OVG NW, AuAS 2006, 143; s. auch BVerwG, InfAuslR 1997, 391 (394). 76 62 und hat deshalb rein deklaratorischen Charakter. Ihr Eintritt kann nicht von der Ausübung des behördlichen Ermessens abhängig gemacht werden.81 Dogmatisch überzeugender ist deshalb die Lösung über die Rückwirkung verspäteter Anträge. Da der Gesetzgeber im Vermittlungsverfahren die für § 81 Abs. 3 wie für Abs. 4 AufenthG gleichermaßen vorgesehene differenzierende Lösung für die Fortgeltungsfiktion aufgehoben hat und entsprechend dem Charakter des Vermittlungsverfahrens keine Gesetzesmaterialien Aufschluss über den Grund für die gesetzgeberische Entscheidung liefern, bedarf es einer an der Titelfunktion des § 81 Abs. 4 AufenthG orientierten Auslegung. Die Rückwirkung verspäteter Anträge widerspricht nicht dem Wortlaut des Gesetzes, ist gesetzessystematisch (vgl. § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) wie auch insbesondere durch eine zweckgerichtete Auslegung gefordert. Ist der Betroffene im Besitz einer assoziationsrechtlichen Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 haben Aufenthaltserlaubnis (§ 4 Abs. 5 AufenthG) wie Beschäftigungserlaubnis lediglich deklaratorische Funktion. Bei geringfügigen Zuwiderhandlungen gegen verfahrensrechtliche Obliegenheiten dürfen die Mitgliedstaaten keine unverhältnismäßigen Sanktionen treffen, welche eine Beeinträchtigung der assoziationsrechtlichen Rechtsstellung zur Folge hätte.82 Auf eine verspätete Antragstellung kann es deshalb nicht ankommen. dd) Ausschluss der Fortgeltungsfiktion Ist der Antragsteller bereits ausgewiesen oder aufgrund eines sonstigen Verwaltungsaktes ausreisepflichtig geworden und noch nicht ausgereist, ist mit Bekanntgabe des entsprechenden Verwaltungsaktes die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes erloschen (vgl. § 51 Abs. 1 AufenthG). Damit kann der bisherige Aufenthaltstitel die von § 81 Abs. 4 AufenthG vorausgesetzte Möglichkeit der Begründung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes nicht mehr vermitteln. Das gilt auch, wenn der Antragsteller nach der Ablehnung seines Antrags und vor der Ausreise einen neuen Antrag stellt. Mit der Versagungsverfügung endet die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG und der Antragsteller wird ausreisepflichtig (vgl. § 50 Abs. 1 AufenthG), so dass dem nachträglich vor der Ausreise gestellten Antrag keine verfahrensrechtlichen Wirkungen mehr zukommen können. Der Fall, dass der Antragsteller nach der Ablehnung seines Antrages vor der Ausreise einen weiteren, den früheren Antrag bloß wiederholenden Antrag stellt (vgl. § 69 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AuslG 1990), fällt damit nicht unter den Schutzgehalt der Fortgeltungsfiktion (Nr. 81.3.4 VAH). Bei einem bloß wiederholenden Antrag kann daher die Fiktionsbescheinigung nicht ausgestellt werden. e) Form des Eilrechtsschutzantrags (§ 80 Abs. 5 VwGO) Gegen die behördliche Versagung der beantragten Ersterteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels ist vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig. Denn durch die Verfügung wird dem Antragsteller – wie ausgeführt – die Vergünstigung der bis dahin bestehenden Aussetzungs- oder Erlaubnisfiktion entzogen.83 Da der Rechtsbehelf keinen Suspensiveffekt entfaltet (vgl. § 84 Abs. 1 AufenthG), kann der Gefahr der Vollziehung für 81 Günter Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, § 81 AufenthG Rdn. 24; Klaus Dienelt, InfAuslR 2005, 136 (139). 82 OVG NW, InfAuslR 2007, 96 (97); VG Karlsruhe, NVwZ-RR 2007, 202. Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 19; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); Hess. VGH, EZAR 030 Nr. 5; VGH BW, InfAuslR 1992, 168; VGH BW, NVwZ-RR 1995, 295 (297); Thür. OVG, InfAuslR 2003, 383 (384) = NVwZ-Beil. 2003, 90; VG Wiesbaden, Hess. VGRspr. 1998, 87. 83 63 den Fall, dass die Behörde die bundesweit üblichen Stillhalteabkommen84 nicht einhalten will, mit einem Antrag auf Erlass eines Hängebeschlusses begegnet werden. Muster : Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen die Versagungsverfügung An das Verwaltungsgericht Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO des türkischen Staatsangehörigen – Antragsteller – gegen den Oberstadtdirektor – Antragsgegner – wegen Ausländerrecht Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Ablehnung des Antrags auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis anzuordnen. Zugleich wird beantragt, dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt ist (Stillhaltezusage). f) Antrag auf Erlass eines Hängebeschlusses Es ist in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannt, dass im Eilrechtsschutzverfahren eine Zwischenentscheidung beantragt werden kann, mit dem Ziel, bis zur endgültigen Eilrechtsentscheidung eine befristete vorläufige Aussetzung des angefochtenen Verwaltungsaktes zu erlassen.85 Im Ausländerrecht kann daher der Antrag gestellt werden, der Behörde aufzugeben, bis zur gerichtlichen Entscheidung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen.86 Der Antrag ist zulässig, wenn auf andere Weise der durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geforderte wirksame Rechtsschutz nicht gewährleistet ist. Materielle Voraussetzung ist, dass nicht eine offensichtliche Aussichtslosigkeit des Eilrechtsschutzantrags zu bejahen ist und dem Antragsteller ein Sicherungsbedürfnis zur Seite steht.87 Das Sicherungsbedürfnis ist zu bejahen, wenn zu befürchten ist, dass die Behörde vor dem gerichtlichen Eilrechtsbeschluss vollendete Tatsachen schaffen wird.88 Die in der Praxis regelmäßig üblichen Stillhalteabkommen89 sind nicht bindend und stehen der Zulässigkeit des 84 85 OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479; OVG Saarlouis, NVwZ-RR 1993, 391; OVG SA, InfAuslR 1999, 344; OVG SA, InfAuslR 2005, 421Schoch, in: Schoch/Schmitt-Aßmann/Pfitzner, VwGO-Kommentar, § 80 Rn 242 ff.; Redeker/v. Oertzen, VwGO-Kommentar, § 80 Rn 54. 86 OVG SA, InfAuslR 1999, 344. 87 OVG Saarlouis, NVwZ-RR 1993, 391; OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479. 88 OVG Saarlouis, NVwZ-RR 1993, 391. 89 OVG Hamburg, NVwZ-RR 1999, 73.. 64 Hängebeschlusses nicht entgegen, wenn dargelegt wird, dass die Ausländerbehörde in Abweichung von einer derartigen Praxis die Vollziehung eingeleitet hat. Hat die oberste Landesbehörde einen generellen Hinweis an die untergeordneten Behörden gegeben, dem zufolge keine Verpflichtung besteht, ohne entsprechenden gerichtlichen Beschluss von der Abschiebung abzusehen, ist es Zweck einer gerichtlichen vorläufigen Regelung, eventuell für den endgültigen Beschluss noch fehlende Sachverhaltsumstände aufzuklären oder die rechtliche Problematik aufzuarbeiten.90 Auch im Verfahren vor dem Beschwerdegericht besteht eine derartige gerichtliche Befugnis. 91 Lassen sich die Erfolgsaussichten des Eilrechtsschutzantrags ohne nähere Aufklärung des Gesundheitszustandes des Antragstellers nicht beurteilen und ist wegen Überlastung der Gesundheitsämter die Durchführung eines Untersuchungstermins nicht absehbar, bedarf es allerdings keines Hängebeschlusses. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht in diesem Fall in der Sache zu entscheiden.92 Hat der Antragsteller ärztliche Atteste vorgelegt, die seine Reiseunfähigkeit bescheinigen oder eine schwerwiegende gesundheitliche Erkrankung belegen, ist dem Antrag daher auch ohne amtsärztliche Bestätigung stattzugeben. Muster : Antrag auf Erlass eines „Hängebeschlusses“ An das Verwaltungsgericht Antrag auf Erlass eines „Hängebeschlusses“ des türkischen Staatsangehörigen – Antragsteller – gegen den Oberstadtdirektor – Antragsgegner – wegen Ausländerrecht Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt, bis zur endgültigen Entscheidung über den am gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO – Az. – die Behörde einstweilen zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen. Zugleich wird beantragt, dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt ist (Stillhaltezusage). Der Antragsteller hat beim beschließenden Verwaltungsgericht Eilrechtsschutz gegen die ihm drohende Abschiebung durch den Antragsgegner beantragt. Ich verweise auf das Verfahren . Die Behörde hat telefonisch ausdrücklich erklärt, sie werde ungeachtet des anhängigen 90 OVG SA, InfAuslR 1999, 344. 91 OVG SA, InfAuslR 1999, 344; a.A. Schoch, in: Schoch/Schmitt-Aßmann/Pfitzner, VwGO-Kommentar, § 80 Rn 243. 92 OVG Hamburg, NVwZ 1989, 479. 65 Verfahrens die Abschiebung vollziehen. Der Antragsteller ist schwer traumatisiert. Ich verweise auf die im Eilrechtsschutzverfahren eingereichten zahlreichen psychiatrischen und psychologischen Atteste. Die Behörde wendet ein, ohne amtsärztliche Bestätigung erkenne sie das vorgebrachte Abschiebungshindernis nicht an. Eine Untersuchung beim städtischen Gesundheitsamt werde wegen Überlastung indes erst in zwei Monaten durchgeführt. Solange sei ein Zuwarten angesichts des öffentlichen Vollzugsinteresses nicht zumutbar. Sollte das Verwaltungsgericht sich ungeachtet der zahlreichen vorgelegten Atteste nicht zu einer Entscheidung in der Sache in der Lage sehen, besteht Anspruch auf Erlass einer Zwischenentscheidung. 2. Begründetheit des Antrags a) Gemeinschaftsrecht Der Widerspruch eines Unionsbürgers wie der des einem Drittstaat angehörenden Ehegatten hat nach § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung, da § 84 Abs. 1 AufenthG keine Anwendung findet (vgl. § 11 FreizügG/EU).93 Dies gilt nicht bei Verlustfeststellungen nach § 6 freizugG/EU (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 5 FreizügG/EU). Ebenso begründet die Versagung der deklaratorischen Aufenthaltserlaubnis eines türkischen Assoziationsberechtigten nach § 4 Abs. 5 AufenthG keine vollziehbare Ausreisepflicht. Es bedarf deshalb im Falle der Versagungsverfügung keines Eilrechtsschutzes. Dies kann durch entsprechenden Feststellungsantrag im Eilrechtsschutzverfahren festgestellt werden.94 Zwar bedürfen Unionsbürger für die Einreise und für den Aufenthalt keines Visums. Die Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, bedürfen nach deutschem Recht indes eines Visums, sofern dies durch Rechtsvorschriften vorgesehen ist (§ 2 Abs. 4 FreizügG/EU). Demgegenüber hat der EuGH zwar das Recht der Mitgliedstaaten anerkannt, von mit einem Unionsbürger verheirateten Drittstaatsangehörigen für die Einreise den Besitz eines Visums zu fordern. In Anbetracht der Bedeutung, die das Gemeinschaftsrecht dem Schutz des Familienlebens beigemessen hat, ist indes die Zurückweisung unverhältnismäßig und damit untersagt, wenn der mit einem Unionsbürger verheiratete Drittstaatsangehörige seine Identität und die Ehe nachweisen kann. Ebenso wird durch die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis und erst recht durch die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates, die ausschließlich darauf gestützt werden, dass der Betroffene gesetzliche Formalitäten im Blick auf die Ausländerüberwachung nicht erfüllt hat, der Kern des unmittelbar durch Gemeinschaftsrecht verliehenen Aufenthaltsrechts angetastet, was in keinem Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung steht.95 Ergibt sich aus den Umständen, dass die Behörde den Suspensiveffekt nicht beachtet, ist in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO der Antrag auf Feststellung, dass der Widerspruch aufschiebende Wirkung hat, zulässig.96 Denn in Fällen, in denen die Behörde die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs nicht anerkennt, kann gerichtlicher Rechtsschutz in Form der Feststellung der aufschiebenden Wirkung als Weniger zur Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung erlangt werden.97 93 S. hierzu auch VG Potsdam, InfAuslR 2004, 57. VG Karlsruhe, NVwZ-RR 2007, 202; ebenso OVG NW, InfAuslR 2007, 96 (97). 95 EuGH, InfAuslR 2002, 417(419) – MRAX v. Belgien; EuGH, AuAS 2003, 38 (39 f.) = InfAuslR 2002, 417 = EZAR 814 Nr. 8. 94 96 97 OVG Hamburg, AuAS 2000, 63; VG Darmstadt, InfAuslR 1999, 391 (392). VG Cottbus, AuAS 2004, 77. 66 Muster: Eilrechtsschutz gegen die Versagungsverfügung gegenüber Unionsbürgern An das Verwaltungsgericht In dem Verwaltungsstreitverfahren … wird unter Vollmachtsvorlage beantragt, analog § 80 Abs. 5 VwGO festzustellen, dass der Widerspruch vom… gegen die Verfügung der Stadt … vom… aufschiebende Wirkung hat. Zugleich wird beantragt, dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt ist (Stillhaltezusage). b) Keine eingeschränkte Prüfungsbefugnis Eine der früheren Regelung des § 71 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990 ähnliche Regelung ist dem geltenden Recht fremd. Nach dem früheren Recht konnten Rechtsbehelfe gegen die Versagung der Aufenthaltsgenehmigung vor der Ausreise nur darauf gestützt werden, dass der Versagungsgrund (§ 8 AuslG 1990) nicht vorliegt.98 Folglich wurde durch die Umgehung der Visumbestimmungen durch Täuschung über den wahren Einreisezweck der Einwand ausgeschlossen, dass eine Ausnahme oder Befreiung zu Unrecht nicht gewährt oder aus anderen Gründen die Aufenthaltserlaubnis hätte erteilt werden müssen.99 Nach allgemeiner, freilich nicht unbestrittener Ansicht war damit die Rüge fehlerhafter Ermessensausübung nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG 1990 im Rechtsbehelfsverfahren nicht zulässig.100 Nach geltendem Recht überprüft das Verwaltungsgericht im Eilrechtsschutzverfahren die Versagungsverfügung im vollen Umfang in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Beruft die Ausländerbehörde sich in der Versagungsverfügung auf den Mangel der Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, zielt die gerichtliche Kontrolle zunächst auf die tatsächlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift. Im Übrigen ist die Prüfung darauf beschränkt, ob der Ausländerbehörde bei der Verweigerung, nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vorzugehen, Ermessensfehler unterlaufen sind. Zur Ermessenskontrolle gehört auch die Überprüfung der von der Behörde zugrunde gelegten Tatsachen. 98 BVerwGE 75, 20 (25) = InfAuslR 1987, 1. VGH BW, InfAuslR 1992, 168 (170); s. auch OVG Bremen, InfAuslR 1995, 107 (109). 100 OVG Rh-Pf, InfAuslR 1993, 124 (125); VGH BW, InfAuslR 1992, 168 (170); 1993, 14 (15); Hess. VGH, InfAuslR 1993, 67 (69); Hailbronner, AuslR, § 9 AuslG Rn 6; Renner, AuslR, S. 295; a.A. VGH BW, EZAR 020 Nr. 1; OVG Bremen, InfAuslR 1998, 107 (108); Nieders. OVG, Beschl. v. 4.5.1999–13 M 1664, 2014/99: Kontrolle der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig; ebenso VG Stuttgart, InfAuslR 1999, 201 (203). 99 67 c) Allgemeine Entscheidungskriterien Das Verwaltungsgericht überprüft bei Rechtsansprüchen summarisch im vollen Umfang die Versagungsverfügung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Bei Ermessensentscheidungen überprüft das Verwaltungsgericht zunächst, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ermessensentscheidung von der Behörde vollständig und hinreichend zuverlässig festgestellt worden sind. Für die weitere Prüfung finden die Grundsätze zur umfassenden Interessenabwägung Anwendung. Das öffentliche Interesse gebietet danach den sofortigen Vollzug nicht, wenn die Klage offensichtlich begründet ist.101 Umgekehrt besteht kein überwiegendes privates Interesse, wenn die angefochtene Verfügung voraussichtlich rechtmäßig ist. Lassen sich im summarischen Eilrechtsschutzverfahren die Erfolgsaussichten nicht eindeutig beurteilen, muss unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse des Einzelfalls eine Abwägung der gegenseitigen Interessen vorgenommen werden: „Die Entscheidung des Gerichts nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO beruht gleichermaßen auf einer Interessenabwägung. Das Gericht prüft mithin im Falle einer gesetzlich vorgesehenen sofortigen Vollziehbarkeit, ob wegen der Besonderheit des Einzelfalles ein privates Interesse an der aufschiebenden Wirkung vorliegt, das gegenüber den im Gesetz in diesen Fällen unterstellten öffentlichen Interessen an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes überwiegt.“102 Dabei haben die individuellen Interessen im Rahmen einer Verlängerungsentscheidung regelmäßig stärkeres Gewicht als bei der erstmaligen Beantragung eines Aufenthaltstitels. Auch im Falle der erstmaligen Beantragung können indes wegen der Schwierigkeiten und hohen Kosten der Wiedereinreise die privaten Interessen überwiegen. Die gesetzliche Anordnung des Wegfalls der aufschiebenden Wirkung (vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in Verb. mit § 84 Abs. 1 AufenthG) führt nicht dazu, dass grundsätzlich ein Überwiegen der öffentlichen Interessen anzunehmen ist.103 Auch im Eilrechtsschutzverfahren kann im Übrigen die Gehörsrüge geltend gemacht werden, wobei das Beruhenserfordernis entfällt.104 3. Wirkung des stattgebenden Beschlusses Die gerichtliche Anordnung der Aussetzung der Vollziehung bewirkt nicht ein Wiederaufleben der Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG).105 Vielmehr wird durch die behördliche Antragsablehnung die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes unterbrochen (vgl. § 51 Abs. 1 AufenthG) und besteht Ausreiseverpflichtung (§ 50 Abs. 1 AufenthG). Die gerichtliche Anordnung setzt lediglich die Vollziehbarkeit (§ 58 Abs. 2 AufenthG) aus,106 d.h., die Ausreisefrist wird unterbrochen. Diese Unterbrechung 101 102 Hess. VGH, EZAR 022 Nr. 5. OVG SH, InfAuslR 1991, 340. 103 BVerfGE 69, 220 (229); OVG SH, InfAuslR 1991, 340 (341); Funke-Kaiser, in: GK-AuslR, § 69 AuslG Rn 72; Hailbronner, § 69 AuslG Rn 63; Renner, Ausländerrecht in Deutschland, S. 914. 104 VGH BW, InfAuslR 1999, 337 wegen Verwertung von Erkenntnisquellen zu Bosnien und Herzegowina, die nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt worden waren. 105 VG Stuttgart, NVwZ-RR 2000, 250 (251); VG Aachen, InfAuslR 2006, 456 (457). Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (778); OVG Hamburg, NVwZ-RR 1995, 709 (710): Entscheidung für die Vollziehbarkeitstheorie; Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 53; a.A. VG Stuttgart, InfAuslR 2000, 77 (78) = NVwZ-RR 2000, 250: Die Anordnung bewirkt nur, dass Vollziehungsmaßnahmen unzulässig sind. 106 68 entbindet den Betroffenen zwar nicht von seiner Ausreiseverpflichtung, hindert indes, dass die zur Abschiebung berechtigenden und verpflichtenden Wirkungen des § 50 Abs. 2 AufenthG eintreten. Überdies eröffnet sie für den Betroffenen den weiteren Vorteil, dass die Ausreisefrist nach Wiedereintritt der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht erneut zu laufen beginnt.107 Die Wiederherstellung der früheren aufenthaltsrechtlichen Position kann erst im Hauptsacheverfahren erreicht werden (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Allerdings führt die Antragststattgabe zur Fiktion des Fortbestehens des zuvor innergehabten Aufenthaltstitels für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ vgl. § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Die aufenthaltsrechtliche Fortgeltungsfiktion lebt indes nicht wieder auf.108 Dem Bettroffenen ist eine Bescheinigung über die ihm nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zustehenden Rechte auszustellen.109 II. Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO 1. Zulässigkeit des Antrags Liegen die Voraussetzungen für eine der drei Fiktionswirkungen nach § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG nicht vor, kann einstweiliger Rechtsschutz nicht über § 80 Abs. 5 VwGO, sondern nur über § 123 VwGO erreicht werden.110 Die Umdeutung eines nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellten Antrags in einen Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig.111 Es ist jedoch zu bedenken, dass die Gerichte bei anwaltlich vertretenen Rechtsuchenden häufig eine Umdeutung des Antrags ablehnen. Der Antrag nach § 123 VwGO kann dahin gehen, die Ausländerbehörde zu verpflichten, im Hinblick auf einen Anspruch auf Erteilung des Aufenthaltstitels oder auf Duldung die Abschiebung zeitweise bis zur Entscheidung über den verwaltungsrechtlichen Antrag auszusetzen und eine Duldungsbescheinigung (§ 60a Abs. 4 AufenthG) auszustellen.112 Im Hinblick auf den Streit in der Rechtsprechung und das Risiko, dass die Umdeutung des fehlerhaft gestellten Antrags abgelehnt wird, ist gegebenenfalls die hilfsweise Antragstellung empfehlenswert. Muster : Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung und – hilfsweise – auf Erlass einer einstweiligen Anordnung An das Verwaltungsgericht 107 108 109 VGH BW, AuAS 2003, 220 (221). VG Aachen, InfAuslR 2006, 456 (457). OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 60 (62);VG Aachen, InfAuslR 2006, 456 (457): 110 Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (779); Hess. VGH, InfAuslR 1993, 67; 1991, 272 (273); VGH BW, InfAuslR 1992, 352; OVG Hamburg, EZAR 622 Nr. 12; OVG MV, NVwZ-RR 1997, 256; VG Darmstadt, InfAuslR 1999, 391 (393); Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 66; Funke-Kaiser, in: GK-AuslR, § 69 AuslG Rn 77; offengelassen: VGH BW, NVwZ-RR 1995, 294. 111 OVG Hamburg, InfAuslR 1999, 447 (448); a.A. OVG Berlin, AuAS 2004, 138 (139). 112 Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 9; Hess.VGH, AuAS 2006, 158 (159); OVG Hamburg, EZAR 622 Nr. 12. 69 Antrag des türkischen Staatsangehörigen – Antragsteller – gegen den Oberstadtdirektor – Antragsgegner – wegen Ausländerrecht Unter Vollmachtsvorlage wird beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom gegen die Ablehnung des Antrags auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vom anzuordnen. hilfsweise: den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, bis zur Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom von Abschiebungsmaßnahmen abzusehen. Zugleich wird beantragt, dem Antragsgegner mitzuteilen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, dass bis zur einer gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren die Abschiebung ausgesetzt ist (Stillhaltezusage). 2. Begründetheit des Antrags Im Rahmen der Begründetheit fehlt es hinsichtlich des behaupteten Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels regelmäßig bereits am Anordnungsanspruch, weil der Aufenthaltstitel nicht nach der Einreise während eines illegalen Aufenthalts beantragt werden kann und gegen die ablehnende Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG keine Ermessensfehler geltend gemacht werden können. Ob dies auch dann gilt, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels offensichtlich erfüllt sind,113 erscheint fraglich. Denn die Heilungsmöglichkeit nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG setzt keinen rechtmäßigen Aufenthalt voraus. Da diese im Vergleich zum früheren Recht weitaus flexibler gestaltet ist und pragmatische Lösungen ermöglicht, erscheint die frühere restriktivere Rechtsprechung überholt. Allerdings ist der Einwand des grundsätzlichen Verbotes der Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung überzeugend auszuräumen. Sicherungsfähig kann jedenfalls ein Anspruch auf Erteilung der Duldungsbescheinigung sein, wenn das Vorliegen eines Duldungsgrundes nach § 60a Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG glaubhaft gemacht werden kann. Die bloße Möglichkeit der Duldung genügt nicht. 114 113 So zum früheren Recht Hess. VGH, EZAR 622 Nr. 18; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (779); VG Darmstadt, InfAuslR 1999, 391 (393); Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 69; Funke-Kaiser, in: GK-AuslR, § 69 AuslG Rn 83: 114 Hess. VGH, EZAR 019 Nr. 1; 622 Nr. 18; Hess. VGH, NVwZ-RR 1998, 777 (779); OVG Hamburg, InfAuslR 1999, 447 (448); OVG NW, NVwZ-Beil. 1999, 99 = InfAuslR 1999, 451; Hailbronner, AuslR, § 69 AuslG Rn 70. 70 III. Hauptsacheverfahren Wird während des anhängigen Verfahrens der gewöhnliche Aufenthalt in den Bezirk eines anderen Rechtsträgers verlegt und stimmt die nunmehr zuständige Behörde der Fortführung des Verfahrens durch die bisherige Behörde nach § 3 Abs. 3 VwVfG (des Landes) nicht zu,115 kommt die isolierte Anfechtungsklage in Betracht, weil mit der Aufhebung die Fiktionswirkung wieder auflebt.116 Das Begehren auf Erteilung des Aufenthaltstitels ist nach Durchführung des Vorverfahrens (§ 68 VwGO) mit der Verpflichtungsklage zu verfolgen. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Frage, ob die für die Erteilung des Aufenthaltstitels maßgebenden Rechtsvoraussetzungen vorliegen, ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.117 Dieser Zeitpunkt ist auch im Falle der Ermessensreduzierung maßgebend.118335 Umstritten ist der Beurteilungszeitpunkt bei Ermessensentscheidungen insbesondere auch in Ansehung von § 114 Satz 2 VwGO: Fraglich ist, ob die auf die letzte Verwaltungsentscheidung abstellende Rechtsprechung119 in Anbetracht der Auflösung fester verwaltungsprozessualer Formen in den letzten Jahren noch Anwendung finden kann. Jedenfalls hat das Verwaltungsgericht bei einer Ermessensreduzierung auch nach dem Widerspruchsbescheid eintretende Umstände zu berücksichtigen.120338 C. Struktur des Asylverfahrens I. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Im Asylverfahren hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), das bis zum In-Kraft-Treten der entsprechenden Vorschriften des ZuwG Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hieß, eine Monopolzuständigkeit für asyl- und ausländerrechtliche Entscheidungen im Asylverfahren. Es prüft die Voraussetzungen für die Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG, § 1 Abs. 1 AsylVfG, den Flüchtlingdschutz nach § 3 Abs. 4 AsylVfG in Verb. mit § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 in Verb. mit § 13 AsylVfG) und den subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG und trifft die entsprechende Sachentscheidung (§ 31 AsylVfG). Die asylrechtliche Sachentscheidung erlässt nicht mehr wie früher ein insoweit weisungsunabhängiger Bediensteter des Bundesamtes (§ 5 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG a. F.). Vielmehr wird durch § 5 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in der jetzt geltenden Fassung bestimmt, dass das Bundesamt als solches die Entscheidung nach Art. 16a Abs. 1 GG und § 3 Abs. 4 AsylVfG trifft. Für die Entscheidung über den subsidiären Schutzstatus nach § 60 Abs. 2 bis 7 AsylVfG bestand bereits nach früherem Recht keine Weisungsunabhängigkeit. Zuständig für die Bearbeitung ist in aller Regel die nach dem Gesetz zuständige Außenstelle des Bundesamtes (§ 14 Abs. 1 AsylVfG). In der Verwaltungspraxis wird auch in den Fällen 115 Vgl. hierzu BVerwGE 98, 313 (315) = InfAuslR 1995, 287 = NVwZ 1995, 1131 = EZAR 012 Nr. 2. 116 BVerwG, Buchholz 402. 24 § 2 AuslG Nr. 35; VGH BW, EZAR 601 Nr. 3; Funke-Kaiser, in: GKAuslR, § 69 AuslG Rn 86; Hailbronner, AuslR § 69 AuslG Rn 72. 117 BVerwGE 56, 246 (249); 94, 35 (40 f.); BVerwG, InfAuslR 2003, 50 (51) = NVwZ 2002, 1512; VGH BW, InfAuslR 1984, 271. 118 BVerwG, NVwZ 1992, 1211 (1212). 119 120 Vgl. BVerwGE 94, 35 (40 f.); BVerwG, EZAR 610 Nr. 16. Kemper, NVwZ 1993, 746 (747). 71 des § 14 Abs. 2 AsylVfG die Akte regelmäßig der örtlich nahe gelegenen Außenstelle zugewiesen. Im Rahmen des Asylfolgeantragsverfahrens ist grundsätzlich die Außenstelle zuständig, die auch im Erstverfahren für die Bearbeitung zuständig war (§ 71 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG). Das gilt selbst dann, wenn der Folgeantragsteller während des vorangegangenen Asylverfahrens im Rahmen der nachträglichen Umverteilung (§ 51 Abs. 1 AsylVfG) einem anderen Bundesland zugewiesen worden ist. Die in der Verwaltungspraxis des Bundesamtes eingeführte elektronische Akte hat dazu geführt, dass häufig nach der Anhörung die Akte an eine andere Außenstelle zur Entscheidung abgegeben wird. Im Rahmen der asylverfahrensrechtlichen Sachentscheidung erlässt das Bundesamt darüber hinaus auch die Abschiebungsandrohung (§ 34, § 35 AsylVfG) Demgegenüber ist die Ausländerbehörde für den bloßen Vollzug aller im Rahmen des Asylverfahrens getroffenen ausländerrechtlichen Entscheidungen zuständig. Sie ist darüber hinaus während des Asylverfahrens – nach Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung – für die ausländerrechtliche Behandlung des ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich zugewiesenen Asylsuchenden zuständig (vgl. § 60 Abs. 3 AsylvfG) Das Asylverfahren wird damit durch den Grundsatz der Trennung von anordnender und vollziehender Behörde geprägt. Dies ist dem Gedanken der Verfahrensbeschleunigung geschuldet, der in Art. 16a Abs. 4 GG seinen verfassungsrechtlichen Ort gefunden hat. Die Konzentration aller auch ausländerrechtlichen Entscheidungen beim Bundesamt kann im Rahmen des Asylfolgeantragsverfahrens zu verzwickten verfahrensrechtlichen Problemen sowie Rechtsschutzproblemen führen (vgl. § 71 Abs. 5 AsylVfG). Auch bei der Behandlung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2–7 AufenthG (subsidiärer Schutzstatus) kann es zu Abgrenzungsproblemen kommen, weil das Bundesamt für die Entscheidung über zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse zuständig ist und die Ausländerbehörde inlandsbezogene Vollstreckungshemmnisse zu beachten hat und die gebotene präzise Differenzierung nicht stets mit der erforderlichen Klarheit möglich ist. Gegenseitige Unterrichtungspflichten zwischen Bundesamt und Ausländerbehörde (§§ 40, 54 AsylVfG) sollen die Effektivität des Vollzugs sicherstellen, führen aber häufig zu Reibungsverlusten. Der für die Sachkompetenz des Bundesamtes maßgebende asylrechtliche Antragsbegriff des § 13 Abs. 1 AsylVfG bezieht sich nicht auf die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes (Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG). Dem Bundesamt obliegt die Prüfung dieser Abschiebungshindernisse jedoch nach Stellung eines Asylantrags (§ 24 Abs. 2 AsylVfG). Es hat darüber hinaus festzustellen, ob im Einzelfall derartige Hindernisse vorliegen (§ 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Dies ist der Grund dafür, dass in allen Fällen, in denen zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse nach Abschluss eines Asylverfahrens geltend gemacht werden, das Bundesamt für die Prüfung und Entscheidung zuständig ist. Derartige Abschiebungshindernisse können aber auch unabhängig von einem Asylantrag geltend gemacht werden. In diesen Fällen ist die Ausländerbehörde zuständig, weil nach § 24 Abs. 2 AsylVfG die Zuständigkeit des Bundesamtes für die Prüfung von Abschiebungshindernissen nur begründet wird, wenn diese im Zusammenhang mit einem Asylantrag geltend gemacht werden. Allerdings bestimmt § 72 Abs. 2 AufenthG, dass die Ausländerbehörde nur nach vorheriger Beteiligung des Bundesamtes über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG entscheidet. II. Ausländerbehörde 72 Die Ausländerbehörde ist – wie ausgeführt – für den bloßen Vollzug aller im Rahmen des Asylverfahrens getroffenen ausländerrechtlichen Entscheidungen zuständig. Sie ist darüber hinaus während des Asylverfahrens – nach Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung – für die ausländerrechtliche Behandlung des ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich zugewiesenen Asylsuchenden zuständig (§ 58, § 60 Abs. 3 AsylVfG). Begrenzt der Antragsteller sein Schutzbegehren auf die Abschiebungshindernisse des § 60 Abs. 2–7 AufenthG (subsidiärer Schutz) und enthalten seine Behauptungen keinen Hinweis auf Verfolgungsgründe, ist nicht von einem Asylantrag auszugehen.121 Nach der Gegenmeinung ist demgegenüber von einer ausländerbehördlichen Zuständigkeit auch dann auszugehen, wenn mit dem auf § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zielenden Antrag in der Sache Verfolgung geltend gemacht wird. Diese Ansicht dürfte mit dem asylrechtlichen Antragsbegriff nach § 13 Abs. 1 AsylVfG und der darauf beruhenden Monopolzuständigkeit des Bundesamtes indes kaum zu vereinbaren sein. Die Sachkompetenz für einen Antrag nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, der nicht im Zusammenhang mit einem Asylantrag gestellt wird, liegt bei der zuständigen Ausländerbehörde (§ 72 Abs. 2 AufenthG). Wegen der weitreichenden Folgen ist in Zweifelsfällen durch die Ausländerbehörde näher aufzuklären, ob der Antragsteller tatsächlich um Asyl nachsucht, d. h. sich gegenüber einer drohenden Abschiebung nicht lediglich auf humanitäre und andere verfolgungsunabhängige Gründe beruft, sondern die Gefahr einer ihm drohenden Verfolgung geltend macht.122 Sie hat in jedem Fall eines Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG das Bundesamt zu beteiligen (§ 72 Abs. 2 AufenthG). Bei der Stellungnahme des Bundesamtes handelt es sich um eine nicht selbständig anfechtbare verwaltungsinterne Stellungnahme. III. Bundespolizei Die Bundespolizei ist eine Polizeibehörde und deshalb nicht für asylrechtliche Entscheidungen zuständig. Sie entscheidet aber in eigener Zuständigkeit über die Einreiseverweigerung gegenüber Asyl begehrenden Antragstellern (§ 18 Abs. 2 AsylVfG) und ist nach dem Gesetz nicht verpflichtet, das Bundesamt hierbei zu beteiligen. Im Rahmen des Flughafenverfahrens ist die Bundespolizei Herrin des ausländerrechtlichen Verfahrens (§ 18a AsylVfG), während das Bundesamt die Sachherrschaft im asylrechtlichen Verfahren hat (§ 18a Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 AsylVfG). Die Kompetenzen der Bundespolizei folgen den asylrechtlichen Entscheidungen. Als zwingende Folge der qualifizierten Asylablehnung hat die Bundespolizei die Einreise zu verweigern (§ 18a Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Umgekehrt hat die Bundespolizei die Einreise zu erlauben, wenn das Bundesamt mitteilt, dass über den Asylantrag kurzfristig nicht entschieden werden kann (§ 18a Abs. 6 Nr. 1 AsylVfG). IV. Aufnahmeeinrichtung Für die Erstaufnahme ist die Aufnahmeeinrichtung zuständig (§§ 44 ff. AsylVfG). Sie nimmt den Asylsuchenden, der nach § 14 Abs. 1 AsylVfG zur Stellung des Asylantrags bei der Außenstelle des Bundesamtes verpflichtet ist, auf oder leitet ihn an die für ihn zuständige Aufnahmeeinrichtung weiter (§ 22 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Erst mit der persönlichen Meldung des Asylsuchenden bei der für die Bearbeitung seines Asylantrags zuständigen 121 122 OVG Rh-Pf, AuAS 1995, 118 (119); a. A. VGH BW, AuAS 1994, 104. OVG Rh-Pf, AuAS 1995, 118 (119). 73 Außenstelle des Bundesamtes wird der Asylantrag rechtswirksam gestellt. Vorher spricht das Gesetz nicht von einem Asylantrag, sondern von einem Asylersuchen (vgl. §§ 18 Abs. 1 1. Hs., 18 a Abs. 1 Satz 1 1. Hs., 19 Abs. 1 1. Hs. AsylVfG). Eine schriftliche Antragstellung ist daher in den Fällen des § 14 Abs. 1 AsylVfG nicht möglich. Im Falle anwaltlicher Vertretung sollte dem Asylsuchenden der anwaltliche Schriftsatz zwecks Übergabe bei der Meldung nach § 22 AsylVfG mitgegeben werden. Vor der persönlichen Meldung nach § 22 AsylVfG liegt zwar noch kein Asylantrag vor, die Behörden haben jedoch zwingend den Flüchtlingsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG und aus völkerrechtlichen Gründen auch den Schutz nach § 60 Abs. 2, 3 und 6 AufenthG zu beachten und dürfen deshalb gegenüber dem „Asylsuchenden“ keine aufenthaltsbeendenden oder verhindernden Maßnahmen ergreifen, sondern haben diesen an die zuständigen Behörden weiterzuleiten. Darüber hinaus entsteht das gesetzliche Aufenthaltsrecht nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht erst mit der wirksamen Asylantragstellung, sondern bereits mit dem Nachsuchen um Asyl bei einer amtlichen Stelle.123 Auch wenn der um Asyl Ersuchende seiner dementsprechenden Verpflichtung aus § 22 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht Folge leistet, dürfen Abschiebungsmaßnahmen nicht ohne weiteres durchgeführt werden. Vielmehr sieht das Gesetz hierfür das Verfahren nach § 66 AsylVfG vor (vgl. auch § 67 Abs. 2 AsylVfG). Damit kann die frühere Rechtsprechung, wonach auch fernmündlich oder per Telefax gestellte Anträge als wirksamer Antrag zu behandeln waren,124 nicht mehr uneingeschränkt Anwendung finden. Auf diesem Weg übermittelte Erklärungen sind zwar nach wie vor von allen in Betracht kommenden Behörden (Bundes-, allgemeine Polizei- und Ausländerbehörden) zu beachten. Ein Asylantrag setzt jedoch die persönliche Meldung bei der Aufnahmeeinrichtung und die anschließende Antragstellung bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes voraus. An die Verletzung der unverzüglichen Meldepflicht knüpfen die Regelungen des §§ 20 ff. AsylVfG einschneidende verfahrensrechtliche Sanktionen (s. unten). D. Einleitung des Asylverfahrens I. Antragsabhängiges Verfahren Ungeachtet zwingender verfassungs- und völkerrechtlicher Verpflichtungen (vgl. Art. 16a Abs. 1 GG, Art. 33 GFK, Art. 3 EMRK, Art. 3 Übereinkommen gegen Folter, Art. 7 IPbpR, § 60 Abs. 1, Abs. 2 bis 7 AufenthG) wird das Asylverfahren nur aufgrund eines Antrags eingeleitet (§§ 1 Abs. 1, 14, 23 Abs. 1 AsylVfG). Es handelt sich damit um ein antragsabhängiges Verfahren im Sinne von § 22 Satz 2 Nr. 1 VwVfG. Nach § 13 Abs. 1 AsylVfG liegt ein Asylantrag vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Verfolgungsschutz nach Art. 16a Abs. 1 GG oder Flüchtlingsschutz im Sinne von § 3 Abs. 4 AsylVfG sucht. Die Bundespolizei und andere Behörden haben demnach jede schriftlich, mündlich oder sonst wie geäußerte Erklärung, der sich ein Wille des Antragstellers auf Schutzsuche entnehmen lässt, als Asylantrag zu behandeln. 123 BayObLG, NVwZ 1993, 811; Marx, Kommentar zum AsylVfG, § 13 Rn 8. 124 VG Wiesbaden, InfAuslR 1990, 177; VG Karlsruhe, NJW 1988, 664. 74 Nach der Legaldefinition des Asylantrags kommt es also darauf an, ob sich dem in welcher Weise auch immer geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er Verfolgungsschutz sucht. Das anzuwendende VwVfG des Bundes schreibt weder einen bestimmten Mindestinhalt noch eine Begründung vor. Der Antragsteller muss weder den Begriff „Asyl“ verwenden noch reicht es aus, wenn allein dieses Wort benutzt wird.125 Im Zweifel ist jedoch davon auszugehen, dass Asyl begehrt wird, wenn dieser Begriff in den Erklärungen des Antragstellers enthalten ist.126 Denn für die Auslegung von Willenserklärungen gilt im Verwaltungsrecht § 133 BGB entsprechend. Danach ist bei der Auslegung von Willenserklärungen der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Eines Rückgriffs auf den Antragsbegriff bedarf es ohnehin nur in Zweifelsfällen.127 Es versteht sich von selbst, dass ein wirksamer Antrag auch durch die Abgabe fremdsprachiger Erklärungen begründet werden kann. Die Behörden haben insbesondere im Hinblick auf bestehende Sprachprobleme sowie die häufig beim ersten Kontakt mit Behörden auftretenden psychischen Hindernisse bei der Erforschung des wirklichen Willens keine zu hohen Anforderungen zu stellen.128 Nur dann, wenn ausnahmsweise aufgrund der Erklärungen Zweifel am Antragsziel entstehen, haben die angesprochenen Behörden durch eine sorgfältige Anhörung zu überprüfen, ob der Antragsteller inhaltlich um Verfolgungsschutz nachsucht. Dies kann nur dann verneint werden, wenn außer Zweifel steht, dass das Vorbringen bei verständiger Würdigung und Berücksichtigung der gesamten Umstände des Falles inhaltlich kein Asylbegehren darstellt.129 Genaue Kenntnis der rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Asylrecht oder Flüchtlingsschutz ist nicht erforderlich. Es reicht vielmehr aus, wenn sich aus den erkennbaren Umständen ergibt, dass der Antragsteller Furcht vor Verfolgung hat. Für die Ausländerbehörden und die Bundespolizei ist es regelmäßig unschwer erkennbar, mit welchem Ziel ein Ausländer um Schutz nachsucht. Insbesondere bei unmittelbar einreisenden Ausländern verengt sich schon aufgrund der äußeren Umstände die Bandbreite der möglichen in Betracht kommenden Anträge auf das Antragsziel der Schutzsuche vor Verfolgung. Die Situation im Herkunftsland des Einreisenden qualifiziert sein Begehren in aller Regel als Asylantrag.130 Daher ist zur Qualifizierung des Schutzbegehrens als Antrag im Sinne von § 13 Abs. 1 AsylVfG in aller Regel ein Mindestmaß an Begründung nicht erforderlich. Zwar befreit § 13 Abs. 1 AsylVfG vom Formerfordernis. Dies bedeutet indes nicht, dass auf das Vorhandensein eines hinreichend erkennbaren und bestimmten Willens des Antragstellers verzichtet werden könnte. Für miteingereiste ledige Kinder, die noch nicht das 16. Lebensjahr vollendet haben und nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels sind, wird die Antragstellung unabhängig vom Willen des gesetzlichen Vertreters fingiert (§ 14a Abs. 1 AsylVfG). Reist ein derartiges Kind nachträglich ein oder wird es hier geboren, trifft die gesetzlichen Vertreter wie die Ausländerbehörde eine unverzügliche Anzeigepflicht (§ 14a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG). Mit Zugang der Anzeige beim Bundesamt gilt der Antrag unabhängig vom entgegenstehenden Willen der gesetzlichen Vertreter als gestellt (§ 14a Abs. 2 Satz 3 AsylVfG). Muster: 125 126 127 128 129 130 Asylrechtlicher Antragsschriftsatz mit Begründung OVG NW, NVwZ-RR 1989, 390. OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 1110. VG Düsseldorf, InfAuslR 1988, 273 VG Wiesbaden, Beschl. v. 20.12.1991 – II/1 G 21435/91. OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 1110. OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 1110. 75 An das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – zuständige Außenstelle – wird persönlich durch Antragsteller übergeben 13122 Ahmed Azizi, geb. 2.5.1967, Paktia/Afghanistan Sehr geehrte Damen und Herren, unter Vollmachtsvorlage wird beantragt, den Antragsteller als Asylberechtigten anzuerkennen. 13223 I. Zunächst wird darauf hingewiesen, dass die nachfolgende Begründung lediglich die tatsächlichen Schlüsselelemente des Kernvorbringens beschreibt, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit im Hinblick auf sämtliche erheblichen Sachverhaltselemente, auf die zeitliche Abfolge der dargelegten Ereignisse sowie auf sonstige tatsächliche Umstände zu erheben. Die nachfolgende Begründung soll die persönliche Anhörung vorbereiten, jedoch nicht ersetzen. Die Anhörung ist der Ort, an dem durch konkrete Befragung der genaue Sachverhalt aufzuklären ist. Auf die Glaubhaftigkeit der konkreten Schilderung des asylrechtlich erheblichen Sachverhalts während der persönlichen Anhörung kommt es entscheidend an (BVerfGE 94, 166 (200 f.) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1976, 678). Die Art der persönlichen Einlassung des Antragstellers während seiner persönlichen Anhörung, seine Persönlichkeit, insbesondere seine Glaubwürdigkeit spielen bei der Würdigung und Prüfung der Tatsache, ob er gute Gründe zur Gewissheit der Behörde dargetan hat, eine entscheidende Rolle (BVerwG, DVBl. 1963, 145). Dementsprechend kann durch das Gespräch zwischen dem Antragsteller und dem Einzelentscheider während der Anhörung am besten sichergestellt werden, dass der Sachverhalt umfassend aufgeklärt, die Stichhaltigkeit des Asylgesuchs überprüft und etwaigen Unstimmigkeiten oder Widersprüchen im Sachvorbringen auf der Stelle nachgegangen wird (Hess.VGH, ESVGH 31, 259). Aus fehlenden Sachverhaltselementen, Ungenauigkeiten und etwaigen Ungereimtheiten in der nachfolgenden Begründung können deshalb für die Bewertung der Glaubhaftigkeit der Sachangaben des Antragstellers keine diesem nachteilige Schlussfolgerungen gezogen werden. Dem Antragsteller wurde diese Gesetzeslage sowie die entsprechende Rechtsprechung im Rahmen des anwaltlichen Beratungsgesprächs erläutert. Er wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der anwaltliche Schriftsatz nur die Kernelemente seines asylrechtlichen Sachvorbringens beschreibt und deshalb in diesem nicht erwähnte Einzelheiten in der Anhörung von ihm vorzutragen sind, das Bundesamt andererseits aber von Amts wegen verpflichtet ist, entsprechend seiner verfahrensrechtlichen Fürsorgepflicht ihm erkennbare mögliche Widersprüche, Ungereimtheiten und sonstige Unklarheiten von Amts wegen aufzuklären und sich insbesondere nicht lediglich auf die Entgegennahme des Sachvorbringens beschränken darf. Der Antragsteller wurde darüber hinaus darüber belehrt, dass es wesentlich für eine verfahrensrechtlich einwandfreie Gestaltung der Anhörung ist, dass er nicht nur zu Beginn der Anhörung, sondern sachbezogen auch während der Anhörung je nach Sachlage in einer seiner Person gemäßen Art und Weise über das ins Bild gesetzt wird, worauf es für ihn und die Entscheidung über sein Ersuchen ankommt, und dass er deshalb darauf vertrauen darf, dass das Bundesamt die Anhörung loyal sowie verständnisvoll führt (s. zu den entsprechenden Amtspflichten BVerfGE 94, 166 (204) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678). Der Antragsteller wurde insbesondere darüber belehrt, dass das Bundesamt ihm das Recht einzuräumen hat, zunächst den Sachverhalt von sich aus zusammenhängend darzustellen, und es die Pflicht des Bundesamtes ist, anschließend durch gezielte Nachfragen und Vorhalte den Sachverhalt im Einzelnen aufzuklären und den Antragsteller auf Widersprüche und Ungereimtheiten hinzuweisen. II. 131 Im Zeitpunkt der Antragsformulierung ist die zuständige Außenstelle nicht bekannt. Der Mandant ist darauf hinzuweisen, dass er bei seiner Vorsprache Sorge dafür zu tragen hat, dass der – in einem verschlossenen Umschlag enthaltene – Antragsschriftsatz zur Akte des Bundesamtes gelangt und nicht bei der Aufnahmeeinrichtung verbleibt 132 Der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ Abs. 4 AsylvfG) wird damit automatisch geltend gemacht (§ 13 Abs. 2 1. Hs. AsylVfG), wie auch die Feststellung von Abschiebungshindernissen (§§ 24 Abs. 2, 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). 76 Der Antragsteller hat am Paktia verlassen und reiste am aus Afghanistan aus. Er ist am in das Bundesgebiet eingereist.24 Der Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger paschtunischer Volkszugehörigkeit. Er hat sich an oppositionellen Aktivitäten gegen die afghanischen Behörden beteiligt Der Antragsteller ist drei Mal für die Dauer von jeweils ca. drei Wochen durch die afghanischen Behörden festgehalten worden. Nähere Darlegungen erfolgen während der Anhörung. Nach der letzten Festnahme verdichteten sich die Anzeichen, dass die Behörden gegen den Antragsteller Beweise für seine oppositionellen Aktivitäten gesammelt hatten. Am wurde er durch einen Schulfreund, der bei den Behörden im Sicherheitsbereich tätig ist, über seine bevorstehende Festnahme informiert. Er tauchte deshalb sofort unter und ließ seine Familie durch Dritte über seine Situation informieren. Nachdem der Antragsteller die Fluchtvorbereitung abgeschlossen hatte, reiste er ca. zwei Wochen danach nach Pakistan aus. II. Persönliche Meldepflicht (§ 23 Abs. 1 AsylVfG) Nach § 23 Abs. 1 AsylVfG ist der Antragsteller, der in der für ihn zuständigen Aufnahmeeinrichtung aufgenommen worden ist, verpflichtet, persönlich zur Asylantragstellung zu erscheinen. Diese persönliche Meldepflicht setzt voraus, dass der Antragsteller verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen (§§ 14 Abs. 1, 47 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Für Antragsteller, die ihr Asylbegehren nicht bei der Außenstelle des Bundesamtes, sondern unmittelbar beim Bundesamt geltend machen müssen (§ 14 Abs. 2 AsylVfG), gilt dagegen die Wohnpflicht des § 47 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht. Dementsprechend trifft diese Personen auch nicht die persönliche Meldepflicht nach § 23 Abs. 1 AsylVfG. Sie haben den Antrag nach § 14 Abs. 2 AsylVfG vielmehr unmittelbar schriftlich bei der Zentrale des Bundesamtes zu stellen. Aber auch diese Personengruppe ist vom Bundesamt persönlich anzuhören (§ 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Es wird vorher schriftlich geladen (§ 25 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG). Der Zweck von § 23 Abs. 1 AsylVfG ist die unverzügliche Einleitung des Asylverfahrens bei unmittelbar einreisenden Asylsuchenden (§ 14 Abs. 1 AsylVfG), um ebenso unverzüglich die Direktanhörung (§ 25 Abs. 4 AsylVfG) durchführen und das Verwaltungsverfahren zum Abschluss bringen zu können. Dementsprechend soll der Asylsuchende auch unverzüglich seiner Meldepflicht nachkommen. Eine besondere Ladung zur Anhörung erfolgt bei Durchführung der Anhörung nicht (§ 25 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG). Die Vorschriften über die Direktanhörung werden heute nicht mehr so streng gehandhabt wie im Zeitpunkt ihrer Entstehung 1992. Demgegenüber sind Antragsteller nach § 14 Abs. 2 AsylVfG ausnahmslos vorher rechtzeitig zu laden (vgl. § 25 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG). Die Vorschrift begründet eine sofortige Meldepflicht. Nur in den Fällen, in denen die Aufnahmeeinrichtung dem Antragsteller einen besonderen Termin zur Meldung bei der Außenstelle des Bundesamtes gibt, entfällt die unverzügliche Meldepflicht. An ihre Stelle tritt die Meldepflicht zum genannten Termin (§ 23 Abs. 1 2. Hs. 2. Alt. AsylVfG). Das ist die Regelpraxis. Die in § 23 Abs. 1 AsylVfG vorgesehene Verwaltungspraxis trägt den Besonderheiten Rechnung, die sich aus der Bestimmung der zuständigen Aufnahmeeinrichtung und den Bearbeitungskapazitäten des Bundesamtes ergeben. 77 Danach regelt sich die persönliche Meldepflicht des Asylantragstellers nach § 14 Abs. 1 AsylVfG wie folgt: Zuständig für die Aufnahme des Asylsuchenden ist grundsätzlich die Aufnahmeeinrichtung, bei der er sich meldet (§ 46 Abs. 1 Satz 1, § 22 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). In Fällen, in denen genügend Aufnahmekapazitäten und Bearbeitungsmöglichkeiten des Bundesamtes für das Herkunftsland des Antragstellers verfügbar sind (§ 46 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) und dieser in der Aufnahmeeinrichtung, bei der er sich zunächst gemeldet hat, zu wohnen hat, besteht unverzügliche Meldepflicht bei der Außenstelle des Bundesamtes. Einer besonderen Terminssetzung bedarf es nicht. Aber auch in diesen Fällen wird dem Asylsuchenden regelmäßig ein Termin zur Meldung bei der Außenstelle des Bundesamtes von der Aufnahmeeinrichtung genannt. Wird die Anhörung im Asylverfahren am Tag der Meldung durchgeführt, entfällt die Benachrichtigungspflicht des Asylsuchenden durch die Außenstelle (§ 25 Abs. 4 Satz 3 AsylVfG). In den anderen Fällen, in denen der Antragsteller einer anderen Aufnahmeeinrichtung zugewiesen wird (§ 46 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 AsylVfG), wird ihm nach der Meldung bei der für ihn zuständigen Aufnahmeeinrichtung von dieser ein besonderer Termin zur Asylantragstellung bei der Außenstelle des Bundesamtes genannt. Zuständige Aufnahmeeinrichtung für die Bekanntgabe des Termins ist die für den Asylsuchenden zuständige Aufnahmeeinrichtung, die nach Maßgabe der Vorschriften der §§ 46 Abs. 1 und 2, 22 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG bestimmt wird. Bei der Terminsbekanntgabe sind die Umstände des Einzelfalles, insbesondere die Transportwege und -möglichkeiten, gebührend zu berücksichtigen. Die Wochenfrist nach § 66 Abs. 1 AsylVfG gibt jedoch einen gewichtigen Anhalt für die Fristsetzung nach § 23 Abs. 1 AsylVfG. § 23 Abs. 1 AsylVfG begründet eine persönliche Meldepflicht des Antragstellers zur wirksamen Antragstellung bei der für ihn zuständigen Außenstelle des Bundesamtes. Demgegenüber begründet § 22 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die persönliche Meldepflicht bei der Aufnahmeeinrichtung. Erst mit der persönlichen Meldung bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes wird das Asylverfahren eingeleitet. Macht der Antragsteller sein Begehren bei der Bundespolizei oder einer Ausländerbehörde geltend, sucht er nach dem Wortlaut dieser Vorschriften lediglich um Asyl nach. Diese Behörden leiten den Antragsteller an die nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung zur Meldung weiter (§ 18 Abs. 1 2. Hs., § 19 Abs. 1 2. Hs., § 22 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Ist diese zugleich zuständige Aufnahmeeinrichtung im Sinne von § 46 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, ist der Antragsteller neben seiner Meldepflicht nach § 22 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zusätzlich zur persönlichen Meldung bei der dortigen Außenstelle des Bundesamtes zwecks Antragstellung verpflichtet (§ 23 Abs. 1 AsylVfG). Wird er einer anderen Einrichtung zugewiesen (§ 46 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, § 22 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG), wird die persönliche Meldepflicht nach § 23 Abs. 1 AsylVfG durch Fristsetzung geregelt. Erst mit der Meldung bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes nach Erreichen der zugewiesenen Aufnahmeeinrichtung wird das Asylverfahren eingeleitet. III. Ausschluss vom Asylverfahren 1. Allgemeines Nicht jeder Asylantrag verpflichtet das Bundesamt, das Verfahren auf inhaltliche Prüfung der Asylgründe einzuleiten. Bei Einreise aus einem sicheren Drittstaat (Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a AsylVfG) prüft es lediglich den Reiseweg und erlässt unter den Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 AsylVfG die Abschiebungsanordnung, wenn der sichere Drittstaat festgestellt werden kann. Zugleich stellt das Bundesamt fest, dass dem Antragsteller aufgrund seiner Einreise durch den sicheren Drittstaat kein Asylrecht zusteht (§ 31 Abs. 4 AsylVfG). Da in 78 der Verwaltungspraxis in aller Regel der Reiseweg nicht identifiziert werden kann, andererseits ohne inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens eine Abschiebung in den Verfolgerstaat unzulässig ist,133 läuft die Drittstaatenregelung weitgehend ins Leere. Sie ist nunmehr durch die vollständige rechtliche Gleichstellung der Rechtsstellung der Flüchtlinge mit denen der Asylberechtigten auch historisch überholt und hat nur noch Bedeutung, wenn der Reiseweg identifiziert werden kann und der sichere Drittstaat den Antragsteller übernimmt. Das Gesetz kennt darüber hinaus den unbeachtlichen Asylantrag. Im Falle der offensichtlichen Verfolgungssicherheit in einem „sonstigen Drittstaat“ (§ 27 Abs. 1 AsylVfG) wird zwar ein Asylverfahren eingeleitet. Der Antrag ist indes unbeachtlich (§ 29 Abs. 1 AsylVfG). Die Prüfung erstreckt sich lediglich auf die Frage der offensichtlichen Verfolgungssicherheit. Ist die Rückführung in den sonstigen Drittstaat innerhalb von drei Monaten nicht möglich, wird das Verfahren fortgesetzt, freilich auch hier – wie bei der Drittstaatenregelung – auf den Gegenstandsbereich des § 3 Abs. 4 AsylVfG beschränkt. Gesetzessystematisch ist der Asylfolgeantrag zwar im Rahmen der Vollzugsphase nach unanfechtbarer Sachentscheidung oder vollziehbarer Abschiebungsandrohung zu behandeln. Ist der Antragsteller in den Herkunftsstaat zurückgekehrt und reist er erneut ein, um Asyl zu suchen, wird sein Begehren indes als Folgeantrag behandelt. Dem äußeren Anschein nach handelt es sich damit zwar um ein Asylbegehren unmittelbar nach Einreise (vgl. § 14 Abs. 1 AsylVfG). Es finden jedoch die Sondervorschriften des § 71 AsylVfG Anwendung. In der Verwaltungspraxis wird in diesen Fällen häufig auf die persönliche Anhörung verzichtet, die anders als im Erstverfahren (vgl. § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG) im Folgeantragsverfahren nicht zwingend ist (§ 71 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG). Schließlich regelt § 27a AsylVfG den unzulässigen Asylantrag. Dabei handelt es sich um Asylanträge, für deren Behandlung ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist. In aller Regel handelt es sich hierbei um Fälle nach der Dublin II-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 343/2003). Früher wurden diese Anträge als unbeachtliche Asylanträge behandelt (vgl. § 29 Abs. 3 AsylVfG a.F.). Durch die Einstufung der Dublin II-Fälle als unzulässige Asylanträge will der Gesetzgeber den Eilrechtsschutz aufheben. Denn die unzulässigen Asylanträge haben den Erlass einer Abschiebungsanordnung (§ 34a Abs. 1 AsylVfG) und damit den Ausschluss des Eilrechtsschutzes (vgl. § 34a Abs. 2 AsylVfG) zur Folge. 2. Zuständigkeit eines Dublin II-Staates (§ 27a AsylVfG) a) Vorbemerkung Die Drittstaatenregelung (Art. 16a Abs. 2 GG) wird durch völkerrechtliche Zuständigkeitsvereinbarungen nach Art. 16a Abs. 5 GG verdrängt. Daher bildet allein Art. 16a Abs. 5 GG die Grundlage für die Verweisung eines Asylsuchenden an einen anderen Vertragsstaat. Scheitert die Rückführung und ist die Bundesrepublik dadurch zuständig geworden, kann diese sich nicht mehr auf Art. 16a Abs. 2 GG berufen, weil das völkerrechtliche Zuständigkeitsabkommen nach Art. 16a Abs. 5 GG die Drittstaatenregelung nach Art. 16a Abs. 2 GG auch verfassungsrechtlich verdrängt.134 Demgegenüber ist bei 133 134 BVerfGE 94, 49 (97) = NVwZ 1997, 700 = EZAR 208 Nr. 7. BVerfGE 94, 49 (97) = NVwZ 1997, 700 = EZAR 208 Nr. 7. 79 zwischenzeitlicher Ausreise in einen anderen Vertragsstaat und anschließender Rückkehr die Berufung auf Art. 16a Abs. 2 GG versperrt.135 Die Regelungen in Art. 16a Abs. 1 bis 4 GG stehen nach Art. 16a Abs. 5 GG völkerrechtlichen Verträgen von EU-Mitgliedstaaten untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus der GFK und der EMRK Zuständigkeitskriterien für die Prüfung von Asylbegehren treffen (multilaterale Zuständigkeitsabkommen). § 27a AsylVfG ist die einfachgesetzliche Umsetzungsvorschrift dieser verfassungsrechtlichen Norm. Derartige Abkommen stellten das Dubliner Übereinkommen (DÜ) vom 15. Juni 1990 (BGBl. II 1994, S. 792) und das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) vom 19. Juni 1990 (BGBl. II 1993, S. 1010) dar. Darauf weist auch das BVerfG in diesem Zusammenhang hin. Die Dubliner Konvention war mit Wirkung vom 1. Septe,ber 1997 für die früheren zwölf EU-Staaten in Kraft getreten (BGBl. II, S. 1462). Inzwischen ist mit Wirkung zum 1. September 2003 die EUAsylzuständigkeitsVO, verkürzt als Dublin II – VO bezeichnet, in Kraft und an die Stelle multilateraler Abkommen getreten. Art. 16a Abs. 5 GG kann für gemeinschaftsrechtliche Instrumente nicht als Rechtsgrundlage dienen. Hatte der Gesetzgeber früher die Dublin-Fälle als unbeachtliche Asylanträge (vgl. § 29 Abs. 3 AsylVfG a. F.) behandelt, bezeichnet er diese nach geltendem Recht als unzulässige Asylanträge (vgl. § 27a AsylVfG) mit der Folge, dass wie bei der Einreise aus einem sicheren Drittstaat die Abschiebungsanordnung (§ 34a Abs. 1 AsylVfG) ergeht und der Eilrechtsschutz ausgeschlossen (vgl. § 34a Abs. 2 AsylVfG) ausgeschlossen wird. b) Kein Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens nach Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO Streit herrschte früher darüber, ob das SDÜ einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Durchführung des Asylverfahrens gewährte. Wegen der identischen Ausgangslage hat dieser Streit nach wie vor auch Bedeutung für die Interpretation von Art. 3 Abs. 1 Dublin II - VO. Nach dieser Norm verpflichten sich die Vertragsstaaten, jeden Asylantrag zu prüfen, den ein Ausländer an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates stellt. Es wird behauptet, die inhaltsgleiche Norm des Art. 29 Abs. 1 SDÜ begründe nicht nur völkerrechtliche Verpflichtungen zwischen den Vertragsparteien, sondern auch einen einklagbaren Verfahrensanspruch.136 Dagegen wird eingewandt, Adressaten dieser Norm seien allein die Vertragsstaaten. Auch durch Transformation des DÜ in innerstaatliches Recht sei kein subjektives Recht entstanden, da subjektive Rechte nur begründet werden könnten, wenn der Vertrag dies bereits vorsehe.137 Der Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 Dublin II ist insoweit offen. Da die Dublin II – VO allein den Rechtsverkehr unter den Mitgliedstaaten regelt, dürfte auch im Hinblick auf diese fraglich sein, ob dadurch subjektive Rechtsansprüche begründet werden. 135 Thür. OVG, EZAR 208 Nr. 10 = NVwZ-Beil. 1997, 44; s. auch VG Oldenburg, NVwZ-Beil. 2000, 71 (72). 73 136 Huber, NVwZ 1996, 1069 (1073); s. jetzt aber Huber, NVwZ 1998, 150; wohl auch Achermann, Schengen und Asyl, S. 114; a. A. Hailbronner/Thiery, ZAR 1997, 55 (59); Marx, EJML 2001, 79. OVG NW, Beschl. v. 14.4.1999 – 11 A 2666/99.A; VG Freiburg, NVwZ-RR 2002, 227 = AuAS 2002, 23; VG Gießen, NVwZ-Beil. 1996, 27 f. = AuAS 1996, 70; VG Schwerin, AuAS 1996, 227 (228); VG Münster, AuAS 2001, 36. 137 80 Ist die Bundesrepublik für die Behandlung des Asylgesuchs zuständig, ist der Asylantrag beachtlich. § 27a AsylVfG findet keine Anwendung. Wegen der Vorschrift des § 26 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG ist die Berufung auf das Asylrecht nicht versagt.138 Vielmehr steht dem Asylsuchenden, der über einen sicheren Drittstaat eingereist und für dessen Asylbegehren die Bundesrepublik aufgrund der Dublin II - VO zuständig ist, ein einfach-gesetzlich gewährtes Recht auf Asyl zu.139 c) Zuständigkeitskriterien nach der Dublin II - VO Die Dublin II - VO regelt die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Behandlung des Asylbegehrens nach Maßgabe des Verursacherprinzips. Zielsetzung der VO ist, dass immer nur ein Staat für die Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Damit soll verhindert werden, dass der Asylsuchende von einem Mitgliedstaat in den anderen abgeschoben wird, ohne dass sich einer dieser Staaten für zuständig erklärt. An dieser Zielsetzung hat sich die Interpretation der Zuständigkeitskriterien der Art. 3 ff. Dublin II - VO und damit auch die Auslegung und Anwendung von § 27a AsylVfG auszurichten. Es kommt allein darauf an, dass der zuständige Mitgliedstaat tatsächlich die Zuständigkeit übernimmt. Eine Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine Übernahme zu Recht bejaht wurden, hat nach dem Gesetzeswortlaut nicht zu erfolgen. Bei der Prüfung ob ein Asylantrag unbeachtlich ist, weil ein anderer Mitgliedstaat die Zuständigkeit übernimmt, kommt es nach der Rechtsprechung nicht darauf an, ob der übernehmende Staat die Bestimmungen der Dublin II – VO eingehalten hat.140 Dem Antragsteller, für dessen Asylbegehren die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates besteht, ist die Ausreise in diesen Staat zu ermöglichen. Eine Abschiebung in den Herkunftsstaat ist untersagt.141 Reist der Asylsuchende, nachdem er im Bundesgebiet Asyl beantragt und damit die Zuständigkeit der Bundesrepublik begründet hat, während des Asylverfahrens in einen Mitgliedstaat und reist er anschließend von dort wieder in das Bundesgebiet ein, so führt dies nicht dazu, dass er sich wegen Art. 16 a Abs. 2 GG nicht mehr auf das Asylrecht berufen kann.142 Entsprechend dem Verursacherprinzip errichten die Zuständigkeitskriterien der Dublin II VO einen hierarchisch gestaffelten Kriterienkatalog. Handelt es sich um einen unbegleiteten Minderjährigen, ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem sich ein Angehöriger seiner Familie rechtmäßig aufhält (Art. 6 Abs. 1 Dublin II - VO). Es soll unter allen Umständen eine räumliche Nähe zwischen einem unbegleiteten Minderjährigen und einem sich bereits in einem Mitgliedstaat aufhaltenden erwachsenen Familienangehörigen geschaffen werden. Darüber hinaus soll die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylbegehrens dem Mitgliedstaat übertragen werden, der im Rahmen eines regulären Verfahrens den Asylantrag eines vorher eingereisten Familienangehörigen prüft, über den noch nicht in erster Instanz entschieden worden ist (Art. 8 Dublin II - VO). Generell soll der Einheit der Familiengemeinschaft besser Rechnung getragen werden als nach dem geltenden Vertragsrecht: Stellen mehrere Mitglieder einer Familie in demselben 138 139 140 141 142 Nieders. OVG, AuAS 2001, 152 (153). So auch Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, § 29 Rn 23. VG Schwerin, NVwZ-Beil. 2002, 95 = AuAS 2002, 177. VG Oldenburg, NVwZ-Beil. 2000, 71 (72). Thür. OVG, EZAR 208 Nr. 10 = NVwZ-Beil. 1997, 44 = AuAS 1997, 47. 81 Mitgliedstaat gleichzeitig oder in großer zeitlicher Nähe einen Asylantrag, dass die Verfahren zur Zuständigkeitsbestimmung gemeinsam durchgeführt werden können, und könnte die Anwendung der in Dublin II - VO bezeichneten Zuständigkeitskriterien ihre Trennung zur Folge haben, so ist für die Prüfung der Anträge sämtlicher Angehöriger der Mitgliedstaat zuständig, der nach diesen Kriterien für die Aufnahme des größten Teils der Familienmitglieder zuständig ist. Andernfalls obliegt die Prüfung dem Mitgliedstaat, der nach den Zuständigkeitskriterien für die Prüfung des von dem ältesten Familienmitglied eingereichten Asylantrags zuständig ist (Art. 14 Dublin II - VO). Reist der Asylsuchende mit dem Visum eines anderen Mitgliedstaates in das Bundesgebiet ein, ist dieser zuständig (Art. 9 Abs. 2 Satz 1 1. Hs. Dublin II - VO).143 Der Asylantrag ist nach § 27a AsylVfG unzulässig. Das gilt namentlich für ein von einem anderen Mitgliedstaat erteiltes Schengen-Visum.144 Für die Frist von sechs Monaten nach Art. 9 Abs. 4 Satz 2 Dublin II - VO ist auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung abzustellen.145 Hat die Bundesrepublik das Visum erteilt, ist sie danach völkerrechtlich zuständig. Dem tragen die Vorschriften in §§ 18 Abs. 4 Nr. 1, 26 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG Rechnung. Die Dublin II - VO regelt darüber hinaus die Zuständigkeit für die Fälle, in denen das Visum mit Zustimmung eines anderen Mitgliedstaates erteilt worden ist. In diesem Fall ist der Vertragsstaat zuständig, der das Visum erteilt hat (Art. 9 Abs. 2 Satz 1 1. Hs. Dublin II - VO). Haben mehrere Mitgliedstaaten ein Visum erteilt, ist der Staat zuständig, dessen Visum zuletzt erlischt (Art. 9 Abs. 3 Buchst. a) bis c) Dublin II - VO). Von praktisch erheblicher Bedeutung ist der Fall der illegalen Einreise. In diesem Fall ist der Staat für die Behandlung des Asylgesuchs zuständig, über dessen Grenze der Asylsuchende eingereist ist (Art. 10 Abs. 2 Dublin II - VO). Ein Anspruch des illegal in das Bundesgebiet eingereisten Asylsuchenden auf Weiterreise in einen anderen Mitgliedstaat besteht nicht. Die Zuständigkeit des an sich zuständigen Mitgliedstaates erlischt jedoch, wenn sich der Asylsuchende nach Einreise nachweislich sechs Monate in einem anderen Vertragsstaat aufgehalten hat. Nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II - VO behält jeder Mitgliedstaat das Recht, bei Vorliegen besonderer Umstände, insbesondere des nationalen Rechts, ein Asylbegehren auch dann zu behandeln, wenn die Zuständigkeit bei einem anderen Mitgliedstaat liegt. Es handelt sich um ein gemeinschaftsrechtlich gewährtes Recht des Mitgliedstaates. Der an sich zuständige Mitgliedstaat kann der Ausübung des Selbsteintrittsrechtes nicht widersprechen. Dem Selbsteintrittsrecht korrespondiert nach der Rechtsprechung freilich kein subjektives Recht des Asylsuchenden.14689 Die Ausübung des Selbsteintrittsrechts bewirkt mithin einen gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeitswechsel. Der bislang zuständige Staat wird durch die Ausübung dieses Rechts von seiner Verpflichtung befreit. Ist die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylbegehrens auf die Bundesrepublik übergegangen, so kann das Bundesamt sich nicht mehr auf die Drittstaatenregelung berufen, 143 BayVGH, NVwZ-Beil. 2001, 13 (14); VG Gießen, NVwZ-Beil. 1996, 27 = AuAS 1996, 70; VG Berlin, Beschl. v. 25.4.1996 – VG 33 X 138/96. 144 BayVGH, NVwZ-Beil. 2001, 13 (14). 145 146 VG Ansbach, NVwZ-Beil. 2001, 61 = InfAuslR 2001, 247. VG Freiburg, AuAS 2003, 11 (12). 82 weil Zuständigkeitsabkommen nach Art. 16 a Abs. 5 GG und somit auch die gemeinschaftsrechtliche Nachfolgeregelung die Drittstaatenregelung des Art. 16 a Abs. 2 GG auch verfassungsrechtlich verdrängen.147 Hat daher das Bundesamt einen Asylantrag, für dessen Behandlung ursprünglich ein anderer Mitgliedstaat zuständig war, in der Sache entschieden, so ist damit die Zuständigkeit auf die Bundesrepublik übergegangen und gegen die Behördenentscheidung verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz gegeben.148 Das gilt nicht, wenn die Anhörung lediglich den Zweck verfolgt, die für die Feststellung der Zuständigkeit des Mitgliedstaates notwendigen Tatsachen aufzuklären, und deshalb auch keine Entscheidung in der Sache erfolgt.149 d) Berücksichtigung des Grundsatzes der Familieneinheit Nach Art. 7 Dublin II - VO wird ein Recht auf Familienzusammenführung in den Fällen gewährt, in denen ein Asylsuchender in einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannt worden ist. In diesem Fall ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, der den Familienangehörigen anerkannt hat. Der Kreis der begünstigten Familienangehörigen geht über die enge Kernfamilie hinaus und wird in Art. 2 Buchst. i) Dublin II - VO geregelt. Auch ein unverheiratetes, minderjähriges Kind hat Anspruch auf Familienzusammenführung zum Vater oder zur Mutter.150 Das Zuständigkeitskriterium der Familienangehörigkeit ist nach Art. 7 Dublin II - VO vorrangig vor den weiteren in Dublin II - VO aufgezählten Zuständigkeitskriterien. Nach Art. 7 Dublin II - VO ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem ein Familienangehöriger als Flüchtling anerkannt worden ist, sofern die Antragsteller dies wünschen. Dem entsprechenden Antrag ist auch im Flughafenverfahren in jeder Lage des Verfahrens, und zwar auch nach Erlass der behördlichen Einreiseverweigerung nach § 18 a Abs. 3 Satz 1 AsylVfG, Rechnung zu tragen.151 Die Gegenmeinung übersieht, dass für die gerichtliche Entscheidung die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des gerichtlichen Beschlusses maßgebend ist (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AsylVfG). Nach der Rechtsprechung begründet die Geburt eines Kindes im Bundesgebiet während des Zuständigkeitsverfahrens nicht ohne weiteres eine Zuständigkeit der Bundesrepublik auch für die Eltern des Kindes, wenn für die Behandlung ihres Asylbegehrens ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist. In einem derartigen Fall kann der im Hinblick auf die Eltern zuständige Staat nach Art. 15 Dublin II - VO seine Zuständigkeit auch für das Kind erklären. In diesem Fall ist die Bundesrepublik für die Behandlung des Asylbegehrens des hier geborenen Kindes nicht zuständig.152 Stimmt der an sich zuständige Mitgliedstaat jedoch nicht der Übernahme des Kindes zu, ist für die Behandlung des Asylantrages des Kindes die Bundesrepublik zuständig. Aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK folgt in derartigen Fällen ein zwingendes Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet zugunsten der Eltern des neugeborenen Kindes. 147 148 OVG NW, NVwZ 1997, 1141 (1143); Nieders. OVG, AuAS 2001, 152 (153). OVG NW, NVwZ 1997, 1141 (1143); wohl auch VG Schwerin, AuAS 1996, 227 (228). 149 VG Schwerin, AuAS 1996, 227 (228). 150 BVerfG (Kammer), AuAS 2001, 7 (8) = InfAuslR 2000, 364. A. A. VG Frankfurt, Bschl. v. 31.10.1997 – 11 G 50634/97.A(3). 152 VG Gießen, Beschl. v. 24.9.1997 – 6 G 32206/97.A(1); VG Gießen, AuAS 2000, 262; VG Regensburg, InfAuslR 2000, 143 (144) = AuAS 2000, 56. 151 83 e) Versäumung der Überstellungsfrist nach Art. 19 Abs. 4 Dublin II - VO Nach Art. 19 Abs. 4 Dublin II geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, wenn die Überstellung nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten erfolgte. Eine Verlängerung auf höchstens ein Jahr ist zulässig, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung des Antragstellers nicht erfolgen konnte. Ist der Antragsteller flüchtig, kann die Frist auf 18 Monate verlängert werden. f) Keine Anwendung der Dublin II – VO bei Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG Nach Art. 2 Buchst. c) Dublin II - VO wird der Asylantrag als Antrag definiert, mit dem der Betreffende einen Mitgliedstaat um Schutz nach der GFK unter Berufung auf den Flüchtlingsstatus im Sinne von Art. 1 GFK in der Fassung des New Yorker Protokolls ersucht. An diesen Antragsbegriff knüpfen die in Art. 3 ff. Dublin II - VO enthaltenen Zuständigkeitsvorschriften an. Dementsprechend findet die Dublin II - VO keine Anwendung, wenn der Antragsteller subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG begehrt.153 Die Vorschrift des § 27a AsylVfG ist nicht anwendbar. Dies ergibt sich bereits aus § 24 Abs. 2 AsylVfG. Denn stellt der Antragsteller keinen Asylantrag im Sinne von § 13 Abs. 1 AsylVfG, ist das Bundesamt nicht zuständig. Ein nicht gestellter Asylantrag kann nicht unzulässig im Sinne von § 29 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG sein. Freilich ist der gestellte Antrag objektiv auszulegen, sodass es allein auf die inhaltliche Bedeutung, die der Antragsteller seinem Schutzbegehren beimisst, nicht ankommen kann. Macht der Schutzsuchende daher unter formaler Berufung auf § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in Wirklichkeit ein Schutzersuchen vor Verfolgung geltend, liegt ein Antrag im Sinne von Art. 2 Buchst. c) Dublin II - VO vor und findet § 27a AsylVfG Anwendung. Ist der Antragsteller über einen sicheren Drittstaat eingereist, schützt ihn die Berufung auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 bis 5 und 7 AufenthG allerdings nicht vor der Rückführung in diesen Staat, sofern dieser identifiziert werden kann. 154 Die Ausländerbehörde geht in einem derartigen Fall nach § 19 Abs. 3 AsylVfG vor. g) Ausschluss des Eilrechtsschutzes Nach § 34a Abs. 2 AsylVfG wird im Falle der Abschiebungsanordnung der Eilrechtsschutz ausgeschlossen. Entsprechend dem Zweck des Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG, das vorläufige Bleiberecht für Asylsuchende, die aus sicheren Drittstaaten einreisen wollen oder bereits eingereist sind, möglichst umfassend auszuschließen, dehnt das BVerfG darüber hinaus den Wortlaut der Norm über ihren allgemein üblichen Sinn hinaus aus: »Aufenthaltsbeendende Maßnahmen« seien nach dem erkennbaren Sinn und Zweck des Art. 16 a II 3 GG nicht nur solche Maßnahmen, die einen nach Einreise begründeten Aufenthalt beenden sollten, sondern auch »einreiseverhindernde« Maßnahmen.155 Daher findet § 34a Abs. 2 AsylVfG auch auf Einreiseverweigerungen nach § 18 Abs. 2 AsylVfG Anwendung. Der Betroffene wird in Zurückweisungshaft genommen, wenn die Zurückweisungsentscheidung nicht unmittelbar vollzogen werden kann (§ 15 Abs. 5 AufenthG). 153 Hailbronner/Thiery, ZAR 1997, 55 (58); Lšper, ZAR 2000, 16 (17); OVG NW, NVwZ 1997, 1141 (1142) 154 BVerfGE 94, 49 (98) = NVwZ 1996, 700 = EZAR 208 Nr. 7 BVerfGE 94, 49 (101) = NVwZ 1996, 700 (706) = EZAR 208 Nr. 7; zustimmend: Maaßen/de Wyl, ZAR 1996, 158 (164); a. A. Wollenschläger/Schramml, JZ 1994, 61 (65). 155 84 Insbesondere im Blick auf unbegleitete minderjährige Kinder (Art. 6 Dublin II-VO) sowie auch Familienangehörige (Art. 7 Dublin II-VO) wie auch im Hinblick auf das Selbsteintrittsrecht aus humanitären Gründen (Art. 15 Dublin II-VO) liegt die Ratio der Verordnung nahe, einen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, da andernfalls unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Ansprüche gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat nicht umgesetzt werden können. Darauf weist auch Art. 19 Abs. 3 Dublin II - VO hin, wonach die Mitgliedstaaten zwar die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen beseitigen können. Eine darüber hinaus gehende Kompetenz, auch die Eilrechtsschutzverfahren zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuschaffen, kann dieser Norm indes nicht entnommen werden. 3. Asylfolgeantrag nach erneuter Einreise Jeder nach Abschluss eines Asylverfahrens gestellte Antrag wird als Folgeantrag (§ 71 AsylVfG) behandelt, auch wenn der Antragsteller zwischenzeitlich jahrelang im Herkunftsstaat gelebt hat.156 Auch ein substanziierter Verfolgungsvortrag führt nicht zur Anhörungsverpflichtung (§ 73 Abs. 3 Satz 3 AsylVf; s. aber § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG) In der Verwaltungspraxis wird häufig keine persönliche Anhörung durchgeführt. § 71 Abs. 5 Satz 2 1. Hs. AsylVfG hemmt lediglich die Vollziehung. Ist der Antragsteller nach Abschluss des Erstverfahrens allerdings abgeschoben worden, ist die Abschiebungsandrohung verbraucht (umstritten). Das Bundesamt darf in diesem Fall nicht nach § 71 Abs. 5 AsylVfG, sondern muss nach § 71 Abs. 4 AsylVfG vorgehen. E. Sachverhaltsaufklärung I. Grundrechtsverwirklichung durch Verfahrensschutz Das Grundrecht auf Asyl bedarf, soll es seine Funktion in der sozialen Wirklichkeit entfalten, geeigneter Organisationsformen und Verfahrensregelungen sowie einer grundrechtskonformen Anwendung des Verfahrensrechts, soweit dies für den effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist.157 Die verfassungsrechtliche Asylrechtsnorm sichert nicht nur materiell das Asylrecht des politisch Verfolgten. Der Bestimmung kommt auch verfahrensrechtliche Bedeutung zu. Allgemein fordert die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte auch im jeweiligen Verfahrensrecht Geltung. Diesem Grundsatz entsprechend muss auch das Asylgrundrecht dort auf die Verfahrensgestaltung Einfluss haben, wo es um das grundgesetzlich garantierte Recht des Betroffenen auf Asyl geht.158 II. Umfang des Untersuchungsgrundsatzes Die Behörde hat von Amts wegen nach pflichtgemäßem Ermessen jede mögliche Aufklärung des Sachverhalts bis hin zur Grenze der Unmöglichkeit zu versuchen, sofern dies für die Entscheidung des Verfahrens von Bedeutung ist.159 Das Bundesamt bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen. Hierbei ist es zwar an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 24 Abs. 1 VwVfG). Wie im allgemeinen 156 BVerfGE 94, 49 (98) = NVwZ 1996, 700 = EZAR 208 Nr. 7. BVerfGE 56, 216 (236) = EZAR 221 Nr. 4 = NJW 1981, 1436; BVerfGE 65, 76 (94) = EZAR 630 Nr. 4 = NVwZ 1983, 735 = InfAuslR 1984, 58 . 158 BVerfGE 52, 391 (407) = EZAR 150 Nr. 1 = NJW 1980, 516. 159 BVerwG, DÖV 1983, 647; BVerwG, InfAuslR 1984, 292 = EZAR 610 Nr. 13 = NVwZ 1984, 591; § 24 VwVfG, § 24 AsylVfG, § 86 VwGO 157 85 Verwaltungsverfahrensrecht werden jedoch auch im Asylverfahren Umfang und Reichweite des Untersuchungsgrundsatzes im konkreten Einzelfall durch den Tatsachenvortrag des Antragstellers (§ 25 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) bestimmt. Der Umfang der Ermittlungspflichten wird damit durch die individuellen Mitwirkungspflichten begrenzt.160 Der Prognoseprüfung selbst geht die Sammlung und Sichtung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen voraus. Von einer solchermaßen sachgerecht und methodisch einwandfrei erarbeiteten Prognosebasis kann nur die Rede sein, wenn die Tatsachenermittlungen einen hinreichenden Grad an Verlässlichkeit aufweisen und dem Umfang nach zureichend sind.161 Das Bundesamt kann sich im Einzelfall zur Überprüfung der Angaben des Antragstellers einer Vielzahl von Erkenntnisquellen bedienen. Hierzu gehören insbesondere auch die nach § 21 AsylVfG weitergeleiteten Unterlagen. Das wichtigste Erkenntnismittel ist aber der Antragsteller selbst. Dementsprechend hat § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG auch die zwingende Anhörung beibehalten. Die Asylbegründung und die Anhörung bezeichnen den Untersuchungsgegenstand im konkreten Einzelfall. Die Art der Einlassung und der Eindruck von der Gesamtpersönlichkeit des Antragstellers ermöglichen dem Bundesamt eine konkrete Überprüfung der von ihm vorgetragenen Tatsachen. Die Erfahrung des Einzelentscheiders, die Geeignetheit seiner Fragetechnik, sein Wissen aus Parallelverfahren sowie die verständige Leitung und verfahrensrechtliche Fürsorge für den Antragsteller sind wichtige Erkenntnismethoden, um die Wahrheit der vorgetragenen persönlichen Erlebnisse überprüfen zu können. Gutachten und Auskünfte können hierbei regelmäßig wenig weiterhelfen. Lediglich zur Aufklärung der allgemeinen rechtlichen und politischen Situation im Herkunftsland des Antragstellers gewinnen Gutachten und Auskünfte eine erhebliche verfahrensrechtliche Bedeutung. Bei der Bewertung des Wahrheitsgehaltes der vorgetragenen persönlichen Erlebnisse kommt es jedoch zuallererst auf die Prüfung der Glaubhaftigkeit der Sachangaben sowie der persönlichen Glaubwürdigkeit des Antragstellers im Rahmen der freien Beweiswürdigung an. Deshalb ist es auch geboten, dass der Einzelentscheider mit dem Sachentscheider identisch ist. Da die Gestaltung des Asylverfahrens heute nahezu ausschließlich an verwaltungsorganisatorischen Interessen ausgerichtet ist, darüber hinaus die Einführung der elektronischen Akte es dem die Anhörung durchführenden Einzelentscheider technisch jederzeit ermöglicht, den Vorgang abzugeben, ist heute in der Verwaltungspraxis der die Anhörung durchführende Einzelentscheider zumeist nicht mehr mit dem für die Sachentscheidung verantwortlichen Einzelentscheider identisch. Reicht der Antragsteller fremdsprachige Anträge, Eingaben, Belege, Urkunden oder sonstige Schriftstücke ein, soll die Behörde unverzüglich die Vorlage einer Übersetzung verlangen. Die Behörde kann indes auch von sich aus auf Kosten des Antragstellers eine Übersetzung anfertigen lassen, wenn dieser seiner Pflicht aus § 23 Abs. 2 Satz 1 VwVfG nicht nachkommt (§ 23 Abs. 2 Satz 3 VwVfG). Das Bundesamt macht von dieser Kostenregelung jedoch regelmäßig keinen Gebrauch und lässt von Amts wegen Übersetzungen anfertigen. Diese Regelung des Gesetzes lässt erkennen, dass Grundlage für die weitere Bearbeitung und Bescheidung der gestellten Anträge die vom Antragsteller vorgelegte Übersetzung ins Deutsche zu sein hat.162 Demgemäß verkörpert die vom Antragsteller vorgelegte deutsche Übersetzung von Antrag und Antragsbegründung auch für das überprüfende Gericht das 160 BVerwG, DVBl. 1963, 145; BVerwG, InfAuslR 1982, 156; BVerwGE 66, 237 = EZAR 630 Nr. 1 = InfAuslR 1983, 76; s. auch § 25 Abs. 1, 2 AsylVfG: 161 BVerfG (Kammer), InfAuslR 1993, 146 (149); BVerwGE 87, 141 (150) = EZAR 200 Nr. 27 = NVwZ 1991, 384. 162 BVerwG, NVwZ-RR 1991, 109 (110). 86 Sachvorbringen im Verwaltungsverfahren.163 Legt der Antragsteller zur Antragsbegründung jedoch ein in einer gängigen Fremdsprache gefertigtes Schriftstück vor und ist dessen Text ohne größere Schwierigkeiten les- und verstehbar, so hat das Bundesamt dieses Sachvorbringen auch ohne Vorlage einer Übersetzung zu beachten und seiner Entscheidung zugrunde zu legen.164 III. Persönliche Anhörung des Antragstellers 1. Funktion der Anhörung nach § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG Nach § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG ist das Bundesamt zur persönlichen Anhörung des Asylsuchenden verpflichtet, von der nur unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen abgewichen werden darf bzw. abzusehen ist.165 Diese Verpflichtung gilt für alle Asylanträge, d. h. sowohl für die nach § 14 Abs. 1 AsylVfG wie auch für die nach § 14 Abs. 2 AsylVfG gestellten Anträge. Allerdings ist bei Asylfolgeanträgen die Anhörung nicht zwingend vorgeschrieben (vgl. § 71 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG). Die persönliche Anhörung ist das zentrale Herzstück des Asylverfahrens. Sie ist heute jedoch aufgrund des institutionalisierten Klimas des Misstrauens sowie der ausländerrechtlichen Vorprägung der Tatsachenfeststellung zum „Ort des verdichteten Misstrauens“ entartet. In dem auf die Prüfung individueller Verfolgungsbehauptungen angelegten Verfahren ist die persönliche Anhörung von maßgeblicher Bedeutung.166 Das wichtigste Erkenntnismittel ist der Antragsteller selbst. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung im Asylverfahren gesteigerte Bedeutung zu.167 Der Asylsuchende befindet sich typischerweise in Beweisnot. Er ist als „Zeuge in eigener Sache“ zumeist das einzige Beweismittel. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es damit entscheidend an.168 Die Art der persönlichen Einlassung des Asylsuchenden, seine Persönlichkeit, insbesondere seine Glaubwürdigkeit, spielen bei der Würdigung und Prüfung der Tatsache, ob er gute Gründe zur Gewissheit der Behörde dargetan hat, eine entscheidende Rolle.169 Durch ein Gespräch zwischen dem Asylsuchenden und dem Anhörer kann am besten sichergestellt werden, dass der Sachverhalt umfassend aufgeklärt und die Stichhaltigkeit des Asylgesuchs überprüft und etwaigen Unstimmigkeiten oder Widersprüchen im Sachvorbringen auf der Stelle nachgegangen wird.170 Zur Statusgewährung kann daher schon allein der Tatsachenvortrag des Antragstellers führen, sofern seine Behauptungen unter 163 164 BVerwG, NVwZ-RR 1991, 109 (110). VG Frankfurt/M., NVwZ-Beil. 1994, 63. 165 VG Frankfurt/M., NVwZ-Beil. 1994, 63. BVerfGE 54, 341 (359) = EZAR 200 Nr. 1 = NJW 1980, 2641; BVerwG, DVBl. 1963, 145; Hess. VGH, ESVGH 31, 259; OVG Hamburg, InfAuslR 1983, 187. 166 167 BVerwGE 71, 180 (182) = InfAuslR 1985, 244 = BayVBl. 1985, 567; BVerwG, NVwZ 1990, 171 = InfAuslR 1989, 349. 168 BVerfGE 94, 166 (200 f.) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1976, 678 169 170 BVerwG, DVBl. 1963, 145. Hess. VGH, ESVGH 31, 259. 87 Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne glaubhaft sind, dass sich die Behörde von ihrer Wahrheit überzeugen kann.171 Daher ist die persönliche Anhörung grundsätzlich unverzichtbar. 2. Umfang der Darlegungslast (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylVfG) a) Persönliche Umstände und Tatsachen Der Asylsuchende hat schlüssig mit genauen Einzelheiten sowie erschöpfend die anspruchsbegründenden Tatsachen und Umstände vorzutragen. Da in aller Regel Beweismittel zur Überprüfung der Angaben nicht vorgelegt werden, muss der Einzelentscheider sich vom Wahrheitsgehalt der Sachangaben auf andere Weise überzeugen können. Ein abstrakter, allgemein gehaltener Vortrag vermittelt regelmäßig nicht den Eindruck, dass der Antragsteller die Vorgänge wirklich erlebt hat. Demgegenüber ist ein nachvollziehbares, im Blick auf zeitliche, örtliche und sonstige entscheidungserhebliche Umstände lebensnahes Sachvorbringen geeignet, die erforderliche Überzeugungsgewissheit zu vermitteln. b) Allgemeine Verhältnisse im Herkunftsland Mit Blick auf die allgemeinen Verhältnisse genügt es, um Anlass zu weiteren Ermittlungen zu geben, wenn der Tatsachenvortrag die nicht entfernt liegende Möglichkeit aufzeigt, dass Verfolgung droht.172 Gegen diese Differenzierung wird in der Verwaltungspraxis häufig verstoßen, etwa indem dem Antragsteller vorgehalten wird, er habe zu den Motiven und Beweggründen der Verfolger oder zu zwischenzeitlich länger dauernden repressionsfreien Phasen keine plausiblen Erklärungen abgegeben. Derartige Umstände entziehen sich jedoch in aller Regel dem Einfluss sowie Erfahrungsbereich des Antragstellers. Gegebenenfalls hat daher das Bundesamt von Amts wegen die Art und Systematik der Repressionsmethoden sowie weitere erhebliche Umstände aufzuklären. c) Verhandlungsleitung und verfahrensrechtliche Fürsorgepflicht Die Behörde hat die Verfahrensherrschaft. Sie hat mögliche Widersprüche, Ungereimtheiten und sonstige Unklarheiten von Amts wegen aufzuklären. Wesentlich für eine verfahrensrechtlich einwandfreie Gestaltung der Anhörung im konkreten Einzelfall ist, dass der Antragsteller in einer seiner Person gemäßen Art und Weise zu Beginn der Anhörung über das ins Bild gesetzt wird, worauf es für ihn und die Entscheidung über sein Ersuchen ankommt, und dass der Bedienstete die Anhörung loyal sowie verständnisvoll führt.173 Daraus ergeben sich besondere Sorgfaltspflichten für die Belehrung des Asylsuchenden, die Verhandlungsführung sowie für die behördlichen Untersuchungspflichten. Zunächst ist alles zu vermeiden, was zu Irritationen und in deren Gefolge zu nicht hinreichend zuverlässigem Vorbringen in der Anhörung beim Bundesamt führen kann. Zwar können aus dem Sachvorbringen zu den Reisemodalitäten wichtige Erkenntnisse zur Glaubhaftigkeit der Angaben und der Glaubwürdigkeit insgesamt gezogen werden.174 Jedoch darf die Aufklärung des Reiseweges nicht im Zentrum der Anhörung stehen. Insbesondere die Art der behördlichen Aufklärung des Reiseweges und die Dominanz, die dieser Sachkomplex während der Anhörung einnimmt, führen regelmäßig zu Irritationen und erheblichen 171 BVerwGE 71, 180 (182) = InfAuslR 1985, 244 = BayVBl. 1985, 567. BVerwG, InfAuslR 1982, 156; BVerwG, DÖV 1983, 207; BVerwG, InfAuslR 1983, 76; 1984, 129; 1989, 350. 173 BVerfGE 94, 166 (204) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678. 174 OVG NW, AuAS 1999, 66; OVG Rh-Pf, AuAS 1999, 67. 172 88 Verunsicherungen bei den Asylsuchenden, die deshalb zu unzulänglichen unvollständigen Angaben bei der anschließenden Darlegung der Asylgründe führen. und Unzulässig ist darüber hinaus, dass der Einzelentscheider in die zusammenhängende Darlegung der Fluchtgründe dadurch interveniert, dass er Fragen zu völlig anderen Tatsachenkomplexen stellt und im späteren Verlauf der Anhörung dem Antragsteller Vorhaltungen macht, er habe bestimmte wesentliche tatsächliche Gesichtspunkte bei der Darlegung des in Rede stehenden Komplexes nicht angegeben. Eine derartige Befragungstechnik programmiert strukturell das Offensichtlichkeitsurteil (vgl. § 30 AsylVfG). Die vom BVerfG geforderte loyale und verständnisvolle Führung der Anhörung setzt demgegenüber voraus, dass dem Asylsuchenden zunächst die notwendige Zeit und Ruhe gegeben wird, von sich aus zusammenhängend die einzelnen Ereignisse und persönlichen Erlebnisse darzustellen. Der Vorprüfer hat sich hierbei darauf zu beschränken, durch verständnisvolle ergänzende Fragen dem Antragsteller zu helfen und ihn zu leiten und gegebenenfalls im Hinblick auf die Substanziierungspflichten auf mögliche rechtliche Gesichtspunkte hinzuweisen. Er mag auch den ausufernden Sachvortrag auf die wesentlichen Tatsachenfragen zurückführen, jedoch stets in einer Weise, die nicht zu Irritationen und Verunsicherungen führt. d) Behördliche Verpflichtung zu Vorhalten Das Bundesamt hat Widersprüchen im persönlichen Sachvortrag ebenso nachzugehen wie es auf Vollständigkeit des Sachvorbringens hinzuwirken hat.175 Ergeben sich zwischen dem bisherigen Sachvortrag und dem Vorbringen in der Anhörung oder innerhalb des Sachvortrags in der persönlichen Anhörung Widersprüche, sind diese an Ort und Stelle durch Vorhalte aufzuklären.176 Selbstverständlich ist es die Pflicht des Vorprüfers, Vorhalte zu machen und auf Widersprüche hinzuweisen, nachdem der Antragsteller den Sachverhalt zusammenhängend dargestellt hat. Derartige Vorhalte dienen ja gerade dazu, einerseits dem Antragsteller Gelegenheit zu geben, Fehler und Erinnerungslücken zu überprüfen, sowie andererseits, tragfähige Entscheidungsgrundlagen zu schaffen. Nach den gemachten Erfahrungen der vergangenen Jahre unterbleiben derartige Vorhalte jedoch sehr häufig sowohl im Verwaltungs- wie auch im Verwaltungsstreitverfahren. Im schriftlichen Bescheid werden dem Asylsuchenden sodann angebliche Unstimmigkeiten, Ungenauigkeiten und Widersprüche in seinem Sachvorbringen entgegengehalten, ohne dass ihm in der Anhörung die Gelegenheit eingeräumt wurde, auf eine entsprechende gezielte Frage konkret Stellung nehmen zu können. Das BVerfG hat ausdrücklich hervorgehoben, dass bei gegebenem Anlass klärende und verdeutlichende Rückfragen zu stellen sind.177 Unterbleiben derartige Vorhalte, obwohl diese sich dem Bundesamt hätten aufdrängen müssen, dürfen dadurch entstehende Ungereimtheiten und Unzulänglichkeiten in der Darstellung des Verfolgungs- und Fluchtgeschehens dem Antragsteller im Bescheid des Bundesamtes nicht zur Last gelegt werden; es sei denn, es handelt sich um derart wesentliche Fragen, dass man von einem durchschnittlich intellektuell veranlagten Asylsuchenden die Ausräumung derartiger Umstände aus eigener Initiative erwarten kann. Dies dürfte allerdings eher der Ausnahmefall sein. Daher ist die intellektuelle 175 OVG Saarland, InfAuslR 1983, 79. BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 85 (88); 1991, 94 (95); 1992, 231 (233); s. auch BVerfGE 94, 166 (204) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678; BVerfG (Kammer), InfAuslR 1999, 273 (278); 2000, 254 (258), alle zur Verpflichtung zu klärenden Rückfragen; s. aber zum gerichtlichen Verfahren OVG Brandenburg, EZAR 631 Nr. 50. 176 177 BVerfGE 94, 166 (204) = EZAR 632 Nr. 25 = NVwZ 1996, 678. 89 Unfähigkeit, einen Geschehensablauf im Zusammenhang zu schildern, sowohl bei der Sachverhaltsermittlung wie bei der Beweiswürdigung angemessen zu berücksichtigen.178 e) Praktische Empfehlungen zur persönlichen Anhörung Der Rechtsanwalt oder die Rechtsanwältin wird häufig an der persönlichen Anhörung nicht teilnehmen können, weil der Asylsuchende nach Meldung (§ 22 AsylVfG) im Wege der Erstverteilung häufig einem anderen Bundesland zugewiesen und dort unmittelbar nach Antragstellung angehört wird (vgl. § 25 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG). Wenn mit dem Mandanten die Vertretung während der Anhörung vereinbart worden ist, sollte der Rechtsanwalt auf die aus § 14 Abs. 4 Satz 1 VwVfG folgende verfahrensrechtliche Verpflichtung des Bundesamtes hinweisen und dieses auffordern, die Anhörung zeitlich so zu gestalten, dass unter für den Verfahrensbevollmächtigten zumutbaren Bedingungen dessen Anwesenheit gewährleistet wird. Nur wenn die Anhörung am Tag der persönlichen Meldung durchgeführt wird, entfällt die Benachrichtigungspflicht (vgl. § 25 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG). Eine derartige Verwaltungspraxis ist jedoch nicht üblich und angesichts der weiterhin sinkenden Antragszahlen auch nicht gerechtfertigt. Der Rechtsanwalt sollte in der Antragsbegründung darauf hinweisen, dass er an der Anhörung teilnehmen wird und eine entsprechende Gestaltung erwartet. Notfalls ist mit der Referatsleitung oder der Zentrale des Bundesamtes Kontakt aufzunehmen, um das Anwesenheitsrecht des Bevollmächtigten zu sichern. Selbstverständlich muss der Rechtsanwalt gegebenenfalls seine Terminplanung ändern. Bereits festgesetzte gerichtliche und behördliche Termine hat das Bundesamt indes zu berücksichtigen. Da die Anwesenheit des Bevollmächtigten nicht stets gewährleistet ist, muss der Mandant bereits im Zusammenhang mit der Vorbereitung der schriftlichen Antragsbegründung über wichtige verfahrensrechtliche Obliegenheiten aufgeklärt werden und ist er erschöpfend und detailliert auf die persönliche Anhörung vorzubereiten. Auf folgende Gesichtspunkte ist der Mandant besonders hinzuweisen: Der Asylsuchende muss zunächst jeweils die Frage des Einzelentscheiders auf sich einwirken lassen, bevor er sie beantwortet. Ein häufiger Fehler im Asylverfahren besteht darin, dass mit der Antwort begonnen wird, bevor die Frage überhaupt zu Ende formuliert und übersetzt worden ist. Dies erschwert die Ermittlungen, kann aber auch zu gravierenden Widersprüchen führen. Der Asylsuchende darf eine Frage nicht beantworten, deren Wortlaut oder Wortsinn er nicht verstanden hat. Gerade die häufig komplizierten Rechtsfragen im Asylrecht lassen den Sinn der gestellten Fragen für die Asylsuchenden häufig nicht deutlich werden. Es ist deshalb das gute Recht des Antragstellers, um Wiederholung und gegebenenfalls um Erläuterung der Frage zu bitten. Der Asylsuchende muss bei seiner Antwort den mit der Frage angesprochenen wesentlichen Tatsachenkomplex erschöpfend, konkret, lebensnah und detailreich erläutern. Weniger wesentliche Randkomplexe kann er kurz abhandeln. Das umgekehrte Verfahren ist nicht selten, aber unter allen Umständen zu vermeiden. Es drängt sich andernfalls der Eindruck auf, der Antragsteller weiche sensitiven Fragen aus und trage lediglich eine „Verfolgungslegende“ vor. Ganz wesentlich ist, dass der Antragsteller sich vor seiner Antwort selbst Rechenschaft darüber abgibt, ob er positives Wissen besitzt (eigener Erfahrungsbereich) oder lediglich 178 Vgl. BVerwG, NVwZ 1990, 171. 90 Mutmaßungen über bestimmte Vorgänge und Ereignisse (Verfolgungsmotivationen, allgemeine Tatsachen) anstellen kann. Kleidet er Mutmaßungen in die Form bestimmter Tatsachen, wird er selbst bei Offensichtlichkeit des zugrunde liegenden Irrtums für das weitere Verfahren daran festgehalten, so dass häufig die Antragsablehnung und Klageabweisung wegen widersprüchlichen Sachvorbringens die Folge ist. Im Hinblick auf örtliche, zeitliche und andere Tatsachen ist der Antragsteller zu möglichst präzisen Angaben verpflichtet. Andererseits sind unter allen Umständen entsprechende Festlegungen zu vermeiden, wenn das Erinnerungsvermögen diese nicht trägt. Zur Vorbereitung auf die Anhörung darf der Antragsteller für sich die wesentlichen Daten chronologisch schriftlich ordnen und die Notizen während der Anhörung als Erinnerungsstütze verwenden. Unzulässig ist das Ablesen von schriftlichen Erklärungen, nicht indes die Verwendung schriftlicher Notizen während der Anhörung. Unterbricht der Einzelentscheider die Darlegung eines prozesshaften Ereignisses, so muss der Antragsteller darauf insistieren, dass er den Hergang im Gesamtzusammenhang darstellen kann. Notfalls hat er auf Protokollierung seiner Rüge zu bestehen. Er hat nach der Unterbrechung den Einzelentscheider darauf hinzuweisen dass es sein verfahrensrechtliches Recht und auch seine Pflicht ist, den Vorgang vollständig zu Ende zu erzählen. Nach dem Ende der Befragung hat der Antragsteller gewissenhaft zu prüfen, ob alle für ihn wesentlichen Umstände zur Sprache gekommen sind. Da das Bundesamt die Verfahrensherrschaft hat, muss er zunächst die vom Vorprüfer gestellten Fragen beantworten. Je nach der fachlichen Qualifikation des Vorprüfers werden deshalb häufig wesentliche Tatsachenkomplexe nicht ermittelt. Die Verwaltungsgerichte bürden hierfür in aller Regel dem Antragsteller die Verantwortung auf. Deshalb ist es von ganz entscheidender Bedeutung, dass nach Beendigung der Befragung durch das Bundesamt sowie – nochmals – nach dem Verlesen und der Übersetzung des Protokolls gewissenhaft geprüft wird, ob alle erheblichen Umstände dargelegt worden sind. Gegebenenfalls ist schriftliche Ergänzung des Protokolls zu beantragen. Das Protokoll hält die Angaben des Asylsuchenden fest. Aus der Natur der Sache heraus werden diese im Bürokratendeutsch zusammengefasst. Im Zweifel hat der Antragsteller darauf zu bestehen, dass seine Sichtweise und Formulierung wortgetreu festgehalten wird, weil er seinerseits durch die Gerichte in aller Regel an jeder Äußerung so festgehalten wird, wie sie schriftlich fixiert worden ist. Gegebenenfalls hat der Antragsteller auf schriftliche Niederlegung der Weigerung, seine Fassung zu protokollieren, zu bestehen. Der Rechtsanwalt muss unverzüglich nach Übersendung des Protokolls mit dem Mandanten die Anhörung besprechen und ebenso unverzüglich schriftlich Korrekturen und Ergänzungen vortragen. F. Materielle Entscheidungsgrundlagen I. Praktische Bedeutung im Asylverfahren Die materiellen Entscheidungskriterien haben in der Verwaltungspraxis des Bundesamtes weniger Bedeutung, als der Umfang der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen vermuten lässt. Dies mag sich in Zukunft wegen der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben ändern. Gleichwohl kommt es im Asylverfahren zuallererst auf die Tatsachenfeststellungen und in diesem Zusammenhang auf die Prüfung der Glaubhaftmachung der vorgebrachten Tatsachen und Umstände an. Wohl kaum ein Rechtsgebiet ist in so hohem Maße von der subjektiven Einschätzung des Rechtsanwenders abhängig wie das Asylrecht. Das Bundesamt ermittelt den Sachverhalt und würdigt kritisch die Einlassungen des Antragstellers auf Schlüssigkeit, Widerspruchsfreiheit, Dichte des Tatsachenvortrags sowie Übereinstimmung mit der bekannten Erkenntnislage und 91 prüft erst im Anschluss daran nach Maßgabe der in Rechtsprechung und Lehre herausgebildeten materiellen Kriterien, ob das Sachvorbringen die erforderliche Eingriffsintensität aufweist. Die Prüfung bezieht sich in erster Linie auf das fluchtauslösende Geschehen. Ist das Sachvorbringen dicht sowie lebensnah und nimmt das Bundesamt dem Asylsuchenden ab, dass er einem akuten Verfolgungsdruck entkommen ist, führt dies zur Bejahung der Gefahr einer Verfolgungsgefahr als Anlass für die Flucht. Haben keine entscheidungserheblichen Veränderungen nach der Flucht stattgefunden, wirkt die Verfolgungsgefahr fort und die Verfolgungsprognose fällt zugunsten des Antragstellers aus (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Dem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung kommen daher im Asylverfahren gesteigerte Bedeutung zu. Zur Bejahung der Verfolgung kann allein schon der Tatsachenvortrag führen, sofern die Behauptungen des Asylsuchenden unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft“ sind, dass der Rechtsanwender sich von der Wahrheit überzeugen kann.179 Daher ist die präzise und vollständige Ermittlung der tatsächlichen Grundlagen des Asylbegehrens die zentrale Aufgabe im Asylverfahren. Anlass zur Auseinandersetzung mit rechtlichen Fragen besteht nur, wenn es im Einzelfall – auf der Grundlage glaubhaft gemachter tatsächlicher Entscheidungsgrundlagen – hierzu Anlass gibt. Daher besteht weder im Asylverfahren noch im sich gegebenenfalls anschließenden Verwaltungsstreitverfahren Anlass zu rechtlichen Ausführungen, wenn der konkrete Einzelfall dies nicht angezeigt erscheinen lässt. II. Gegenstandsbereich des Asylverfahrens 1. Allgemeines Nach § 13 Abs. 1 AsylVfG bezieht sich der Asylantrag auf die Asylanerkennung nach Art. 16a GG und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 4 AsylvfG). Aufgrund der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) ist die bisherige Rechtsprechung des BVerwG über die Identität der Voraussetzungen der Asylanerkennung mit denen des Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (politische Verfolgung)180 überholt. Maßgebend ist nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG der Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 GFK. Für die Auslegung dieses Begriffs ist nicht die bisherige deutsche Rechtsprechung zum Begriff der politischen Verfolgung, sondern sind die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie maßgebend. Weder § 60 Abs. 1 AufenthG noch die Qualifikationsrichtlinie verwenden den Begriff der politischen Verfolgung, sondern den Begriff der Verfolgung nach der GFK. 2. Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) 179 BVerwGE 71, 180 (182) = InfAuslR 1985, 244 = BayVBl. 1985, 567; BVerwG, NVwZ 1990, 171 = InfAuslR 1989, 349. 180 BVerwGE 95, 42 (45) = EZAR 230 Nr. 3 = NVwZ 1994, 497 = InfAuslR 1994, 196; BVerwG, EZAR 231 Nr. 4; BVerwG, EZAR 613 Nr. 25; BVerwG, InfAuslR 1993, 119 (123 f.); a. A. BVerfG (Kammer), NVwZ 1993, 465; BVerwGE 89, 296 (301) = EZAR 232 Nr. 2 = NVwZ 1992, 676 (1. Senat): teilweise Identität; zum Ganzen: Marx, Handbuch zur Asyl- und Flüchtlingsanerkennung, § 31 Rn 1 ff. 92 Mit Wirkung vom 11. Oktober 2006 (Art. 38 Abs. 1 RL 2004/83/EG) ist im deutschen Recht die Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) unmittelbar anwendbar. Nach Art. 2 Buchst. a) 2004/83/EG bezeichnet der Ausdruck „internationaler Schutz“ die Flüchtlingseigenschaft (Art. 13 RL 2004/83/EG) und den subsidiären Schutz (Art. 18 RL 2004/83/EG). Kapitel II der Richtlinie legt für beide Schutzformen zunächst gemeinsame tatbestandliche Voraussetzungen fest. Für beide Schutzformen ist der Wegfall des nationalen Schutzes (Art. 6 bis 7 RL) entscheidend, so dass für den Begriff der Folter und unmenschlichen Behandlung nach Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG keine Staatlichkeit der Verfolgung mehr vorausgesetzt werden darf und die entgegenstehende Rechtsprechung des BVerwG zu Art. 3 EMRK181 damit nicht mehr anwendbar ist. Ebenso ist die deutsche Rechtsprechung zu § 53 AuslG 1990 insoweit überholt, wie die Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes abgelehnt wird. Denn auch für den subsidiären Schutz ist nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG der herabgesetzte Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzuwenden. Der eine Beweiserleichterung vermittelnde Begriff des bereits erlittenen oder unmittelbar bevorstehenden ernsthaften Schadens in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie findet mithin auch auf den subsidiären Schutz Anwendung. Für beide Schutzformen sind darüber hinaus die Grundsätze zu den Nachfluchtgründen (Art. 5 RL 2004/83/EG) und zum internen Schutz (Art. 8 RL 2004/83/EG) maßgebend. Der Gesetzgeber bestimmt in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG, dass für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 RL 2004/83/EG ergänzend anzuwenden sind. In § 60 Abs. 11 AufenthG wird bestimmt, dass für die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG Art. 4 Abs. 4, 5 Abs. 1 und 2, 6 bis 8 RL 2004/83/EG gelten. Damit verfehlt der Gesetzgeber seine Aufgabe der Umsetzung und muss die Rechtsanwendung im Zweifel entsprechend dem Gebot der richtlinienkonformen Auslegung unmittelbar auf die Richtlinie RL 2004/83/EG zurückgreifen. Unzutreffend ist zunächst im Blick auf den Flüchtlingsschutz die ausschließliche Fixierung auf die Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Vielmehr enthält die Richtlinie ein auf Art. 1 A Nr. 2 GFK beruhendes Konzept, das auf der Verfolgung (Art. 9 RL 2004/83/EG) dem Wegfall des nationalen Schutzes (Art. 6 bis 8 RL 2004/83/EG) und der Anknüpfung an Verfolgungsgründe (Art. 10 RL 2004/83/EG) beruht. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfasst die tatbestandlichen Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes nach Art. 1 A Nr. 2 GFK in Verb. mit Art. 4 bis 10 RL 2004/83/EG. Die Bezugnahme auf nur einzelne Vorschriften der Richtlinie, die die positiven tatbestandlichen Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes regeln, wird der durch die Richtlinie vorgegebenen Konzeption des Flüchtlingsbegriffs nicht gerecht und ist insbesondere nicht geeignet, den Rechtsanwendern die grundlegenden Änderungen, welche die Richtlinie gegenüber der bisherigen deutschen Rechtsprechung mit sich bringt, deutlich zu machen. Eine lediglich ergänzende Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG ist mit dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts unvereinbar. Vielmehr ist die Richtlinie gegenüber dem bisherigen deutschen Recht vorrangig. Sollte der Gesetzgeber mit dieser Formulierung wegen der geschlechtsspezifischen Verfolgung (vgl. einerseits § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, andererseits Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 2. Hs. RL 2004/83/EG) den Vorrang des deutschen Rechts in dieser Frage sicherstellen wollen, hätte es nahe gelegen, Art. 181 BVerwGE 104, 254 = EZAR 231 Nr. 10 = NVwZ 1997, 1131 = InfAuslR 1997, 379; BVerwGE 105, 187 = EZAR 043 Nr. 26 = DÖV 1998, 608; in BVerwG, B. v. 18. 12. 2006 – BVerwG 1 B 53.06, Ziff. 11, deutet das BVerwG diese Rechtsänderung an. 93 3 RL 2004/83/EG einzubeziehen. Danach können die Mitgliedstaaten günstigere Normen zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erlassen oder beibehalten. § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG setzen den gemeinschaftsrechtlichen subsidiären Schutz um. Zwar entspricht die Formulierung der Verweisungsnorm in § 60 Abs. 11 AufenthG dem gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang. Es genügt jedoch nicht, lediglich einige Normen von Kapitel II der Richtlinie 2004/83/EG in Bezug zu nehmen. Vielmehr finden grundsätzlich sämtliche in Art. 4 bis 8 RL 2004/83/EG enthaltenen Regelungen Anwendung. Lediglich Art. 5 Abs. 3 RL 2004/83/EG stellt eine auf den Flüchtlingsschutz bezogene Ausschlussregelung dar. Durch tatbestandliche Änderungen in § 60 Abs. 2 und 3AufenthG hat der Gesetzgeber den Wortlaut dieser Vorschriften an Art. 15 Buchst. a) und b) RL 2004/83/EG angepasst. Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG wird in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG - freilich sinnentstellt - umgesetzt. Dies erklärt, dass der Gesetzgeber Art. 15 RL 2004/83/EG in der Verweisungsregel nicht bezeichnet. Die Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG beruhen nicht auf der Richtlinie 2004/83/EG. Sie sind Normen des nationalen subsidiären Schutzes.182 Aus diesem Grund werden sie in der Verweisungsnorm des § 60 Abs. 11 AufenthG auch nicht bezeichnet. Auch bei diesen Abschiebungsverboten handelt es sich um zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, für deren Behandlung im Rahmen des Asylverfahrens das Bundesamt (vgl. § 24 Abs. 2, § 31 Abs.3 AsylVfG), außerhalb des Asylverfahrens die Ausländerbehörde unter zwingender Beteiligung des Bundesamtes (§ 72 Abs.2 AufenthG) zuständig ist. 3. Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs a) Verhältnis der Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs zu denen des subsidiären Schutzstatus Kapitel III der Richtlinie 2004/83/EG bezeichnet die spezifischen Voraussetzungen für den Flüchtlingsstatus. Der Flüchtlingsstatus ist gegenüber dem subsidiären Status von zusätzlichen Voraussetzungen, wie der Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgründen abhängig. Beim subsidiären Schutz übernimmt der Begriff des ernsthaften Schadens (Art. 15 RL) die Funktion der Verfolgungshandlung (Art. 9 RL), die für den Flüchtlingsstatus entscheidend ist. Beide Begriffe sind nicht deckungsgleich. Vielmehr ist der Begriff des ernsthaften Schadens enger als der der Verfolgungshandlung (vgl. Art. 15 einerseits und Art. 9 RL andererseits). Erreicht der Verfolgungseingriff zwar die Schwelle eines ernsthafter Schadens, fehlt es indes an einem Verfolgungsgrund, wird kein Flüchtlingsstatus, sondern der ergänzende Schutz gewährt. Liegen die Voraussetzungen von Kapitel II und III der Richtlinie 2004/83/EG vor, wird der Flüchtlingsstatus (Art. 13 RL 2004/83/EG) und die Rechtsstellung nach Art. 20 – 33 RL 2004/83/EG gewährt. Liegen demgegenüber die Voraussetzungen nach Kapitel II und V der Richtlinie 2004/83/EG vor, wird subsidiärer Schutz (Art. 18 RL 2004/83/EG) und die Rechtsstellung nach Art. 20 bis 33 der Richtlinie 2004/83/EG gewährt. b) Funktion des Flüchtlingsbegriffs Die Gesetzesüberschrift „Verbot der Abschiebung“ zu 60 AufenthG wie auch die systematische Stellung der Norm im AufenthG erschwert eine reibungslose Umsetzung der Richtlinie. In der deutschen Rechtsprechung wurde bislang dogmatisch klar zwischen dem 182 S. hierzu BVerwGE 111, 223 = NVwZ 2000, 1303 = InfAuslR 2000, 461; BVerwGE 122, 271 = EZAR 51 Nr. 2; ausführlich zu diesem Begriff Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, Kapitel 13 § 41 und § 42. 94 positiv besetzten „Asylschutz“ nach der Verfassung einerseits sowie dem lediglich negatorisch wirkenden relativen „Abschiebungsschutz“ nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 andererseits unterschieden. Dass mit diesem Abschiebungsschutz der Flüchtlingsschutz nach der GFK innerstaatlich umgesetzt wurde, blieb diesem Denken verschlossen, ja, die Konvention wurde in keinem Asylbescheid und keinem Gerichtsurteil erwähnt, sondern lediglich die ausländerrechtliche Norm. Selbst das BVerfG verwendet in Abgrenzung zum „absoluten Asylschutz“ der Verfassung im Blick auf § 51 Abs. 1 AuslG 1990 den Begriff der „relativen Abschiebungshindernisse.“183 Die Konvention wirkt seiner Ansicht nach damit lediglich relativ, verpflichtet die Bundesrepublik nur zur Statusgewährung, wenn die Abschiebung in andere Staaten nicht möglich ist. Durch die Qualifikationsrichtlinie wird jedoch die Funktion und Bedeutung von § 60 Abs. 1 AufenthG gegenüber der Vorläufernorm des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 grundlegend umgestaltet. Während etwa § 60 Abs. 1 AufenthG lediglich „Schutz vor Abschiebung“ in den Herkunftsstaat verspricht und die Abschiebung in Drittstaaten damit ausdrücklich nicht ausschließt (vgl. § 34 AsylVfG, § 60 Abs. 10 Satz 2 AufenthG), verspricht die Richtlinie Flüchtlingen im positiven Sinne „internationalen Schutz“, also den in Art. 2 bis 34 der GFK bereit gehaltenen Schutz (vgl. Art 20 bis 33 RL 2004/83/EG), und hat die Feststellung, dass die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen, zwingend die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Art. 13 RL 2004/83/EG) sowie die Gewährung eines Aufenthaltstitels von mindestens drei Jahren (Art. 24 Abs. 1 RL 2004/83/EG) zur Folge. Die Prüfung etwaiger Abschiebungsmöglichkeiten in Drittstaaten ist den Mitgliedstaaten untersagt. Mit der Neustrukturierung von § 3 AsylVfG und der Hervorhebung der „Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft“ in § 3 Abs. 4 AsylVfG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 trägt der Gesetzgeber nunmehr dieser Rechtslage Rechnung. c) Prüfstruktur des Flüchtlingsbegriffs aa) Verfolgungshandlung + Wegfall des nationalen Schutzes + Verfolgungsgründe § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist so auszulegen und anzuwenden, dass die Vorschrift den vollen Wortlaut des Flüchtlingsbegriffs in Art. 1 A Nr. 2 GFK184 unter Berücksichtigung von Kapitel II und III der Richtlinie 2004/83/EG umfasst. Deshalb ist bei der Auslegung und Anwendung von § 60 Abs. 1 AufenthG ein vollständig anderes konzeptionelles und dogmatisches System zu beachten, was auch für die Tatsachenfeststellung in der Verwaltungspraxis und in der Rechtsprechung weit reichende Bedeutung hat. Inwieweit daneben dem Begriff der „politischen Verfolgung“ nach § 1 Abs. 1 1. Hs AsylVfG noch eine eigenständige Bedeutung zukommen kann, ist derzeit eine offene Frage. Wegen der nahezu vollständigen rechtlichen Gleichstellung der Rechtsstellung des Flüchtlings mit der des Asylberechtigten durch das ZuwG dürfte indes dem Begriff der politischen Verfolgung in der Zukunft für die Rechtsanwendung kaum noch eine signifikante Funktion zukommen. Entsprechend der Staatenpraxis zur GFK und dem Zweck der GFK steht am Ausgangspunkt der Prüfung die Verfolgungshandlung (Art. 9 RL 2004/83/EG). Alle für die Entscheidung wesentlichen Tatsachen und Umstände sind aufzuklären (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG). Art. 2 Buchst. b) RL 2004/83/EG verweist für die Auslegung und Anwendung der Richtlinie auf die GFK und das New Yorker Protokoll und bezeichnet in Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG den in Art. 1 A Nr. 2 GFK enthaltenen Flüchtlingsbegriff. Für die nachfolgenden Bestimmungen der Art. 4 bis 14 RL 2004/83/EG ist daher der 183 BVerfGE 94, 49 (97) = EZAR 208 Nr. 7 = NVwZ 1996, 700 BVerwG, U. v. 8. 2. 2005 – BVerwG 1 C 29.03, unter Bezugnahme auf BVerwGE 89, 296 (301) = EZAR 232 Nr. 2 = NVwZ 1992, 676 = InfAuslR 1992, 205 = D 51. 184 95 Flüchtlingsbegriff der GFK zugrunde zu legen. Entsprechend der insbesondere in der angelsächsischen Staatenpraxis entwickelten Dogmatik, die bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft nach der „Verfolgungshandlung“ den „Wegfall des nationalen Schutzes“ und im Anschluss daran den Kausalzusammenhang mit den Verfolgungsgründen behandelt, ist nach der Richtlinie im Anschluss an die Verfolgungshandlung der in Art. 6 bis 8 geregelte Wegfall des nationalen Schutzes und anschließend der kausale Zusammenhang mit den Verfolgungsgründen (Art. 10 RL 2004/83/EG) zu prüfen. Verfolgung im Sinne der GFK ist die dauerhafte oder systematische Verletzung grundlegender Menschenrechte als beweiskräftiges Indiz für einen Wegfall des nationalen Schutzes.185 Die GFK will den Wegfall des nationalen Schutzes gegen Verfolgungen durch die Gewährleistung des internationalen Schutzes ausgleichen. Die teleologische, entstehungsgeschichtliche und begriffliche Auslegung von Art. 1 A Nr. 2 GFK legt daher nahe, zwischen der Verfolgung (Art. 9 RL 2004/83/EG) und dem Wegfall des nationalen Schutzes (Art. 6 bis 7 RL 2004/83/EG) zu unterscheiden. Liegt keine Verfolgung vor, kommt es erst gar nicht zur Prüfung des Wegfalls des nationalen Schutzes. Die Existenz staatlicher oder diesen vergleichbarer Schutzstrukturen wird erst bei der Prüfung des Wegfalls des nationalen Schutzes relevant, darf deshalb nicht bereits bei der Prüfung der Verfolgungshandlung in die Prüfung einbezogen werden. Das bedeutet, dass die Prüfung der Verfolgungshandlung sich ausschließlich auf die in Art. 9 RL 2004/83/EG bezeichneten Verfolgungselemente konzentriert und deshalb auf der ersten Prüfungsstufe der Verfolgungsakteur ohne Bedeutung ist. Erst auf der zweiten Prüfungsstufe kommt der Verfolgungsakteur (Art. 6 und 7 RL 2004/83/EG) in den Blick und sind die entsprechenden Darlegungslasten und Ermittlungspflichten zu beachten. Schließlich wird bei der dritten Prüfungsphase der Kausalzusammenhang zwischen der Verfolgungshandlung (Art. 9 RL 2004/83/EG) und den Verfolgungsgründen (Art. 10 RL 2004/83/EG) ermittelt. Zwar besteht zwischen der Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgründen ein Kausalzusammenhang (Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG). Zunächst sind jedoch die jeweiligen spezifischen Voraussetzungen beider Begriffselemente festzustellen. Dabei darf bei der Ermittlung der Verfolgungshandlung die Prüfung nicht nach Maßgabe der Verfolgungsgründe erfolgen. Dies verdeutlicht etwa der weitaus umfassendere Diskriminierungsansatz der Regelbeispiele in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG gegenüber den fünf enumerativen Verfolgungsgründen nach Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG. Umgekehrt darf bei der Feststellung des Verfolgungsgrundes nicht die Verfolgungshandlung in die Prüfung einbezogen werden. Dies hat insbesondere Auswirkungen auf den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Vielmehr ist nach der Ermittlung beider Begriffselemente zu prüfen, ob ein spezifischer Kausalzusammenhang festgestellt werden kann (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG). bb) Abweichungen der Flüchtlingseigenschaft vom Begriff der “politischen Verfolgung“ Erstaunlicherweise verwendet das BVerwG bei der Auslegung und Anwendung des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG unverändert den Begriff der „politischen Verfolgung“, 186 obwohl es einräumt, dass § 60 Abs. 1 Satz 1AufenthG den Flüchtlingsbegriff in Art. 1 A Nr. 2 GFK im vollen Umfang in das nationale Recht überführt. Wie aus den vorstehenden Ausführungen 185 186 House of Lords, IJRL 2001, 174 (180, 188) – Horvath. BVerwGE 122, 376 (381) = NVwZ 2005, 1328 = InfAuslR 2005, 339; BVerwG, NVwZ 2005, 1328. 96 deutlich geworden ist, ist diese Ansicht nicht zutreffend. Dem Flüchtlingsbegriff ist der Begriff der politischen Verfolgung fremd. Dementsprechend stellen die durch die Qualifikationsrichtlinie eingeführten materiellen Entscheidungskriterien die bisher in über dreißig Jahren für gewiss erachteten Grundannahmen der deutschen Rechtsprechung zum Begriff der Verfolgung grundlegend in Frage. Auch der Richtlinie 2004/83/EG ist der Begriff der politischen Verfolgung fremd. Daher können etwa bei der Begriffsbestimmung der nichtstaatlichen Verfolgungsakteure (Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG) nicht Spurenelemente der deutschen Rechtsprechung fruchtbar gemacht werden und kann dieser Typus nicht einschränkend nach Maßgabe einer überlegenen Hoheitsgewalt inhaltlich bestimmt werden. In der deutschen Rechtsprechung wird deshalb zunächst erhebliche Unsicherheit vorherrschen. Es wäre jedoch verfehlt, den bisherigen durch die Rechtsprechung des BVerwG geprägten deutschen Sonderweg beizubehalten und eine spezifisch deutsche Interpretation der Richtlinie zu versuchen. Der im Blick auf die tatbestandlichen Voraussetzungen des Asylschutzes und des Flüchtlingsschutzes (§ 51 Abs. 1 AuslG 1990) entwickelten Identitätslehre ist bereits durch den Gesetzgeber mit § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG und insbesondere durch die konzeptionellen Elemente in Kap. II – IV der Richtlinie 2004/83/EG der Boden entzogen worden. Der Konflikt mit dem Gemeinschaftsrecht wäre absehbar, wollte die Rechtsprechung an alten Gewissheiten festhalten. Gegebenenfalls wird der EuGH den Auslegungsstreit und die Frage der Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht zu entscheiden haben. Im Nachfolgenden sollen die Unterschiede zwischen den konzeptionellen Elementen des Flüchtlingsbegriffs der Richtlinie und denen deutlich gemacht werden, die den Begriff der politischen Verfolgung prägen. Grundlegend wird die Funktion der neuartigen konzeptionellen Herangehensweise beim Verfolgungsbegriff nach Art. 9 RL 2004/83/EG, bei dem nicht bereits eine auf den Verfolgungsakteur eingeschränkte Verengung zulässig ist. Dies ergibt sich – wie ausgeführt - aus dem Zweck, der Entstehungsgeschichte und dem Begriff des völkerrechtlichen Flüchtlings sowie der hierauf beruhenden international maßgebenden Anwendungspraxis, die durch die Unterscheidung zwischen der Verfolgungshandlung (Art. 9 RL 2004/83/EG) und den Voraussetzungen für den Wegfall des nationalen Schutzes (Art. 6 bis 8 RL 2004/83/EG) lediglich nachgezeichnet wird. Die Richtlinie kann insbesondere nicht nach Maßgabe des Begriffs der übergreifenden Friedensordnung ausgelegt werden, der für alle konzeptionellen Elemente des Begriffs der politischen Verfolgung einschneidende Verengungen vorgibt und insgesamt dazu geführt hat, dass eine methodisch klare Trennung den einzelnen konzeptionellen Elementen des politischen Verfolgungsbegriffs zumeist nicht vorgenommen wird. Nach der deutschen Rechtsprechung stellen Staaten in sich befriedete Einheiten dar, die nach innen alle Gegensätze, Konflikte und Auseinandersetzungen durch eine übergreifende Ordnung in der Weise relativieren, dass diese unterhalb der Schwelle der Gewaltsamkeit verbleiben und die Existenzmöglichkeiten des Einzelnen nicht in Frage stellen, insgesamt also die Friedensordnung nicht aufheben. Daher hebt die Ratio der verfassungsrechtlichen Gewährleistung ganz auf die Gefahren ab, die aus einem bestimmt gearteten Einsatz verfolgender Staatsgewalt erwachsen.187 Demgemäß ist eine Verfolgung dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsgutverletzungen zufügt, die ihm in ihrer Intensität aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen.188 187 BVerfGE 80, 315 (334) = EZAR 201 Nr. 20 = InfAuslR 1990, 21 = NVwZ 1990, 151 = C 9 unter Bezugnahme auf BVerfGE 9, 174 (180) =JZ 1959, 284 = NJW 1959, 763 = C 1. 188 BVerfGE 80, 315 (334 f.) = EZAR 201 Nr. 20 = InfAuslR 1990, 21 = NVwZ 1990, 151 = C 9. 97 Die Figur der übergreifenden Friedensordnung verengt danach nicht nur Verfolgungen auf staatliche Verfolgungen, vielmehr wird auch der Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Verfolgungsgrund sowie auch das Maß des erforderlichen Eingriffs, also der ausgrenzende Charakter der Verfolgung, durch den Begriff der übergreifenden Friedensordnung vorgeprägt. Damit wird die inhaltliche Begriffsbestimmung der Verfolgungsgründe nach der Rechtsprechung durch einen Ansatz geprägt, der bei der Konkretisierung des Verfolgungsbegriffs erheblich wird, nämlich der Charakter der ausgrenzenden Verfolgung. Die Verfolgungshandlung ihrerseits wird bereits auf der begrifflichen Ebene mit den Verfolgungsgründen unauflösbar miteinander verknüpft und nicht erst nach ihrer begrifflichen Bestimmung (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG). Wesentliche Elemente des Begriffs der politischen Verfolgung, wie sie in der deutschen Rechtsprechung entwickelt worden sind, bleiben zwar weiterhin relevant. Sie müssen jedoch jeweils aus ihrem bisherigen Kontext, der durch den Begriff der übergreifenden Friedensordnung geprägt wird, herausgelöst und in einem anderen konzeptionellen Zusammenhang neu überdacht und gegebenenfalls angepasst werden. Maßgebend sind zunächst die konzeptionellen Schlüsselelemente von Kap. II – IV der Richtlinie 2004/83/EG. Inwieweit in diese die bisherigen Grundsätze der deutschen Rechtsprechung integriert werden können, bedarf jeweils fall- und sachbezogen der Überprüfung und Neubestimmung. III. Begriff des Flüchtlings nach Art. 2 Buchst. c) RL 2004783/EG (Qualifikationsrichtlinie) 1. Begriff der Verfolgungshandlung (Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie) a) Vorbemerkung Die Richtlinie verfolgt mit ihrer begrifflichen Festlegung des Begriffs der Verfolgungshandlung einen ehrgeizigen Ansatz.189 Demgegenüber wollten die Verfasser der Konvention den Begriff der Verfolgung bewusst nicht definieren.190 UNHCR sieht in diesem entwicklungsgeschichtlichen Aspekt der Konvention einen starken Hinweis darauf, dass die Verfasser der Konvention auf der Grundlage der Erfahrungen aus der Vergangenheit mit dem Begriff der Verfolgung möglichst alle zukünftigen Arten von Verfolgungen erfassen wollten.191 Jeder Definitionsversuch des Verfolgungsbegriffs muss deshalb dessen prinzipielle Offenheit bedenken und darf sich nicht als abschließende Konzeption verstehen. Vielmehr geht es darum, für die in der Praxis üblichen Verfolgungen wesentliche Interpretationsmaximen zur Verfügung zu stellen. Deshalb stößt der Definitionsversuch der Verfolgungshandlung in Art. 9 RL 2004/83/EG auf Bedenken. Er wird jedoch durch die Interpretationsvorgaben in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG relativiert. b) Begriff der Verfolgungshandlung (Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie) Nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG gelten als Verfolgung im Sinne von Art. 1 A Nr. 2 GFK Handlungen, „die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere die Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Buchstabe a), oder in einer Kumulierung, einschließlich einer Verletzung der 189 S. hierzu ausführlich Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung. Erläuterungen zur Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie), Kap. 2, § 3 bis § 9. 190 Paul Weis, The concept of the refugee in international law, in: Du droit international 1960, S. 928, 970; Atle Grahl-Madsen, The Status of Refugees in International Law, Band 1, 1966, S. 193. 191 UNHCR, Auslegung von Artikel 1 des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, April 2001, S. 5: 98 Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a beschriebenen Weise betroffen ist (Buchstabe b).“ Die Richtlinie 2004/83/EG versucht den Verfolgungsbegriff für die Rechtsanwendung in den Mitgliedstaaten möglichst eng zu fassen. Dies verdeutlicht der Hinweis auf „schwerwiegende“ und grundlegende Menschenrechtsverletzungen und den „notstandsfesten Kern“ nach Art. 15 Abs. 2 EMRK, zu dem insbesondere das Folterverbot gehört. Demgegenüber weist UNHCR auf die Bestätigung des im Handbuch entwickelten Ansatzes durch die Rechtsprechung in den Vertragsstaaten hin, wonach unter Verfolgung „Menschenrechtsverletzungen oder andere schwere Nachteile“ zu verstehen sind. Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG gibt eine Interpretationsmaxime vor. Was im konkreten Einzelfall „schwerwiegend“ ist, ergibt sich insbesondere auch aus den in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichneten Interpretationsvorgaben und bedarf einer wertenden, alle vorgebrachten und sonst wie ersichtlichen Umstände und Tatsachen einschließenden Gesamtbetrachtung. Der Hinweis auf den notstandsfesten Kern hat keine begrenzende Funktion, sondern will sicherstellen, dass Verletzungen des Folterverbotes und vergleichbare schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch die Mitgliedstaaten auf jeden Fall berücksichtigt werden. Das Erfordernis, dass die Handlungen „aufgrund ihrer Art oder Wiederholung“ schwerwiegend sein müssen, verdeutlicht, dass auch eine einmalige Verfolgungshandlung ausreichen kann, wenn sich daraus ergibt, dass der weitere Aufenthalt im Herkunftsland für den Antragsteller unzumutbar war. Einerseits kann eine Wiederholung schwerwiegender Handlungen, andererseits eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen Anlass zur Flucht geben. Zielt der Wiederholungsbegriff auf gleichartige Handlungen, werden mit dem Kumulationsansatz unterschiedliche Handlungen angesprochen. Diese können gleichzeitig angewendet worden sein, können aber auch über einen längeren Zeitraum vorgeherrscht haben. Darüber hinaus müssen die unterschiedlichen Handlungen in ihrer Gesamtwirkung das Gewicht und die Schwere einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung aufweisen. Deshalb können auch Handlungen den Begriff der Verfolgung erfüllen, die nicht „schwerwiegend“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG sind, aber im Zusammenhang mit anderen, ähnlichen Handlungen insgesamt als „schwerwiegende“ Menschenrechtsverletzung erscheinen. Andernfalls hätte es des Kumulationsansatzes nicht bedurft, sondern hätte die Richtlinie 2004/83/EG es beim Begriff der schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Buchstabe a) belassen können. Damit ist die Rechtsprechung des BVerwG überholt, in der Verfolgungshandlungen, die nicht schwerwiegend sind, auch in ihrer Kumulation von vornherein unberücksichtigt bleiben.192 Demgegenüber wird die Häufung derartiger Maßnahmen im internationalen Diskurs als Verfolgung im Sinne der Konvention angesehen.193 Diese im Handbuch des UNHCR (Nr. 53) aus dem Schrifttum übernommene Position ist von der internationalen Staatenpraxis überwiegend bekräftigt worden, wird in der Rechtsprechung des BVerwG indes entschieden abgelehnt.194 Die Verfolgungshandlung muss im Zeitpunkt der Entscheidung andauern. Nicht eine in der Vergangenheit abgeschlossene Verfolgungshandlung, sondern alle im Entscheidungszeitpunkt erheblichen und die Annahme einer Verfolgungshandlung rechtfertigenden Tatsachen (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) der RL 2004/83/EG) begründen die Flüchtlingseigenschaft. Derartige 192 193 194 BVerwG, InfAuslR 1983, 257; BVerwGE 82, 171 (173) = EZAR 200 Nr. 25 = NVwZ 1990, 276: Weis, Du droit international 1960, S. 928, 970. BVerwG, InfAuslR 1983, 257; BVerwGE 82, 171 (173). 99 Tatsachen können auch nach dem Zeitpunkt der Einreise eingetreten sein und begründen für den Fall ihrer Entscheidungserheblichkeit unter dem rechtlichen Gesichtspunkt eines Nachfluchtgrundes (vgl. Art. 5 RL 2004/83/EG) die Flüchtlingseigenschaft. Die die Verfolgungshandlung begründenden Umstände und Tatsachen werden nach Maßgabe eines individuellen Ansatzes festgestellt (Art. 4 Abs. 3 der RL 2004/83/EG). Deshalb sind die individuelle Position und die persönlichen Umstände des Antragstellers einschließlich seines Hintergrunds, Geschlechts und Alters zu berücksichtigen, um beurteilen zu können, ob auf Grundlage der persönlichen Umstände des Antragstellers die Maßnahmen, die ihm zugefügt wurden oder werden, eine Verfolgungshandlung ausmachen (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG). Ebenso wie dem Asylrecht195 liegt damit dem Begriff der Verfolgungshandlung nach Art. 9 RL 2004/83/EG ein Individualansatz zugrunde. Nicht individuell ist die Beeinträchtigung, wenn der Antragsteller beispielsweise Nachteile geltend macht, die ihm allein aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Heimatstaat drohen, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auch allgemeine Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen.196 c) Funktion der in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichneten Beispielsfälle Aus Art. 9 Abs. 2 Satz 1 RL 2004/83/EG folgt der nicht abschließende Charakter der nachfolgenden Beispiele für Verfolgungshandlungen. Zugleich weist Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG darauf hin, dass der in Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG in Bezug genommene Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 A Nr. 2 GFK erfordert, dass eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen der GFK und dem in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG vorgenommenen Begriff der Verfolgung hergestellt werden muss. Die in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichneten Beispiele haben danach eine zweifache Funktion: Sie erleichtern den Mitgliedstaaten einerseits die Feststellung einer „schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte“ oder die Feststellung, ob kumulative Maßnahmen in ihrer Gesamtwirkung vorliegen. Andererseits erleichtern sie die Feststellung, ob den ermittelten Verfolgungshandlungen Verfolgungsgründe zugrunde liegen. Die in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichneten sechs Beispiele zeichnen sich bis auf die in Buchstabe a) bezeichnete „sexuelle Gewalt“ durch ihren neutralen Charakter aus. Vorrangig besteht die Funktion der in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG genannten Beispiele darin, bei der Feststellung der Verfolgungsgründe wichtige Hinweise zu geben. Die deutsche Rechtsprechung hat versucht, eine Lösung dieser Fragen über die Lehre von der Verfolgungstendenz197 zu erreichen. Beide Lösungsversuche sind nicht überzeugend, weil sie zu dogmatischer Verwirrung und damit zu Schutzlücken führen können. Bei der Ermittlung der erforderlichen Schwere der Verfolgungshandlung geht es um die objektiven Auswirkungen bestimmter Handlungen auf den Einzelnen. Die in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG genannten Beispielsfälle können sowohl die Flüchtlingseigenschaft begründen wie auch als allgemein zulässige Maßnahmen verstanden werden. Ob eine an sich neutrale Maßnahme eine schutzbedürftige Situation hervorruft, ist vorrangig im Rahmen der Verfolgungsgründe zu prüfen. Allerdings verwendet auch der EGMR bei der Abgrenzung 195 BVerfGE 80, 315 (335) = EZAR 201 Nr. 20 = InfAuslR 1990, 21 = NVwZ 1990, 151; BVerwG, DÖV 1979, 296; BVerwG, InfAuslR 1986, 82. 196 BVerfGE 80, 315 (335) = EZAR 201 Nr. 20 = InfAuslR 1990, 21 = NVwZ 1990, 151. 197 BVerwGE 62, 123 (125) = EZAR 200 Nr. 6 = InfAuslR 1981, 218; BVerwGE 81, 42 (42) = EZAR 201 Nr. 17 = InfAuslR 1989, 169 = NVwZ 1989, 774. 100 zwischen unmenschlichen und hinzunehmenden Maßnahmen einen Relativitätstest, der auch den diskriminierenden Charakter bestimmter, an sich neutraler Maßnahmen (z. B. Haftbedingungen, Erziehungs- und Vernehmungsmethoden) mit einbezieht.198 Insoweit ist der Ansatz von Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG richtig, bereits bei der Feststellung, ob bestimmte Maßnahmen als Verfolgungshandlung zu bewerten sind, auf deren diskriminierenden oder unverhältnismäßigen Charakter abzustellen. Kann dieser nicht festgestellt werden, kann eine Maßnahme nicht als schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte bewertet werden und fehlt ihr deshalb der Verfolgungscharakter. Ist eine Maßnahme oder ein Bündel von unterschiedlichen Maßnahmen in seiner Gesamtwirkung indes wegen des diskriminierenden oder unverhältnismäßigen Charakters als Verfolgung anzusehen, so kann die Maßnahme bzw. das Maßnahmenbündel zunächst als unmenschliche oder erniedrigende Maßnahme nach Art. 15 Buchst. b) der RL bewertet werden und kommen beide darüber hinausgehend als Basis für die Anknüpfung von Verfolgungsgründen in Betracht. In diesem Fall muss mehr hinzukommen als der in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichnete diskriminierende Charakter, nämlich eine Verbindung mit einem oder mehreren der Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG. Der in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG mehrfach bezeichnete Begriff der „Diskriminierung“ ist nicht an den enumerativen Charakter der Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG gebunden. Vielmehr können alle Umstände und Tatsachen berücksichtigt werden, die den Schluss rechtfertigen, dass die gegen den Antragsteller angewendeten Maßnahmen auf diskriminierenden Gründen beruhen. Alle Diskriminierungsgründe können insoweit in Betracht kommen, nicht nur die in Art. 10 RL 2004/83/EG genannten. Denn in diesem Zusammenhang liefert die Verletzung des Diskriminierungsverbotes wichtige Hinweise, ob eine an sich neutrale Maßnahme als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG gewertet werden kann. Es wäre methodisch fehlerhaft, bei dieser der Feststellung der Verfolgungsgründe vorgelagerten Prüfung des Verfolgungsbegriffs den Prüfungsrahmen auf die in Art. 10 RL 2004/83/EG bezeichneten Diskriminierungsverbote zu begrenzen. Steht die Verletzung des Diskriminierungsverbotes fest und ergibt die Gesamtbetrachtung der Tatsachen und Umstände, dass eine Verfolgungshandlung vorliegt, folgt die Prüfung der weiteren Voraussetzungen des Flüchtlingsbegriffs, nämlich der Wegfall des nationalen Schutzes sowie das Vorliegen eines oder mehrerer der Verfolgungsgründe. Aus der Unverhältnismäßigkeit einer Maßnahme (vgl. Art. 9 Abs. 2 Buchst. b)–c) RL 2004/83/EG ergeben sich wichtige Aufschlüsse über deren diskriminierenden schwerwiegenden Charakter. 2. Wegfall des nationalen Schutzes (Art. 7 und 8 RL 2004/83/EG) a) Vorbemerkung 198 Vv. UK, HRLJ 1999, 459 (468); Kalashnikov v. Russia, HRLJ 2002, 378 (384); s. auch Soering, HRLJ 1990, 335 (362). 101 Nach Prüfung der Verfolgungshandlung folgt die Prüfung, ob gegen die Verfolgung im Herkunftsland Schutz gewährt wird. Art. 6 bis 8 RL 2004/83/EG bezeichnen die Voraussetzungen, unter denen von einem Wegfall des nationalen Schutzes auszugehen ist.199 § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG verweist auf Art. 7 und 8, nicht jedoch auf Art. 6 RL 2004/83/EG. Da § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG bereits eine Art. 6 RL 2004/83/EG vergleichbare Regelung enthält, erschien dem Gesetzgeber der Verweis auf Art. 6 RL 2004/83/EG wohl überflüssig. Der Zusammenhang zwischen Art. 6 und 7 RL 2004/83/EG wird mit der Formulierung „und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht“ in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG hergestellt. Art. 7 RL 2004/83/EG ist so zu verstehen ist, dass dann, wenn keiner der in Art. 7 RL 2004/83/EG genannten Schutzakteure besteht, erst recht der nationale Schutz weggefallen ist. Der nationale Schutz ist deshalb weggefallen, wenn kein Schutz von einem der in Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG bezeichneten Schutzakteure geboten wird oder wenn im Herkunftsland keine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Bucht. c) AufenthG) Art. 6 bis 7Art. 7 und 8 RL 2004/83/EG sind Ausdruck des auf der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes aufbauenden Prinzips, das in der GFK in vielfacher Weise seinen Niederschlag findet. Danach ist nur schutzbedürftig, wer von einer auf Verfolgungsgründen beruhenden Verfolgungshandlung bedroht ist, vor der im Gebiet des Herkunftsstaates kein Schutz gewährt wird. Dementsprechend bezeichnet Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG die Akteure, die als Schutzgaranten in Betracht kommen, und Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG die Voraussetzungen, die an den Umfang und die Effektivität des nationalen Schutzes zu stellen sind. Art. 8 RL 2004/83/EG beschreibt das Sonderproblem des internen Schutzes, das in der Praxis der Vertragsstaaten und auch der Bundesrepublik bislang als „inländische Fluchtalternative“ behandelt wurde. Regelmäßig darf dieser Einwand nur bei Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure geltend gemacht werden. Der Einwand des internen Schutzes ist nicht anders als der Einwand der nationalen Schutzgewährung nach Art. 7 Abs. 1 und 2 RL 2004/83/EG Ausdruck der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes. Sind die für die nationale Schutzgewährung maßgebenden Voraussetzungen entfallen, begründet die auf Verfolgungsgründen beruhende Verfolgungshandlung die Flüchtlingseigenschaft. Ob der nationale Schutz entfallen ist, wird im Rahmen der in die Zukunft gerichteten Entscheidung über den Asylantrag relevant (vgl. Art. 4 Art. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG). Die durch Art. 7 und 8 RL 2004/83/EG bezeichnete Dogmatik beseitigt das im deutschen Diskurs in den letzten zwei Jahrzehnten so heftig umstrittene Problem der „Staatlichkeit der Verfolgung“. Die das deutsche Asyl vorrangig beherrschende Frage der Staatlichkeit der Verfolgung200 wird in der Richtlinie wie auch in der Staatenpraxis der Vertragsstaaten der GFK nicht in der ausschließenden Weise wie in der deutschen Rechtsprechung behandelt. Die Dogmatik der Richtlinie ist eine andere: Zunächst sind die Voraussetzungen der Verfolgung nach Art. 9 RL 2004/83/EG zu prüfen. Ob die Verfolgung vom Staat oder von Privaten ausgeht, ist bei dieser Prüfungsstufe ohne Bedeutung. Anschließend wird geprüft, ob der Antragsteller in seinem Herkunftsstaat Schutz vor der Verfolgung erlangen konnte. Erst in 199 S. hierzu ausführlich Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung. Erläuterungen zur Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie), Kap. 3, § 10 bis § 14. 200 BVerfGE 9, 174 (180) = NJW 1959, 763 = JZ 1959, 284; BVerfGE 54, 341 (356 f.) = EZAR 200 Nr. 1 = NJW 1980, 2641; BVerfGE 76, 143 (157 f., 169) = EZAR 200 Nr. 20 = NVwZ 1988, 237 = InfAuslR 1988, 87; BVerfGE 80, 315 (334) = EZAR 201 Nr. 20 = InfAuslR 1990, 21 = NVwZ 1990, 151; BVerwGE 74, 160 (163 f.) = EZAR 202 Nr. 8: 102 diesem Zusammenhang, also bei der Frage des Wegfalls des nationalen Schutzes, gewinnt die Frage der Verfolgungsakteure Bedeutung. Art. 6 RL 2004/83/EG bezeichnet drei unterschiedliche Gruppen von Verfolgungsakteuren. Die Unterscheidung wird wegen der unterschiedlichen Darlegungslasten vorgenommen. Während bei Verfolgungen durch den Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, hinsichtlich der Schutzbeantragung keine besonderen Darlegungslasten festgelegt werden, muss der Antragsteller bei Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure darlegen, dass der Staat oder diesem vergleichbare Parteien oder Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten. b) Verfolgungsakteure (Art. 6 RL 2004/83/EG) aa) Allgemeines Art. 6 der RL 2004/83/EG bezeichnet drei verschiedene Gruppen von Verfolgungsakteuren, nämlich den Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (de facto-Autoritäten), und nichtstaatliche Verfolgungsakteure. Der Schwerpunkt der Richtlinie liegt entsprechend ihrem internationalen Ansatz indes auf den in Art. 7 Abs. 1 bezeichneten Schutzakteuren. Da es auf den Wegfall des nationalen Schutzes ankommt, richtet sich der Fokus auf die Schutzakteure, nämlich den Staat oder Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen. Anders als in der bisherigen deutschen Rechtsprechung ist der Urheber der Verfolgung von sekundärer Bedeutung. Das primäre Erkenntnisinteresse zielt auf die Voraussetzungen, unter denen von einem Wegfall des nationalen Schutzes ausgegangen werden kann. Nach Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG sind unter den dort bezeichneten Voraussetzungen auch Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure erheblich. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG wiederholt den Wortlaut von Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG und erweitert diesen zusätzlich um den klarstellenden Hinweis, dass eine Verfolgungshandlung durch nichtstaatliche Akteure unabhängig davon vorliegen kann, ob im Herkunftsland des Antragstellers eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Diese Klarstellung entspricht der Logik des Art. 6 RL 2004/83/EG, der lediglich die Verfolgungsakteure bezeichnet und die Frage der nationalen Schutzgewährung den Regelungen in Art. 7 RL 2004/83/EG überlässt. Damit löst die Richtlinie das im deutschen Diskurs in den letzten zwei Jahrzehnten so heftig umstrittene Problem der „Staatlichkeit der Verfolgung“. In der Richtlinie wie auch in der Staatenpraxis der Vertragsstaaten der GFK wird die das deutsche Asylrecht vorrangig beherrschende Frage der Staatlichkeit der Verfolgung nicht in der ausschließenden Weise wie in der deutschen Rechtsprechung behandelt. Verfolgungen können neben anderen Akteuren auch vom Staat ausgehen (Art. 6 Buchst. a) RL 2004/83/EG). Ob aufgrund dessen eine internationale Schutzbedürftigkeit anzunehmen ist, ist abhängig davon, ob gegen diese Verfolgung im Zeitpunkt der Entscheidung (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL) Schutz durch die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie genannten Schutzakteure nach Maßgabe der in Art. 7 Abs. 2 RL 201 201 BVerfGE 9, 174 (180) = NJW 1959, 763 = JZ 1959, 284; BVerfGE 54, 341 (356 f.) = EZAR 200 Nr. 1 = NJW 1980, 2641; BVerfGE 76, 143 (157 f., 169) = EZAR 200 Nr. 20 = NVwZ 1988, 237 = InfAuslR 1988, 87; BVerfGE 80, 315 (334) = EZAR 201 Nr. 20 = InfAuslR 1990, 21 = NVwZ 1990, 151; BVerwGE 74, 160 (163 f.) = EZAR 202 Nr. 8. 103 2004/83/EG bezeichneten Kriterien gewährt werden wird. Eine besondere Behandlung des Staates als Verfolgungsakteur ist nicht angezeigt. Demgegenüber ist bei der Anwendung und Auslegung der Richtlinie seine Funktion als Schutzakteur von besonderer Bedeutung, da hier auch die Schutzfähigkeit und –willigkeit gegen nichtstaatliche Verfolgungen entscheidende Bedeutung gewinnt. Bezüglich der de facto-Autoritäten gelten im Grundsatz dieselben Kriterien. Eine besondere staatstheoretische Begriffsbestimmung der de facto-Autoritäten ist entbehrlich. Im Zweifel sind sie als nichtstaatliche Akteure zu behandeln, die dann aber auch nicht als Schutzakteure in Betracht kommen. Entsprechend der im deutschen Diskurs heftig umstrittenen Frage liegt der Schwerpunkt der nachfolgenden Erläuterungen auf den nichtstaatlichen Akteuren (Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG). bb) Nichtstaatliche Akteure (Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG) Art. 6 RL 2004/83/EG unterscheidet zwischen dem Staat und diesem vergleichbare Organisationen einerseits und nichtstaatlichen Akteuren andererseits. Es ist unzulässig, im Blick auf nichtstaatliche Verfolgungsakteure bestimmte einschränkende qualifizierende Voraussetzungen aufzustellen, insbesondere nichtstaatliche Verfolgungsakteure nur dann in Betracht zu ziehen, wenn diese als Träger überlegener Macht angesehen werden können. Derart einschränkende Voraussetzungen sind im Blick auf Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, in ihrer Funktion als Schutzakteure zu fordern. Die Rolle der Verfolgungsakteure nach Art. 6 RL 2004/83/EG ist hingegen nicht mit dem Moment einer irgendwie der hoheitlichen vergleichbaren Macht verbunden. Es ist für die Anwendung und Auslegung der Konvention unerheblich, von wem die Verfolgung ausgeht. Maßgeblich ist allein, dass eine Maßnahme Verfolgungscharakter aufweist und hiergegen kein nationaler Schutz verfügbar ist, weil die in Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG bezeichneten Schutzakteure nicht willens oder fähig zur Schutzgewährung sind. Auch eine einzelne Privatperson kann deshalb Verfolgungsakteur sein. Es muss sich nicht um Personengruppen handeln, die dem Staat oder Parteien bzw. Organisationen vergleichbar sind.202 Vielmehr erfassen Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG und mit ihm § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG bereits nach ihrem Wortlaut alle nichtstaatlichen Akteure ohne weitere Einschränkungen, namentlich also auch Einzelpersonen, sofern von ihnen Verfolgungen ausgehen.203 Ein Unterscheidung in unterschiedliche Verfolgungsakteure ist lediglich deshalb erforderliche, weil Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG und § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG den vor Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure fliehenden Antragsteller höhere Darlegungslasten im Blick auf die Glaubhaftmachung der Voraussetzung aufbürdet. Anders als im Blick auf staatliche oder diesen vergleichbare Verfolgungsakteure (Art. 6 Buchst. a) und b) RL 2004/83/EG) muss er bei behaupteter Verfolgung durch nichtstaatliche Verfolgungsakteure (Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG) darlegen, dass er sich im Herkunftsstaat in zumutbarer Weise um die Erlangung nationalen Schutzes bemüht hat. So aber OVG SH, U. v. 27. 1. 2006 – 1 LB 22/05; VG Regensburg, U. v. 24. 2. 2005 – RN 3 K 04.30585; VG Sigmaringen, U. v. 5. 4. 2005 – A 3 K 12411/03. 203 BVerwG, InfAuslR 2007, 33 (36) = NVwZ 2006, 1420 = AuAS 2006, 246. 202 104 Es erschien dem deutschen Gesetzgeber angesichts der vom BVerwG entwickelten Zumutbarkeitslehre erforderlich klarzustellen, dass Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure auch dann erheblich sind, wenn im Herkunftsland des Antragstellers keine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG). Nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers darf deshalb bei der Auslegung und Anwendung der Richtlinie nicht der Begriff der übergreifenden Friedensordnung angewendet werden. Vielmehr ist allein entscheidend, ob die Voraussetzungen nach Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) 1. Hs. AufenthG) erfüllt sind und von den in Art. 7 Abs. 1 (Art. 6 Buchst. a) und b) RL 2004/83/EG bezeichneten Schutzakteuren kein Schutz nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG erlangt werden kann. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist dem Asylantrag stattzugeben, sofern auch die weiteren Voraussetzungen der Qualifikationsrichtlinie vorliegen. Der Gesetzgeber hat mithin diese sich aus der Differenzierung zwischen Verfolgungsakteuren und Schutzakteuren ergebende Rechtslage dadurch hervorgehoben, dass er in § 60 Abs. 1 Satz 2 Buchst. c) AufenthG ausdrücklich auf die Situation zerfallender Herrschaftsstrukturen hinweist. Für die Vorläufernorm des § 60 Abs. 1 AufenthG, nämlich § 51 Abs. 1 AuslG 1990, hatte das BVerwG demgegenüber ausdrücklich festgestellt, der den Flüchtlingsschutz manifestierende Abschiebungsschutz nach dieser Norm setze nicht anders wie der Asylanspruch voraus, dass die dem Asylsuchenden drohende Verfolgung aus der staatlichen Gebietshoheit erwachse.204 Daher könne § 51 Abs. 1 AuslG 1990 vor einer Bürgerkriegssituation, die dadurch gekennzeichnet sei, dass keine der kämpfenden Parteien die effektive Gebietsgewalt innehabe, in der aber etwa an ethnische Merkmale des Asylsuchenden anknüpfende Übergriffe des Militärs zu befürchten seien, keinen Abschiebungsschutz gewährleisten. Denn das Merkmal »politisch« kennzeichne die Verfolgung als Verhalten einer organisierten Herrschaftsgewalt, vorrangig eines Staates, welcher der Betroffene unterworfen sei. Dies gelte für § 51 Abs. 1 AuslG 1990 ebenso wie für den Asylanspruch.205 Diese Rechtsprechung ist durch Art. 6 und 7 (Art. 6 Buchst. a) und b) RL 2004/83/EG überholt. Spurenelemente dieser Rechtsprechung können auch nicht dadurch konserviert werden, dass den nichtstaatlichen Akteuren entgegen dem der Richtlinie zugrunde liegenden Ansatz ein rudimentäres Fundament überlegener Macht unterschoben wird und damit nichtstaatliche Akteure, die keine überlegene Macht ausüben, aus der Betrachtung herausfallen.206 Vielmehr bezeichnet der Begriff der nichtstaatlichen Verfolgungsakteure eine weite Brandbreite unterschiedlicher Akteure, die von Warlords und Kriegskommandanten, die keine überlegene Gebietsgewalt erlangt haben, über Kommandanten einer marodierenden Soldateska, die Soldateska selbst, Dorfälteste, Mafiabosse, die Geschlechtsverstümmelung durchführende Hebammen, bis hin zu gewalttätigen Ehemännern und Lebenspartnern reicht. cc) Prüfungsstufen bei Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure Die Dogmatik der Richtlinie 2004/83/EG beruht auf der Schutzlehre. Mit dieser ist die bisherige Rechtsprechung des BVerwG unvereinbar: Zunächst sind die Voraussetzungen der Verfolgung nach Art. 9 RL 2004/83/EG zu prüfen. Ob die Verfolgung vom Staat oder von Privaten ausgeht, ist auf dieser Prüfungsstufe ohne Bedeutung. Anschließend wird geprüft, ob 204 BVerwGE 95, 42 (44) = NVwZ 1994, 497 = EZAR 230 Nr. 3 = AuAS 1994, 140 = InfAuslR 1994, 196; bekräftigt BVerwG, NVwZ 1994, 1112 = InfAuslR 1994, 329 = EZAR 043 Nr. 3. 205 BVerwGE 95, 42 (45) = EZAR 230 Nr. 3 = InfAuslR 1994, 196 = NVwZ 1994, 497; BVerwG, NVwZ 1994, 1112. 206 BVerwG, InfAuslR 2007, 33 (36) = NVwZ 2006, 1420 = AuAS 2006, 246. 105 der Antragsteller in seinem Herkunftsstaat Schutz vor der festgestellten Verfolgungshandlung erlangen konnte. Erst in diesem Zusammenhang, also bei der Frage des Wegfalls des nationalen Schutzes, gewinnt die Frage der Verfolgungsakteure Bedeutung. Denn nach Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG treffen den vor Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure fliehenden Antragsteller höhere Darlegungslasten bei der Glaubhaftmachung der Voraussetzung; dass er sich im Herkunftsstaat in zumutbarer Weise um die Erlangung nationalen Schutzes bemüht hat. Die Richtlinie RL 2004/83/EG nennt in Art. 6 drei Gruppen von Verfolgungsakteuren und in Art. 7 Abs. 1 zwei Gruppen von Schutzakteuren. Bei einer sachgerechten Auslegung der Richtlinie ergibt sich, dass es für den Wegfall des nationalen Schutzes allein auf die Schutzakteure nach Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG ankommt. Sind infolge zerbrochener Staatsstrukturen die dort bezeichneten Schutzakteure nicht vorhanden oder ist im Zerfallsprozess staatlicher Macht ihre Schutzfähigkeit eingeschränkt oder aufgehoben, kann kein nationaler Schutz im Herkunftsland erlangt werden und es entsteht die internationale Schutzbedürftigkeit. Es bedarf danach einer zusammenfassenden Betrachtung von Art. 6 und 7 RL 2004/83/EG und eines „erst-recht-Schlusses“: Zunächst sind die Verfolgungsakteure nach Art. 6 RL 2004/83/EG zu identifizieren. Geht die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG aus und sind keine der in Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG bezeichneten Schutzakteure vorhanden, muss von einem Wegfall des nationalen Schutzes ausgegangen werden. Wenn bereits beim Vorhandensein von Schutzakteuren der nationale Schutz entfallen kann, muss dies erst recht gelten, wenn überhaupt keine Schutzakteure mehr bestehen. Denn nach dem Völkerrecht und dem die Richtlinie 2004/83/EG prägenden Konzept des nationalen Schutzes ist allein entscheidend, ob vor Verfolgungen durch wen auch immer im Herkunftsland nationaler Schutz gewährt wird. Ist dies nicht der Fall, entsteht die internationale Schutzbedürftigkeit (vgl. Art. 4 bis 12 RL 2004/83/EG), welche die Flüchtlingseigenschaft begründet (vgl. Art. 13 RL 2004/83/EG). Demgegenüber war nach der vom BVerwG entwickelten Zurechnungslehre insbesondere auch in Situationen, in denen kein nationaler Schutz verfügbar ist, danach zu fragen, ob Verfolgungen durch wen auch immer dem Staat zugerechnet werden können. Sind die staatlichen Strukturen etwa aufgrund bewaffneter Konflikte zusammengebrochen, können Verfolgungen dem Staat nicht zugerechnet werden, weil er zwar noch formal als völkerrechtliches fiktives Konstrukt bestehen mag, aber tatsächlich nicht mehr besteht. Diese Rechtsprechung darf nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers bei der Auslegung und Anwendung von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG wegen gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben nicht mehr angewendet werden. Der unverändert für die Asylanerkennung maßgebende Begriff der übergreifenden Friedensordnung, auf dem die Zurechnungslehre beruht, ist bei der Auslegung und Anwendung von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ohne Relevanz. dd) Schutzversagen Ebenso liegt der Fall beim staatlichen Schutzversagen. Geht die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren aus, und sind die Schutzakteure nicht in der Lage, nationalen Schutz vor diesen zu gewähren, wird gegen die Verfolgung kein nationaler Schutz gewährt und entsteht die internationale Schutzbedürftigkeit. Demgegenüber versagte das BVerwG in derartigen Fällen den Flüchtlingsschutz, weil seiner Meinung nach bei Schutzunvermögen nach deliktsrechtlichen Grundsätzen eine Zurechnung nicht möglich war. Während das BVerwG für den Flüchtlingsschutz damit eine an deliktsrechtliche Grundsätze des 106 Völkerrechts orientierte Zurechnungslehre anwendete, beruht die GFK und das in Art. 6 bis 8 RL 2004/83/EG nachgezeichnete Konzept der internationalen Schutzbedürftigkeit auf der Schutzlehre. Der Unterschied zwischen beiden Lehren wird am Beispiel des staatlichen Unvermögens zur Schutzgewährung deutlich, das nach Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG und § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG nicht zum Ausschluss des internationalen Schutzes, für die Zurechnungslehre allerdings die Schutzversagung zur Folge hat. Das Unvermögen zur Schutzgewährung kann auf fehlenden Ressourcen des bestehenden Staates, es kann aber auch darauf beruhen, dass überhaupt keine zentralen Schutzstrukturen mehr bestehen. Dies hat einerseits zur Folge, dass die staatliche Unfähigkeit, vor genereller Gewalt oder nicht individualisierbaren Rechtsgutgefährdungen zu schützen, den Flüchtlingsstatus nicht begründet, wohl aber den subsidiären Schutzstatus in Anwendung von Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG begründen kann (Rdn…). Andererseits sind von den Vertragsstaaten bei der Anwendung der GFK solche Personen als Flüchtlinge anzusehen, die vor Akten schwerer Diskriminierung oder anderen gegen bestimmte Gruppen gerichteten Handlungen geflohen sind, wenn diese mit Wissen der Behörden verübt wurden oder wenn die Behörden sich weigern – oder sich als außerstande erweisen – den Betroffenen wirksamen Schutz zu gewähren.207 Dem Begriff Verfolgung ist der staatliche Charakter nicht immanent.208 Vielmehr hatte der BGH bereits in den 1960er Jahren entschieden, dass auch das Staatsversagen aus beliebigem Grund dem Begriff der Verfolgung nach der Konvention zuzuordnen ist.209 Damit können auch diejenigen Verfolgten Flüchtlinge sein, deren Herkunftsstaat zwar als völkerrechtliches Subjekt noch besteht, jedoch etwa mangels staatlicher Strukturen handlungsunfähig geworden ist. Denn durch die Auflösung der staatlichen Strukturen eines Landes geht dessen Völkerrechtsfähigkeit noch nicht unter, sodass seine Staatsangehörigen sich nach wie vor im internationalen Rechtsverkehr an dieser Eigenschaft festhalten lassen müssen, ohne jedoch den innerstaatlichen Schutz des Landes in Anspruch nehmen zu können.210 Das gleiche gilt für Bürgerkriegssituationen, bei denen fraglich ist, wer unter welchen Voraussetzungen als Regierung angesehen werden kann oder ob überhaupt noch eine Regierung besteht. Auf diese durchaus paradoxe Situation ist die besondere Formulierung in Art. 1 A (2) GFK gemünzt, die lediglich auf die Unmöglichkeit abstellt, den Schutz des eigenen Landes erlangen zu können, um die Verfolgung abzuwenden oder zu beenden.211 Zwar wird Schutz »gewöhnlich« durch die Regierung gewährt 212 und muss der Umstand, der dazu führt, dass der außerhalb des Staatesgebietes lebende Staatsangehörige von seinem Heimatstaat keinen Schutz erhält, auf einer Verfolgung beruhen, die den Verfolgten daran hindert, in das Land seiner Staatsangehörigkeit zurückzukehren. Schutzlosigkeit im flüchtlingsrechtlichen Sinne kann mithin nicht unabhängig von Verfolgung und diese wiederum nicht unabhängig vom Auslandsaufenthalt des Verfolgten entstehen.213 Die militärische Besetzung des Landes der Staatsangehörigkeit durch ausländische Truppen beispielsweise begründet andererseits nur eine vorläufige Herrschaft über die besetzten Gebiete. Das besetzte Gebiet bleibt Staatsgebiet des militärisch unterworfenen Staates. Träger der Staatsgewalt bleibt etwa eine bestehende Exilregierung. Nach dem Völkerrecht gilt sie 207 UNHCR, Handbuch, Rdn. 65. Schüler, »Verfolgung« und »Schutz« im Sinne der Genfer Konvention, in: RzW 1965, 396. 209 BGH, RzW 1968, 571. 210 VG Frankfurt a. M., NVwZ-RR 1994, 358 = NVwZ-Beil. 1994, 22, unter Hinweis auf BGH, RzW 1964, 76. 211 VG Frankfurt a. M., NVwZ-RR 1994, 358. 212 BGH, RzW 1965, 238. 213 BGH, RzW 1966, 367. 208 107 weiterhin als Regierung der staatlichen Gemeinschaft, obgleich sie im besetzten Gebiet keinerlei Gewalt mehr ausüben kann.214 Im Flüchtlingsvölkerrecht verfehlt daher der Einwand, dass kein Staat einen perfekten, lückenlosen Schutz sicherstellen könne,215 den Kern des Schutzgedankens. Im Blick auf die allgemeine Kriminalität ist dieser am objektiven Maßstab des due diligence orientierte Einwand sicherlich berechtigt. Die Verfolgungsgründe der GFK beruhen jedoch auf dem seit 1945 hervorgebrachten, in zahlreichen Konventionen verankerten und inzwischen zur allgemeinen Regel erstarkten Diskriminierungsverbot. Weil den privaten Verfolgungen ein zielgerichteter andauernder Vernichtungswille aus Gründen der Rasse, Religion, ethnischen Zugehörigkeit, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen der abweichenden politischen Überzeugung zugrundeliegt, unterscheiden sich Verfolgungen aus Gründen der Konvention wesentlich von Bedrohungen aufgrund der allgemeinen Kriminalität. ee) Maßgeblichkeit der Schutzlehre Die in Art. 6 und 7 RL 2004/83/EG vorgegebene Konzeption des Wegfalls des nationalen Schutzes beruht wie auch die GFK auf der Schutzlehre. Während die Zurechnungslehre an das klassische Völkerrecht anknüpft, das allein auf die Staaten und internationale Organisationen als Völkerrechtssubjekte konzentriert ist, trägt die Schutzlehre dem allgemeinen Menschenrechtsschutz Rechnung. Seit 1945 bilden sich menschenrechtliche Verpflichtungen (vgl. Art. 1 Nr. 3 UN-Charta) heraus, welche die traditionellen Strukturen des Völkerrechts nachhaltig umgewandelt haben. Danach sind zwar aus formaler Sicht weiterhin lediglich Staaten und internationale Organisationen Völkerrechtssubjekte. Jedoch gewinnt das durch menschenrechtliche Verpflichtungen gebundene völkerrechtliche Handeln der Staaten bedeutend stärkeres Gewicht. Der Schutz des Einzelnen und nicht unreflektierte, von den Interessen der Individuen losgelöste abstrakte staatliche Interessen ist damit viel stärker als vor 1945 zum Gegenstand des Völkerrechts geworden. Nach der eher am traditionellen Völkerrecht orientierten Zurechnungslehre haben die Staaten dafür zu sorgen, dass ihre innerstaatliche Rechtsordnung so ausgestaltet ist und effektiv umgesetzt werden kann, dass sie unter normalen Umständen in der Lage sind, ihren völkerrechtlichen Präventions- und Repressionspflichten gegenüber Handlungen Privater mit der nach den Umständen angemessenen Sorgfalt zu entsprechen. Danach ist ein Mangel an due diligence anzunehmen, wenn die staatliche Organisation nicht einem internationalen objektiven Standard entspricht, der prinzipiell die Erfüllung entsprechender staatlicher Verpflichtungen garantieren kann.216 Der objektive Maßstab des due diligence ist insbesondere im völkerrechtlichen Fremdenrecht entwickelt worden. Werden diese Grundsätze auf das Flüchtlingsvölkerrecht übertragen, könnte bei genereller Schutzunfähigkeit des Staates, dem anhand des Maßstabes des due diligence kein Vorwurf gemacht werden kann, keine vom Völkerrecht anerkannte Verfolgungssituation entstehen. Die ganz überwiegende Staatenpraxis wie auch Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG und § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG, die bei genereller Schutzunfähigkeit grundsätzlich eine internationale Schutzbedürftigkeit anerkennen, wären damit nicht in Übereinstimmung mit allgemeinem Völkerrecht. Das allgemeine Völkerrecht wird vom Grundsatz der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit der 214 BGH, RzW 1966, 367, zur deutschen Besetzung Polens. BVerwG, EZAR 202 Nr. 24; Rdn. 100. 216 Epiney, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten für rechtswidriges Verhalten im Zusammenhang mit Aktionen Privater, 1992, S. 223, 227, 234; s. hierzu auch Mössner, GYIL 1981, 63 (73 ff.). 215 108 Staaten beherrscht. Die Zurechnungslehre beruht auf dem völkerrechtlichen Deliktsrecht. Dieses entwickelte sich im 19. Jahrhundert im völkerrechtlichen Fremdenrecht. Wenn dem Aufenthaltsstaat ein Mangel an »due diligence« in Ansehung des gebotenen Schutzes der durch Privathandlungen verletzten Person vorgeworfen werden konnte, war er dem Staat zur Wiedergutmachung verpflichtet, dem der Verletzte angehört. Die Zurechnungslehre findet ihre Grenze im Einwand des due diligence. Der Staat, der anhand eines objektiven Standards die nach den Umständen angemessene Sorgfalt hat walten lassen, kann nach allgemeinem Völkerrecht für Übergriffe Privater nicht verantwortlich gemacht werden. Geprüft wird, ob der Staat administrative und strukturelle Vorkehrungen zum Schutze der seiner Obhut unterstehenden Personen getroffen hat. Entlasten kann sich der Staat, wenn er die Erfüllung entsprechender staatlicher Verpflichtungen prinzipiell garantieren kann.217 Generelles Unvermögen begründet nach der ausschließlich am allgemeinem Völkerrecht ausgerichteten Zurechnungslehre damit keine staatliche Verantwortlichkeit. Weil die Zurechnungslehre mit ihrem ausschließlich am allgemeinem Völkerrecht ausgerichteten Inhalt dem Einzelnen bei konkretem Schutzversagen des Staates schutzlos lässt, wird in der völkerrechtlichen Literatur von den Vertretern des Schutzansatzes (»protection view«) auf die Entwicklung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes seit Verabschiedung der GFK verwiesen und gegen die an den Staat anknüpfende Zurechnungsdoktrin (»accountability standard«) unter Bezugnahme auf Art. 31 Abs. 1 WVK eingewendet, vorrangiges Ziel und Zweck der GFK sei die Lösung des Flüchtlingsproblems im Geiste der Menschenrechte. Daher könne der Flüchtling nicht auf den Schutz des Heimatstaates verwiesen werden, wenn dieser schutzunfähig oder keine Regierung mehr vorhanden sei und Verfolgung durch private Verfolger drohten.218 Die Frage der Urheberschaft der Verfolgung nach den völkerrechtlichen Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit stelle sich deshalb im Flüchtlingsvölkerrecht nicht. Während die Unfähigkeit des Staates zur Gebietsherrschaft zu einem Wegfall der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit führe, setze weder das Flüchtlingsrecht noch allgemeines Völkerrecht die Existenz effektiver und funktionsfähiger Regierungsstrukturen voraus, um den Flüchtlingsstatus zu gewähren.219 Die Schutzlehre tritt danach im Flüchtlingsvölkerrecht an die Stelle der Zurechnungslehre und stellt allein auf die individuelle Schutzlosigkeit einer Person ab, die aus Gründen der Konvention verfolgt wird. Die generelle Schutzunfähigkeit des Staates, welche die Grenze der Zurechnungslehre aufzeigt, ist deshalb für die Schutzlehre unerheblich. Zweck der Zurechnungslehre ist die Begründung von völkerrechtlichen Repressalien, wenn der verursachende Staat nach deliktsrechtlichen Grundsätzen für die Schutzversagung gegenüber Privaten verantwortlich gemacht werden kann. Zweck des Flüchtlingsschutzes ist die präventive Gewährleistung internationalen Schutzes zugunsten des Einzelnen durch die Gemeinschaft der Vertragsstaaten der GFK, wenn der Herkunftsstaat aus welchen Gründen auch immer nicht zur Sicherstellung des nationalen Schutzes in der Lage ist. Die individuelle Schutzbedürftigkeit stellte sich im klassischen Völkerrecht nicht, weil die durch private Übergriffe in ihren Rechten verletzten Fremden jederzeit den Schutz des Herkunftsstaates in Anspruch nehmen konnten. Es fehlte daher an der Notwendigkeit, eine Schutzlehre zu entwickeln. Vielmehr zielt die Zurechnungslehre vorrangig auf nachträgliche 217 Epiney, a.a.0, S. 223, 227, 234; s. hierzu auch Manfred Mössner, GYIL Bd. 24 (1981), S. 63 (73 ff.); so auch der Ansatz in BVerwGE 67, 317 (320 f.) = EZAR 202 Nr. 1; BVerwGE 70, 232 (236 f.) = NVwZ 1985, 281 = DVBl. 1985, 572 = InfAuslR 1985, 48. 218 Vermeulen/Spijkerboer Zwaan/Fernhout, Persecution by Third Parties, 1998, S. 14 f. 219 Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, 2. Aufl., 1996, S. 73. 109 Wiedergutmachung verletzter Rechte von Individuen, die deren Heimatstaat im Umfang des due diligence-Maßstabs gegen den Aufenthaltsstaat geltend machen konnte. Diesen unterschiedlichen Zwecksetzungen hatte das BVerwG mit seiner Fixierung auf die Zurechnungsdoktrin nicht zur Kenntnis nehmen wollen und deshalb einen deutschen Sonderweg entwickelt, der nunmehr durch § 60 Abs. 1 AufenthG, also durch eine eindeutige Entscheidung des Gesetzgebers für die Schutzlehre, aufgegeben worden ist. c) Zumutbarkeit der Beantragung nationalen Schutzes (Art. 7 RL 23004/83/EG aa) Prüfungsstrukturen Schutz gewähren können nur der Staat, Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Art. 7 Abs. 1 der RL 2004/83/EG). Diese Schutzgaranten sind mit Ausnahme internationaler Organisationen zugleich Verfolgungsakteure (vgl. Art. 6 Buchst. a) und b) RL 2004/83/EG). Bestätigt wird damit die bereits vom BVerfG im Blick auf den modernen nationalen Territorialstaat hervorgehobene schlichte Erkenntnis, dass die Macht zu schützen, die Macht zu verfolgen, einschließt.220 Allerdings verkennt die Richtlinie die moderne Entwicklung, die sich in internationalen Friedenseinsätzen manifestiert. Danach können Angehörige internationaler Friedenstruppen Verfolgungsakteure sein. Das belegen zahlreiche Prozesse in den Entsendestaaten der Truppen gegen Soldaten, die in Ausführung der Friedensoperationen an Folterhandlungen beteiligt waren. Ausschließlich die in Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG genannten Akteure kommen als Bezugspunkt für die Schutzgewährung in Betracht. Wird durch diese nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG kein Schutz gewährt, ist der nationale Schutz unabhängig davon entfallen, wer die Verfolgungshandlung verübt hat oder ausüben wird und auch unabhängig davon, ob in dem betreffenden Herkunftsland eine staatliche Macht vorhanden ist (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) 2. Hs. AufenthG). Nach der in der Richtlinie vorgezeichneten Dogmatik der nationalen Schutzgewährung ist zunächst die Verfolgungshandlung und anschließend die Schutzgewährung nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG zu prüfen. Erst bei der Prüfung der Frage, ob der Antragsteller in zumutbarer Weise im Herkunftsland um Schutz vor Verfolgung nachgesucht hat oder hätte nachsuchen können, kommt es auf die Art der Verfolgungsakteure an. Denn es macht einen Unterschied, ob die Verfolgung von staatlichen Behörden oder nichtstaatlichen Akteuren ausgeht. Im ersten Fall kann dem Antragsteller zumeist nicht zugemutet werden, bei den staatlichen Behörden um Schutz nachzusuchen. Denn von diesen geht ja die Verfolgung aus. Für den zweiten Fall bezeichnet Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG die Anforderungen an die Darlegungslast im Blick auf das interne Schutzersuchen. bb) Umfang der Darlegungslasten bei Verfolgung durch den Staat oder diesem vergleichbare Organisationen Der Wortlaut von Art. 6 RL 2004/83/EG legt lediglich im Blick auf Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure Darlegungslasten in Ansehung der Bemühungen des Antragstellers fest, dass er sich vor der Ausreise um die Erlangung nationalen Schutzes bemüht hat. Nach der Begründung des Kommissionsentwurfs besteht die Ratio der Bezeichnung der 220 BVerfGE 80, 315 (334) = EZAR 201 Nr. 20 = InfAuslR 1990, 21 = NVwZ 1990, 151. 110 unterschiedlichen Verfolgungsakteure darin, das die Feststellungsbehörden der Mitgliedstaaten zu prüfen haben, ob der Antragsteller im Herkunftsland wirksamen Schutz vor Verfolgung erlangen konnte. Gehe die Verfolgung vom Staat aus, sei „die entsprechende Furcht begründet, weil es de facto im Herkunftsland keine Möglichkeit gibt, um Schutz nachzusuchen.“ Gehe hingegen die Verfolgung von nichtstaatlichen Verfolgungsakteuren aus, sei die Furcht nur dann begründet, „wenn der Staat nicht willens oder effektiv nicht in der Lage ist, Schutz vor einer solchen Gefahr zu bieten.“221 Aus diesem Grund wird in Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG der Zusatz angefügt, dass der Staat nicht in der Lage oder nicht willens sein muss, wirksamen Schutz zu bieten. Demgegenüber fehlt bei den beiden vorhergehenden Gruppen der Verfolgungsakteure eine vergleichbare Einschränkung. Damit ist nach Art. 6 RL 2004/83/EG grundsätzlich nur bei Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure darzulegen, dass im Herkunftsland vor diesen kein wirksamer Schutz erlangt werden konnte. Geht hingegen die Verfolgung vom Staat oder den Staat beherrschenden Parteien oder Organisationen aus (Art. 6 Buchst. a) und b) RL 2004/83/EG), entfällt in aller Regel eine entsprechende Darlegungslast. Vielmehr wird unterstellt, dass es in diesem Fall de facto keine Möglichkeit gibt, im Herkunftsland Schutz vor Verfolgung zu erlangen. Aus Art. 6 RL 2004/83/EG in Verbindung mit der Begründung des Kommissionsentwurfs folgt damit, dass Antragsteller, die Verfolgungen durch staatliche oder durch dem Staat vergleichbare Organisationen geltend machen, grundsätzlich keine auf die Erlangung nationalen Schutzes bezogene Darlegungslast trifft. Der Einwand des „Amtswalterexzesses“ ist damit dem Gemeinschaftsrecht fremd. Den Antragsteller, der Verfolgung durch staatliche Behörden oder diesen vergleichbare Organisationen geltend macht, trifft regelmäßig keine Nachweispflicht, dass er im Herkunftsstaat gegen diese Verfolgungen Schutz bei staatlichen Behörden gesucht hat, es sei denn, die Voraussetzungen des internen Schutzes sind erfüllt. Davon ist indes für den Regelfall auszugehen. Die Feststellungsbehörde kann sich angesichts dessen grundsätzlich nicht darauf berufen, dass die Verfolgung durch staatliche Behörden Ausdruck einer vereinzelten „Exzesstat“ eines individuellen Amtswalters ist, die nicht der Politik des Staates entspreche. Die Richtlinie 2004/83/EG und § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG übernehmen damit die strikte Linie in der Staatenpraxis, die eine individuelle Darlegungslast in Ansehung des verfügbaren und wirksamen nationalen Schutzes dann verneint, wenn der Staat die Verfolgung ausübt. In diesem Fall sei der Schutz nicht verfügbar.222 Auch nach der Rechtsprechung des BVerfG entfällt die Zurechenbarkeit von Verfolgungen durch Amtswalter nur ausnahmsweise und nur unter den Voraussetzungen »vereinzelter Exzesstaten« von Amtswaltern.223 Dauern Verfolgungen in Form mehrfacher Übergriffe mit erheblicher Intensität über einen längeren Zeitraum an, kann nach Ansicht des BVerfG nicht mehr das Exzesstaten prägende Kriterium „vereinzelter und spontaner Vorgänge“ unterstellt werden.224 Dem ist zu entnehmen, dass bei Verfolgungen durch Angehörige staatlicher Behörden der Antragsteller nur ausnahmsweise gehalten ist, darzulegen, dass er vor den Verfolgungen durch diese bei staatlichen Stellen Schutz beantragt hat. Kann seinem Sachvorbringen nicht entnommen werden, dass die behaupteten Verfolgungen Ausdruck vereinzelter und spontaner Übergriffe durch einzelne Angehörige staatlicher Behörden sind, ist davon auszugehen, dass nationaler Schutz im Herkunftsland nicht verfügbar war. Damit 221 Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001, BR-Drs. 1017/01, S. 18 Canadian Federal Court, Lexis 318, F.C.T.D. – Zhuravleva; House of Lords, IJRL 2001, 174 (179) – Horvath. 223 BVerfGE 80, 315 (352) = EZAR 201 Nr. 20 = NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990, 21; BVerfG, NVwZ 1992, 1081 (1083); BVerfG (Kammer), NVwZ-RR 1993, 511 (512); BVerfG (Kammer), InfAuslR 1993, 310 (312); BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 2003, 84 (85 f.) = AuAS 203, 261. 224 BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 2003, 84 (85 f.) = AuAS 203, 261. 222 111 entfällt auch nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich eine auf die Schutzbeantragung bezogene Darlegungslast, wenn die Verfolgung von staatlichen Behörden oder diesen vergleichbaren Organisationen ausgeht. cc) Ratio der Darlegungslast bei Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure Macht der Antragsteller Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure geltend, trifft ihn eine besondere Nachweispflicht, dass er vor seiner Ausreise gegenüber staatlichen Behörden oder Organisationen die einen Teil des Staatsgebietes beherrschen, um Schutz nachgesucht hat und diesen erwiesenermaßen nicht erlangen konnte (Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG, § 60 Abs, 1 Satz 4 Buchst. c) 2. HS AufenthG). Nach Ansicht der britischen Rechtsprechung ist dem Konzept der Verfolgung ein Versagen des Staates, dass er gegen Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure keinen Schutz gewähren kann, immanent. Dieses Problem stelle sich hingegen bei Verfolgungen durch staatliche Behörden nicht. Jedoch stelle bei Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure das Versagen des Staates, Schutz zu gewähren, unabhängig davon ein wichtiges Element dar. Es stelle das Verbindungsglied zwischen Verfolgung durch den Staat und Verfolgungen durch nichtstaatliche Stellen dar, welches im Interesse der Folgerichtigkeit des gesamten Systems des Flüchtlingsschutzes erforderlich sei. Deshalb stellten Übergriffe Verfolgungen dar, wenn sie mit dem Unvermögen des Staates einhergingen, Schutz zu gewähren.225 Das Konzept der Subsidiarität des internationalen Schutzes beruht damit auf der Voraussetzung, dass gegen Übergriffe durch nichtstaatliche Akteure im Herkunftsland des Antragstellers kein Schutz verfügbar war. Dementsprechend trifft den Antragsteller grundsätzlich eine hierauf bezogene Darlegungs- und Beweislast. Kann er die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht klar und überzeugend darlegen, trifft ihn das Beweisrisiko für die Unerweislichkeit der behaupteten Tatsachen. Sind indes staatliche Behörden an dem Verfolgungsakt der nichtstaatlichen Verfolger beteiligt, begründet dies eine Regelvermutung dafür, dass Schutz durch staatliche Behörden im Herkunftsland nicht verfügbar war. Diese kann nur durch stichhaltige Belege, dass angemessener und wirksamer Schutz verfügbar war, widerlegt werden.226 Während mithin für das BVerwG weder Lückenhaftigkeit des Systems staatlicher Schutzgewährung überhaupt »noch die im Einzelfall von den Betroffenen erfahrene Schutzversagung als solche schon staatliche Schutzbereitschaft oder Schutzfähigkeit« ausschließe,227 weil dem Staat Verfolgungen nichtstaatlicher Akteure nur zuzurechnen seien, wenn er in Komplizenschaft mit diesen handelt,228 verschiebt nach der für die Richtlinie maßgebenden Schutzlehre die Behauptung der Komplizenschaft des Staates mit den nichtstaatlichen Akteuren die Beweislast zugunsten des Antragstellers auf die Behörde. Damit ist festzuhalten, dass Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure grundsätzlich zu berücksichtigen sind und deren Erheblichkeit nicht davon abhängig gemacht werden darf, ob der Staat in Komplizenschaft mit diesen handelt. Das Konzept des Verfolgungsbegriffs der Konvention und damit auch das der Richtlinie 2004/83/EG verlangt keine aktive Verfolgung oder Verfolgungsbeteiligung des Staates. Ist dies der Fall, ist grundsätzlich nationaler Schutz nicht verfügbar und trifft den Antragsteller keine hierauf bezogene Darlegungslast. Geht die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren aus, verlangt die Richtlinie 2004/83/EG nicht eine House of Lords, IJRL 201, 174 (179 – 181) – Horvath. Musalo, IJRL 2004, 165 (196). 227 BVerwG, EZAR 202 Nr. 24. 228 BVerwGE 95, 42 (48) = NVwZ 1994, 497 = EZAR 230 Nr. 3 = InfAuslR 1994, 196 D 56; BVerwG, NVwZ 1994, 1112 = InfAuslR 329 = EZAR 043 Nr. 3; BVerwG, EZAR 202 Nr. 24; BVerwG, NVwZ 1996, 85 (86) 225 226 112 aktive Beteiligung des Staates an deren Verfolgung, sondern eine aktive Bereitschaft und Fähigkeit des Staates zur Schutzgewährung und wird der Antragsteller mit einer entsprechenden Darlegungspflicht belastet. Nach den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts ist damit die Lehre des BVerwG zur Komplizenschaft nicht mehr anwendungsfähig. dd) Umfang der Darlegungslast bei Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure Nach dem Wortlaut von Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG muss feststehen, dass kein Schutz gewährt wird. Damit wird für den konkreten Einzelfall vorausgesetzt, dass der Antragsteller vor seiner Ausreise sich um diesen Schutz bemüht haben muss. Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure sind dann erheblich, wenn diese „erwiesenermaßen“ nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu gewähren. Treffender als der deutsche Wortlaut von Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG bringt der englische Text diese Rechtslage zum Ausdruck. Danach sind Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure erheblich, „if it can be demonstrated“, dass der Antragsteller im Herkunftsland wegen Schutzunfähigkeit oder unwilligkeit des Staates oder diesem vergleichbare Organisationen keinen Schutz erlangen konnte. Der Antragsteller muss mithin lediglich darlegen, dass er sich um Schutz bemüht hat, diesen aber nicht erlangen konnte. Anschließend obliegt es der Feststellungsbehörde anhand der verfügbaren Erkenntnismittel festzustellen, ob die in Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG bezeichneten Schutzakteure „erwiesenermaßen“ nicht in der Lage oder nicht willens waren, Schutz zu gewähren. Es kommt insoweit wie bei allen anderen anspruchsbegründenden Tatsachen und Umstände auf den Maßstab der „Überzeugungsgewissheit“ an. Der englische Text besagt eher allgemeiner „if it can be demonstrated,“ d. h. es muss insoweit der Nachweis geführt werden, dass kein Schutz gewährt wurde. Damit bleibt die Verteilung der Beweisrisiken offen. Entsprechend den das Flüchtlingsrecht beherrschenden verfahrensrechtlichen Grundsätzen ist allgemein anerkannt, dass den Antragsteller insoweit zunächst die Darlegungspflicht trifft, anschließend der Behörde die Ermittlungspflicht obliegt und der Antragsteller die Beweislast dafür trägt, dass der Nachweis nicht gelingt. Vom Antragsteller ist zu erwarten, dass er konkrete Tatsachen und Umstände bezeichnet, aus denen sich ergibt, dass er sich um Schutz bemüht hat. Danach hat der Asylsuchende zunächst die persönlichen Umstände, Verhältnisse und Erlebnisse im Blick auf das Schutzersuchen schlüssig sowie mit Blick auf zeitliche, örtliche und sonstige Umstände detailliert und vollständig darzulegen. Da es um persönliche Umstände geht, ist insoweit die Amtsermittlungspflicht begrenzt.229 Um einer Überspannung dieser Grundsätze zu Lasten der Asylsuchenden vorzubeugen, hatte das BVerwG bereits zu Beginn der achtziger Jahre zwischen persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen des Antragstellers einerseits sowie den allgemeinen Verhältnissen in dessen Herkunftsland andererseits differenziert.230 Die Feststellungsbehörde braucht in keine Ermittlungen einzutreten, die durch das Sachvorbringen nicht veranlasst sind. Mit Blick auf die allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland ist der Asylsuchende dagegen in einer schwierigen Situation. Seine eigenen Kenntnisse und Erfahrungen sind häufig auf einen engeren Lebenskreis begrenzt und liegen stets einige Zeit zurück. Seine Mitwirkungspflicht würde überdehnt, wollte man auch insofern einen lückenlosen Tatsachenvortrag verlangen, der im Sinne der zivilprozessualen Verhandlungsmaxime schlüssig zu sein hätte. Insoweit 229 BVerwG, Buchholz 402.24 Art. 1 GK Nr. 11; BVerwG, DVBl. 1963, 145; BVerwG, InfAuslR 1982, 156; BVerwG, InfAuslR 1983, 76; BVerwG, DÖV 1983, 207; BVerwG, BayVBl. 1983, 507; BVerwG, InfAuslR 1984, 129; BVerwG, InfAuslR 1989, 350. 230 BVerwG, InfAuslR 1982, 156; BVerwG, InfAuslR 1983, 76; BVerwG, InfAuslR 1984, 129; BVerwG, DÖV 1983, 207; BVerwG, BayVBl. 1983, 507; BVerwG, InfAuslR 1989, 350. 113 muss es genügen, um dem Bundesamt zu weiteren Ermittlungen Anlass zu geben, wenn der Tatsachenvortrag des Antragstellers die nicht entfernt liegende Möglichkeit ergibt, dass er im Herkunftsland keinen Schutz erlangen konnte. ee) Wirksamer nationaler Schutz vor der Ausreise (Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG) Nach der Begründung des Kommissionsentwurfs hat die Feststellungsbehörde für die Situation vor der Ausreise zu ermitteln, ob ein innerstaatliches Schutzsystem sowie Mechanismen zur Ermittlung, strafrechtlichen Verfolgung und Ahndung von Verfolgungshandlungen vorhanden sind. Von Bedeutung ist hierbei die Frage, ob ein solches System generell allen Bevölkerungsgruppen einen zureichenden und zugänglichen Schutz bietet. Wirksamer Schutz ist nur vorhanden, wenn der Staat in der Lage und willens ist, dieses System so zu handhaben, dass die Verfolgungsgefahr minimal ist. Insbesondere ist zu berücksichtigen, ob und inwieweit dem einzelnen Antragsteller individueller Zugang zum vorhandenen Schutzsystem gewährt worden war.231 Unter diesen Voraussetzungen kann grundsätzlich von der Schutzfähigkeit des Staates in Ansehung von Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure ausgegangen werden. Dem Antragsteller wird indes im konkreten Einzelfall die Widerlegungsmöglichkeit eingeräumt, für die er klare und überzeugende Gründe angeben muss. Bestehen keine staatlichen Strukturen mehr, bedarf es eines derartigen Nachweises nicht.232 Diese entspricht der Praxis etwa in Australien, Belgien, Neu-Seeland, in den Niederlanden, in Österreich und im Vereinigten Königreich. Der verfügbare Schutz im Herkunftsstaat gegen Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure muss effektiv sein. Ist der Staat nicht in der Lage, einen derartig effektiven Schutz zu gewährleisten, kann dem Antragsteller die Möglichkeit der Inanspruchnahme des Schutzes nicht zugemutet werden. Da diese Frage auf Umstände zielt, die nicht dem persönlichen Erfahrungsbereich des Antragstellers zuzuordnen sind, trifft ihn eine eingeschränkte Darlegungslast und die Behörde eine erhöhte Ermittlungspflicht. Als Maßstab für den effektiven Schutz kann zwar Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG herangezogen werden. Doch rechtfertigt der generelle Standard in dieser Norm nicht die Anwendung eines abstrakten Maßstabes für die Beurteilung der Frage, ob der Antragsteller vor der Ausreise im Blick auf Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure Schutz erlangen konnte. Die Richtlinie fordert stets eine individuelle, auf den einzelnen Antragsteller bezogene Prüfung (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG). Diesem verfahrensrechtlichen Erfordernis kann nicht mit einem generell-abstrakten Maßstab Rechnung getragen werden. Die abstrakten Kriterien in Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG haben eine doppelte Funktion: Sofern dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner individuellen, familiären und sozialen Umstände gegen Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure ein individueller Zugang zum nationalen Schutzsystem gewährt worden ist, beantworten die Kriterien die Frage nach Inhalt und Umfang des nationalen Schutzsystems. Wird der Antragsteller hingegen durch nichtstaatliche Akteure verfolgt oder drohen ihm derartige Verfolgungen und kann er gegen diese keinen Schutz erlangen, bedarf es nicht der Anwendung der abstrakten Kriterien, weil kein Zugang zum Schutzsystem besteht. Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG erfordert damit eine konkrete Bewertung für die Situation vor der Ausreise. Mag der Staat auch generell die Bürger vor Verfolgungen schützen, so kann im konkreten Einzelfall hieraus kein Einwand 231 Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001, BR-Drs. 1017/01, S. 18 f. Canadian Immigration and Refugee Board, Guidelines issued by the Chairperson on “Civilian NonCombatants fearing Persecution in Civil War Situations”, 1996, S. 12, mit Verweis auf Supreme Court of Canada, Entscheidung vom 30. Juni 1993 – Nr. 21937 – Ward. 232 114 gegen den Antragsteller hergeleitet werden, der sich um diesen Schutz bemüht, ihn aber nicht erhalten hat. Darüber hinaus bezeichnet Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG allgemeine Prognosekriterien, die im Rahmen der Verfolgungsprognose anzuwenden und mit den individuellen Verfolgungsrisiken zu verknüpfen und gegeneinander abzuwägen sind. Sind die staatlichen Strukturen wegen eines Bürgerkrieges oder vergleichbaren internen Konfliktes zusammengebrochen und auch keine vergleichbaren Strukturen an deren Stelle getreten, entfällt die Nachweispflicht. Sind keine schützenden Instanzen verfügbar, kann ein Schutzersuchen nicht gefordert werden.233 Der Gesetzgeber hat wegen der bislang insoweit entgegenstehenden Rechtsprechung des BVerwG für die deutsche Rechtsanwendungspraxis in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG ausdrücklich klargestellt, dass der Nachweislast nicht entgegen gehalten werden kann, dass eine staatliche Herrschaftsmacht nicht vorhanden ist. Sind die in Art. 7 Abs 1 RL 2004/83/EG bezeichneten Schutzakteure nicht vorhanden, so entsteht erst recht eine internationale schutzbedürftige Situation. Kann danach bei bestehenden zentralstaatlichen oder vergleichbaren Schutzstrukturen in Ansehung von Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure grundsätzlich die Inanspruchnahme nationalen Schutzes gefordert werden, so entfällt bei zerfallenen Schutzstrukturen diese Möglichkeit und wird dem Antragsteller dementsprechend auch keine Nachweispflicht aufgebürdet. Bei der Frage, ob eine den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschende Organisation effektiven Schutz gewähren kann, ist zu prüfen, ob diese lediglich reine militärische oder auch effektive zivile Verwaltungsstrukturen aufgebaut hat. Insbesondere in diesen Fällen kann die Forderung nach Schutzbeantragung jedoch häufig wegen Verfolgungsgefahren oder erheblichen Diskriminierungen für den Einzelnen unzumutbar sein. Allerdings ist in einem derartigen Fall wie auch sonst der Einwand des internen Schutzes zu prüfen (Art. 8 RL). ff) Zumutbarkeit der Schutzbeantragung Dem Antragsteller muss vor der Ausreise die Möglichkeit der Schutzsuche zumutbar gewesen sein. Das ist nicht der Fall, wenn er vernünftige und plausible Gründe dafür angeben kann, dass ihm das Schutzersuchen nicht zumutbar gewesen war, weil er in diesem Fall durch staatliche Behörden oder maßgebliche Stellen vergleichbarer Organisationen verfolgt oder diskriminiert oder in Reaktion auf das Schutzersuchen aus seiner Gemeinschaft ausgestoßen worden wäre. Nach den kanadischen Richtlinien zu geschlechtsspezifischen Verfolgungen vom 25. November 1996 wird Antragstellern die Möglichkeit eingeräumt darzulegen, dass es für sie objektiv unzumutbar war, staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen. In diesem Fall stehe die Tatsache, dass sie keinen staatlichen Schutz in Anspruch genommen hätten, dem Begehren nicht entgegen. Bei der Prüfung, ob es objektiv unangemessen gewesen sei, dass die Antragstellerin darauf verzichtet habe, staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen, sei neben weiteren wesentlichen Faktoren das soziale, kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Umfeld zu berücksichtigen, in dem die Antragstellerin gelebt habe. Wenn eine Frau z. B. in Form einer Vergewaltigung Verfolgung wegen ihres Geschlechts erfahren habe, bestehe die Möglichkeit, dass sie aus der Gemeinschaft ausgestoßen werde, wenn sie staatlichen Schutz in Anspruch nehme.234 Auch nach den von der britischen Nichtregierungsorganisation „Refugee Women’s Legal Group“ veröffentlichen Richtlinien zu geschlechtsspezifischen Verfolgungen ist es für eine Asylsuchende nicht stets zumutbar oder möglich, bei staatlichen Behörden um Schutz Canadian Immigration and Refugee Board, Guidelines issued by the Chairperson on “Civilian NonCombatants fearing Persecution in Civil War Situations”, 1996, S. 12, mit Verweis auf Supreme Court of Canada, Entscheidung vom 30. Juni 1993 – Nr. 21937 – Ward. 234 Kanadischer Ausschuss für Einwanderungs- und Flüchtlingsangelegenheiten, Richtlinie zu Asylbewerberinnen, die sich aus Furcht vor Verfolgung aufgrund ihres Geschlechts berufen v. 25. 11. 1996, S. 24. 233 115 nachzusuchen. Dies könne etwa dann nicht verlangt werden, wenn sie für den Fall der Schutzbeantragung Gewalt oder Benachteiligungen in Kauf nehmen müsse oder wenn sie vernünftige Gründe für ihre Furcht vortragen könne, dass sie keinen Schutz habe erlangen können.235 Danach kann im konkreten Einzelfall das Schutzersuchen deshalb von vornherein unzumutbar gewesen sein, weil konkret und schlüssig dargelegt wird, dass in diesem Fall etwa ernsthafte Bedrohungen durch die Familie oder erhebliche Diskriminierungen durch Teile der Bevölkerung gedroht hätten und dies die Ausstoßung aus der Gemeinschaft für die Antragstellerin zur Folge gehabt hätte. So wird bei familiärer Gewalt die Familie häufig unterbinden wollen, dass diese nach außen bekannt wird. Besteht die Gefahr, dass die Polizei nach Erstattung der Anzeige die Familienangehörigen informieren und diese deshalb ihre Verfolgungen gegen die Antragstellerin fortsetzen werden und gibt es darüber hinaus keine effektiven gesellschaftlichen oder staatlichen Schutzeinrichtungen gegen familiäre Gewalt, so ist die Inanspruchnahme polizeilichen Schutzes in derartigen Fällen für die Antragstellerin unzumutbar. Besondere Sensibilität ist danach bei einer vorgebrachten erlittenen Vergewaltigung angezeigt. Bestehen vernünftige Gründe für die Befürchtung, dass eine durch private Akteure vergewaltigte Frau im Falle des Ersuchens um polizeilichen Schutz erneut Opfer von Vergewaltigungen oder sie deshalb aus der Familie ausgestoßen wird, kann ihr eine Inanspruchnahme polizeilichen Schutzes nicht zugemutet werden.236 Fehlt einer Frau das Vertrauen darin, dass die Polizei sie schützen werde und wird eine systematische Praxis behördlicher Diskriminierung der religiösen oder ethnischen Gruppe, welcher die vergewaltigte Frau angehört, festgestellt, ist es unzumutbar für das weibliche Opfer von sexueller Gewalt, polizeilichen Schutz in Anspruch zu nehmen.237 Da die Antragstellerin in einem derartigen Fall die Schutzbeantragung von vornherein unterlassen hat, trifft sie eine erhöhte Darlegungslast. Letztlich hat indes die Feststellungsbehörde die Untersuchungspflicht. Die Antragstellerin muss schlüssig darlegen, dass sie aufgrund allgemein bekannter Umstände davon ausgehen musste, dass sie bei den relevanten Behörden misshandelt oder im erheblichen Umfang diskriminiert (vgl. auch Art. 9 Abs. 2 Buchst. b) und d) RL 2004/83/EG) oder aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen worden wäre. Insbesondere bei sexueller Gewalt kann häufig davon ausgegangen werden, dass die Polizei die Anzeigenerstatterin misshandeln, sexuell belästigen oder sogar verfolgen wird. Die Inanspruchnahme nationalen Schutzes ist unzumutbar, wenn der Antragstellerin Verfolgungen aus Gründen der Konvention (Art. 1 A Nr. 2 GFK, Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG) drohten. Dies ist auch bei der Frage relevant, ob dem durch nichtstaatliche Akteure Verfolgten vor der Ausreise die Inanspruchnahme des nationalen Schutzes zugemutet werden konnte. Die Darlegungslast, dass das nationale Schutzersuchen von vornherein unzumutbar gewesen sei, verschärft sich jedoch aufgrund der Tatsache, dass im Herkunftsland demokratische und rechtsstaatliche Strukturen bestehen. Je demokratischer die Strukturen, desto höher ist die Darlegungslast, dass die Antragstellerin die verfügbaren Möglichkeiten zur Schutzsuche ausgeschöpft hat.238 gg) Schutzgewährung durch de facto-Autoritäten (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG umfasst auch das Erfordernis, dass der Antragsteller gegebenenfalls darlegen muss, dass er sich bei Parteien oder Organisationen, die den Staat Refugee Women’s Legal Group, Gender Guidelines fort he Determination of Asylum laims in the UK, July 1998, Nr. 3.8. 236 Spijkerboer, Women and Refugee Status, Emancipation Council (Hrsg.), The Hague 1994, S. 24. 237 Spijkerboer, a. a. O. S. 24, 31. 238 Canadian Federal Court of Appeal, 143 DLR (4th) 532 – Kadenko. 235 116 oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, um Schutz gegen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure bemüht hat. Im ursprünglichen Kommissionsentwurf war die Darlegungslast in Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Grundsätzen ausschließlich auf den Staat begrenzt.239 Für die maßgeblichen Gründe für die Erweiterung der Darlegungslast auf de facto-Autoritäten kann den Materialien kein Anhalt entnommen werden. Nach den kanadischen Richtlinien etwa ist die Tatsache, dass Antragsteller nicht bei nichtstaatlichen Institutionen um Schutz gesucht haben, für die Beurteilung der Frage, ob staatlicher Schutz gewährt worden war, ohne Bedeutung.240 Der Wortlaut von Art. 6 RL 2004/83/EG ist insoweit missverständlich. Buchst. c) verweist auf Buchst. b) und damit auch auf Parteien, die den Staat beherrschen. Insbesondere die »faktische Einheit von Staat und Staatspartei« oder von »Staat und Staatsreligion« sind jedoch wie Verfolgungen durch den Staat nach Buchst. a) zu behandeln.241 Hier handelt es sich wegen der engen Verschmelzung mit staatlichen Strukturen um Verfolgungen durch den Staat. Das BVerfG verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der Substitutenstellung des Staates für Ausschreitungen nichtstaatlicher Akteure.242 Ausdrücklich hat das BVerfG hervorgehoben, der Staat sei für die Verfolgung verantwortlich, wenn er zur Schutzgewährung entweder nicht bereit sei oder wenn er sich nicht in der Lage sehe, die ihm an sich verfügbaren Mittel im konkreten Fall gegenüber Verfolgungsmaßnahmen bestimmter Akteure, insbesondere etwa solchen des staatstragenden Klerus oder der staatstragenden Partei hinreichend einzusetzen.243 Danach ist es wegen der institutionellen und häufig personellen engen Verzahnung zwischen staatlichen Organen und dem staatstragenden Klerus bzw. der staatstragenden Partei gerechtfertigt, diese wie Verfolgungen durch den Staat nach Buchst. a) zu behandeln und deshalb den Antragsteller von seiner Darlegungslast freizustellen. Der Hinweis auf Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen Teil des Staates beherrschen, zielt wohl eher auf de facto-Autoritäten, die im Prozess des zerfallenden Staates diesen im Umfang seines Machtverlustes ersetzen. Während in diesen Fällen nach der kanadischen Praxis die Darlegungslast gänzlich aufgehoben ist, belastet die Richtlinie den Antragsteller mit einer auf de facto-Autoritäten bezogenen Darlegungslast. Dieser Ansatz ist mit der GFK unvereinbar. Art. 1 A Nr. 2 GFK verweist auf den Schutz, für dessen Gewährung der Staat nach völkerrechtlichen Grundsätzen verantwortlich ist. Das System der GFK erfordert, dass der nationale Schutz nicht durch insoweit völkerrechtlich nicht verantwortliche de facto-Autoritäten, sondern durch den nach völkerrechtlichen Grundsätzen verantwortlichen Staat gewährt wird.244 De facto-Autoritäten trifft keine völkerrechtliche Verantwortung für den Schutz der ihrer Obhut unterliegenden Personen. Das humanitäre Recht enthält insoweit lediglich negatorische Verpflichtungen, nämlich das Unterlassen von internationalen Verbrechen, nicht aber positive Leistungspflichten. Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG ist in diesem Gesichtspunkt deshalb mit Völkerrecht unvereinbar. Jedenfalls ist die Darlegungslast deutlich herabgesetzt. Da sich die Darlegungslast im Umfang der Entwicklung demokratischer Strukturen verschärft,245 wird sie umgekehrt in dem Maße, wie die staatlichen Strukturen zerfallen, deutlich herabgesetzt. 239 Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001, BR-Drs. 1017/01, S. 49. Ausschuss für Einwanderungs- und Flüchtlingsangelegenheiten, Richtlinie zu Asylbewerberinnen, die sich aus Furcht vor Verfolgung aufgrund ihres Geschlechts berufen v. 25. 11. 1996, S. 24. 241 Vgl. BVerfGE 54, 341 (358) = EZAR 200 Nr. 21 = NJW 1980, 2641. 242 BVerfGE 54, 341 (358) = EZAR 200 Nr. 21 = NJW 1980, 2641. 243 BVerfGE 80, 315 (336) = EZAR 201 Nr. 1 = NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990, 21; ebenso BVerwGE 74, 160 (162). 244 United Kingdom, Court of Appeal, EWCA Civ 759(2002) – Gardi. 245 Canadian Federal Court of Appeal, 143 DLR (4th) 532 – Kadenko. 240 117 hh) Schutzgewährung durch internationale Organisationen Nach Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG wird vom Antragsteller darüber hinaus gefordert, dass er gegebenenfalls bei internationalen Organisationen Schutz gegen Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure suchen muss. Auch insoweit wurde der ursprüngliche Kommissionsentwurf um diesen Gesichtspunkt erweitert. In der internationalen Literatur werden Bedenken gegen die Erweiterung der Darlegungslast auf internationale Organisationen geäußert, weil der Begriff „Schutz des Landes“ in Art. 1 A Nr. 2 GFK auf den nationalen Schutz des Herkunftslandes und nicht auf den von internationalen Organisationen verweise und Art. 1 D GFK nur auf die Institutionen der Vereinten Nationen verweise, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Konvention Flüchtlingen Schutz gewährten.246 Internationale Organisationen sind darüber hinaus regelmäßig zur Schutzgewährung nicht in der Lage oder willens. Sie verfügen auch nicht über die erforderlichen administrativen Strukturen zur Schutzgewährung und sind deshalb nicht in der Lage, Herrschaftsgewalt nach innen durchzusetzen. Hinzu kommt, dass anders als Staaten internationale Organisationen nicht die Qualifikationsmerkmale eines Staates aufweisen und auch nicht wie diese Vertragsparteien internationaler Verträge zum Schutze der Menschenrechte sind. So haben die Erfahrungen in der Vergangenheit gezeigt, dass internationale Friedenstruppen vorrangig auf die Herstellung einer stabilen innerstaatlichen Ordnung bedacht, jedoch nicht in der Lage sind, dem Einzelnen einen effektiven Schutz gegen Verfolgungen und Bedrohungen durch innerstaatliche Behörden, ehemalige Bürgerkriegsparteien und andere mühsam in den Friedensprozess eingebundene interne Kräfte zu gewährleisten. Dies ist in aller Regel auch nicht Teil ihres Mandates. Internationale Friedensbemühungen zielen vorrangig auf die Herstellung der äußeren Rahmenbedingungen für den nationalen Versöhnungsprozess. Der interne Machtbereich der einzelnen Konfliktbeteiligten entzieht sich daher in aller Regel der effektiven internationalen Kontrolle. So wird etwa in der schweizerischen Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass verfolgte Minderheiten im Kosovo wie die Ashkali und Roma außerhalb der von der KFOR geschützten Zonen vor Verfolgung nicht sicher sind.247 Der österreichische Verwaltungsgerichtshof erachtet aus diesem Grund den von der KFOR bereit gehaltenen Schutz ausdrücklich für unzureichend.248 d) Individuelle Schutzgewährung nach Rückkehr (Art. 7 RL 2004/83) aa) Allgemeine Grundsätze Es entspricht der ständigen Staatenpraxis und auch dem Konzept des internationalen Schutzes nach der Richtlinie, dass es für die Statusgewährung darauf ankommt, ob im Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. § 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG) die für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Art. 13 RL) maßgeblichen tatsächlichen Voraussetzungen vorliegen. Maßgebend ist deshalb, ob vor Verfolgungen der in Art. 6 RL 2004/83/EG bezeichneten Verfolgungsakteure Schutz durch die in Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG genannten Schutzakteure geboten wird. Die für die Effektivität der Schutzgewährung maßgebenden Kriterien werden in Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichnet. Ob vor der Ausreise gegen Verfolgungen durch die in Art. 6 RL 2004/83/EG bezeichneten Verfolgungsakteure kein nationaler Schutz gewährt wurde, ist für die Beurteilung der Frage, ob nach Rückkehr Schutz geboten wird, lediglich ein gewichtiger Prognoseaspekt. Wer vor der Ausreise verfolgt wurde und hiergegen keinen nationalen Schutz erlangen konnte, jedoch im Falle der Rückkehr wieder nationalen Schutz erlangen kann, ist kein Flüchtling. Denn in diesem Fall besteht im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) 246 247 248 Penelope Mathew u.a., IJRL 2003, 444 (457 f.). Schweizerische ARK, EMARK 2001 Nr. 13. VwGH, Entscheidung vom 6. März 2001 – Nr. Zl. 2000/01/0056. 118 RL 2004/83/EG, vgl. auch § 77 Abs. 1 AsylVfG) wegen des Subsidiaritätsgrundsatzes keine internationale Schutzbedürftigkeit mehr. Wer hingegen vor der Ausreise gegen Verfolgungen keinen nationalen Schutz erlangen konnte und auch nach Rückkehr keinen nationalen Schutz erlangen kann, ist schutzbedürftig und wird deshalb als Flüchtling anerkannt. Wer vor der Ausreise nicht verfolgt wurde, aber für den Fall der Rückkehr Verfolgungen befürchtet, vor denen ihm kein nationaler Schutz gewährt wird, ist Flüchtling (Art. 5 Abs. 1 RL 2004/83/EG). Dies verdeutlicht, dass die materiellen Kriterien der Richtlinie zur Bewertung des Wegfalls des nationalen Schutzes nur unter Berücksichtigung der maßgeblichen Prognosegrundsätze im Einzelfall sachgerecht angewendet werden können. Ob und in welchem Umfang die in Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG bezeichneten Schutzakteure Schutz gegen Verfolgungen durch die in Art. 6 RL 2004/83/EG erwähnten Verfolgungsakteure gewähren, ist im Rahmen der in die Zukunft gerichteten Entscheidung (Verfolgungsprognose) zu bewerten. Dementsprechend ist zwischen der Schutzbedürftigkeit vor der Ausreise einerseits sowie der Schutzbedürftigkeit im Rahmen der Verfolgungsprognose andererseits zu differenzieren. bb) Verfahrensrechtliche Funktion der Vorverfolgung (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG) Für die sachgerechte Handhabung des Begriffselementes Wegfall des nationalen Schutzes gewinnt damit der Begriff der Vorverfolgung besondere Bedeutung. Danach enthält die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, einen ernsthaften Hinweis darauf, dass die Verfolgungsfurcht im Zeitpunkt der Entscheidung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von Verfolgung bedroht wird. Nach der Begründung des Kommissionsentwurfs kann dies nur angenommen werden, wenn die Lage im Herkunftsland bzw. die Beziehung des Antragstellers zum Herkunftsland sich nach der Ausreise grundlegend und in relevanter Weise geändert hätten. Die Richtlinie schließt sich damit der internationalen Staatenpraxis an, die in Verfolgungen vor der Ausreise einen gewichtigen Hinweis auch auf zukünftige Verfolgungen sieht und deshalb eine Regelvermutung für ein Andauern dieser Verfolgung annimmt, die nur durch eine grundlegende nachträgliche Änderung der Verhältnisse zerstört werden kann.249 Von diesen Grundsätzen geht im Grundsatz auch die deutsche Rechtsprechung aus.250 Maßgebend ist nach der Richtlinie, dass im Zeitpunkt der Entscheidung (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/83/EG) die Verfolgungsfurcht begründet ist. Dies ist im Regelfall anzunehmen, wenn der Antragsteller in der Vergangenheit bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). In diesem Zusammenhang kommt es auf die bereits erläuterten Grundsätze über die Zumutbarkeit der Beantragung nationalen Schutzes an. Wer durch staatliche Behörden oder diesen vergleichbare Institutionen verfolgt wurde, dem kann vernünftigerweise weder die Inanspruchnahme nationalen Schutzes vor der Ausreise noch für den Fall der Rückkehr die Beantragung nationalen Schutzes zugemutet werden. Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist der Grundsatz zu entnehmen, dass dies nur bei grundlegender Veränderung der Verhältnisse zumutbar ist. Ebenso liegt der Fall, wenn der Antragsteller vor Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure geflohen ist oder ihm diese unmittelbar drohten, er im Herkunftsland trotz Schutzbeantragung hiergegen keinen nationalen Schutz erlangen konnte bzw. ihm aus Gründen der Konvention die Schutzbeantragung nicht zugemutet werden konnte. Auch in diesem Fall wurde der 249 Musalo, IJRL 2004, 165 (197). BVerfGE 54, 341 (361) = EZAR 200 Nr. 1 = NJW 1980, 2641; BVerwG 65, 250 (251) = EZAR 200 Nr. 7 = NVwZ 1983, 160; BVerwGE 68, 106 (107) = EZAR 123 Nr. 5 = InfAuslR 1984, 1; BVerwGE 70, 169 (171) = EZAR 200 Nr. 12 = InfAuslR 1985, 51; BVerwGE 71, 175 (178 f.) EZAR 200 Nr. 13 = NVwZ 1985, 913 = InfAuslR 1985, 241. 250 119 Antragsteller vor der Ausreise verfolgt bzw. drohten ihm diese unmittelbar und unterstellt Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ein Fortwirken dieser Verfolgung für den Regelfall. In beiden Fällen kommt es auf die in Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichneten generellen Kriterien nicht an. Denn lediglich die generelle Schutzgewährleistung nach Maßgabe der in dieser Norm enthaltenen Kriterien kann nicht als „stichhaltiger Grund“ im Sinne von Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG verstanden werden, der für eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse spricht. Aus dem Zusammenspiel von Art. 4 Abs. 4 und Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG folgt damit in Anlehnung an die deutsche Rechtsprechung, dass es bei glaubhaft gemachter Vorverfolgung durch einen der in Art. 6 RL 2004/83/EG bezeichneten Verfolgungsakteure mehr als nur überwiegend wahrscheinlich sein muss, dass der Antragsteller nach Rückkehr in das Herkunftsland vor Verfolgung sicher ist.251 Der Asylsuchende muss vielmehr in seinem Herkunftsland vor der Gefahr abermals einsetzender Verfolgung hinreichend sicher sein. Können ernsthafte Bedenken hiergegen nicht ausgeräumt werden, so wirken sie sich zugunsten des Antragstellers aus und führen zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Umgekehrt ausgedrückt darf das Asylbegehren nur abgewiesen werden, wenn sich eine Wiederholungsgefahr ohne ernsthafte Zweifel an der Sicherheit des Antragstellers im Falle der Rückkehr in sein Herkunftsland ausschließen lässt.252 Ohne ernsthafte Zweifel bedeutet, dass „stichhaltige Gründe“ (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG) für eine Sicherheit vor Verfolgung sprechen. Die Flüchtlingseigenschaft ist deshalb zuzuerkennen, wenn Anhaltspunkte die Möglichkeit erneut einsetzender Verfolgung als nicht ganz entfernt erscheinen lassen. Dem Antrag kann daher nur der Erfolg versagt werden, wenn das geltend gemachte Sachvorbringen zur Überzeugung der zuständigen Entscheidungsinstanzen entkräftet werden kann.253 Andererseits kann es bei der Beurteilung der Frage, ob ernsthafte Bedenken gegen eine abermals einsetzende Verfolgung nicht ausgeräumt werden können, nicht darauf ankommen, den Antragsteller künftig vor jeder denkbaren erneuten Verfolgung zu schützen. Ein derartiger Maßstab wäre nicht mehr an der die Zumutbarkeit der Rückkehr wesentlich bestimmenden Wiederholungsgefahr ausgerichtet.254 e) Prognoserechtlicher Schutzstandard (Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG) aa) Differenzierte Funktion der generellen Schutzgewährleistung Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist generell Schutz gewährleistet, wenn die nach Art. 7 Abs. 1 RL 2004/83/EG maßgebenden Schutzakteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesen nationalen Schutzsystem hat. Nach der Begründung des Kommissionsentwurfs hat diese Vorschrift die Funktion, die Bewertung zu leiten, ob staatlicher Schutz in Anspruch genommen werden kann und wie wirksam dieser ist. Danach müssen ein innerstaatliches Schutzsystem sowie Mechanismen zur Ermittlung, 251 BVerwG, EZAR 200 Nr. 3. BVerwGE 65, 250 (251); BVerwGE 70, 169 (171); BVerwGE 71, 175 (179); BVerwG, EZAR 200 Nr. 3; BVerwG, InfAuslR 1985, 276. 253 BVerwGE 70, 169 (171). 254 BVerwGE 65, 250 (251). 252 120 strafrechtlichen Verfolgung und Ahndung von Verfolgungshandlungen vorhanden sein. Es reicht allerdings nicht aus, dass lediglich geeignete Schritte eingeleitet werden. Vielmehr müssen diese auch wirksam durchgesetzt werden und insbesondere den individuellen Zugang zum Schutzsystem gewährleisten (vgl. Art. 7 Abs. 2 letzter HS RL 2004/83/EG). Von Bedeutung habe hierbei die Frage, ob ein solches System generell allen Bevölkerungsgruppen einen ausreichenden und zugänglichen Schutz biete. Einen wirksamen Schutz gibt es nur, wenn der Staat in der Lage und willens sei, dieses System so zu handhaben, dass die Gefahr der Verfolgung minimal sei. Zunächst ist zu ermitteln, ob der Staat geeignete Schutzvorkehrungen eingeleitet habe. Hierbei ist die allgemeine Lage zu berücksichtigen. Zu prüfen ist darüber hinaus, ob der Staat sich an der Verfolgung beteiligt, welche Politik er insoweit betreibt, ob Verfolger Einfluss auf staatliche Bedienstete nehmen, ob die Untätigkeit des Staates System hat und welche Maßnahmen der Staat trifft, um Verfolgungen abzuwenden. In einem weiteren Prüfungsschritt ist zu untersuchen, ob der Antragsteller Beweismittel vorlegen kann, wonach die Verfolger nicht der staatlichen Kontrolle unterliegen, inwieweit der Antragsteller Zugang zu vorhandenen Schutzsystemen hat und ob er Anstrengungen unternommen hat, den Schutz staatlicher Bediensteter zu erlangen und wie der Staat hierauf reagiert hat.255 Der Wortlaut von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG wie auch die Begründung legen den Schluss nahe, dass die bezeichneten Kriterien sowohl die Ermittlungen, ob dem Antragsteller die Inanspruchnahme staatlichen Schutzes vor der Ausreise zumutbar war, wie auch die maßgebende Prognoseprüfung leiten, ob im Falle der Rückkehr Schutz vor Verfolgung gewährleistet ist. Soweit es um die Zumutbarkeit der Beantragung nationalen Schutzes vor der Ausreise geht, beruht die Richtlinie 2004/83/EG auf der Schutzlehre und geht deshalb grundsätzlich davon aus, dass gegen Verfolgungen durch staatliche Behörden und diesen vergleichbare Institutionen vernünftigerweise nicht die Inanspruchnahme staatlichen Schutzes erwartet werden kann. Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG hat daher zunächst die Funktion, die materiellen Kriterien zu bezeichnen, unter denen vor der Ausreise gegen Verfolgungen durch nichtstaatliche Verfolger (Art. 6 Buchst. c) RL 2004/83/EG) nationaler Schutz beantragt werden kann oder dies unzumutbar war. Insoweit muss im konkreten Einzelfall individueller Zugang zum staatlichen Schutzsystem bestehen, muss der verfügbare Schutz wirksam sein und ist bei Schutzunfähigkeit nationaler Schutz nicht verfügbar (Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG). Darüber hinaus hat Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG insbesondere die Funktion, die Prognoseprüfung zu leiten. Hat der Antragsteller vor der Ausreise Verfolgung erlitten oder stand ihm diese unmittelbar bevor und konnte er hiergegen keinen nationalen Schutz erlangen, so kann ihm die Statusberechtigung nur verweigert werden, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Nur bei einer grundlegenden Änderung der Verfolgungssituation wird man dies annehmen können. Für diese Prüfung hält Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG die maßgebenden Kriterien bereit. Dabei wird man eine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung verneinen müssen, wenn die Zugriffsmöglichkeiten der Verfolgungsakteure unverändert fortbestehen. bb) Abgrenzung zwischen ernsthaften und lediglich entfernt liegenden Möglichkeiten Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist im Rahmen der Verfolgungsprognose zunächst die Frage zu beantworten, ob der Antragsteller im Falle der Rückkehr ungehinderten Zugang zu einem wirksamen nationalen Schutzsystem haben wird. Die Vorschrift hat hingegen nicht die Funktion, nach Maßgabe der Zurechnungslehre anhand abstrakt-genereller Kriterien bestimmte Verfolgungshandlungen dem Staat zuzurechnen oder nicht und davon die 255 Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001, BR-Drs. 1017/01, S. 18 f. 121 Gewährung der Statusberechtigung abhängig zu machen. Vielmehr beruht die Vorschrift auf der Schutzlehre und leiten die dort bezeichneten Kriterien die Prognoseprüfung. Nach der britischen Rechtsprechung ist bei der Prognoseprüfung das Subsidiaritätsprinzip zu berücksichtigen. Dieses beruht auf der Überlegung, dass vollständiger Schutz gegen isolierte und lediglich entfernt liegende Möglichkeiten der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure nicht geschuldet ist. Der anzuwendende Maßstab muss deshalb nicht die Leistung erbringen, dass sämtliche Risiken auszuschalten sind. Vielmehr ist er pragmatisch anzuwenden und sind die Schutzpflichten zu berücksichtigen, die der Herkunftsstaat den seiner Obhut unterstellten Personen schuldet.256 Diese Schutzpflichten werden in Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG bezeichnet. Die britische Rechtsprechung hat in der Folgezeit Horvath weiter interpretiert. Die Konvention enthält danach keine Garantie gegen Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure. Vielmehr liege der relevante Schutzstandard irgendwie unterhalb dieser Schwelle. Maßgeblich für den die Prognoseprüfung leitenden Schutzstandard der Konvention sei die Tatsache, dass diese einen Ersatz bzw. ein Surrogat für den fehlenden nationalen Schutz gewähre. Deshalb seien Inhalt und Umfang dieses Schutzstandards nach Maßgabe derselben Schutzpflichten zu bestimmen, die der Vertragsstaat seinen eigenen Bürgern schulde.257 Das Schutzsystem müsse Strafvorschriften enthalten, die Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure unter Strafe stellten und angemessene Sanktionen gegen diese vorsehe. Es müsse darüber hinaus so gestaltet werden, dass Opfer von Verfolgungen nicht aus dem Schutzsystem ausgeschlossen würden. Schließlich müsste auf Seiten der Polizei und anderer mit dem Gesetzesvollzug betrauter Behörden der wirkliche Wille bestehen, Ermittlungen einzuleiten, aufzuklären und Strafverfolgungsmaßnahmen einzuleiten. Grundlegend sei, dass der Schutzwille mit der Fähigkeit einhergehe, Schutz gegen Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure in einem Umfang zu gewähren, der vernünftigerweise erwartet werden könne und das „konkrete Risiko“ der Verfolgung ausschalte. Was im Einzelnen zumutbarer Schutz bedeute, sei danach stets vom Wahrscheinlichkeitsgrad der Verfolgung abhängig.258 Die Frage nach dem generellen Schutzstandard stelle sich stets, wenn der Staat zwar schutzwillig sei, seine Fähigkeit hierzu jedoch in Frage stehe. Zur Beantwortung dieser Frage müsse die Frage des angemessenen Schutzstandards nach den aufgezeigten Grundsätzen gelöst werden. In diesem Sinne sind auch die Kriterien von Art. 7 Abs. der Richtlinie auszulegen und anzuwenden. Die entscheidende Frage zielt danach nicht auf die Erkenntnis, ob die staatlichen Behörden im konkreten Einzelfall alles ihnen Mögliche unternehmen werden, um generell Schutz zu gewähren. Vielmehr kommt es entscheidungserheblich darauf an, ob eine ernsthafte Möglichkeit dafür besteht, dass der Antragsteller aus Gründen der Konvention verfolgt wird. Der eigentliche Zweck des in Horvath entwickelten Standards besteht mithin darin, isolierte und bei Anlegung eines Wahrscheinlichkeitsmaßstabes weit entfernt liegende Möglichkeiten ausschließen.259 Das britische Berufungsgericht für Ausländerrecht hat in diesem Zusammenhang ausdrücklich klargestellt, dass Horvath nicht so verstanden werden könne, dass ausreichender Schutz gewährleistet sei, wenn die zuständigen Behörden ihr Bestes täten. Lordrichter Hope of Craighead, in: House of Lords, IJRL 2001, 174 (182) – Horvarth; so auch BVerfGE 81, 58 (66) = EZAR 203 Nr. 5 = NVwZ 1990, 514 = InfAuslR 1990, 74; BVerwGE 67, 317 (320) = EZAR 202 Nr. 1. 257 Court of Appeal, 11. 11. 2003 – C1/2003/1007(A), C1/2003/1007(B)&C3/2003/1007 - Bagdanavicius 258 High Court of Justice, 6. 2. 2002 – CO/2392/2001 (2002) – Dhima. 259 Berufungsgericht , Entscheidung v. 25. 5. 2001, C/2000/3674 - Banomova, zitiert nach Wilsher, IJRL 2003, 68 (92). 256 122 Könne der Antragsteller darlegen, dass das Beste ineffektiv sei, habe er glaubhaft gemacht, dass der Staat zur erforderlichen Schutzgewährung nicht fähig sei.260 Damit ist festzuhalten, dass der in Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG entwickelte Standard prognoserechtliche Bedeutung hat. Er stellt für die Prognoseprüfung Kriterien zur Verfügung, um isolierte und weit entfernt liegende Möglichkeiten der Realisierung der Verfolgungsgefahr aus der Betrachtung auszuschließen. Schutz gegen derartige Risiken schuldet der Staat auch seinen Bürgern gegenüber nicht. Dies kann deshalb auch nicht der Maßstab des internationalen Schutzes sein. Diese Interpretation der generellen Gewährleistungsgarantie in Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG steht in Übereinstimmung mit den Intentionen der Verfasser der Konvention. Der Schutz der Konvention beruht nicht auf abstrakten Formalitäten, sondern richtet sich gegen reale Risiken. Der einzig relevante Schutz der Konvention ist der Schutz, der Verfolgungsrisiken konkret ausschaltet, die andernfalls den Betroffenen zwingen würden, (subsidiären) internationalen Schutz zu suchen.261 cc) Individueller Zugang zum nationalen Schutzsystem Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist generell Schutz gewährleistet, wenn die Schutzakteure geeignete Schritte einleiten, um Verfolgungen zu verhindern. Die Prognoseprüfung fällt jedoch stets zugunsten des Antragstellers aus, wenn er keinen individuellen Zugang zum Schutzsystem hat (Art. 7 Abs. 2 letzter HS RL 2004/83/EG), etwa weil der Staat nicht schutzfähig ist oder die zentralstaatlichen Strukturen sich aufgelöst haben. Demgegenüber wird nach der deutschen Rechtsprechung die Statusberechtigung verweigert, wenn die Schutzgewährung die Kräfte eines konkreten Staates übersteigt. Jenseits der ihm an sich zur Verfügung stehenden Mittel endet danach seine Verantwortlichkeit. Ihre Grundlage findet diese Begrenzung des Schutzstandards nach Ansicht des BVerfG nicht schon im bloßen Anspruch eines Staates auf das legitime Gewaltmonopol, sondern erst in dessen – prinzipieller – Verwirklichung. Solle die Asylgewährleistung Schutz vor einem bestimmt gearteten Einsatz verfolgender Staatsgewalt bieten, läge darin als Kehrseite beschlossen, dass »Schutz vor den Folgen anarchischer Zustände oder der Auflösung der Staatsgewalt« nicht durch die verfassungsrechtliche Asylrechtsnorm versprochen sei.262 Diese Rechtsprechung kann wegen Art. 7 Abs. 2 letzter HS RL 2004/83/EG keine Anwendung finden. Ihr fehlt ohnehin die erforderliche Tiefenschärfe. Wann von einer »prinzipiellen Verwirklichung« des Gewaltmonopols ausgegangen werden kann, wann also der Grundsatz durch Ausnahmen durchbrochen wird, hat das BVerfG offen gelassen und nur als extremen Fall anarchische Zustände und sich auflösende Staatsstrukturen bezeichnet. Nach § 60 Abs. 1 Buchst. c) AufenthG sind Verfolgungen aber auch erheblich, wenn keine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist. Zwischen derartigen Extremfällen und Situationen, in denen der Staat aus anderen Gründen – etwa wegen unzureichender gesetzlicher, administrativer und polizeilicher Schutzvorkehrungen aufgrund verfehlter Planungen, knapper Ressourcen oder sonstiger nicht voluntativer Faktoren – den notwendigen Schutz gegen Verfolgungen durch nichtstaatlicher Akteure nicht gewähren kann, besteht eine weite Bandbreite von Auslegungsmöglichkeiten. Insoweit war auch nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG der asylrechtliche Schutz nicht zu versagen, wenn der Herkunftsstaat die Verfolgung durch Private trotz Innehabung der Staatsgewalt – etwa wegen der Rücksichtnahme auf bestimmte Immigration Appeal Tribunal, Entscheidung vom 19. 7. 2001 – Nr. CC/23044/2000 -Kacaj, zitiert nach Wilsher, IJRL 2003, 68 (92); bekräftigt durch High Court of Justice, 6. 2. 2002 – CO/2392/2001 (2002) – Dhima. 261 Mathew/ Hathaway/ Forster, IJRL 2003, 444 (448). 262 BVerfGE 80, 315 (336) = EZAR 201 Nr. 1 = NVwZ 1990, 151 = InfAuslR 1990, 21. 260 123 gesellschaftliche Machtstrukturen – generell nicht zu verhindern vermochte.263 Zwar vermöge kein Staat einen »schlechthin perfekten lückenlosen Schutz zu gewähren und sicherzustellen, dass Fehlverhalten, Fehlentscheidungen oder ›Pannen‹ sonstiger Art bei der Erfüllung der ihm zukommenden Aufgabe der Wahrung des innere Friedens nicht vorkommen. Deshalb schließe weder Lückenhaftigkeit des Systems staatlicher Schutzgewährung überhaupt noch die im Einzelfall von dem Betroffenen erfahrene Schutzversagung als solche schon staatliche Schutzbereitschaft oder Schutzfähigkeit aus.264 Vielmehr waren nach der Rechtsprechung des BVerwG Übergriffe Privater dem Staat als mittelbare staatliche Verfolgung nur dann zuzurechnen, wenn er gegen Verfolgungsmaßnahmen Privater »grundsätzlich« keinen effektiven Schutz gewährte. Umgekehrt war eine »grundsätzliche Schutzbereitschaft« des Staates zu bejahen, wenn die zum Schutz der Bevölkerung bestellten (Polizei-)Behörden bei Übergriffen Privater zur Schutzgewährung ohne Ansehen der Person verpflichtet und dazu von der Regierung auch landesweit angehalten wurden, vorkommende Fälle von Schutzverweigerung mithin ein von der Regierung nicht gewolltes Fehlverhalten der Handelnden in Einzelfällen waren.265 »Generelles staatliches Unvermögen«, ohne dass dem Staat der Vorwurf der »Komplizenschaft mit dem verfolgenden Dritten« gemacht werden konnte, stand damit der Statusgewährung entgegen.266 Andererseits war eine Verfolgung durch private Dritte auch dann eine mittelbare staatliche, wenn dem Staat die erforderlichen Machtmittel aufgrund seiner Gebietsgewalt zwar zu Verfügung standen, er sie aber nicht einsetzte, weil er wegen der bestehenden innenpolitischen Machtstrukturen auf bestimmte gesellschaftliche oder politische Gruppen Rücksicht nehmen wollte oder musste.267 Nach Art. 7 Abs. 2 letzter HS RL 2004/83/EG kann diese auf der Zurechnungslehre beruhende Rechtsprechung keine Anwendung finden. Es ist eine konkrete individuelle Bewertung angezeigt (Art. 4 Abs. 3 Buchst.c) RL 2004/83/EG). Da individuell Zugang zum nationalen Schutzsystem sicherzustellen ist, kann staatliches Unvermögen zur Schutzgewährung deshalb dem Antragsteller nicht entgegen gehalten werden. f) Interner Schutz (Art. 8 RL 2004/83/EG) aa) Begriff der internen Schutzalternative Nach Artikel 8 RL 2004/83/EG kann die in den Mitgliedstaaten seit den siebziger Jahren entwickelte Praxis der inländischen Fluchtalternative als Grund für die Schutzversagung übernommen werden. Es handelt sich um eine Öffnungsklausel, die eng auszulegen ist. In der Staatenpraxis, die in Kanada und in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG) sogar gesetzlich verankert ist, ist nach Artikel 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG die Frage einer in einem „Teil des Hoheitsgebietes des Herkunftslandes“ bestehenden Schutzalternative im Rahmen der abschließenden Verfolgungsprognose zu prüfen. Damit hat der Einwand der internen Schutzalternative gegenüber ursprünglichen Ansätzen seine Funktion vollständig verändert. Es geht nicht mehr in erster Linie um die Prüfung, ob im Zeitpunkt der Flucht innerhalb des Herkunftsstaates interne Schutzzonen als Alternative zur Flucht bestanden (interne Fluchtalternative), sondern darum, ob im Zeitpunkt der Entscheidung derartige 263 BVerwGE 95, 42 (48) = NVwZ 1994, 497 = EZAR 230 Nr. 3 = InfAuslR 1994, 196; BVerwG, EZAR 202 Nr. 26. 264 BVerwG, EZAR 202 Nr. 24. 265 BVerwG, EZAR 202 Nr. 24; BVerwG, EZAR 202 Nr. 26. 266 BVerwGE 95, 42 (49) = NVwZ 1994, 497 = EZAR 230 Nr. 3 = InfAuslR 1994, 196. 267 BVerwG, EZAR 202 Nr. 26. 124 Zonen (interne Schutzalternativen) ausgemacht werden können. Dadurch erscheinen interne Schutzzonen nicht mehr als Alternative zur Flucht, sondern als Alternative zum internationalen Schutz. Dementsprechend ist die Begriffsverwirrung erheblich. Beim Einwand der internen Schutzalternative handelt es sich nicht um einen „Rechtsbegriff“, sondern nach dem international erreichten Konsens lediglich um ein „tatsächliches Moment“ im Rahmen der Prognoseprüfung. Die Richtlinie 2004/83/EG stellt den Mitgliedstaaten die Anwendung der internen Schutzalternative frei und enthält darüber hinaus auch keine materiellen Kriterien, anhand deren dieser Einwand geprüft werden kann. Es besteht deshalb die Gefahr, dass in den Mitgliedstaaten auch weiterhin eine höchst unterschiedliche Rechtsanwendungspraxis in dieser Frage die Folge sein wird. Auch die Staatenpraxis ist in dieser Frage sehr uneinheitlich, enthält jedoch einige Grundsätze, die auch bei der Anwendung von Art. 8 RL 2004/83/EG zu berücksichtigen sind. Es besteht eine sachliche Nähe zu den Regelungen in Art. 6 Buchst. c) und Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG, die ebenfalls auf dem Gedanken der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes beruhen und vorrangig bei geltend gemachter Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure Anwendung findet. bb) Voraussetzungen des internen Schutzes (1) Prüfungsschema Entsprechend der Staatenpraxis gewinnt der Einwand der Verfügbarkeit internen Schutzes im Rahmen der Verfolgungsprognose Bedeutung. Zu prüfen ist in diesem Rahmen, ob der Antragsteller ungefährdeten Zugang zum Ort des internen Schutzes hat. Insoweit weicht Art. 8 Abs. 3 RL 2004/83/EG bedenklich von der Staatenpraxis ab. Anschließend ist zu untersuchen, ob er dort vor dem Zugriff der Verfolger sicher ist. Das ist bei Verfolgungen durch staatliche oder vergleichbare Behörden regelmäßig nicht der Fall. Schließlich ist zu prüfen, ob aufgrund der am Ort der internen Schutzalternative vorherrschenden allgemeinen Verhältnisse vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort aufhält (vgl. Art. 8 Abs. 1 letzter Hs. RL 2004/83/EG). Dabei sind anders als nach der bisherigen deutschen Rechtsprechung neben den allgemeinen Gegebenheiten am Ort der Schutzalternative insbesondere auch die konkreten persönlichen und familiären sowie sonstigen individualbezogenen Umstände zu berücksichtigen (vgl. Art. 8 Abs. 2 in Verb. mit Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG). (2) Ungefährdeter Zugang zum Ort der internen Schutzalternative Die zentrale Frage bei der Anwendung der internen Schutzalternative zielt auf die Voraussetzungen, unter denen angenommen werden kann, dass der Antragsteller tatsächlich Zugang zu der Schutzzone erlangen kann. Falls innerhalb des Herkunftslandes eine alternative Schutzzone besteht, diese aber nicht erreicht werden kann, ist der Verweis auf den internen Schutz rein spekulativer Natur und bleibt er eine lediglich theoretische Option.156 Die Entscheidung wird maßgeblich von dem Grundsatz geleitet, dass der Antragsteller tatsächlich in der Lage sein muss, die Schutzzone sicher und auf legalem Wege zu erreichen. Das erfordert die Berücksichtigung körperlicher und anderer Zugangbarrieren, Transportunterbrechungen, Visa- und Transitvisaerfordernisse von Durchreisestaaten. 125 (3) Praktische Hindernisse im Sinne von Art. 8 Abs. 3 RL 2004/83/E Der Einwand des internen Schutzes kann auch eingewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen (Art. 8 Abs. 3 RL 2004/83/EG). Absatz 3 von Art. 8 RL 2004/83/EG ist erst im Laufe der Beratungen eingefügt worden. Zunächst regelte Art. 8 des Kommissionsentwurfs ausschließlich Kriterien, die auf die territoriale Situation am Ort des internen Schutzes im Herkunftsland bezogen waren - nämlich Art. 8 Abs. 1 und 2 – und ließ damit die Frage der Erreichbarkeit des internen Schutzortes offen. Nach der in Kraft getretenen Fassung gibt Art. 8 Abs. 3 RL 2004/83/EG den Mitgliedstaaten die Befugnis, den internen Schutzeinwand auch dann anzuwenden, wenn „praktische Hindernisse“ für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen und nimmt damit auch den Reiseweg in den Blick. Aus dem Regelungszusammenhang der Richtlinie 2004/83/EG folgt, dass im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) und Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG) hinreichend sicher feststehen muss, dass der Zugang zum nationalen Schutzsystem gewährleistet ist (vgl. auch Art. 7 Abs. 2 a.E. RL 2004/83/EG). Kann dies nicht festgestellt werden, besteht Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Art. 13 RL 2004/83/EG) und auf Erteilung des Aufenthaltstitels (Art. 24 Abs. 1 1. Unterabs. RL 2004/83/EG). Es ist den Mitgliedstaaten untersagt, im Anschluss an die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft eine Abschiebungsandrohung zu erlassen und die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis davon abhängig zu machen, dass die Abschiebung nicht lediglich vorübergehend aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist (vgl. aber § 70 Abs. 1 AsylVfG a.F). Aus diesem Regelungszusammenhang folgt, dass die für die Anwendung von § 25 Abs. 5 Satz 1 und § 60a Abs. 2 AufenthG maßgebende Unterscheidung zwischen rechtlichen und tatsächlichen Hindernissen auf dem Reiseweg für die Prüfung des internationalen Schutzes ungeeignet ist. Zwar hindert Art. 33 Abs. 1 GFK nicht die Abschiebung in dritte Staaten. Das Konzept des „ausländischen Fluchtalternative“ ist jedoch nicht Regelungsgegenstand der Richtlinie 2004/83/EG, sondern der Richtlinie 2005/85/EG (Verfahrensrichtlinie), hier der Bestimmungen Art. 26, 27, Art. 30 und 36. Wird das Asylbegehren inhaltlich geprüft, kommt es auf mögliche „ausländische Fluchtalternativen“ nicht mehr an, sondern nur noch darauf, dass die Voraussetzungen von Kapitel II und III der Richtlinie 2004/83/EG erfüllt sind. Der interne Schutz steht zwar der Statuszuerkennung entgegen, jedoch nur, wenn der Zugang zum nationalen Schutzsystem (Art. 7 Abs. 2 a.E. RL 2004/83/EG) im Zeitpunkt der Statusentscheidung (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) und Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG) hinreichend gewährleistet ist. Aus dem Regelungszusammenhang von Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) und Art. 8 Abs. 2 in Verb. mit Art. 7 Abs. 2, 13 und Art. 24 Abs. 1 RL 2004(83/EG ist zu folgern, dass im Zeitpunkt der Entscheidung zuverlässig feststehen muss, ob der individuelle Zugang zum nationalen Schutzsystem in wirksamer Weise eröffnet ist. Dieser Regelungszusammenhang und diese Zweckbestimmung leiten die Unterscheidung in rechtliche und praktische Hindernisse nach Art. 8 Abs. 3 RL 2004/83/EG. Die inlandsbezogenen Vollstreckungshemmnisse einerseits sowie die Prüfung der internationalen Schutzbedürftigkeit andererseits folgen damit unterschiedlichen Zweckbestimmungen. Der Begriff der „praktischen Hindernisse“ in Art. 8 Abs. 3 RL 2004/83/EG ist immanenter Bestandteil des Konzeptes des internationalen Schutzes. Die Norm ist Bestandteil der Vorschriften von Kapitel II der Richtlinie, welche die materiellen Voraussetzungen für die 126 Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz bezeichnen (vgl. auch Art. 2 Buchst. a) RL 2004/83/EG). Der Begriff „praktische Hindernisse muss deshalb als Begriffselement des internationalen Schutzes ausgelegt und angewendet werden. Dies verbietet es, völlig anderen Zwecken dienende nach nationalem Recht zu bestimmende Begriffe zur Auslegung und Anwendung eines das Konzept des internationalen Schutzes verwirklichenden Begriffsmerkmals heranzuziehen. (4) Zumutbarkeit des Aufsuchens des Ortes des internen Schutzes Es kann vom Asylsuchenden vernünftigerweise nur erwartet werden, dass er vom Aufnahmestaat aus freiwillig den Ort des internen Schutzes in seinem Herkunftsland aufsucht, wenn dies für ihn zumutbar ist. Der Gedanke der Zumutbarkeit, welcher in Art. 8 RL 2004/83/EG als durchgängiges Prinzip verankert ist, erweitert damit den Prüfungsgegenstand über Gefährdungen hinaus auch auf alle Umstände, welche der Annahme entgegenstehen, es könne vom Asylsuchenden vernünftigerweise das Aufsuchen des Ortes der internen Schutzalternative erwartet werden. Weil der Einwand des internen Schutzes Ausdruck der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes ist, also einen ansonsten bestehenden Anspruch auf Gewährung von Flüchtlingsschutz beseitigt, muss im Zeitpunkt der Statusentscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG, Art. 4 Abs. 3 Buchst. a), Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG) mit hinreichender Sicherheit feststehen, ob der Ort des internen Schutzes sicher erreicht werden kann. Dies schließt ein, dass alle Umstände auf dem Weg vom Mitgliedstaat zum Ort der internen Schutzzone in die Betrachtung eingestellt werden, um zu entscheiden, ob es vom Asylsuchenden vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er den Ort des internen Schutzes aufsucht. Zumutbarkeitserwägungen, die sich auf den Reiseweg zum Ort des internen Schutzes beziehen, sind damit Gegenstand der asylrechtlichen Statusentscheidung und dürfen nicht den Vollzugsbehörden zur Prüfung und Entscheidung überantwortet werden. Es ist damit eine präzise Grenze zu ziehen zwischen den materiellrechtlichen Kriterien für die Auslegung und Anwendung des internen Schutzes unter Einbeziehung der auf den Reiseweg bezogenen Zumutbarkeitsgesichtpunkte einerseits, sowie den Grundsätzen, welche für die ausländerbehördliche Vollstreckung von unanfechtbaren Abschiebungsandrohungen als Folge negativer asylverfahrensrechtlicher Statusentscheidungen maßgebend sind. (5) Sicherheit vor dem Zugriff des Verfolgers Vom Antragsteller kann vernünftigerweise nur dann erwartet werden, dass er den Ort des internen Schutzes aufsucht, wenn er dort sicher vor dem Zugriff der Verfolger ist. Staaten sind regelmäßig in der Lage, ihr Gewaltmonopol landesweit auszuüben. Dies gilt auch für Organisationen, die das gesamte Staatsgebiet beherrschen (vgl. Art. 6 Buchst. b) der RL). Allein mit dem Hinweis darauf, dass die Verfolger nicht am Ort der Schutzzone aktiv sind, kann die Verfolgungssicherheit nicht unterstellt werden. Vielmehr müssen vernünftige Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Reichweite der Verfolgungshandlungen örtlich begrenzt ist. Sofern die Verfolgung von staatlichen Behörden ausgeht, spricht eine Regelvermutung dafür, dass die Reichweite der Verfolgungshandlungen sich auf das gesamte Staatsgebiet erfasst. Deshalb wird in der Staatenpraxis der Einwand der internen Schutzalternative regelmäßig nicht angewendet, wenn der Antragsteller Verfolgung durch staatliche Behörden geltend macht. Es kann deshalb von einem Antragsteller, der Folter durch staatliche Behörden erlitten hat, vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er bei 127 staatlichen Behörden Schutz sucht.268 Deshalb kommt der Änderung in § 60 Abs. 1 Satz 4 letzter Hs. AufenthG lediglich redaktionelle Bedeutung zu. In Chahal hat der EGMR festgestellt, dass dem Beschwerdeführer polizeiliche Verfolgung nicht nur in der Heimatprovinz Punjab, sondern überall in Indien drohte.269 In Hilal berücksichtigte der Gerichtshof den Umstand, dass die Polizei in Sansibar eng mit den Polizeibehörden des Festlandes von Tansania verbunden war, und verneinte deshalb, dass der Antragsteller dort effektiven Schutz gegen Verfolgungen erlangen könnte.270 Geht die Verfolgung von lokalen oder regionalen Behörden aus, kann nur unter besonderen Umständen eine interne Schutzalternative bejaht werden. Grundsätzlich ist es höchst unwahrscheinlich, dass eine zentrale Regierung, die keine effektiven Schutzvorkehrungen gegen Verfolgungen durch derartige Behörden trifft, effektiven Schutz im Falle der Rückkehr gegen deren Verfolgungen gewähren wird.271 Dies gilt auch für Verfolgungen durch die Staatspartei oder die den Staat und die Gesellschaft beherrschenden religiösen Gruppen. In den meisten Fällen sind die Staatspartei oder die vorherrschenden religiösen Gruppen landesweit organisiert und deshalb auch fähig, im gesamten Staatsgebiet Verfolgungen auszuüben. Sofern die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht (vgl. Art. 6 Buchst. c) der RL), kann grundsätzlich vernünftigerweise vom Antragsteller erwartet werden, internen Schutz in Anspruch zu nehmen (vgl. auch § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG). Sofern die Verfolger nicht mit den staatlichen Behörden zusammenarbeiten oder sonst wie mit diesen verbunden sind, die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure örtlich begrenzt bleibt und die staatlichen Behörden willens und in der Lage sind, den Antragsteller in anderen Landesteilen zu schützen (vgl. Art. 7 Abs. 2 der RL), kann nach der Staatenpraxis vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden (vgl. auch Art. 8 Abs. 1 der RL), internen Schutz in Anspruch zu nehmen. Im Falle eines prominenten politischen Dissidenten ist die Regierung jedoch nicht in der Lage, diesen vor Verfolgungen durch seine frühere Organisation zu schützen.272 (6) Zumutbarkeit der Lebensverhältnisse am Ort der internen Schutzalternative Nach Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG muss vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden können, dass er den Ort des internen Schutzes aufsucht. Die interne Schutzgewährung 268 US Court of Appeals, Ninth Circuit, Singh v. Ilchert, 63 F.3d 1501; New Zealand Refugee Status Appeals Authority, Decision of 18 June 1993 – No. 135/92 Re RS. 269 EGMR, EZAR 933 Nr. 4 = NVwZ 1997, 1093 = InfAuslR 1997, 97 – Chahal. 270 EGMR, InfAuslR 2001, 417 – Hilal. 271 Vgl. EGMR, InfAuslR 2001, 417 – Hilal. Council of State, Decision of 8.11.1994 – RO2.92.3389, District Court of Den Haag, Decision of 15 July 1997 – AWB 97/1525; UK Court of Appeals, Ex p Robinson v. SSHD (1997) Imm AR 94; Court of Appeals, Sotelo-Aquinje v. Slattery, (1994) 17 F.3d 33: 272 128 muss danach für ihn zumutbar sein. Das Erfordernis der Zumutbarkeit ist ein Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG insgesamt prägendes Auslegungsprinzip, wie auch Abs. 2 von Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG deutlich macht. Der Begriff der Zumutbarkeit leitet nach dem Wortlaut von Abs. 1 und Abs. 2 auch die Auslegung und Anwendung von Art. 8 RL 2004/83/EG insgesamt und umfasst damit sowohl die Voraussetzungen der Erreichbarkeit wie auch der Verfolgungssicherheit, hat aber darüber hinaus auch insbesondere Bedeutung für die Beurteilung der Lebensverhältnisse am Ort des internen Schutzes. Insbesondere für diese Prüfung verlangt Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG von den Mitgliedstaaten eine konkrete, die persönlichen Umstände des Antragstellers im Entscheidungszeitpunkt ins Auge fassende Bewertung. Die generalisierende Betrachtungsweise des BVerwG273 ist insoweit mit der RL nicht vereinbar und überholt. Ausgangspunkt des internen Schutzes ist Art. 1 A Nr. 2 GFK. Flüchtling ist, wer sich außerhalb des Landes seiner Staatsangehörigkeit oder seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und den Schutz dieses Landes aus begründeter Furcht vor Verfolgung nicht in Anspruch nehmen kann oder will. Es kann dem Flüchtling nicht angesonnen werden, freiwillig in sein Herkunftsland zurückzukehren, wenn dies für ihn unzumutbar ist. Soll er an eine Region innerhalb seines Herkunftslandes verwiesen werden, in Bezug auf die diese Befürchtung nicht begründet ist, kann von ihm vernünftigerweise nur dann die Rückkehr dorthin erwartet werden (vgl. Art. 8 Abs. 1 letzter Hs. RL 2004/83/EG), wenn diese Option praktisch realisierbar, realistisch und für den Flüchtling sicher erreichbar ist. Nach Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG stellen die Mitgliedstaaten auf die am Ort des internen Schutzes „allgemeinen Gegebenheiten“ und die „persönlichen Umstände“ des Asylsuchenden im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag ab. Anders als nach der bisherigen deutschen Rechtsprechung findet damit kein generell abstrakter Maßstab bezogen auf die Verhältnisse am internen Schutzort statt, sondern ein konkreter individualbezogener Maßstab, der die besonderen persönlichen und familiären Verhältnisse einbezieht. Der danach maßgebende konkret individuelle Ansatz wird bestärkt durch Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG, wonach die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Asylsuchenden einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, bei der Entscheidung zugrunde zu legen sind.274 Maßgebend für die Bewertung der allgemeinen Gegebenheiten nach Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist der Maßstab von Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG, wonach von dem Asylsuchenden vernünftigerweise erwartet werden können muss, dass er sich in dem entsprechenden Landesteil aufhält. Die gebotene Entscheidung zielt auf die Frage, wie hoch die Schwelle der Zumutbarkeit gesetzt werden kann. Um den Einwand des internen Schutzes gegen den Antragsteller erheben zu können, müssen deshalb die Verhältnisse am Ort des internen Schutzes so gestaltet sein, dass er dort ein relativ normales Leben unter Berücksichtigung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsland sowie seiner persönlichen Umstände (vgl. Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG) führen kann. Das dem völkerrechtlichen Flüchtlingsbegriff immanente Spannungsverhältnis zwischen dem Begriff des nationalen menschenrechtlichen Schutzstandards und dem Begriff der internationalen Schutzbedürftigkeit setzt eine Entscheidung darüber voraus, wie hoch der Standard des nationalen Menschenrechtsschutzes zu setzen ist. Das Konzept grundlegender 273 BVerwGE 87, 141 (149) = NVwZ 1992, 384 = EZAR 200 Nr. 27; BVerwG, InfAuslR 1994, 201 (203); BVerwG, EZAR 200 Nr. 30; BVerwG, EZAR 203 Nr. 10. 274 S. auch Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung. Erläuterungen zur Richtlinie 2004/83/EG, Stand Juni 2006, § 14 Rdn. 40 ff. 129 Menschenrechte muss vor dem Hintergrund der besonderen politischen, ethnischen, religiösen und anderen menschenrechtlichen Voraussetzungen, also nach Maßgabe der „allgemeinen Gegebenheiten“ am internen Schutzort (vgl. Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG), konkretisiert werden. Obwohl Fragen wirtschaftlicher Natur, wie z. B. der Zugang zu angemessenen Arbeitsbedingungen, nicht unmittelbar relevant für die Bestimmung des nationalen Menschenrechtsstandards sind, begründet die Unfähigkeit, in anderen Landesteilen wirtschaftlich zu überleben, die internationale Schutzbedürftigkeit.275 Jedenfalls muss dem Antragsteller ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Unterstützung gewährt werden. Der bisherige Ansatz des BVerwG, wonach ausschließlich zu berücksichtigen ist, ob der Antragsteller bei generalisierender Betrachtungsweise in anderen Landesteilen auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu Hunger, Elend und schließlich zum Tode führt,276 bedarf einer Überprüfung am Maßstab des Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG. Das Gemeinschaftsrecht erlaubt keine generalisierende Betrachtungsweise, sondern erfordert stets und nicht nur in Ausnahmefällen277 eine konkrete Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Antragstellers (Art. 8 Abs. 2, vgl. auch Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) RL 2004/83/EG). Darüber hinaus ist nach dem internationalen Standard das Erkenntnisinteresse nicht primär negativ auf den Ausschluss extremer wirtschaftlicher Notlagen ausgerichtet. Vielmehr ist es positiv an der Sicherstellung eines nationalen Menschenrechtsstandards bezogen auf den in Betracht kommenden Ort des internen Schutzes orientiert. Wirksamer nationaler Schutz ist danach nicht bereits sichergestellt, wenn in anderen Landesteilen keine Verfolgung und bzw. kein ernsthafter Schaden drohen. Vielmehr erfordert dies darüber hinaus die Gewährleistung grundlegender Menschenrechte in anderen Landesteilen.278 Die Zumutbarkeit der Lebensbedingungen wird daher weit oberhalb des sehr restriktiven Maßstabs der bisherigen deutschen Rechtsprechung in Frage gestellt. Der Antragsteller muss darlegen, dass er bei Berücksichtigung seiner konkreten persönlichen Lebensumstände keine effektive Möglichkeit hat, in anderen Landesteilen wirtschaftlich zu bestehen.279 (7) Keine Aufrechnung zwischen den am Herkunftsort und am Ort des internen Schutzes bestehenden allgemeinen Gegebenheiten Der Beeinträchtigungen der Rechte des Antragstellers am Ort des internen Schutzes müssen nicht an Verfolgungsgründe nach Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG anknüpfen. Am Bestehen verfolgungsbedingter Nachteile fehlt es demgegenüber nach der deutschen Rechtsprechung, wenn Herkunftsort und Ort der inländischen Fluchtalternative identisch sind. In diesem Falle werden im Rahmen der Verfolgungsprognose derartige Umstände nicht berücksichtigt.280 Für die Gewährung des Flüchtlingsstatus ist hingegen von Bedeutung, dass der Flüchtling vor der Ausreise den gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Zentralregierung gehabt hat und dort von Verfolgung bedroht waren. Wird in anderen Landesteilen die Zivilbevölkerung durch kriegerische Auseinandersetzungen und Luftangriffe betroffen, handelt es sich um drohende Gefahren für Leib und Leben und damit um unzumutbare Lebensbedingungen.281 Soweit eine 275 UNHCR, An Overview of Protection Issues in Western Europe, June 1994, S. 22. BVerwG, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG; BVerwG, EZAR 203 Nr. 4; BVerwG, InfAuslR 1989, 197; NVwZ-RR 1991, 442. 277 So aber BVerwG, InfAuslR 1994, 201 (203) = EZAR 200 Nr. 30. 278 New Zealand Refugee Status Appeals Authority, Entsch. v. 29. 10. 1999 – Nr. 71684/99. 279 UK Court of Appeal, (2000) 2 All ER 449 – Karankaran. 280 BVerwG, NVwZ 1993, 791; BVerwG, InfAuslR 2000, 32 (33). 281 BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 198 (200). 276 130 Verwicklung in kriegerische Auseinandersetzungen zwischen regierungstreuen Truppen und Aufständischen sowie zwischen rivalisierenden Gruppen von Aufständischen droht, sind verlässliche Feststellungen über konkrete Gefährdungen erforderlich.282 Führt die Regierung gezielt Luftangriffe auf die Bevölkerung in anderen Landesteilen durch, ist ohne weiteres von einer Unzumutbarkeit des dortigen Aufenthaltes auszugehen.283 Die unterschiedlichen Gefahren am Herkunftsort und am Ort der internen Fluchtalternative dürfen nach Art. 8 RL 2004/83/EG nicht gegeneinander aufgerechnet werden: Eine interne Fluchtalternative darf aber nach der deutschen Rechtsprechung nur dann bejaht werden, wenn die existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestanden hatte. Die Gefahr der infolge des Bürgerkrieges gegebenen aktuellen Lebensbedrohung am Herkunftsort im Zeitpunkt der Flucht darf mithin nicht gegen den am Ort des internen Schutzes drohenden ernsthaften Schaden aufgerechnet werden, da es sich offensichtlich um ihren Wesen nach um nicht vergleichbare Gefährdungen handelt.284 Gefährdungen führen deshalb nach der deutschen Rechtsprechung dann nicht zur Unzumutbarkeit einer Ansiedlung am Ort der internen Fluchtalternative, wenn der Betroffene an seinem Herkunftsort im Zeitpunkt der Flucht in gleicher Weise existenziell gefährdet gewesen wäre. Der von Verfolgung Betroffene wird zwar nicht darauf verwiesen, sich infolge seiner Flucht vor der Verfolgung erstmals andersgearteten, aber doch gleichgewichtigen Beeinträchtigungen auszusetzen. Sind diese Beeinträchtigungen landesweit gegeben, erleidet er aufgrund eines verfolgungsbedingten Ortswechsels innerhalb des Herkunftsstaates keine unzumutbare Verschlechterung seiner Lebensumstände.285 Diese Grundsätze können nach Art. 8 RL 2004/837/EG keine Anwendung finden, weil es nicht auf den Zeitpunkt der Ausreise und auf die in diesem Zeitpunkt als Alternative zur Flucht gegebenen Alternativen ankommt. Vielmehr ist im Rahmen der Verfolgungsprognose zu prüfen, ob ein verfolgungsunabhängiger ernsthafter Schaden am Ort des internen Schutzes droht. Wie die Verhältnisse im Herkunftsland im Zeitpunkt der Ausreise waren, ist dabei unerheblich. Vielmehr muss bei erlittener oder bevorstehender Verfolgung im Zeitpunkt der Flucht festgestellt werden, ob weiterhin auch am Ort des internen Schutzes Verfolgung droht. Hat der Antragsteller Verfolgung vor der Ausreise, die an Verfolgungsgründe anknüpft, geltend gemacht, darf der Flüchtlingsstatus nur verweigert werden, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder ernsthaften Schäden bedroht sein wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Da die frühere Verfolgung oder Verfolgungsgefahr lediglich eine Prognosetatsache ist, die nach Maßgabe von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie im Rahmen der Prognoseprüfung zu berücksichtigen ist, kommt es auf die Frage der landesweiten Verfolgung vor der Ausreise nicht an. 3. Verfolgungsgründe (Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie) a) Zuschreibung geschützter Merkmale (Art. 10 Abs. 2 RL 2004/83/EG) Nach Art. 10 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist es für die Bewertung der Frage, ob die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich den geschützten Status innehat, der zur Verfolgung führt, sofern ihm dieser von den Verfolgern zugeschrieben wird. Es kommt damit für die Anwendung der Zusammenhangsklausel allein darauf an, ob 282 BVerwG, U. v. 30. 4. 1991 – BVerwG 9 C 130.90. OVG Lüneburg, U. v. 7.6. 1988 – 13 A 12/88. 284 BVerwG, EZAR 200 Nr. 30 = InfAuslR 1994, 201 (203); BVerwGE 105, 204 (211 f.) = NVwZ 1999, 308 = EZAR 203 Nr. 11. 285 BVerfG (Kammer), InfAuslR 1991, 198 (200). 283 131 aus deren Sicht die Verfolgungshandlung an Verfolgungsgründe anknüpft. Diese Auslegung steht in Übereinstimmung mit der internationalen Staatenpraxis und auch der deutschen Rechtsprechung. In der angelsächsischen Rechtsprechung wird insoweit das Auslegungsprinzip des „imputed political opinion“ verwendet. Danach reicht es aus, dass die Verfolger ihre Maßnahmen deshalb gegen den Antragsteller richten, weil sie davon ausgehen, dass dieser abweichende politische Überzeugungen vertritt.286 b) Verfolgung wegen der Rasse (Art. 10 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/83/EG) Nach Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG umfasst der Begriff der Rasse insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Damit übernimmt die Richtlinie den weiten Ansatz des UNHCR-Handbuchs. Danach ist der Begriff „Rasse“ im weitesten Sinne zu verstehen. Er umfasst alle ethnischen Gruppen, die gewöhnlich als „Rassen“ bezeichnet werden. Häufig bezieht er sich auch auf die „Zugehörigkeit zu einer spezifischen sozialen Gruppe gemeinsamer Herkunft“, die eine Minderheit innerhalb der Bevölkerung darstellt. Insoweit überschneidet dieser Verfolgungsgrund sich deshalb auch mit dem Verfolgungsgrund „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“. Diskriminierung aufgrund der Rasse wird weltweit als eine der gröbsten Verletzungen der Menschenrechte verurteilt. Daher ist Diskriminierung aufgrund der Rasse ein wichtiger Faktor bei der Feststellung des Verfolgungsgrundes. Die Diskriminierung muss jedoch die Form einer Verfolgungshandlung angenommen haben. Die bloße Zugehörigkeit zu einer bestimmten rassischen Gruppe wird deshalb regelmäßig nicht für die Flüchtlingsanerkennung ausreichen. Es gibt jedoch Fälle, in denen aufgrund besonderer, für die ganze Gruppe nachteiliger Umstände die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe schon in sich einen ausreichenden Grund darstellt, Verfolgung zu befürchten. Die Richtlinie vermeidet indes eine Behandlung des Phänomens von Gruppenverfolgungen. c) Verfolgung wegen der Religion (Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG aa) Umfang des Schutzbereichs Bereits jetzt wird deutlich, dass eine der umstrittendsten Fragen bei der Anwendung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG im Mitgliedstaat Bundesrepublik die Reichweite des geschützten Bereichs des Religionsbegriffs sein wird. Die traditionelle deutsche Rechtsprechung beschränkt den Schutzbereich der asylrechtlich relevanten Religionsfreiheit durch Verweis auf das forum internum auf einen existenziellen Kernbereich. Da die Richtlinie indes auch die öffentliche Glaubenspraxis schützt, ist einer Fortführung des Streits die Grundlage entzogen worden. Gleichwohl dauert der Streit an. Der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind (Art. 10 Buchst. b) RL 2004/83/EG). Der geschützte Bereich umfasst die Religion als Glauben, als Identität und als Lebensform.193 Religion als Glaube bedeutet, 286 INS Gender Guidelines von 26. 5. 1996 132 dass theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensformen erfasst sind. Dabei können Glaubensformen Überzeugungen oder Weltanschauungen über die göttliche oder letzte Wahrheit oder die spirituelle Bestimmung der Menschheit sein. Die Antragsteller können ferner als Ketzer, Abtrünnige, Spalter, Heiden oder Abergläubige angesehen werden. Religion als Identität ist weniger im theologischen Sinne als Glaube zu verstehen. Gemeint ist vielmehr die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die aufgrund von gemeinsamem Glauben, gemeinsamer Tradition, ethnischer Abstammung, Staatsangehörigkeit oder gemeinsamen Vorfahren ihr Selbstverständnis entwickelt. Religion als Lebensform bedeutet, dass für den Antragsteller die Religion einen zentralen Aspekt seiner Lebensform und einen umfassenden oder teilweisen Zugang zur Welt darstellt. Generell darf niemand gezwungen werden, seine Religion zu verstecken, zu ändern oder aufzugeben, um der Verfolgung zu entgehen. Der Richtlinie liegt kein objektiver Religionsbegriff zugrunde. Vielmehr kommt es darauf an, dass sich die Glaubensüberzeugungen und die darauf beruhende Glaubenspraxis auf eine „religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind“ (Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG). Es verbietet sich daher, unabhängig von den Glaubensüberzeugungen des Betroffenen aus der unbeschränkten Vielzahl möglicher religiöser Überzeugungen anhand objektiver Kriterien bestimmte Überzeugungen, die der Gläubige als für sich verpflichtend empfindet, auszugrenzen, weil sie nicht dem Leitbild eines objektiven Religionsbegriffs entsprechen. Auch subjektive Wahnvorstellungen können als religiöse Überzeugungen verstanden werden, wenn diese für den Gläubigen als solche verpflichtend sind. Umgekehrt muss der Betroffene seine Überzeugungen nicht als religiöse empfinden. Auch atheistische Überzeugungen unterfallen dem Religionsbegriff der Richtlinie. Entsprechend dem weiten Religionsbegriff der Richtlinie ist das Selbstverständnis des Einzelnen, d.h. seine subjektive Grundentscheidung für oder gegen eine bestimmte religiöse Anschauung, ebenso geschütztes Merkmal wie die Entscheidung, für diese auch öffentlich einzutreten. Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG verweist ausdrücklich auf die individuelle religiöse Überzeugung. Es wird kein objektiv vorgegebener Religionsbegriff zugrunde gelegt, sondern die individuelle Entscheidung für eine bestimmte Religion sowie auch die öffentliche Glaubenspraxis. Da der Pluralität der Religionsfreiheit der Öffentlichkeitsaspekt immanent ist, bezieht Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG auch die öffentliche Glaubenspraxis ein. Damit ist die entgegenstehende asylrechtliche Rechtsprechung des BVerfG287 für den Flüchtlingsschutz überholt. Relevant wird die Rechtsänderung insbesondere im Rahmen der Verfolgungsprognose, bei der die Frage zu beantworten ist, welche Maßnahmen dem Einzelnen bei Wahrung des ihm zu gewährenden religiösen Schutzes nach der Rückkehr zuzumuten ist. Bereits die Frage nach dem religiösen Existenzminimum verfehlt den völkerrechtlichen Ansatz der Richtlinie. Für die Herausbildung der Religionsfreiheit war ja gerade das christliche Verständnis von der Freiheitsbotschaft des Evangeliums, die frei verkündigt wird, von prägender Bedeutung. Der christlichen Freiheitsbotschaft »liegt nichts an einer weltlosen inneren Freiheit; sie will der Welt zugute kommen. Deshalb eignet der christlichen Verkündigung von ihrem Inhalt her ein Öffentlichkeitscharakter. Um der Öffentlichkeit des Evangeliums willen wurde in der Geschichte des Christentums von Anfang an die Gewährung der zunächst als Kultusfreiheit verstandenen Religionsfreiheit 287 BVerfGE 76, 143 (159) = EZAR 200 Nr. 20 = NVwZ 1988, 237 = InfAuslR 1988, 87; zuletzt noch BVerwG, InfAuslR 2004, 319 (320) = NVwZ 2004, 1000 = AuAS 2004, 125. 133 gefordert«.288 Auch wenn die gängige Vorstellung von Religionsausübung in erster Linie Gebet, Kult und Predigt, allenfalls noch karitative Tätigkeiten vor Augen hat, so hat doch das Christentum seit sehr früher Zeit seine durchaus politische Handlungskomponente niemals verleugnet.289 bb) Prüfungsstufen Entsprechend dem Ansatz der Richtlinie 2004/83/EG ist zunächst zu prüfen, ob die vom Antragsteller befürchteten Nachteile wegen seiner Religionsausübung den Begriff der Verfolgungshandlung nach Art. 9 RL 2004/83/EG erfüllen. Hierbei kommt es auf die umstrittene Frage, wie weit der Schutzbereich des Religonsbegriffs reicht, gar nicht an. Allerdings liegen religiösen Diskriminierungen häufig typische Muster zugrunde, auf die bei der Feststellung der Verfolgungshandlung besonders Bedacht zu nehmen ist (vgl. auch Art. 9 Abs. Buchst. b) RL 2004/83/EG). Anschließend ist zu prüfen, ob gegen die Verfolgung im Herkunftsland des Antragstellers aureichender Schutz gewährt wird (Art. 6 bis 8 RL 2004/83/EG). Wird kein wirksamer Schutz gewährt, erfolgt die Anknüpfung nach Maßgabe von Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG (vgl. auch Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG). Für die Anknüpfung kommt es zunächst ausschließlich auf den in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG verankerten Religionsbegriff an. Selbstverständlich sind bei der Anknüpfung auch die anderen Verfolgungsgründe in Betracht zu ziehen (Rdn…). Bei der Anknüpfung an den Religionsbegriff ist zunächst der weite Religionsbegriff der Richtlinie zugrunde zu legen. Dabei erfolgt keine Einschränkung auf die private Glaubenspraxis. Vielmehr werden sämtliche Formen der Glaubenspraxis in Betracht gezogen. Soweit allerdings die Glaubenspraxis die allgemein zulässigen Schranken überschreitet (Hexenund Witwenverbrennung, Steinigung), scheidet sie bei der Anknüpfung aus. Dies ist jedoch keine typische Frage, die aus dem Schutz der öffentlichen Glaubenspraxis folgt. Auch private Glaubenspraktiken können den allgemein geschützten Bereich der Religionsfreiheit überschreiten (z. B. Ehrenmorde, Blutrache). Es mag Verfolgungshandlungen im Kontext religiöser Verfolgungen geben, die nicht in Formen religiöser Diskrininierungen erfolgen. Damit sind jedoch in Formen religiöser Diskriminierungen erfolgende Verfolgungen nicht aus der Prüfung ausgeschlossen. Eine derartige Anwendungspraxis würde den Kumulationsansatz von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG wie auch die Regelbeispiele in Art. 9 Abs. 2 RL 2004/83/EG außer Betracht lassen. Im Übrigen ist die Verfolgungshandlung zunächst unabhängig von den Verfolgungsgründen zu prüfen und erfolgt erst im Ansschluss an die Feststellung, dass die vom Antragsteller vorgebrachten Befürchtungen den Begriff der Verfolgungshandlung erfüllen, die Verknüpfung (Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG). Bis zu dieser Prüfung kommt es auf die Frage des geschützten Umfangs des Religionsbegriffs gar nicht an. Im Übrigen ist die Ansicht des Bundesinnenministeriums mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG unvereinbar, weil sie der öffentlichen Glaubenspraxis jegliche Bedeutung absprechen will. cc)…..Prognoserechtliche Folgerungen aus dem weiten Religionsbegriff Entsprechend dem weiten Religionsbegriff der Richtlinie ist das Selbstverständnis des Einzelnen, d.h. seine subjektive Grundentscheidung für oder gegen eine bestimmte religiöse 288 Huber/ Tödt, Menschenrechte, 1977, S. 164. Neumann, Das Grundrecht der Glaubens- und Religionsfreiheit, in: Schwartländer, Menschenrechte, 1978, S. 130. 289 134 Anschauung, ebenso geschütztes Merkmal wie die Entscheidung, für diese auch öffentlich einzutreten. Wer daher im Bundesgebiet seinen Glauben öffentlich praktiziert hat, muss es nicht hinnehmen, nach Rückkehr in sein Herkunftsland die öffentliche Glaubenspraxis wegen der Gefahr von Verfolgung einzustellen. Die Vorstellung, es sei dem Antragsteller zuzumuten, sich nach Rückkehr einer öffentlichen Glaubenspraxis zu enthalten, ist unvereinbar mit Art. 1 A Nr. 2 GFK.290 Entscheidend für die Verfolgungsprognose ist, dass aufgrund der hier praktizierten Religion davon auszugehen ist, dass der Antragsteller auch im Herkunftsland seine öffentliche Glaubenspraxis fortsetzen wird. Rechtlich unzulässig ist der Einwand, eine Einschränkung der Glaubenspraxis sei für den Antragsteller zumutbar. Kann sich der Glaubensangehörige nach Rückkehr einer Bestrafung nur in der Weise entziehen, dass er seine Religionszugehörigkeit leugnet und effektiv versteckt hält, ist er in der geschützten Religionsfreiheit betroffen.291 Anders als nach der Rechtsprechung des BVerfG ist dem Antragsteller indes nicht der Rückzug in die private Glaubenspraxis fernab der Öffentlichkeit zuzumuten. Prognoserechtlich entscheidend ist allein, ob der Antragsteller aufgrund seiner individuellen religiösen Prägung und seiner darauf beruhenden Glaubenspraxis im Bundesgebiet diese aufgeben kann oder nicht. Davon kann im Regelfall nicht ausgegangen werden, es sei denn, die hier gezeigte religiöse Betätigung ist rein asyltaktischer Art. Für eine derartige Prognose bedarf es jedoch stichhaltiger und nachprüfbarer Anhaltspunkte und trifft die Behörde insoweit die Beweislast. Wegen der durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG umfassend geschützten Religionsfreiheit dürfen die für die Prognoseentscheidung maßgebenden Tatsachen mithin nicht lediglich nach Maßgabe eines verengten, auf das „religiöse Existenzminimum“ beschränkten rechtlichen Ansatzes ermittelt werden. Vielmehr sind sämtliche, auf alle Formen der Glaubensbetätigung bezogenen Prognosetatsachen in die Prüfung einzustellen, also nicht nur die auf den privaten, sondern auch auf den öffentlichen Gebrauch der Religionsfreiheit gerichteten Tatsachen. Dies folgt darüber hinaus auch aus Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) RL 2004/83/EG. Diese Vorschrift enthält in den ersten beiden Spiegelstrichen eine allgemeine Definition der „bestimmten sozialen Gruppe“. Danach gilt eine Gruppe insbesondere als eine „bestimmte soziale Gruppe“, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale (z. B. Geschlecht, sexuelle Orientierung, ethnische Abstammung, Erbgut) oder einen unveränderbaren Hintergrund (historische Bindung, berufliche oder soziale Stellung) gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen der Mitglieder sind (z. B. Mitglieder einer Gewerkschaft, Partei oder einer religiösen Gruppierung, Journalist, Kritiker), dass diese nicht gezwungen werden sollten, auf diese zu verzichten. Für den gemeinschaftsrechtlichen Ansatz des rechtlich geschützten Schutzbereichs der Religionsfreiheit und damit für den tatsächlichen Prognoserahmen ist maßgebend, dass Asylsuchende nicht gezwungen werden dürfen, auf ihnen universell zustehende Rechte zu verzichten. Zwar sind die aufgezeigten Grundsätze für die Begriffsbestimmung des Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe entwickelt worden. Die Verfolgung kann jedoch auf einem einzigen Verfolgungsgrund oder auf dem Zusammenwirken von zwei oder auch mehreren Gründen beruhen.292 Es liegt auf der Hand, dass sich die einzelnen Verfolgungsgründe oft überschneiden können. Normalerweise ist bei 290 291 292 James C. Hathaway, The Law of Refugee Status, S. 147. BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil.1995, 33 = C 34. UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rdn. 66. 135 einer Person mehr als ein Grund der Anlass ihrer Verfolgung, etwa wenn sie sich nicht nur als ein politischer Gegner erwiesen hat, sondern darüber hinaus auch Angehöriger einer bestimmten religiösen oder nationalen Gruppe ist.293 In diesem Fall sind alle in Betracht kommenden Verfolgungsgründe – Verfolgung wegen der politischen Überzeugung, der Religion, der Nationalität und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe darzulegen und zu prüfen. Häufig werden neben dem Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe andere Verfolgungsgründe maßgebend sein. In diesem Fall ist der Schwerpunkt der Ermittlungen auf die anderen Verfolgungsgründe zu legen. Daraus folgt aber auch, dass bei der Auslegung auf deren gegenseitige Wechselbezüglichkeit Bedacht zu nehmen ist. Die Religionsfreiheit wird freilich in einem umfassenden Sinne bereits in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/83/EG geschützt und erfährt durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 erster Spiegelstrich dritte Alt. RL 2004/83/EG eine Verstärkung. Dieser so ermittelte Schutzbereich ist der Prognoseprüfung zugrunde zu legen. Kann die Religionsfreiheit nicht in diesem Sinne im Herkunftsland gelebt werden, ohne dass der Asylsuchende Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG gegenwärtigen muss, ist ihm der begehrte Status zu gewähren. dd) Glaubenswechsel Wird eine Konvertierung als Nachfluchtgrund geltend gemacht, ist eine sorgfältige und umfassende Überprüfung der Umstände und Ernsthaftigkeit der Konvertierung geboten. Zu ermitteln sind Wesen und Zusammenhang der im Herkunftsland ausgeübten und der im Aufenthaltsstaat angenommenen religiösen Überzeugung, eine etwaige Unzufriedenheit mit der im Herkunftsland ausgeübten Religion, die Umstände der Entdeckung der jetzt angenommenen Religion, die Erfahrungen des Antragstellers mit Blick auf die neue Religion, seine seelische Verfassung und erhärtende Nachweise bezüglich der Einbindung des Antragstellers in die neue Religion. Dabei können die besonderen Umstände des Aufnahmestaates zusätzliche Nachforschungen nahelegen. Wenn beispielsweise von örtlichen Religionsgemeinschaften im Aufnahmeland systematische und organisierte Konvertierungen durchgeführt werden, ist eine Überprüfung des Kenntnisstandes wenig hilfreich. Vielmehr muss der Einzelentscheider offene Fragen stellen und versuchen die Motivation für die Konvertierung sowie die Auswirkungen der Konvertierung auf das Leben des Antragstellers zu beleuchten. Schließlich ist zu ermitteln, ob die Behörden des Herkunftslandes Kenntnis von der Konvertierung erlangen können und wie sie diese wahrscheinlich beurteilen werden.294 Auch in der deutschen Rechtsprechung ist anerkannt, dass der Übertritt von einem bestimmten Glauben zu einem anderen erhebliche Verfolgungen auslösen kann.295 Soweit der Glaubenswechsel vor der Ausreise in Frage steht, kommt es darauf an, mit welchen Mitteln das im Heimatland herrschende Regime auf diesen Schritt reagiert. Das BVerfG hat den Umstand, dass ein Asylsuchender, der im Alter von sechs Jahren im Iran vom muslimischen zum chaldäisch-katholischen Glauben übergetreten war, vor seiner Ausreise unbehelligt blieb und auch seine Mutter ungefährdet in den Iran zurückgekehrt war, nicht ohne weiteres als unerheblich gewertet: Ahnde eine ausländische Rechtspraxis, wie vorliegend für den Fall der Apostasie unterstellt, das religiöse Bekenntnis als solches und könne sich der 293 UNHCR, Handbuch, Rdn. 67. UNHCR, Religiöse Verfolgung, S. 12 f. 295 BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 1995, 33 = InfAuslR 1995, 210 = AuAS 1995, 124 = C 34; BVerwG, ; B. v. 1. 3. 1991 – BVerwG 9 B 309.90; VGH BW, U. v. 28. 9. 1990 – A 14 S 512/89; OVG NW, U. v. 21. 5. 1987 – 16 A 10425/86; VG Schleswig, U. v. 5. 12. 1991 – 5 A 699/90. 294 136 Glaubensangehörige einer Bestrafung – hier der Todesstrafe – nur in der Weise entziehen, dass er seine Religionszugehörigkeit leugne und effektiv versteckt halte, sei ihm der elementare Bereich des religiösen Existenzminimums entzogen.296 In der Praxis gewinnt der Glaubenswechsel regelmäßig als gewillkürter Nachfluchtgrund Bedeutung. Das BVerwG geht davon aus, dass ein nach Verlassen des Heimatstaates erfolgter Glaubenswechsel einer gewillkürten autonomen Entscheidung des Asylsuchenden entspringt, auch wenn sich dieser möglicherweise durch »schicksalhafte« innere oder äußere Vorgänge und Motive dazu aufgerufen gefühlt habe. Für den Übertritt vom Islam zum christlichen Glauben als einen die mögliche Verfolgung auslösenden Umstand fänden deshalb die Einschränkungen der Nachfluchtrechtsprechung Anwendung. Hieraus folge, dass ein außerhalb des Heimatstaates vollzogener Wechsel der Religionsgemeinschaft und eine dadurch möglicherweise entstehende Verfolgungsgefahr nur dann Schutz begründen könne, wenn sich dieser Religionswechsel als Ausdruck und Fortführung einer schon im Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betätigten festen Überzeugung darstelle. Dass die den Glaubenswechsel herbeiführende Entscheidung »innerster Überzeugung« entsprungen sei, sei unerheblich.297 Diese Rechtsprechung ist unvereinbar mit Art. 5 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie, weil diese die in § 28 Abs. 1 AsylVfG vorgesehenen Einschränkungen nicht kennt. f) Verfolgung wegen der Nationalität (Art. 10 Abs. 1 Buchst. c) RL 2004/83/EG Der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Ursprünge oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt ist (Art. 10 Abs. 1 Buchst. c) der RL 2004/83/EG). Der Verfolgungsgrund „Nationalität“ kann sich insbesondere mit dem Verfolgungsgrund „Rasse“ oder „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ überschneiden. Mit dieser Begriffserläuterung unvereinbar ist die traditionelle deutsche Übersetzung des Verfolgungsgrundes „Nationalität“ nach Art. 1 A Nr. 2 GFK mit „Staatsangehörigkeit“ (vgl. § 14 Abs. 1 Satz 1 AuslG 1965, § 51 Abs. 1 AuslG 1990, § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG), obwohl die deutsche Übersetzung der Normen Art. 1 A Nr. 2, Art. 33 Abs. 1 GFK zutreffend den Begriff „Nationalität“ verwendet. UNHCR weist darauf hin, dass auch Staatenlose aus denselben Gründen wie andere Personen Flüchtlinge im Sinne der GFK sein können, etwa wenn sie aufgrund des Fehlens einer Staatsangehörigkeit schwerer Diskriminierung ausgesetzt sind, die einer Verfolgung gleichkommt.298 Zwar ist die zwangsweise Aussperrung von Staatenlosen durch das Land des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes nach der Rechtsprechung des BVerwG asylrechtlich unerheblich.299 Die zwangsweise Vertreibung einer Minderheit zur ökonomischen Entlastung ist jedoch stets erheblich, mag die Minderheit die Staatsangehörigkeit des verfolgenden Staates besitzen oder nicht. Nach allen geschichtlichen Erfahrungen ist evident, dass derartige 296 297 298 299 BVerfG (Kammer), NVwZ-Beil. 1995, 33 = InfAuslR 1995, 210 = AuAS 1995, 124 = C 34. BVerwG, B. v. 1. 3. 1991 – BVerwG 9 B 309.90; ebenso VGH BW, U. v. 28. 9. 1990 – A 14 S 512/89. UNHCR, Auslegung von Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention, April 2001, S. 8. BVerwG, Buchholz 402.25 § 1 AsylvfG Nr. 39 = InfAuslR 1986, 76. 137 zwangsweise Vertreibungen zu den wichtigsten Ursachen politischer Verfolgung gehören300 und deshalb an ein Verfolgungsmerkmal, sei es die Rasse, Religion, Nationalität oder Staatenlosigkeit, anknüpfen. Verfolgung aus Gründen der Nationalität kann in feindlicher Haltung und Maßnahmen gegenüber einer ethnischen und sprachlichen Minderheit bestehen. Ebenso wie bei der rassischen Verfolgung kann bereits die bloße Zugehörigkeit zu einer bestimmten nationalen Gruppe in sich einen ausreichenden Grund darstellen, Verfolgung zu befürchten. Das Nebeneinander von zwei oder mehr ethnischen oder sprachlichen Gruppen innerhalb der Grenzen eines Staates schafft häufig Konfliktsituationen, welche die Gefahr der Verfolgung in sich bergen. Dabei ist es nicht stets einfach, zwischen der Verfolgung aufgrund der Rasse, der Nationalität oder wegen der politischen Überzeugung zu unterscheiden, wenn der Konflikt zwischen den nationalen Gruppen mit politischen Strömungen einhergeht, insbesondere nicht in dem Fall, in dem sich eine politische Bewegung mit einer bestimmten Nationalität verbindet. Wegen des kumulativen Effektes der Verfolgungsgründe ist eine derartige Unterscheidung auch nicht geboten. e) Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Qualifikationsrichtlinie) aa) Allgemeines Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) der RL definiert den Begriff der „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ (Art. 1 A Nr. 2 GFK), in dem er auf angeborene Merkmale der Gruppenmitglieder, auf einen unveränderbaren Hintergrund, den die Mitglieder der Gruppe gemeinsam haben (z. B. Geschlecht, sexuelle Orientierung, ethnische Abstammung, Erbgut), oder auf Merkmale oder Glaubensüberzeugungen verweist, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen der Mitglieder sind, dass die Mitglieder der Gruppe nicht gezwungen werden sollten, auf diese zu verzichten (z. B. Mitglieder einer Gewerkschaft oder Partei, Journalist, Kritiker). Zusätzlich zu diesen drei alternativen Identitätsmerkmalen einer sozialen Gruppe ist erforderlich, dass die Gruppe im Herkunftsland des Antragstellers eine deutlich abgegrenzte Identität hat, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. bb) Begriff der „bestimmten sozialen Gruppe“ (Art. 1 A Nr. 2 GFK) (1) Kein Erfordernis des inneren Zusammenhaltes einer Gruppe Inzwischen ist geklärt, dass der zunächst in der US-amerikanischen Rechtsprechung entwickelte Ansatz, demzufolge die Mitglieder der sozialen Gruppe ein „gemeinsames unveränderbares Merkmal“ teilen müssen,301 zu eng ist. Vielmehr haben die USBerufungsgerichte die weitergehende Interpretation entwickelt, die für die Gruppe kein gemeinsames inneres Band fordert. Es besteht deshalb inzwischen Einigkeit, dass eine „bestimmte soziale Gruppe“ eine Gruppe von Personen darstellt, die ein gemeinsames Merkmal kennzeichnet, das sie aus der Gesellschaft ausgrenzt, das aber nicht die Personen miteinander verbinden muss. Darüber hinaus muss das Merkmal unveränderbar oder auf andere Weise fundamentale und damit unverzichtbare Bedeutung für die menschliche Würde 300 BVerfGE 76, 143 (156 f.) = EZAR 200 Nr. 10 = NVwZ 1988, 237 = InfAuslR 1988, 87; BVerwGE 67, 184 (186) = NVwZ 1983, 674 = InfAuslR 1983, 228. 301 Board of Immigration Appeals, 19 I&N Dec. 211 (B.I.A. 1985) – Matter of Acosta; s. hierzu Goldberg/ Passade Cisse, Immigration Briefings 2000, 1 (10 f.). 138 haben.302 Dementsprechend fordert Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) der Richtlinie auch keinen inneren Zusammenhalt der Gruppe. Nach Ansicht von UNHCR kommt es nicht darauf an, dass die Mitglieder einer bestimmten sozialen Gruppe miteinander Umgang pflegen. Vielmehr stehe die Frage im Vordergrund, ob die Mitglieder der Gruppe eine Gemeinsamkeit haben. Diese Fragestellung entspreche der Analyse für die anderen Verfolgungsgründe in Art. 1 A Nr. 2 GFK, bei denen auch nicht gefordert werde, dass die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft oder Personen mit übereinstimmender politischer Überzeugung miteinander verkehrten oder Teil einer eng verwobenen Gruppe sein müssten.303 (2) Geschützte Merkmale (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 erster Spiegelstrich RL 2004/83/EG) Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) erster Spiegelstrich der Richtlinie nennt als gemeinsames, eine bestimmte soziale Gruppe prägendes Kriterium die „angeborenen Merkmale“, einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann oder gemeinsame Merkmale oder Glaubensüberzeugungen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, das der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Im Kommissionsentwurf wurden die ersten beiden Gruppen unter dem Begriff des „wesentlichen Merkmals“ als einheitliches Kriterium definiert und davon das dritte Kriterium unterschieden. Danach lässt sich eine Gruppe anhand eines wesentlichen Merkmals wie des Geschlechts, der sexuellen Ausrichtung (vgl. auch Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 RL), des Alters, der familiären Bindung oder der Lebensgeschichte definieren. Für die Aufspaltung des ersten Kriteriums in zwei Kriterien kann den Materialien nichts entnommen werden. Maßgebend ist der Oberbegtriff der „geschützten Merkmale“. Nach der Staatenpraxis wird geprüft, ob eine Gruppe ein unveräußerliches (angeborenes) Merkmal oder ein für die menschliche Würde so unverzichtbares Attribut teilt, dass es einer Person nicht zugemutet werden sollte, diese aufzugeben. Ein unveräußerliches Merkmal kann danach angeboren (Geschlecht, ethnische Abstammung) oder aus anderen Gründen unabänderlich sein, etwa aufgrund einer historischen Bindung, der beruflichen oder sozialen Stellung. Dabei können die Menschenrechtsnormen mithelfen, jene Merkmale zu identifizieren, die so grundlegend für die menschliche Würde sind, dass niemand gezwungen werden sollte, sie aufzugeben.304 Die Staatenpraxis verbindet danach alle drei Kriterien. Ob die geschützten Merkmale nicht verändert werden können, ist abhängig von dem kulturellen und sozialen Kontext, in dem der oder die Betreffende lebt, wie auch von der Anschauung der Verfolgungsakteure.305 Entscheidungsträger haben danach zu prüfen, ob sich die in Frage stehende Gruppe durch eines der folgenden Attribute definiert: 1. durch ein angeborenes, unveräußerliches Merkmal, 2. durch einen früheren vorübergehenden oder freiwilligen Status, der aufgrund seiner historischen Permanenz nicht geändert werden kann, oder 3. durch eine Eigenart oder Bindung, die für die Würde des Menschen so grundlegend ist, dass Mitglieder der Gruppe 302 Summary Conclusions on Membership of a Particular Social Group, San Remo Expert Roundtable, Global Consultation on International Protection, 6. bis 8. September 2001. 303 UNHCR, soziale Gruppe, S. 5. 304 UNHCR, Soziale Gruppe, S. 3. 305 Refugee Women’s Legal Group, Gender Guidelines für the Determination of Asylum Claims in the UK, S. 17. 139 nicht gezwungen werden sollten, sie aufzugeben.306 In Anwendung dieser Interpretation sind Gerichte und Verwaltungsbehörden in einer Reihe von Entscheidungen zu dem Schluss gelangt, dass z. B. Frauen, Homosexuelle und Familien eine bestimmte soziale Gruppe bilden können.307 In Übereinstimmung hiermit können die drei geschützten Merkmale nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) erster Spiegelstrich RL 2004/83/EG ausgelegt werden. In der Begründung des Kommissionsentwurfs wird darauf hingewiesen, dass die Formulierung „relativ allgemein gehalten“ und „umfassend auszulegen“ sei, das Entstehen von Schutzlücken mithin zu verhindern ist. Sie sei so auszulegen, dass sie auch Gruppen von Personen umfasse, die nach dem Gesetz als „minderwertig“ oder Menschen „zweiter Klasse“ gelten würden, wodurch die Verfolgung durch Privatpersonen oder sonstige nichtstaatliche Akteure sitillschweigend geduldet werde, sowie Gruppen, gegenüber denen der Staat in diskriminierender Weise vom Gesetz Gebrauch mache und bei denen er sich weigere, das Gesetz zu ihrem Schutz anzuwenden.308 Das Kriterium der Schutzlosigkeit kann daher zur Auslegung der „geschützten Merkmale“ herangezogen werden. Dementsprechend weist Lordrichter Steyn auf das Kriterium der Schutzlosigkeit bestimmter Frauen in Pakistan hin.309 (3) Erfordernis einer fest umrissenen Identität (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 zweiter Spiegelstrich RL 2004/83/EG) Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) zweiter Spiegelstrich der Richtlinie muss zusätzlich zu dem Vorhandensein eines gemeinsamen geschützten Merkmals hinzukommen, dass die Gruppe in dem Herkunftsland eine „deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“. Der ursprüngliche Entwurf enthielt dieses zusätzliche Erfordernis nicht. In der englischen Übersetzung wird der Begriff „“distinct identity“ verwendet. Die Funktion dieses Abgrenzungsmerkmals besteht also darin, die bestimmte soziale Gruppe inhaltlich als eine Gruppe mit einer fest umrissenen oder ausgeprägten Identität zu bestimmen, die sie als solche innerhalb der Gesellschaft des Herkunftslandes erkennbar und damit von anderen Gruppe unterscheidbar macht. Das geschützte (interne) Merkmal ist nach dem Wortlaut der Norm der Grund, warum die Gruppe „von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.“ Es ist damit nicht die Funktion dieses Abgrenzungsmerkmals, von einer sozialen Gruppe zusätzliche Untergruppen abzuspalten und erst eine derart bestimmte Untergruppe als „bestimmte“ soziale Gruppe zu identifizieren. Die Größe einer Gruppe ist kein Abgrenzungsmerkmal, vielmehr die im ersten Spiegelstrich von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 der Richtlinie bezeichneten geschützten Merkmale. Kann anhand eines oder mehrerer derartiger Merkmale eine bestimmte soziale Gruppe identifiziert werden, müssen nicht zusätzlich nach Maßgabe weiterer materieller Kriterien Untergruppen gebildet werden. Vielmehr erfordert der Wortlaut von Art. 1 A Nr. 2 GFK, dass die Gruppe eine „bestimmte“ soziale Gruppe sein muss, also anhand eines (internen) Unterscheidungsmerkmals als solche nach außen erkennbar und unterscheidbar von anderen Gruppen sein muss. Dieser Ansatz wird auch als externer Ansatz bezeichnet, weil es insbesondere auf die Sichtweise der Gesellschaft ankommt, ob bestimmte Merkmale einer Gruppe zugeschrieben werden und sich diese aufgrund dieser Zuschreibung von der Gesellschaft insgesamt 306 307 308 309 Ebenso Hathaway, The Law of Refugee Status, S. 161. UNHCR, Soziale Gruppe, S. 3. Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001, in: BR-Drs. 1017/01, S. 24. Lordrichter Steyn, House of Lords, IJRL 1999, 496 (504 f.) – Islam and Shah. 140 unterscheidet. Es kommt danach darauf an, ob eine Gruppe durch die übrige Gesellschaft als eine abgegrenzte Gruppe „aufgrund bestimmter diese gemeinsam prägender Charakteristika, Eigenschaften, Aktivitäten, Überzeugungen, Interessen oder Zielvorstellungen“ wahrgenommen werde.310 Für diesen Ansatz spricht, dass er mit dem Wortlaut der Konvention übereinstimmt und kein Verweis auf anerkannte Rechtsstandards erforderlich ist wie beim Ansatz der geschützten Merkmale. Die pragmatische Entwicklungsoffenheit des Ansatzes ist der Tatsache geschuldet, dass es keinen erschöpfenden und verbindlichen Rechtsstandard gibt, auf den der Ansatz der geschützten Merkmale verweist. Darüber hinaus eröffnet dieser Ansatz dem Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe einen weitergehenden Anwendungsbereich, als es der auf geschützte Merkmale beruhende interne Ansatz vermag, und ermöglicht Rechtsanwendern damit, politische und kulturelle Besonderheiten des Herkunftslandes mit zu berücksichtigen.311 (4) Kumulative Verschränkung des externen und internen Ansatzes Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 RL 2004/83/EG ist eine kumulative Verschränkung beider in der Staatenpraxis üblichen Ansätze angezeigt. Die Richtlinie geht also davon aus, dass beide Ansätze miteinander vereinbar sind und sich gegenseitig ergänzen. Es geht bei dieser Frage um die richtige Zuordnung der „internen“ Merkmale (angeborene, unveränderbare oder fundamentale Identitätsmerkmale) zu den „externen“ Merkmalen (soziale Wahrnehmung der Gruppe). Die im Rahmen der von UNHCR organisierten „Global Consultations on International Protection“ von einer aus Vertretern von Staaten und Nichtregierungsorganisationen zusammengesetzten Expertenrunde verabschiedeten Schlussempfehlungen zur Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verweisen zunächst auf „gemeinsame Merkmale“, welche die Gruppe von der Gesellschaft unterscheidet. Derartige Merkmale seien normalerweise angeboren, unveränderbar oder auf andere Weise grundlegend für die menschliche Würde.312 Dieser Ansatz ist entwicklungsoffen und wendet den Ansatz der geschützten Merkmale nicht in einer den externen Ansatz ausschließenden Weise an. Auch nach dem Kommissionsentwurf wird die Formulierung der bestimmten sozialen Gruppe nicht auf genau definierte kleine Personengruppen beschränkt.313 In der Endfassung wurde das Erfordernis der sozialen Wahrnehmung lediglich als interpretatives Begriffselement eingeführt. Mit dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 RL 2004/83/EG unvereinbar wäre zwar eine Auslegung, die beim Fehlen interner Merkmale externe Merkmale ausreichen ließe. Es ist jedoch kaum ein Fall denkbar, indem eine Gruppe eine deutlich erkennbare Identität aufweist und hierfür nicht interne geschützte Merkmale ursächlich sind. Vielmehr kann zur Auslegung der internen auf externe Merkmale wie umgekehrt zur Konkretisierung der externen auf interne Merkmale zurückgegriffen werden. In diesem Fall wird die bestimmte soziale Gruppe sowohl durch geschützte Merkmale wie auch durch eine nach außen abgegrenzte Identität geprägt. Zunächst ist festzuhalten, dass Gruppen, die durch ein geschütztes Merkmal miteinander verbunden sind, in ihrem Herkunftsland wahrscheinlich durch die übrige Gesellschaft als abgegrenzte Gruppe angesehen werden, daher zumeist mit der inhaltlichen Begriffsbestimmung des internen Merkmals zugleich auch das externe Merkmal bestimmt worden ist. Insbesondere bei der Begriffsbestimmung des dritten internen Merkmals gewinnt das externe Merkmal eine besondere Auslegungsfunktion. Ob ein Merkmal oder eine High Court of Australia, 190 CLR 225 (1997) – A v. MIMA. James C. Hathaway/Michelle Foster, Membership of a Particular Social Group, IJRL 2003, 477 (484). 312 San Remo Expert Roundtable on International Protection, 6 – 8 September 2001, Summary Conclusions on Membership of a Particular Social Group, Nr. 5. 313 Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001, in: BR-Drs. 1017/01, S. 24. 310 311 141 Glaubensüberzeugung fundamental für die Identität oder das Gewissen ist, ist insbesondere auch davon abhängig, wie die Gruppe durch die umgebende Gesellschaft wahrgenommen wird. Die Frage, ob auf das Merkmal oder die Gewissensüberzeugung verzichtet werden kann, stellt sich nicht, wenn die umgebende Gesellschaft tolerant gegenüber der bestimmten sozialen Gruppe eingestellt ist. Ist dies nicht der Fall, ist es gerade das die Identität bestimmende fundamentale Merkmal, welches die Gruppe von der umgebenden Gesellschaft deutlich abgrenzt. Insbesondere beim dritten internen Merkmal verschränken sich damit interner und externer Ansatz. Mit der Berücksichtigung der gesellschaftlichen Zuschreibung wird der Begriff der bestimmten sozialen Gruppe mithin nicht aufgelöst, sondern werden die Feststellungsbehörden verpflichtet zu prüfen, ob eine bestimmte Gruppe in einem bestimmten kulturellen Kontext als bestimmte soziale Gruppe identifizierbar ist.314 Das wesentliche Kriterium bei der Begriffsbestimmung der bestimmten sozialen Gruppe ist eine Kombination von Merkmalen, über die die Mitglieder der Gruppe verfügen können, mit anderen Merkmalen, die außerhalb ihrer Verfügungsgewalt liegen. Bei der Auslegung und Anwendung dieses Verfolgungsgrundes ist deshalb Bedacht auf verbindende und gemeinsame Merkmale wie die ethnische, kulturelle, linguistische Abstammung, Bildung, familiärer Hintergrund, wirtschaftliche Aktivitäten und gemeinsam geteilte Werte zu nehmen. Im besonderen Maße erheblich sind auch die Einstellungen anderer sozialer Gruppen gegenüber der bestimmten sozialen Gruppe innerhalb der Gesellschaft des Herkunftslandes. Das Gewicht und damit die Identität einer bestimmten sozialen Gruppe stehen häufig auch im direkten Verhältnis zu deren Wahrnehmung durch andere.315 Es ist also das Merkmal des Andersseins und des Andersdenkenden,316 das die Gruppe von der umgebenden Gesellschaft abgrenzt. Zu Begriffsbestimmung der internen Merkmale ist deshalb auch das in Art. 9 Abs. 2 Buchst. b) – d) RL 2004/83/EG bezeichnete Diskriminierungsverbot heranzuziehen. Dem Begriff der bestimmten sozialen Gruppe ist damit ein Moment fehlender Abgeschlossenheit immanent, das in der Lage ist, auf unterschiedliche Gruppenformen im Kontext von Verfolgungen zu reagieren.317 Bei dieser Begriffsbestimmung kommt es indes nicht darauf an, dass alle Mitglieder der Gesellschaft verfolgt werden. Es geht bei der Prüfung des Verfolgungsgrundes nicht um die inhaltliche Bestimmung der Verfolgung, sondern um die Bestimmung der Merkmale einer bestimmten sozialen Gruppe. Es müssen nicht wie bei der gruppengerichteten Verfolgung alle Mitglieder der bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werden oder von Verfolgung bedroht sein. Vielmehr geht es darum, ob eine bestimmte soziale Gruppe aufgrund bestimmter Merkmale nach außen eine fest umrissene Identität aufweist. cc) Verfolgung wegen der sexuellen Ausrichtung (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 1 RL 2004/83/EG) (1) Begriffsbestimmung der bestimmten sozialen Gruppe Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 1 RL 2004/83/EG kann je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland des Antragstellers als soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Dabei dürfen indes als sexuelle Ausrichtung im Sinne der Richtlinie keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 1. HS RL 2004/83/EG). Nach der Begründung des T. Alexande Aleinikoff, „Membership in a Particular Social Group“: Analysis and proposed Conclusions, S. 27. 315 Guy S. Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, S. 47 f. 316 BVerwGE 67, 184 (186) = NVwZ 1983, 674 = InfAuslR 1983, 228 = D 7; BVerfGE 54, 341 (357) = EZAR 200 Nr. 1 = NJW 1980, 2641 = C 3. 317 Guy S. Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, S. 47 f. 314 142 Kommissionsentwurfs lässt sich eine Gruppe anhand eines wesentlichen Merkmals wie der sexuellen Ausrichtung definieren, das so bedeutsam für die Identität ist, das von den Mitgliedern nicht verlangt werden darf, darauf zu verzichten. Der Verweis auf die sexuelle Ausrichtung impliziere allerdings nicht, dass Homosexuelle diesen Verfolgungsgrund in jedem Fall geltend machen könnten.318 Die Richtlinie 2004/83/EG ordnet das Merkmal der sexuellen Ausrichtung damit weder den angeborenen noch den unveränderbaren, sondern den Merkmalen zu, deren Verzicht wegen der Bedeutung für die Identität nicht verlangt werden darf. Demgegenüber ist nach Ansicht des BVerwG und der völkerrechtlichen Literatur die homosexuelle Veranlagung ein unabänderliches persönliches Merkmal.319 Ebenso wie bei der »Rasse«, »Nationalität«, »Hautfarbe« und »Religion« handelt es sich um ein unabänderliches persönliches Merkmal, das der persönlichen Disposition entzogen ist. Dieser Ansatz verengt allerdings den Kreis der Schutzberechtigten auf die auf die Homosexualität unentrinnbar festgelegten Personen, schließt damit anders als die Richtlinie die Antragsteller aus, die nicht derart unveränderbar auf die homosexuelle Neigung festgelegt sind, gleichwohl wegen homosexueller Praktiken eine deutlich abgegrenzte Identität aufweisen und deshalb verfolgt werden. Die Richtlinie ist damit offener, verlangt keine unentrinnbare Neigung, also ein unveränderbares Merkmal, sondern eine die Identität des Antragsteller prägende (geschütztes Merkmal) und dadurch nach außen deutlich abgrenzbar homosexuelle Praxis (externes Merkmal). Auch heterosexuelle oder nicht auf homosexuelle Praktiken unentrinnbar festgelegte Personen können unter diesen Voraussetzungen eine bestimmte soziale Gruppe bilden. UNHCR ordnet Asylanträge aus Gründen einer unterschiedlichen sexuellen Ausrichtung den geschlechterbezogenen Verfolgungsgründen zu. Die Sexualität oder sexuellen Praktiken eines Antragstellers oder einer Antragstellerin könnten für den Antrag dann von Bedeutung sein, wenn die Person wegen ihrer Sexualität oder sexuellen Praktiken Verfolgungshandlungen ausgesetzt sei. In vielen derartigen Fällen habe sich der Betreffende geweigert, gesellschaftlich oder kulturell definierten Rollenbildern oder Erwartungen zu entsprechen, die man mit seinem Geschlecht verbinde. Das betreffe gewöhnlich Anträge von Homosexuellen, Transsexuellen oder Transvestiten, die öffentlichen Anfeindungen, Gewalt, Misshandlungen oder schwerer oder vielfältiger Diskriminierung ausgesetzt seien. Wo Homosexualität unter Strafe stehe, könne die Verhängung schwerer Strafen für homosexuelles Verhalten Verfolgung bedeuten, wie dies in manchen Kulturen auch bei Frauen der Fall sei, die sich nicht dem Verschleierungsgebot beugten. Auch dort, wo homosexuelle Praktiken keinen Straftatbestand darstellten, wäre der Antrag einer Person begründet, wenn der Staat diskriminierende Praktiken oder Übergriffe gegen sie billige oder dulde, oder wenn der Staat außerstande sei, sie wirksam vor solchen Übergriffen zu schützen.320 In der australischen Praxis werden Homosexuelle grundsätzlich als bestimmte soziale Gruppe anerkannt. Ob eine derartig bestimmte soziale Gruppe wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit verfolgt wird, ist abhängig von den tatsächlichen und rechtlichen Umständen und muss für jeden Einzelfall gesondert entschieden werden. Danach reicht das bloße homosexuelle Selbstverständnis oder die bloße Geltung hierauf abzielender Strafnormen nicht aus. Vielmehr müssen gewichtige Anhaltspunkte dafür sprechen, dass diese Normen normalerweise auch angewendet werden.321 Auch die holländische und US-amerikanische Rechtsprechung 318 Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001 , BR-Drs. 1017/01, S. 24. BVerwGE 79, 143 (147); BVerwG, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 117; Hess.VGH, InfAuslR 1987, 24; Hathaway, The Law of Refugee Status, S. 163. 320 UNHCR, Geschlechtsspezifische Verfolgung, S. 6 321 Australian Refugee and Humanitarian Division, Particular Social Group: An Australian Persepective, 2001, S.23. 319 143 nehmen im Blick auf die Verfolgung von Homosexuellen auf den Verfolgungsgrund der bestimmten sozialen Gruppe Bezug. Verständig interpretiert würde dieser Begriff auch die Verfolgung »aufgrund der sexuellen Orientierung« erfassen.322 Man kann seine religiöse und politische Grundentscheidung in verschiedenen Formen ausdrücken, sie einschränken, bei Gefahr zurücknehmen, freilich niemals ohne Gefahr psychischer Schädigungen vollständig aufgeben. Ebenso findet die sexuelle Orientierung ihren Ausdruck in den unterschiedlichsten Formen und kann daher auch in Abhängigkeit von den äußeren Umständen eingeschränkt und teilweise zurückgenommen werden, jedoch ebenfalls ohne Gefahr psychischer Schäden niemals vollständig. Geschützt ist jedoch sexuelles Verhalten an sich323 und damit die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung324. Wird die sexuelle Orientierung als unveränderbares Merkmal bezeichnet, wird der Kreis der bestimmten sozialen Gruppe sehr eng gezogen. Liegt die Unentrinnbarkeit neigungsgemäßen Verhaltens nicht vor, mag man dem Antragsteller zumuten, auf die weitere homosexuelle Betätigung zu verzichten. Dies ist der Annsatz des BVerwG. Die australische Rechtsprechung hat bislang offen gelassen, ob dem Antragsteller zugemutet werden kann, sich bei seinen homosexuellen Praktiken Zurückhaltung aufzuerlegen.325 Der Ansatz der Richtlinie 2004/83/EG ist indes weitergehend und ordnet die sexuelle Ausrichtung den geschützten Merkmalen zu, die zwar nicht unabänderlich sind, deren Verzicht wegen der Identitätsprägung jedoch nicht verlangt werden darf. Ob dies der Fall ist, ist maßgebend vom Selbstverständnis des Antragstellers und seiner deutlich abgegrenzten Identität abhängig. (2) Sexuelle Ausrichtung als identitätsbestimmendes Merkmal Nach der für die Auslegung von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG maßgebenden Richtlinie 2004/83/EG ist bei Verfolgungen wegen der sexuellen Ausrichtung danach zu fragen, ob diesen der Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zugrunde liegt. Selbstverständlich können im Einzelfall auch die anderen Verfolgungsgründe maßgebend sein. Wie bereits ausgeführt, wird nach der Begründung des Kommissionsentwurfs die sexuelle Ausrichtung als geschütztes Merkmal definiert, das so bedeutsam für die Identität ist, das von den Mitgliedern nicht verlangt werden darf, darauf zu verzichten. Der Verweis auf die sexuelle Ausrichtung impliziert allerdings nicht, dass Homosexuelle diesen Verfolgungsgrund in jedem Fall geltend machen könnten.326 Danach kann einem Antragsteller ein Verzicht auf seine sexuelle Ausrichtung nicht abverlangt werden, wenn diese bedeutsam für seine Identität ist. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich zunächst nach dem Selbstverständnis des Antragstellers. In welchem Umfang entsprechende sexuelle Praktiken als die Identität prägendes Merkmal anerkannt werden, ist anhand der internationalen Menschenrechtsnormen zu bewerten. Sind danach die sexuellen Praktiken erlaubt, kommt es nicht auf eine neigungsmäßige Festlegung, sondern auf die identitätsbestimmende Funktion der sexuellen Ausrichtung an. Regelmäßig wird der Antragsteller eine nach außen abgegrenzte Identität geltend machen können, wobei auch die sozialen, kulturellen, religiösen, familiären, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse im Herkunftsland mit in den Blick zu nehmen sind. 322 Rade van State, IJRL 1989, 246; U.S. Board of Immigration Appeals, 20 I&N Dec. 819 (1990) – Toboso-Alfonso.. 323 BVerwGE 79, 143 (147) = EZAR 201 Nr. 13 = NVwZ 1988, 838 = InfAuslR 1988, 230. 324 BVerwGE 85, 12 (18) = = EZAR 202 Nr. 17 = NVwZ 1990, 1179 = InfAuslR 1990, 211. 325 Australian Refugee and Humanitarian Division, Particular Social Group: An Australian Persepective, 2001, S.23. 326 Kommissionsentwurf v. 12. 9. 2001 , BR-Drs. 1017/01, S. 24. 144 Maßgebend für den Ausgangspunkt der Begriffsbestimmung ist, dass die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung grundsätzlich geschützt ist.327 Nach Maßgabe dieses universellen Ansatzes sind auch nationale Einschränkungen der sexuellen Selbstbestimmung im Herkunftsland zu bewerten. Zu dem durch die Menschenrechte geschützten persönlichen Bereich gehört auch homosexuelles Verhalten als »eine wesentliche Ausdrucksmöglichkeit der menschlichen Persönlichkeit«.328 Auch in der deutschen Rechtsprechung wird hervorgehoben, dass die sexuelle Prägung eines Menschen zu den elementaren Bestandteilen seiner Persönlichkeit gehört.329 Der EGMR behandelt Fragen der sexuellen Selbstbestimmung im Rahmen von Art. 8 Abs. 1 EMRK. Im Falle einer transsexuellen Beschwerdeführerin, die sich auf ihr Recht auf statusrechtliche Behandlung als Frau berufen hatte, stellte der Gerichtshof den ihr grundsätzlich gewährten Konventionsschutz nicht in Frage, sondern befasste sich ausschließlich mit der Frage, was der Begriff »Achtung« in derartigen Fällen in positiver Hinsicht von den Vertragsstaaten verlange.330 (3) Glaubhaftmachung individueller sexueller Praktiken Danach sind Feststellungen dahin zu treffen, dass sich der Asylsuchende bereits in der Vergangenheit homosexuell betätigt hat. Die Prüfung wird regelmäßig den Zeitraum seit dem Erreichen der Pubertät in den Blick nehmen. Ein Asylsuchender kann jedoch aus Scham oder aus Angst vor der damit verbundenen gesellschaftlichen Ächtung seine homosexuelle Veranlagung über einen mehr oder weniger langen Zeitraum unterdrückt haben, sodass er erst zu einem weitaus späteren Zeitpunkt das persönliche Risiko einzugehen wagt, entsprechend seiner sexuellen Veranlagung zu leben. Selbst die Eheschließung mit einer Frau muss nicht als zwingender Beweis für die fehlende Unentrinnbarkeit der homosexuellen Neigung gewertet werden. Denn gerade die bürgerliche Ehe mag dem ansonsten der allgemeinen Ächtung und möglicherweise Verfolgung zum Opfer fallenden Homosexuellen einen angemessenen Schutz bieten. Hat der Antragsteller erst im erwachsenen Alter seine homosexuelle Betätigung im Bundesgebiet aufgenommen, sind Feststellungen unerlässlich, ob und unter welchen Bedingungen es ihm vor seiner Ausreise aus seinem Heimatstaat gelungen war, die Richtung seines sexuellen Triebverhaltens nach außen zu verbergen und ob nach der Art seiner Veranlagung erwartet werden kann, er könne nach seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat ebenso wie vor seiner Ausreise seine konkrete Lebensführung gestalten. Derartige Feststellungen kann das Verwaltungsgericht nicht ohne die Hinzuziehung eines Sexualwissenschaftlers treffen. Liegen diese Voraussetzungen vor, wird die Entscheidungsfindung erleichtert. Ist aufgrund der festgestellten unentrinnbaren homosexuellen Prägung des Asylsuchenden mehr oder weniger zwangsläufig die Weiterführung homosexueller Praktiken im Herkunftsland zu erwarten, droht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Verfolgung.331 Insoweit ist auch das öffentliche Bekenntnis zur homosexuellen Veranlagung im Bundesgebiet mit zu berücksichtigen.332 Da es jedoch nicht auf die unentrinnbar festgelegte Neigung, sondern auf die aus der Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung folgende allgemein anerkannte menschenrechtliche Schutzverbürgung ankommt, darf der Antrag nicht allein deshalb 327 328 BVerwGE 80, 12 (18). EGMR, NJW 1984, 541 (543) - Dudgeon; ebenso für transsexuelles Verhalten EGMR, HRLJ 1992, 358 (361). 329 330 331 332 VG Gießen, NVwZ-Beil. 1999, 119. EGMR, HRLJ 1992, 358 ((361) (§ 44)) – B. v. France. VG Leipzig, InfAuslR 1999, 309 (310). VG Leipzig, U. v. 15. 11. 2000 – A 7 K 32574/96. 145 abgelehnt werden, weil der Antragsteller in der Vergangenheit keine im Herkunftsstaat verbotenen sexuellen Praktiken verfolgt hat und insoweit auch nicht neigungsmäßig zwingend festgelegt war. Vielmehr kommt es entsprechend den oben erwähnten Grundsätzen darauf an, dass er jetzt glaubhaft derartige Praktiken verfolgt und die Behörden im Herkunftsland gegen diese vorgehen. dd) Verfolgung aufgrund des Geschlechts (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 zweiter Halbsatz RL 2004/83/EG) (1) Allgemeines Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 2. HS der Richtlinie können bei der Begriffsbestimmung der bestimmten sozialen Gruppe „geschlechterbezogene Aspekte“ berücksichtigt werden. Die Richtlinie berücksichtigt damit eine seit Jahren im Schrifttum erhobene Forderung nach Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgungen und die entsprechende Staatenpraxis. Ausgehend von der Erkenntnis, dass Frauen häufig bedeutend weniger in politische Aktivitäten verstrickt sind als Männer und sexuelle Gewalt, wie etwa Vergewaltigung, aus Gründen erfahren, die nicht in der Konvention genannt sind, wird empfohlen, derartige Schutzbegehren dem Begriff der sozialen Gruppe zuzuordnen.333 Nach der Richtlinie rechtfertigen indes geschlechterbezogene Aspekte für sich allein genommen nicht die Annahme, dass die Verfolgung auf einem Verfolgungsgrund beruht. Die Begründung des Kommissionsentwurfs weist darauf hin, dass der Verweis auf das Geschlecht nicht impliziere, dass Frauen diesen Verfolgungsgrund in jedem Fall geltend machen könnten.334 Demgegenüber kann nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn die Verfolgung allein an das Geschlecht anknüpft. Während danach allein der Hinweis auf das Geschlecht nach der Richtlinie bei einer geltend gemachten Verfolgung nicht als zureichend für die Darlegung des Verfolgungsgrundes angesehen wird, sondern die Darlegung eines zusätzlichen Aspektes gefordert wird, geht der deutsche Gesetzgeber über das Gemeinschaftsrecht hinaus und verzichtet auf die Darlegung zusätzlicher Erfordernisse, wenn der geltend gemachten Verfolgung ein geschlechterbezogener Verfolgungsgrund zugrunde liegt. Nach Ansicht der Rechtsprechung darf daher die Richtlinie nicht zu einer restriktiven Anwendung des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG herangezogen werden.335 In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle dürfte es jedoch zwischen dem gemeinschaftsrechtlichen und dem deutschen Ansatz zu keinen unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Auch nach Ansicht von UNHCR bedeutet zwar eine geschlechterbezogene Analyse der GFK nicht, dass alle Frauen automatisch Anspruch auf den Statusbescheid haben. Die Flüchtlingsdefinition schließe jedoch bei richtiger Auslegung mit geschlechtsspezifischer Verfolgung begründete Asylanträge ein, ohne dass es insoweit der Darlegung eines zusätzlichen Aspektes bedarf. Aus den Beschlüssen des Exekutivkomitees des Programms von UNHCR folgt ein feststehender Grundsatz, dass bei der Auslegung und Anwendung des Flüchtlingsbegriffs in seiner Gesamtheit stets auf eine mögliche geschlechtsbezogene 333 James C. Hathaway, The Law of Refugee Status, S. 162; Jacqueline R. Castel, Rape, IJRL 1992, 39 (51); Nurjehan Mawani, IJRL 1993, 240 (244); Anders B. Johnsson, IJRL 1989, 221 (223); Ninety Kelley, IJRL 1989, 233 (235 f.); Jacqueline Greatbatch, IJRL 1989, 518 (526). 334 Kommissionsentwurf, in: BR-Drs. 1017/01, S. 24 335 Hess.VGH, U. v. 23. 5. 2005 – 3 UE 3457/04.A. 146 Dimension zu achten ist.336 Daher bestehe auch keine Notwendigkeit, die Definition des Flüchtlingsbegriffs der GFK durch einen weiteren Grund zu ergänzen.337 (2) Bestimmung des Begriffs des Geschlechts (Gender) Der Begriff „geschlechterbezogene Aspekte“ in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 2. HS RL 2004/83/EG verweist auf den Begriff der „geschlechtsspezifischen Verfolgung“, der an sich keine rechtliche Bedeutung hat. Letzterer ist vielmehr ein Überbegriff, mit dem die verschiedenen Antragsgründe zusammengefasst werden, in denen das Geschlecht für die Feststellung der Statusberechtigung eine Rolle spielt. Um das Wesen der geschlechtsspezifischen Verfolgung zu verstehen, müssen die beiden Bedeutungen des Begriffs „Geschlecht“, die biologische („sex“) und die soziale („gender“), definiert und getrennt betrachtet werden. Der Begriff „Geschlecht“ in seiner sozialen Bedeutung bezeichnet die Beziehungen zwischen Frauen und Männern auf der Grundlage gesellschaftlich oder kulturell üblicher oder definierter Identitäten, Rechtsstellungen, Rollen und Aufgaben, die dem einen oder anderen Geschlecht zugewiesen sind. Demgegenüber bezeichnet „Geschlecht“ im biologischen Sinne unterschiedliche biologische Merkmale.338 Genderspezifische Merkmale werden als klare Beispiele für eine bestimmte soziale Gruppe bezeichnet, die durch ein angeborenes und unveränderbares Merkmal miteinander verbunden ist.339 Der Begriff „Gender“ ist jedoch weder statisch noch von Natur aus vorgegeben, sondern erhält im Laufe der Zeit sozial oder kulturell entstandene Inhalte. 340 Faktoren für eine derartige soziale Begriffsbestimmung geschlechterbezogener Aspekte sind das biologische Geschlecht, das Alter, der eheliche Status, der familiäre und verwandschaftliche Hintergrund, der frühere wirtschaftliche und soziale Status sowie berufliche Hintergrund oder ethnische oder Stammeszugehörigkeiten. Ob diese Faktoren unveränderbar sind, ist abhängig von dem kulturellen und sozialen Kontext, in dem die Frau lebt.341 In Ward interpretiert der Oberste Gerichtshof in Kanada den Genderbegriff im engen Zusammenhang mit dem sprachlichen Hintergrund und der sexuellen Orientierung.342 Externe Faktoren führen mithin zur Herausbildung einer von der umgebenden Gesellschaft deutlich abgegrenzten Identität. Auch beim Begriff der geschlechterbezogenen Aspekte ist damit zur Begriffsbestimmung auf die gegenseitige Verschränkung interner mit externen Merkmalen Bedacht zu nehmen und kann so der gemeinschaftsrechtliche mit dem deutschen Ansatz in Übereinstimmung gebracht werden. So verstanden, kann der Begriff „Geschlecht“ in § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in seiner sozialen Dimension „Gender“ als solcher ausreichen, damit eine glaubhaft gemachte Verfolgung als Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe eingeordnet werden kann. Zunächst erscheint das „Geschlecht“ als geschütztes (angeborenes) Merkmal im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 erster Spiegelstrich 1. Alt. der Richtlinie. Das interne (geschützte) Merkmale erfährt seine soziale Begriffsbestimmung durch die bezeichneten kulturellen, sozialen und familiären Kriterien im Sinne einer nach außen fest umrissenen Identität (Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 1 zweiter Spiegelstrich RL). Zwar rechtfertigen nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 Satz 2 2. HS der Richtlinie 336 337 338 339 340 341 UNHCR, ExCom, Nr. 39 (1985), Nr. 73 (1993), Nr. 77 (g) (1995), Nr. 79 (o) (1997), Nr. 87 (1999). UNHCR, Geschlechtsspezifische Verfolgung, 7. Mai 2002, S. 3 f. UNHCR, Geschlechtsspezifische Verfolgung, S. 3. Hathaway, The Law of Refugee Status, S. 162. UNHCR, Geschlechtsspezifische Verfolgung, S. 3. Refugee Women’s Lgal Group, Gender Guidelines for the Determination of Asylum Claims in the UK, S. 17. 342 Supreme Cout of Canada, 30. 6. 1993 – No. 21937 – Ward. 147 geschlechterbezogene Aspekte für sich allein nicht die Annahme eines Verfolgungsgrundes. Wird jedoch ein interne und externe Merkmale miteinander verschränkender Ansatz angewendet, also der soziale Begriff „Gender“herausgearbeitet, knüpft die allein an einen derartigen Begriff des „Gender“ ausgerichtete Verfolgung auch nach der Richtlinie an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe an. Wegweisend für die Zuordnung des Begriffs „Geschlecht“ zum Verfolgungsgrund der „bestimmten sozialen Gruppe“ ist die Entscheidung Islam and Shah des House of Lords des Vereinigten Königreichs, in der die Lordrichter den Fall pakistanischer Frauen zu beurteilen hatten, die von ihren Ehemännern verstoßen und des Ehebruchs beschuldigt worden waren, sodass diese für den Fall der Rückkehr die Auspeitschung oder Steinigung zu befürchten hatten. Lordrichter Steyn stellte zunächst fest, dass Frauen in Pakistan als bestimmte soziale Gruppe angesehen werden können. Aus historischer Sicht sei auf den Umstand hinzuweisen, dass selbst unter den brutalsten und repressivsten Systemen wie Nazideutschland und Stalinismus einige Angehörige der von Verfolgung betroffenen Gruppen dieser hätten entgehen können. Diese bedeute jedoch nicht, dass diese Gruppen nicht als bestimmte soziale Gruppen verstanden werden könnten. Sofern man die Frauen in Pakistan als solche nicht als bestimmte soziale Gruppe ansehen wolle, sei jedoch zu bedenken, dass die Antragstellerinnen durch das Zusammentreffen von drei Charakteristika geprägt würden: das Geschlecht der Antragstellerinnen, der gegen sie erhobene Verdacht des Ehebruchs sowie ihre ungeschützte Position in Pakistan. Diese Merkmale würden keinen Aspekt von Verfolgung beinhalten. Die betroffenen Frauen könnten vielmehr mit praktizierenden Homosexuellen verglichen werden, die durch den Staat nicht geschützt würden. In konzeptioneller Hinsicht existiere eine solche Gruppe unabhängig von der Verfolgung.343 Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass in der Rechtsprechung der Vertragsstaaten wie auch nach Ansicht des UNHCR die Gruppe der Frauen in einem bestimmten Herkunftsland eine bestimmte soziale Gruppe bilden können. Vorausgesetzt wird indes stets die glaubhaft gemachte Verfolgung der Antragstellerin. Die Verfolgung selbst ist jedoch kein Begriffselement des Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.In Übereinstimmung mit dieser Ansicht steht § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Üblich ist häufig auch die Bildung von bestimmten Untergruppen von Frauen.344 Dies ist jedoch keine zwingende Voraussetzung für die Begriffsbestimmung. Vielmehr ist entscheidend, dass aufgrund bestimmter sozialer, kultureller, religiöser oder weiterer Faktoren ein bestimmter inhaltlich geprägter Genderstatus bestimmte Frauen von der umgebenden Gesellschaft deutlich abgrenzt und diese wegen dieser Faktoren als andersartig betrachtet werden. Dies erklärt, warum Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) Abs. 2 RL 2004/83/EG feststellt, dass geschlechtsspezifische Aspekte berücksichtigt werden können und nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch an das Geschlecht anknüpfen kann. Damit wird die Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung nicht in das Ermessen der Behörde gestellt. Die Feststellung von Verfolgung aus Gründen der Konvention ist vielmehr eine Rechtsentscheidung.345 Die Richtlinie 2004/83/EG und auch der deutsche Gesetzgeber weisen die Feststellungsbehörden lediglich darauf hin, bei der Bestimmung einer bestimmten sozialen Gruppe auf den geschlechtsspezifischen Aspekt Bedacht zu nehmen. Allein der Hinweis auf das Geschlecht der Antragstellerin begründet indes keine bestimmte soziale Gruppe. Es 343 344 345 Lordrichter Steyn, House of Lords, IJRL 1999, 496 (504 f.) – Islam and Shah. Nancy Kelly, IJRL 1994, 517 (527). BVerwGE 49, 211 (212) = EZAR 210 Nr. 1 = DÖV 1976, 94. 148 müssen vielmehr besondere Charakteristika dargelegt werden, um den Genderstatus als Grundlage der bestimmtener sozialen Gruppe ermitteln zu können. Verfolgung kann insofern geschlechtsspezifisch sein, als sie aufgrund des Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder des geschlechtsabhängigen Rollenbildes einer Person erlebt wird.346 h) Verfolgung wegen der politischen Überzeugung (Art. 10 Abs. 1 Buchst. e) RL 2004/83/EG) Nach Art. 10 Buchst. e) der RL ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Antragsteller in einer Angelegenheit, die die in Art. 6 der RL bezeichneten potenziellen Verfolger sowie deren Politik oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt. Dabei ist es unerheblich, ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Das Vertreten einer der Politik der Verfolger entgegenstehenden politischen Überzeugung allein ist nicht ausreichend. Der Antragsteller muss vielmehr glaubhaft machen, dass die Verfolger von seiner politischen Überzeugung Kenntnis erlangt haben oder wahrscheinlich erlangen werden oder ihm eine politische Überzeugung zuschreiben, dass diese Überzeugung von den Verfolgern nicht toleriert wird und dass er deshalb Gefahr läuft, wegen seiner politischen Überzeugung verfolgt zu werden. Auch eine Handlung kann Ausdruck einer politischen Überzeugung sein. Objektiv unbedeutende politische Ansichten oder Handlungen und auch Handlungen, die der Antragsteller selbst nicht als politisch einstuft oder einstufen will, sind erheblich, wenn diese zum Anlass von Verfolgungen genommen werden. Es wird nicht immer möglich sein, einen kausalen Zusammenhang zwischen der zum Ausdruck gebrachten Meinung und der Verfolgung herzustellen. Häufig werden Verfolgungshandlungen als Bestrafung angeblich krimineller Handlungen gegen die herrschende Regierung deklariert. Deshalb sind in derartigen Fällen Ermittlungen anzustellen über die politische Überzeugung des Antragstellers, die seinem Verhalten zugrunde liegt, sowie darüber, dass seine politische Überzeugung Ursache für die von ihm befürchtete Verfolgung ist.225 Hilfreiche Hinweise können insoweit etwa eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c) der RL) oder die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit der Folge unverhältnismäßiger oder diskriminierender Bestrafung (Art. 9 Abs. 2 Buchst. d) der RL) geben. IV. Subsidiärer Schutz (Art. 15 bis 19 RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) 1. Allgemeines Die Richtlinie enthält in Art. 15 die materiellen Vorgaben für die Gewährung des subsidiären Schutzes347 und bezeichnet das maßgebliche Entscheidungskriterium mit dem Begriff „ernsthafter Schaden“. Beim subsidiären Schutz ersetzt der Begriff des ernsthaften Schadens den Begriff der Verfolgungshandlung nach Art. 9 RL 2004/83/EG. In der deutschen Gesetzgebung wurden früher in § 53 AuslG 1990 und werden nach geltendem Recht in § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG die tatbestandlichen Voraussetzungen des subsidiären Schutzes geregelt. Allerdings setzen die Regelungen in § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG sowohl den 346 UNHCR, Auslegung von Art. 1 GFK, April 2001, S. 9 347 S. hierzu ausführlich Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung. Erläuterungen zur Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie), Teil 2, Kap. 11 bis 13, § 35 bis § 42. 149 gemeinschaftsrechtlichen subsidiären Schutz um und enthalten darüber hinaus noch die Rechtsgrundlagen für den nationalen subsidiären Schutz. Der subsidiäre Schutzstatus ergänzt die in der GFK festgelegten Schutzregelungen für Flüchtlinge. In der Staatenpraxis sind Regelungen für den Aufenthalt von Personen entwickelt worden, die nicht als Flüchtlinge anerkannt werden, deren Rückführung in das Herkunftsland jedoch aus den verschiedensten Gründen nicht möglich ist. Der subsidiäre Schutzstatus muss darüber hinaus vom vorübergehenden Schutzstatus (RL 2001/55/EG, § 24 AufenthG) getrennt werden. Während der vorübergehende Schutz ein vorübergehendes Konzept zur Lösung von Massenfluchtbewegungen darstellt, handelt es sich beim subsidiären Schutzstatus um ein Konzept zur Gewährung dauerhaften internationalen Schutzes als Alternative zum Flüchtlingsschutz. Subsidiärer Schutz zugunsten schutzbedürftiger Personen ist ein positiver Ansatz, um pragmatisch auf bestimmte, internationalen Schutz hervorrufende Notlagen zu reagieren. Der subsidiäre Schutz bezieht sich auf Personen, die zwar von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen (Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung) betroffen sind, indes keinen hierfür maßgebenden Verfolgungsgrund darlegen können (Art. 15 Buchst. a) und b) RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 2 und 3 AufenthG) sowie auf Personen, die zwar ernsthafte individuelle Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt befürchten, hierfür jedoch keine individualbezogene Furcht vor Verfolgungshandlungen geltend machen können (Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Nur im Blick auf die Personen, die nicht unter die Bestimmungen der GFK fallen, die aber als Flüchtlinge im weiteren Sinne angesehen werden können, darf auf den subsidiären Schutz zurück gegriffen werden. Subsidiäre Schutzformen dürfen deshalb nicht in einer Weise angewendet werden, welche das internationale Schutzsystem für Flüchtlinge aushöhlt. Deshalb ist es unzulässig, immer dann auf den subsidiären Schutz auszuweichen, wenn es schwierig oder zeitaufwändig wäre, die Flüchtlingseigenschaft festzustellen. Befindet sich eine Person in einer Situation, in welcher die Kriterien der Flüchtlingseigenschaft erfüllt sind, kann die Gewährung lediglich subsidiären Schutzes deshalb eine Verletzung der sich aus dem Flüchtlingsrecht ergebenden Verpflichtungen darstellen. Wegen des gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrangs sind für die Gewährung des subsidiären Schutzes vorrangig die Voraussetzungen nach Art. 15 RL 2004/83/EG maßgebend. Soweit § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG darüber hinausgehende tatbestandliche Voraussetzungen festlegt, kann zusätzlich zum gemeinschaftsrechtlichen nationaler subsidiärer Schutz gewährt werden. 2. Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe (Art. 15 Buchst. a) RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 3 AufenthG) Die drohende Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe begründet einen ernsthaften Schaden und vermittelt subsidiären Schutz, soweit keine Ausschlussgründe (Art. 17 RL 2004/83/EG) Anwendung finden. Nach dem Völkerrecht ist die Todesstrafe nicht generell untersagt und vermittelt deshalb die drohende Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe keinen zwingenden Refoulementschutz, sondern nur, wenn in der Art und Weise der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung zum Ausdruck kommt. Die Richtlinie 2004/83/EG knüpft demgegenüber an neuere völkerrechtliche Entwicklungen an und vermittelt bei drohender 150 Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, sofern kein Ausschlussgrund eingreift, subsidiären Schutz. Findet ein Ausschlussgrund nach Art. 17 RL 2004/83/EG Anwendung, ist offen, ob nach der Richtlinie die Abschiebung untersagt ist. Demgegenüber ist nach § 60 Abs. 3 AufenthG unabhängig davon, ob ein Ausschlussgrund nach § 25 Abs. 3 Satz 2 3. Alt. AufenthG eingreift, die Abschiebung zwingend untersagt. Unter der Todesstrafe wird die absichtliche Tötung zur Vollstreckung eines durch ein staatliches Gericht verhängten Todesurteils im Falle eines vom Gesetz mit dem Tode bestraften Verbrechens verstanden. Gezielte Tötungen durch nichtstaatliche Gruppierungen oder extralegale Hinrichtungen sowie die Praxis des Verschwindenlassens durch staatliche Sicherheitskräfte oder paramilitärische oder ähnliche Gruppierungen erfüllen demgegenüber den Begriff der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. Zwar ist bei einer drohenden Doppelbestrafung die Abschiebung grundsätzlich zulässig. Subsidiärer Schutz wird jedoch vermittelt, wenn im Rahmen des im Herkunftsstaat drohenden erneuten Strafverfahrens die Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht. Ob nach der Abschiebung die Todesstrafe verhängt oder vollstreckt werden wird, ist von zwei Komponenten abhängig, nämlich davon, dass der Betroffene eine Straftat verübt hat, die nach dem Recht des Herkunftslandes mit dem Tode bedroht ist, und den Behörden bekannt ist oder wahrscheinlich bekannt werden wird, dass er eine derartige Straftat verübt hat. Der Betroffene muss Umstände und Tatsachen darlegen, welche die ernsthafte Möglichkeit begründen, dass den Behörden der Herkunftslandes bekannt ist oder wahrscheinlich bekannt werden wird, dass er eine Straftat begangen hat, die nach dem Recht des Herkunftslande mit dem Tode bedroht ist. Dabei ist insbesondere eine Kumulation entsprechender Verdachtsmomente zu bedenken. Präklusionsvorschriften sind zurückhaltend anzuwenden. In die Prognoseprüfung sind solche Nachteile einzustellen, für deren Annahme konkrete und ernsthafte Anhaltspunkte bestehen. Nach dem maßgeblichen Beweismaß reichen wegen des Gewichts der bedrohten Rechtsgüter bereits „geringe Risiken“ aus. Es müssen mithin konkrete und ernsthafte Anhaltspunkte dafür vorgetragen werden, dass die Behörden von der entsprechenden Tat etwa durch Denunziationen Dritter oder Beobachtung der Auslandsvertretung Kenntnis erlangt haben. Demgegenüber begründet die bloß abstrakte Hypothese einer drohenden Todesstrafe keinen subsidiären Schutz. Es reicht aus, dass die Behörden des Herkunftslandes den Betroffenen einer Tat, die mit dem Tode bedroht ist, verdächtigen. Er muss eine derartige Tat weder begangen noch deretwegen mit Haftbefehl gesucht werden. Verbindliche Spezialitätszusagen werden im ausländerrechtlichen Verfahren nicht abgegeben. Steht zur behördlichen Überzeugung fest, dass im konkreten Einzelfall die Todesstrafe verhängt werden wird, vermögen zwischenstaatliche Vereinbarungen über den Verzicht auf die Strafvollstreckung die Prognose nicht zu beeinflussen 3. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG, § 60 Abs. 2 AufenthG) a) Absolute Schutzwirkung des Folterverbotes Die drohende Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Herkunftsland begründet ein zwingendes Abschiebungsverbot und vermittelt subsidiären Schutz, soweit keine Ausschlussgründe (Art. 17 RL 2004/83/EG) Anwendung finden. Das Abschiebungsverbot ist absolut, darf deshalb weder im Notstand, in Kriegszeiten oder zur Abwehr terroristischer Gefahren eingeschränkt werden (vgl. Art. 21 RL 2004/83/EG in Verbindung mit Art. 3, 15 Abs. 2 EMRK). Findet ein Ausschlussgrund Anwendung, kann 151 danach zwar keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden (Art. 17 RL 2004/83/EG, § 25 Abs. 3 Satz 2 3. Alt. AufenthG), die Abschiebung ist jedoch untersagt (§ 60 Abs. 2 in Verb. mit § 60a Abs. 2 AufenthG) b) Begriff der Folter Nach dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter prägen den Folterbegriff vier tatbestandliche Elemente: Es muss eine dem Staat zurechenbare Handlung festgestellt werden, die Schmerzzufügung muss einen bestimmten Intensitätsgrad erreichen, die Handlung muss vorsätzlich begangen werden und sie einen bestimmten Zweck erfüllen. Dem Folterbegriff ist damit ein objektives wie subjektives Element immanent. In objektiver Hinsicht wird eine unmenschliche Behandlung, die ein besonders ernsthaftes und grausames Leiden hervorruft, vorausgesetzt. In subjektiver Hinsicht muss der Maßnahme ein vorsätzliches und willkürliches Handeln zugrunde liegen. Die Trennlinie zwischen Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung wird anhand der Intensität der Leidenszufügung gezogen. Die erforderliche Abgrenzung ist relativ. Sie ist abhängig von den Umständen des Einzelfalles, wie z.B. der Dauer der Maßnahme, ihren körperlichen und psychischen Auswirkungen und in manchen Fällen vom Geschlecht, Alter und vom Gesundheitszustand des Opfers. Die Ziel-Mittel-Relation ist ein immanentes Kriterium des Folterbegriffs Daher wird die Trennlinie auch anhand des subjektiven Elementes vollzogen. Während der Folterbegriff stets ein vorsätzliches und willkürliches Handeln voraussetzt, wird dies beim Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nicht notwendigerweise vorausgesetzt. c) Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung Anders als der relativ klare Folterbegriff ist der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung einer präzisen begrifflichen Erfassung nur eingeschränkt zugänglich. Weder wird begriffsnotwendig ein zweckgerichtetes Handeln noch ein Handlungsbegriff überhaupt vorausgesetzt. Ausgangspunkt für die Abgrenzung ist der Folterbegriff. Die notwendige Abgrenzung, ob die Maßnahme ein ernsthaftes und grausames Leiden hervorruft, wird nach Maßgabe des Relativitätstest vorgenommen. Fehlt es an dem für den Folterbegriff erforderlichen Schweregrad der Maßnahme, kann das verursachte Leiden gleichwohl als unmenschlich oder erniedrigend angesehen werden. Ob dies der Fall ist, wird ebenfalls anhand des Relativitätstests ermittelt. „Gesetzlich zulässige Maßnahmen“ (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 Übereinkommen gegen Folter) sind solche Maßnahmen, die nicht über das Maß an Unmenschlichkeit oder Erniedrigung hinausgehen, welches notwendigerweise mit jeder legitimen Behandlung oder Bestrafung verbunden ist. Um gleichwohl von einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgehen zu können, müssen im konkreten Einzelfall zusätzliche Faktoren festgestellt werden. Der Schwerpunkt der Fälle unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung betrifft behördliche Misshandlungen einschließlich Vernehmungen. Der erforderliche Grad der Leidenszufügung ist erreicht, wenn eine Person während des amtlichen Gewahrsams körperlich angegriffen wird und ihr dabei Schmerzen nicht unerheblicher Art zugefügt werden, sofern die angewandte Gewalt ihre Rechtfertigung nicht im rechtmäßigen Gesetzesvollzug findet. Körperliche Misshandlungen während des oder im Zusammenhang mit behördlichem Gewahrsam kommen in unterschiedlichen Formen vor. Als unmenschliche Behandlung wird etwa das tagelange Stehenlassen, der gänzliche Entzug von Nahrung und Wasser sowie von Schlaf zur Aussagen- und Geständniserzwingung, das Zerstören des 152 landwirtschaftlichen Betriebes zwecks Vertreibung, die Hausdurchsuchung und anschließende kurzfristige Inhaftierung sowie die Unterbindung der ärztlichen Versorgung zur Abgabe einer belastenden Erklärung angesehen. Die Anwendung körperlicher oder seelischer Gewalt im Rahmen behördlicher Vernehmungen, um von den Betroffenen oder einer dritten Person eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, erfüllt den Folterbegriff. Abgrenzungsprobleme zur unmenschlichen Behandlung entstehen insbesondere bei der Anwendung psychischer Vernehmungsmethoden. Die Anwendung der Prügelstrafe als Disziplinarmaßnahme erfüllt zwar also solche nicht notwendigerweise den für eine unmenschliche Behandlung notwendigen Schweregrad. Durch die Art ihrer Ausführung wird sie jedoch häufig einen erniedrigenden Charakter aufweisen. Auspeitschungen und andere unter Berufung auf die Sharia ausgeübte körperliche Bestrafungen stellen im Blick auf den Schweregrad der Leidenszufügung eine „unmenschliche“ Behandlung oder Bestrafung wie auch in Ansehung der Umstände der Vollstreckung eine „erniedrigende“ Bestrafung dar. Die Haftbedingungen, unter denen eine Person festgehalten wird, können ungeachtet ihres gesetzmäßigen Charakters unter verschiedenen Gesichtspunkten als unmenschliche oder erniedrigende Strafe angesehen werden. In Betracht zu ziehen sind die gesamten äußeren Umstände des Haftvollzugs wie etwa die Art und Weise der Ernährung, die Dichte der Zellenbelegung, die medizinische Versorgung und die sanitäre und hygienische Situation sowie Ausgestaltung der Kontaktmöglichkeiten. Um als unmenschlich oder erniedrigend gewertet zu werden, müssen die Haftumstände auf jeden Fall über das notwendigerweise mit einer legitimen Bestrafung verbundene Element der Leidenszufügung oder Erniedrigung hinausgehen. Insbesondere müssen die kumulative Wirkung der einzelnen Haftbedingungen wie auch die spezifischen Haftbedingungen des Betroffenen in Betracht gezogen werden. Hochsicherheitsgefängnisse, die das Ziel verfolgen, zwecks Verhinderung weiterer Verbrechen den Austausch von Informationen zwischen den Gefangenen und mit der Außenwelt zu unterbinden, verfolgen einem legitimen Zweck. Gleichwohl dürfen die Gefangenen nicht durch die Art und Weise des Vollzugs der Haft einer Not und Bedrängnis ausgesetzt werden, die das notwendigerweise mit der Haft verbundene Maß von Leidenszufügung überschreiten. Insbesondere ist für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Gefangenen unter Berücksichtigung der tatsächlichen Inhaftierungsbedingungen angemessen Vorsorge zu tragen. Während der Verdacht terroristischer Aktivitäten und die Annahme einer hierauf beruhenden besonderen Gefährlichkeit der Häftlinge eine besondere Gestaltung der Haftbedingungen rechtfertigt, sind Einschränkungen der Schutzbestimmungen zugunsten der körperlichen Integrität terroristischer Straftaten Verdächtigter jedoch unter keinen Umständen erlaubt. Um zu beurteilen, ob die Anordnung von Einzelhaft („solitary confinement“) eine unmenschliche Maßnahme darstellt, sind die zugrundeliegenden besonderen Umstände, deren besondere Strenge und verfolgtes Ziel sowie deren Auswirkungen auf die betroffene Person zu berücksichtigen. Jedenfalls zerstört die vollständige sensorische Isolation in Verbindung mit der totalen sozialen Isolation die Persönlichkeit des Gefangenen. Die Praxis der „incommunicado detetenion“, d. h. der vollständigen Unterbindung von Kontakten zu Rechtsanwälten, Ärzten, Richtern, Familienangehörigen oder Freunden und Bekannten stellt zwar als solche keine unmenschliche Behandlung dar. Im Rahmen der gebotenen Gefahrenprognose kommt dieser Praxis jedoch deshalb eine erhebliche Bedeutung zu, weil diese ein gewichtiges Indiz für die ernsthafte Möglichkeit darstellt, dass der Betroffene nach der Abschiebung gefoltert oder unmenschlicher Behandlung ausgesetzt werden wird. 153 Die Praxis der Verwaltungshaft stellt zwar als solche keine unmenschliche Maßnahme dar. Das Fehlen von Verfahrensgarantien oder deren Unzulänglichkeit insbesondere in Ansehung des Rechts auf eine unabhängige Überprüfung der Verwaltungshaft ist jedoch ein gewichtiges Indiz für die ernsthafte Möglichkeit, dass der Betroffene nach der Abschiebung gefoltert oder unmenschlicher Behandlung ausgesetzt werden wird. Zwar stellen psychiatrische Zwangsmaßnahmen, d.h. aus therapeutischen Gründen erforderliche Maßnahmen als solche weder eine unmenschliche noch eine erniedrigende Behandlung dar. Es muss jedoch der überzeugende Nachweis geführt werden, dass eine therapeutische Notwendigkeit für deren Anwendung bestanden hat bzw. besteht. Bei der Anwendung psychiatrischer Zwangsmaßnahmen darf darüber hinaus nicht die typische Situation der Unterlegenheit und Abhängigkeit der wegen Geisteskrankheit eingewiesenen Person ausgenutzt werden. Unter besonderen Umständen und bei der gebotenen Gesamtbetrachtung können psychiatrische Zwangsmaßnahmen wie auch die Art der Bedingungen der Unterbringung unmenschlich oder erniedrigend sein. Die Abschiebung ungeachtet ernsthafter Gesundheitsgefährdungen kann Art. 3 EMRK verletzen. Während nach Art. 3 EMRK auch Risikofaktoren im Rahmen des Vollzugs der Abschiebung erfasst werden, nimmt Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG eine zielstaatsbezogene Reduzierung der Gesundheitsgefährdungen vor. Nur die unzureichende medizinische Versorgung im Abschiebezielstaat findet deshalb bei der Anwendung der Richtlinie Berücksichtigung. Sind im Rahmen des Vollzugs der Abschiebung Risikoerhöhungen zu besorgen, haben die Mitgliedstaaten nach ihrem innerstaatlichen Recht wegen Art. 3 EMRK den Vollzug auszusetzen d) Verfahrensrechtliche Anforderungen Der Antragsteller muss die seinem persönlichen Erlebnis- und Erfahrungsbereich zuzuordnenden Umstände und Tatsachen, die für die von ihm befürchtete Gefahr von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung maßgebend sind, von sich aus konkret, in sich stimmig und erschöpfend darlegen (Darlegungslast). Wegen des besonderen Gewichts der bedrohten Rechtsgüter ist dabei von den Präklusionsvorschriften zurückhaltend Gebrauch zu machen. Die Behörde trifft angesichts der Schwere der drohenden Rechtsgutverletzung eine besonders strenge Untersuchungspflicht. Sie hat im Rahmen der Darlegungslast, aber gegebenenfalls auch von sich aus sämtliche relevante Umstände und Tatsachen, welche für die Prognoseprüfung von Bedeutung sind, zu ermitteln. Der Antragsteller muss ein „tatsächliches Risiko“ darlegen, dass er im Abschiebezielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Dabei ist zwischen einer unerheblichen „bloßen Möglichkeit“ sowie dem beachtlichen „ernsthaften Risiko“ einer derartigen Behandlung zu differenzieren. Der hierfür maßgeblichen Prognose ist allein mit der Feststellung, dass im Zielstaat der Abschiebung Folter ein weit verbreitetes Phänomen ist und das dort herrschende System sich rigoroser Methoden der Machterhaltung bedient und tatsächliche oder mutmaßliche politische Gegner mit allen nur erdenklichen Mitteln bekämpft, nicht Genüge getan. Für die individuelle Prognoseentscheidung kommt allerdings einer ständigen Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Menschenrechtsverletzungen (Art. 3 Abs. 2 Übereinkommen gegen Folter) eine gewichtige Indizwirkung zu. 154 Wie bei der Flüchtlingsentscheidung ist in den Fällen, in denen der Antragsteller bereits in der Vergangenheit Folterungen oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erlitten hat, der Wahrscheinlichkeitsmaßstab herabzusetzen (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Wird bezogen auf das Herkunftsland die Gefahr von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung festgestellt, besteht Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes, soweit keine Ausschlussgründe (Art. 17 RL 2004/83/EG) Anwendung finden. Die entgegenstehende deutsche Rechtsprechung, die auch Möglichkeiten der Abschiebung in Drittstaaten prüft, ist mit dem gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang nicht vereinbar. 4. Ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit (Art. 15 Buchst. c) Rl 2004/83/EG, § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) a) Allgemeines Subsidiärer Schutz nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG setzt eine ernsthafte individuelle Bedrohung im Rahmen eines internationalen oder internen bewaffneten Konfliktes voraus. Hat die Bedrohung ihre Ursache nicht in einem derartigen Konflikt, können indes die Voraussetzungen von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG) oder des nationalen subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gegeben sein. Der subsidiäre Schutz nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG ist ein Rechtsstatus, der nach Anerkennung des individuellen Schutzbedürfnisses zuerkannt wird. Demgegenüber ist vorübergehender Schutz nach der Richtlinie 2001/55/EG eine Ausnahmeregelung für unüberschaubare Notsituationen, in denen das Schutzbedürfnis auf der Hand liegt und vorerst keine oder nur eine geringe Möglichkeit besteht, das Schutzbedürfnis jedes Einzelnen festzustellen. b) Tatbestandliche Voraussetzungen von Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG aa) Begriff des internationalen bewaffneten Konfliktes Der Begriff des „innerstaatlichen bewaffneten Konflikt“ zielt auf eine Situation, in der die Regierung einen internen Konflikt nicht mehr mit den herkömmlichen administrativen Mitteln und den verfügbaren polizeilichen Kräften zu lösen vermag und Militär einsetzen muss. Weitere Voraussetzungen können dem Begriff als solches nicht unmittelbar entnommen werden. Zu weitgehend sind bereits deshalb die Einschränkungen in den Hinweisen des Bundesinnenministeriums zur Anwendung der Qualifikationsrichtlinie vom 13. Oktober 2006, dass „örtlich und zeitlich begrenzte Bandenkriege“ unerheblich und nur Auseinandersetzungen „ab einer bestimmten Größenordnung“ zu berücksichtigen seien. Damit werden weder der Begriff des „innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes“ noch der Schutzzweck der entsprechenden humanitären Normen zutreffend erfasst. Eindeutig ist der Fall, in dem auf der Gegenseite oppositionelle Kräfte den Streitkräften der Regierung gegenüberstehen, welche deren Machtmonopol in Frage stellen. Hierbei stehen den Streitkräften der Regierung abtrünnige Streitkräfte oder andere organisierte Gruppen gegenüber, die „unter einer verantwortlichen Führung“ eine solche Kontrolle über einen Teil des Staatsgebietes ausüben, dass „sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen“ können. Diese Voraussetzungen waren etwa in den „klassischen“ Bürgerkriegen, wie den amerikanischen Sezessionskriegen 1861 bis 1865 oder im spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939 gegeben. 155 Die „klassische“ Situation sich gegenüberstehender kämpfender Streitkräfte wird etwa für Art. 1 des II. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1977 vorausgesetzt. Die für den gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Konventionen maßgebenden Voraussetzungen des „innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes“ liegen jedoch weit unterhalb dieser Kriterien. Auf der den Genfer Konventionen vorausgehenden Bevollmächtigtenkonferenz wurde eine Kriterienliste zur Definition des bewaffneten Konfliktes bewusst vermieden. Abzugrenzen ist dieser Begriff vielmehr von bloßen Akten reinen Banditentums oder einer unorganisierten und kurzfristigen Erhebung.348 Nach dem autoritativen Kommentar des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes beherrschen zwar die Konfliktbeteiligten in vielen Situationen bewaffneter Konflikte einen Teil des Landes und besteht auch häufig irgendeine Art von Front. Dies ist jedoch keine zwingende begriffsnotwendige Voraussetzung für das Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes.349 Danach setzt der Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes ein Ausmaß an Feindseligkeiten voraus, dessen die Regierung mit den normalen polizeilichen Mitteln nicht mehr Herr werden kann.350 Dabei ermöglicht die definitorische Unbestimmtheit von Art. 3 eine flexible Handhabung und dem IKRK die Möglichkeit, Hilfestellungen in einer Vielzahl von Fallgestaltungen anzubieten.351 Einigkeit besteht darin, dass Art. 3 auf bewaffnete Konflikte mit weit unterhalb der für die Anwendung des II. Zusatzprotokolls geforderten Intensität Anwendung finden soll. Wegen des Schutzzwecks des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen soll der Anwendungsbereich dieser Norm so weit wie möglich gezogen werden. Vorausgesetzt werden lediglich Kampfhandlungen einer „gewissen Intensität“.352 Der Begriff des bewaffneten innerstaatlichen Konfliktes ist deshalb nicht beschränkt auf bewaffnete Kräfte mit der Fähigkeit zu anhaltenden und koordinierten Kampfhandlungen. Ein örtlich begrenzter und nicht lediglich kurzfristiger Bandenkrieg ist vielmehr ebenso zu berücksichtigen, wenn hierdurch die unbeteiligte Zivilbevölkerung in schwerwiegender Weise dauerhaft in Mitleidenschaft gezogen wird. Es kommt damit in erster Linie auf die Auswirkungen des Konfliktes auf die unbeteiligte Zivilbevölkerung in der entsprechenden Region an. Da der Zweck von Art. 3 der Genfer Konventionen der größtmögliche Schutz der unbeteiligten Zivilbevölkerung vor den Auswirkungen eines Konfliktes ist, bestimmt diese normative Vorgabe auch die Reichweite der Norm und damit auch die Bandbreite der in Betracht zu ziehenden Konflikte. Mit dem Begriff der „willkürlichen Gewalt“ verweist Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG auf derartige Auswirkungen und bestimmt damit entsprechend dem Schutzzweck von Art. 3 der Genfer Konventionen die Bandbreite der in Betracht kommenden bewaffneten Konflikte. Festzuhalten ist damit, dass Kampfhandlungen und vergleichbare etwa terroristische Aktionen zwar eine gewisse Intensität aufweisen müssen. Abzugrenzen ist dieses Erfordernis von internen Störungen und Spannungen, wie etwa isolierte und sporadische Gewaltaktionen und vergleichbare Handlungen.353 Für die erforderliche Abgrenzung von Bedeutung ist jedoch, dass der Internationale Gerichtshof auf den Konflikt zwischen den „Contras“ und der Regierung von Nikaragua den Begriff des „bewaffneten innerstaatlichen Konfliktes“ im Sinne 348 Pictet, The Geneva Conventions of 12 August 1949. Commentary. IV Geneva Convention, 1958, S. 36. Pictet, The Geneva Conventions of 12 August 1949. Commentary. IV Geneva Convention, 1958, S. 36. 350 Gasser, Armed Conflict within the Territory of a State, in: Im Dienst an der Gemeinschaft, Festschr. für D. Schindler zum 65. Geburtstag, Haller u.a. (Hrsg.), 1989, S. 225 (231). 351 Kalshoven, The Netherlands Yearbook of International Law 1977, 107 (113). 352 Bothe, Fiedenssicherung und Kriegsrecht, in: Völkerrecht, Graf Vitzthum, 1997, S. 581 (661). 353 Meron, The American Journal of International Law 1983, 589 (599); Meron, American Journal of International Law 1984, 559 (561). 349 156 von Art. 3 der Genfer Konventionen angewendet hat354). Die Contras hatten die Regierung von Nikaragua nicht mit fortdauernden militärischen Operationen, begangen von koordinierten Streitkräften unter zentralem Kommando angegriffen, sondern über einen längeren Zeitraum eine Vielzahl von vereinzelten militärischen und terroristischen Operationen unternommen, ohne dabei jemals effektive Herrschaft über eine bestimmte Region des Landes zu erzielen. Durch die im Rahmen von über einen längeren Zeitraum durchgeführte Vielzahl vereinzelter militärischer und terroristischer Operationen erachtete der Gerichtshof die für die Anwendung von Art. 3 der Genfer Konvention erforderliche „gewisse Intensität“ der Auseinandersetzungen wie selbstverständlich für gegeben, ohne dies auch nur zu begründen. Weder eine territoriale Herrschaft noch zentral ausgeführte militärische Kommandos noch eine systematische, bestimmten Gruppierungen zugeordnete Aktionen sind hiernach für die Feststellung einer „bewaffneten innerstaatlichen Konfliktes“ maßgebend. Vielmehr erachtete der Internationale Gerichtshof für seine Entscheidung für maßgebend, dass der gemeinsame Art. 3 der Genfer Konvention eine gewohnheitsrechtliche Regel darstellt, die als solche die unbeteiligte Zivilbevölkerung gegen bestimmte Formen von Menschenrechtsverletzungen schützt und unter allen Umständen die Konfliktbeteiligten dazu anhält, den Schutz der Zivilbevölkerung sicherzustellen.355 Die in Art. 3 zum Schutze von Nichtkombattanten enthaltenen Verpflichtungen haben einen nicht aufhebbaren humanitären und bindenden gewohnheitsrechtlichen Charakter.356 bb) Begriff der „willkürlichen Gewalt“ Nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG muss nach der Feststellung eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes festgestellt werden, ob es in dessen Rahmen zu „willkürlicher Gewalt“ kommt. Die Wahrscheinlichkeit willkürlicher Gewalt ist im innerstaatlichen Konflikt höher als im internationalen Konflikt, da sich die Konfliktbeteiligten nach den Erfahrungen der Vergangenheit in internationalen Konflikten eher an die humanitären Regeln des Völkerrechts halten wie im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. Das humanitäre Recht findet dagegen in innerstaatlichen Konflikten kaum Beachtung. Das hat insbesondere seinen Grund darin, dass die herkömmlichen Adressaten des Völkerrechts, die Staaten, in diesen Kriegen eher unbedeutend sind. Die regulären Armeen der Regierung sind zumeist nichts anderes als marodierende Banden. Die halb staatlichen, halb privaten Akteure werden von den Sanktionsdrohungen des Völkerrechts nicht wirksam erfasst. Darüber hinaus fehlt es auch an wirksamen Durchsetzungsmechanismen gegen diese marodierenden Gruppierungen. Mit den Mitteln des humanitären Rechts kann der entgrenzten Gewalt in diesen Konflikten kaum noch wirksam begegnet werden. Ursprünglich ging man beim internen Konflikt davon aus, dass dem territorialen Nationalstaat vergleichbare Akteure, nämlich Konfliktbeteiligte, die zu kollektiv ausgeübter organisierter Gewalt fähig sind, identifiziert werden könnten. Löst sich diese Symmetrie jedoch auf, weil die zentralstaatlichen Instanzen erodieren und oppositionelle Gruppierungen zwar zur Gewaltanwendung, nicht indes zu organisierter, in der Lage sind, lösen sich auch die schützende Kategorien des Rechts im nationalstaatlichen Rahmen auf. Strategie im klassischen militärischen Sinne verschwindet. An ihre Stelle treten die typischen Formen des „low intensity conflicts“, das sind militärische Geplänkel, Bombenanschläge, terroristische 354 International Court of Justice, Entscheidung vom 27. Juni 1986, Reports of Judgments 1986, 14 (114) Nicaragua v. U.S. 355 International Court of Justice, Reports of Judgments 1986, 14 (114) - Nicaragua v. U.S. 356 Meron, Human Rights and Humanitarian Norms as Customary Law, 1989, S. 35. 157 Anschläge und Massaker. Jede Grausamkeit ist erlaubt, ja geradezu erforderlich, um den Mythos eines mit Blut besiegelten Existenz- und Gründungskampfes zu begründen. Der Schrecken, den sie verbreitet, ist erwünscht, als „heiliger Schrecken“ unter den eigenen Leuten, als Terror bei den anderen.357 Auch die Grenze zwischen Kriegführung und terroristischen Aktivitäten löst sich auf. Überall ist Krieg. Da bei diesen in immer kürzeren Abständen auftretenden nationalstaatlichen Auflösungsprozessen oft nicht klar ist, wer gegen wen und warum kämpft, können diese Aktivitäten auch nicht irgendeiner klassischen Kategorie von Krieg untergeordnet werden.358 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Begriff „low intensity war“ zutreffend die mit diesem verbundenen „willkürlichen Gewaltmuster“ erfasst. Tendenziell bricht der bewaffnete innerstaatliche Konflikt in unterentwickelten Staaten aus, geführt durch eine begrifflich entgrenzte Gemengelage von Kriegsakteuren. Kriegziele sind von kriminellen und terroristischen ununterscheidbar; Gewalt ist totalisierend, aber nicht Ausdruck regulärer Schlachten, sondern in Form potenziell jederzeit und überall gegen die Zivilbevölkerung gerichteter ausbrechender Menschenrechtsverbrechen. Die hergebrachten Strukturen des schützenden Rechts sind aufgelöst. Willkürliche Gewaltmuster prägen das tägliche Leben. Im Begriff „low intensity war“ manifestiert sich die gesamte, durch den Begriff „Bürgerkrieg“ nicht ansatzweise erfasste Komplexität der „neuen Kriege“. cc)……Begriff der „ernsthaften individuellen Bedrohung“ Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG verlangt eine ernsthafte und darüber hinaus auch individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit. Aus dem Gesamtzusammenhang von Art. 15 RL 2004/83/EG folgt, dass die ernsthafte Bedrohung infolge „willkürlicher Gewalt“ bestehen muss. Zusätzliche beweisrechtliche Anforderungen werden nicht gefordert. Vielmehr geht es hierbei um Gefährdungen, die nach ihrem Charakter, ihrer Intensität und dem Grad der Gefährdung weit unterhalb der Schwelle verbleiben, deren Überschreitung bereits den Schutzstatus nach Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG auslöst.359 Für die Anwendung von Art. 3 EMRK, der inhaltlich dem Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG zugrunde liegt,360 muss ein „konkretes Risiko“, also ein ernsthaftes Risiko einer derartigen Behandlung dargelegt werden.361 Würde man für die individuelle Bedrohung nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004(83/EG denselben Ansatz wie für Art. 15 Buchst. b) RL 204/83/EG zugrunde legen, also eine zeitlich und örtlich jederzeit für den Einzelnen bestehende Bedrohung fordern, würde das Wesen der „willkürlichen Gewalt“ verkannt und hätte es einer eigenständigen Regelung der individuellen Bedrohung in Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG nicht bedurft. Denn ernsthafte individuelle Bedrohungen im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes sind, sofern sie die materielle und prognoserechtliche Schwelle der unmenschlichen Behandlung überschreiten, stets erheblich nach Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG. Der Grad der Wahrscheinlichkeit sowie auch die Anforderungen an die auf eine Einzelperson abzielende Bedrohung nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG liegen demnach erheblich unterhalb der materiellen und prognoserechtlichen Schwelle der unmenschlichen Behandlung nach Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG. Wie sich aus den infolge einer Situation 357 358 359 360 361 Preuß, Krieg, Verbrechen, Blasphemie, 2002, S. 45. Habsbawm, Das Zeitalter der Extreme, 1995, S. 690. In diesem Sinne schon Treiber zu § 53 Abs. 6 AuslG 1990, in: GK – AuslR II - § 53 AuslG Rdn. 233. Entwurf der Kommission KOM(2001)510endg., Ratsdokument 13620/01, in: BR-Drs. 1017/01, S. 29. EGMR, NVwZ 1992, 869 (870), § 111, § 115 – Vilvarajah. 158 „willkürlicher Gewalt“ vorherrschenden Gewaltmustern im Rahmen bewaffneter interner Konflikte ergibt, sind die Auswirkungen derartiger Gewalt für den Einzelnen nicht vorhersehbar. Daher sind die Ermittlungen vorrangig auf die allgemeinen Umstände im Herkunftsland zu richten. Wird ein bewaffneter innerstaatlicher Konflikt festgestellt, wird dieser zumeist durch Muster willkürlicher Gewalt geprägt sein, sodass für den Einzelnen eine Bedrohung seiner Rechtsgüter Leben oder Unversehrtheit beachtlich wahrscheinlich ist. Spezifische persönliche Umstände können das Gefährdungsrisiko erhöhen, dürfen jedoch für die Prognose einer individuellen Bedrohung nicht gefordert werden. Schutzbedürftig im Sinne von Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG sind generell Personen, die wegen einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens, ihrer Freiheit oder ihrer persönlichen Sicherheit im Herkunftsland internationalen Schutz benötigten, sich dabei aber auf keinen anerkannten Konventionsgrund nach der GFK (vgl. auch Art. 10 RL 2004/83/EG) berufen können. Das Schutzbedürfnis dieser Personen hat regelmäßig seine Ursache in einem bewaffneten Konflikt oder in schwerwiegenden Störungen der öffentlichen Ordnung. Insbesondere sind damit Personen erfasst, die vor den wahllosen Folgen von Gewalt und den damit einhergehenden Ausschreitungen im Rahmen einer Konfliktsituation ohne definierbares Verfolgungselement fliehen362 oder deshalb nicht dorthin zurückkehren können. In Übereinstimmung hiermit hat der Ministerrat des Europarates in der Empfehlung (2001)18 Personen für schutzbedürftig angesehen, die wegen einer Bedrohung ihres Lebens, ihrer Sicherheit oder Freiheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes in ihrem Herkunftsland zu fliehen gezwungen waren. Aus den vorstehenden Erläuterungen folgt, dass das in Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG entwickelte Konzept mit den in Art. 1 Abs. 2 der OAU-Flüchtlingskonvention sowie in der Deklaration von Cartagena vorgesehenen Schutzformen vergleichbar ist.363 Der Antragsteller muss danach nicht „für seine Person“ darlegen, dass ihm wegen des in seiner Herkunftsregion herrschenden internen bewaffneten Konfliktes infolge willkürlicher Gewalt Bedrohungen des Lebens oder der Unversehrtheit drohen. Vielmehr unterstellt die Richtlinie, dass unter diesen tatsächlichen Voraussetzungen eine ernsthafte individuelle Bedrohung in der Herkunftsregion des Antragstellers besteht. Art. 15 Buchst. b) RL 2004/83/EG erfordert nämlich nicht die Feststellung einer den Antragsteller persönlich betreffenden Gefahr, sondern – losgelöst von den persönlichen Verhältnissen des Antragstellers – die Feststellung „willkürlicher Gewalt“. Die afrikanischen wie auch die lateinamerikanische Modelle haben ihren Grund in der als unzureichend empfundenen Verfolgungskonzeption von Art. 1 A Abs. 2 GFK, die eine für den Einzelnen bestehende Verfolgungsfurcht beruhend auf einen der dort genannten fünf Gründe voraussetzt. Damit erlaubt diese Konzeption auch in Ansehung von Verfolgungen, die sich gegen größere Personengruppen richten, gleichwohl nur eine Lösung auf der Basis eines individuellen Verfolgungsansatzes. Üblicherweise muss danach der Antragsteller darlegen, dass er für seine Person Verfolgung befürchtet. Dieser Voraussetzung liegt die Vorstellung zugrunde, dass der gegen den Einzelnen gerichteten Verfolgung eine zweckgerichtete Diskriminierung im Sinne der fünf Verfolgungsgründe von Art. 1 A Nr. 2 GFK, Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG zugrunde liegt.364 Die Kritik richtet sich gegen das Beweiserfordernis, das dem Einzelnen auferlegt, darzulegen, dass er aus der allgemeinen, eine Gruppe von Personen geltenden Bedrohung individuell herausgehoben werden wird („singled out“ for persecution). In der deutschen Rechtsprechung ist dieses Problem unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der 362 UNHCR, Komplementäre Schutzformen, April 2001, Rdn. 11^. Mandal, Complementary Protection 2004, S. 19. 364 Hathaway, The Law of Refugee Status, 1991, S. 91 ff.; Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, 2. Aufl. 1996, S. 77. 363 159 „gruppengerichteten Verfolgung“ bekannt. Diese Grenzziehung wird anhand der Frage vollzogen, ob der Einzelne allein oder zusammen mit anderen Opfer von Diskriminierungen werden wird oder ob Verletzungshandlungen eher zufällig erfolgen.365 Bei internen bewaffneten Konflikten und vergleichbaren Situationen werden viele Personen nicht deshalb Opfer von gewaltsamen Handlungen, weil sie durch die Aggressoren als Feinde identifiziert werden, sondern weil sie eher zufällig in den durch generelle Gewalt und bewaffnete Auseinandersetzungen geprägten Kontext geraten. In derartigen Situationen werden diese Personen nicht zielgerichtet zum Zwecke der Verfolgung identifiziert. Gleichwohl ist ihr Leben aufgrund der allgemeinen Bedrohung in Gefahr.366 Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG, Art. 1 Abs. 2 OAU-Konvention und die CartagenaErklärung lösen den Zusammenhang zwischen der auf Verfolgungsgründen beruhenden Diskriminierung des Einzelnen auf und beseitigen darüber hinaus auch das Erfordernis der Verfolgung. Weil es auf den Aspekt der gezielten Diskriminierung anhand der in Art. 1 Abs. 2 GFK und Art. 10 Abs. 1 RL 2004/83/EG bezeichneten Diskriminierungsverbote nicht ankommt, entfällt auch die Heraushebung des Einzelnen aus der allgemeinen Bedrohung sowie das Erfordernis der Feststellung einer konkreten Verfolgungsgefahr. Vielmehr tritt an die Stelle der gezielten, auf Verfolgungsgründen beruhenden Diskriminierung die Feststellung einer generellen Gefahr (general violence, disturbance of public order, armed conflict). Liegt diese vor, bedarf es nicht des Nachweises, dass der Einzelne im Rahmen dieser Gefahr mit auf bestimmten Diskriminierungsgründen beruhenden Verfolgungen rechnen muss. Ausgangspunkt der Prüfung ist damit die nach objektiven Kriterien festzustellende und eine unbestimmte Vielzahl von Personen betreffende Situation genereller Gewalt, in den Worten der Richtlinie „willkürlicher Gewalt“. Während das afrikanische und lateinamerikanische Modell insoweit eine weite Bandbreite von Gründen bezeichnen, schränkt die gemeinschaftsrechtliche Konzeption den Bezugsrahmen für die Beachtlichkeit willkürlicher Gewalt auf internationale oder interne bewaffnete Konflikte ein. Außerdem löst die EU das dadurch hervorgerufene Flüchtlingsproblem anders als Afrika und Lateinamerika nicht über den Flüchtlingsbegriff, sondern über den subsidiären Schutzstatus. Ebenso wie in Afrika und in Lateinamerika erfordert Art. 15 Buchst. c) RL 2004/84/EG indes nicht die Feststellung eines individuell identifizierbaren „ernsthaften Schadens“ im konkreten Einzelfall. Als ernsthafter Schaden gilt vielmehr bereits die „Bedrohung“ infolge „willkürlicher Gewalt“. Während in den vorhergehenden Fallgruppen der Begriff „ernsthafter Schaden“ materiell durch den Verweis auf die „Todesstrafe“ und „Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ definiert wird, verknüpft Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG ein materielles Prüfungskriterium „ernsthaft“ mit dem Prognosekriterium „Bedrohung“. Dass auf eine präzise Beschreibung der Konturen des „ernsthaften Schadens“ im Rahmen eines Bürgerkrieges verzichtet, also nicht etwa wie in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG die Darlegung einer „erheblichen konkreten Gefahr“ gefordert wird, weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten keine präzise und auf den Einzelnen gerichtete „Gefahr für sein Leben oder seine Unversehrtheit“, sondern feststellen müssen, ob aus dem internen Konflikt ernsthafte Gefahren für Leib und Leben von Zivilpersonen hervorgehen können. Ist dies der Fall, wird durch den Begriff „willkürliche Gewalt“ die Prognoseprüfung erheblich gelockert Daraus ist zu schließen, dass nicht die Feststellung eines dem Antragsteller konkret drohenden individuellen ernsthaften Schadens verlangt werden darf, sondern lediglich eine „Bedrohung“ 365 366 Kälin, in: International Journal of Refugee Law 1991, 435 (438). Kälin, in: International Journal of Refugee Law 1991, 435 (438). 160 festzustellen ist, die ihren Grund in „willkürlicher Gewalt“ im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts hat. Sie erfordern also zunächst die Prüfung, ob aufgrund des festgestellten internen bewaffneten Konfliktes „ernsthafte individuelle“ Verletzungen dieser Rechtsgüter in der von Auseinandersetzungen betroffenen Region festzustellen sind oder ob die zivile Bevölkerung von den bewaffneten Auseinandersetzungen weitgehend verschont bleibt und deshalb ernsthafte individuelle Bedrohungen des Lebens und der Unversehrtheit von zivilen Personen eher eine Randerscheinung des Konfliktes sind, wobei Muster „wahlloser“, also „willkürlicher“ Gewalthandlungen nicht mehr als Randerscheinungen verstanden werden können, sondern in die für die Feststellung einer Bedrohung erforderliche Prognoseprüfung einzustellen sind. Wie das afrikanische und lateinamerikanische Modell verzichtet auch die europäische Konzeption auf eine Prognoseprüfung anhand individualisierbarer konkreter Gefährdungsmomente. Darauf weist auch die Begründung des Kommissionsentwurfs hin. Hiernach muss der Antragsteller zwar nachweisen, dass er begründete Furcht um sein Leben oder seine Unversehrtheit hat. Die hierfür maßgebenden Umstände und Tatsachen müssen jedoch nicht personenspezifisch sein. Vielmehr muss der Antragsteller nur darlegen, dass seine Furcht in seinem ganz bestimmten Fall begründet ist.367 Damit wird wie bei den anderen regionalen Konzeptionen dem Erfordernis der begründeten individuellen Furcht durch den Hinweis genügt, dass diese ihren Grund in den eher zufälligen, aber gleichwohl gefährlichen, wenn auch ziellosen Auswirkungen intensiver Kämpfe und damit zusammenhängender Schutzlosigkeit hat.368 UNHCR weist in diesem Zusammenhang folgerichtig darauf hin, dass mit dem Erfordernis der „individuellen Bedrohung“ in Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG keine zusätzliche Hürde errichtet und keine Verschärfung der Beweislast eingeführt werden sollte. Situationen allgemeiner Gewalt seien gerade durch die „fehlende Zielgerichtetheit“ und die Unvorhersehbarkeit der Risiken gekennzeichnet, denen die Zivilbevölkerung ausgesetzt sei. Die Risiken müssten aber unmittelbar drohen und dürften nicht eine entfernt liegende Möglichkeit darstellen.369 Der im deutschen Text der Richtlinie gewählte Begriff der „willkürlichen Gewalt“ entspricht nicht dem englischen Text. Dort wird der Begriff „indiscriminate violence“ verwendet. Während der deutsche Begriff „willkürlich“ („arbitrary“) auf den Verursacher und dessen subjektive Vorstellungen Bezug nimmt, kommt es für den dem humanitärem Völkerrecht entnommenen Begriff „indiscriminate“ („unterschiedslos“, „wahllos“) auf den Charakter der Gewalt als solche an. Dem humanitären Völkerrecht ist das Gebot immanent, beim Einsatz von Waffen zwischen militärischen Objekten und der unbeteiligten Zivilbevölkerung zu trennen. Waffen, die diese Leistung nicht erbringen können, oder militärische oder terroristische Operationen, die „unterschiedslos“ oder „wahllos“ sämtliche in deren Radius befindliche Personen treffen können, verletzen das Völkerrecht. Es kommt damit nicht auf die subjektive Vorstellung, also darauf, ob die Maßnahmen „willkürlich“ angewendet werden, vielmehr darauf an, ob der militärische Kampf oder terroristische Einsatz ohne Rücksicht auf die unbeteiligte Zivilbevölkerung durchgeführt wird. dd) Begriff der Zivilperson Nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG muss die ernsthafte individuelle Bedrohung auf eine Zivilperson gerichtet sein. Ebenso bestimmt § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, dass der Antragsteller „Angehöriger der Zivilbevölkerung“ sein muss. Im internationalen Konflikt 367 368 369 Kommissionsentwurf v. 12. Sept. 2001, in: BR-Drs.1017/01. S. 29. Arboleda, in: International Journal of Refugee Law 1991, 185 (195). UNHCR, Kommentar zur Richtlinie 2004/83/EG, Mai 2005, S. 32. 161 kann die Unterscheidung zwischen der Zivilbevölkerung und den kämpfenden Streitkräften vergleichsweise relativ leicht gezogen werden. Der Gegenbegriff zur „Zivilperson“ ist der „Kombattant“ (vgl. Art. 3 Haager Landkriegsordnung von 1907). Der Begriff Kombattant kommt in zwei Bedeutungen vor: Einerseits wird die Unterscheidung für zwei Gruppen innerhalb der Streitkräfte verwendet, so z. B. für diejenigen Angehörigen der Streitkräfte, die zum Kampf bestimmt sind, sowie Personen, die zwar zur Armee gehören und Uniform tragen, aber nicht zum Kampf bestimmt sind, etwa Verwaltungsbeamte, Militärärzte, Sanitäter und Militärgeistliche. Letztere können, mit Ausnahme des Sanitätspersonals und der Militärgeistlichen, am Kampf teilnehmen. In diesem Fall dürfen auch Kampfhandlungen gegen sie vorgenommen werden.370 Dem Erfordernis, dass eine „Zivilperson“ in ihren Rechtsgütern ernsthaft bedroht sein muss, kann daher nur eingeschränkte Bedeutung zukommen. Darüber hinaus ist im Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. a) der Richtlinie) jeder Antragsteller eine „Zivilperson“. Die Unterscheidung in Kombattant und Nichtkombattant hat ohnehin vorrangige Bedeutung für das anwendbare Recht nach der Gefangennahme im Kriegsgebiet. Außerhalb des Kriegsgebietes und damit außerhalb der Hoheitsgewalt des Kriegsgegners, d.h. auch im Feststellungsverfahren der Mitgliedstaaten verliert diese Unterscheidung jegliche rechtliche Bedeutung. Denn hier ist nicht Kriegsrecht, sondern Friedensrecht anzuwenden. Allenfalls für die Prognoseprüfung kann es von Bedeutung sein, ob eine früher erlebte ernsthafte individuelle Bedrohung im Kriegsgebiet in die Prüfung einzustellen ist. Hat der Antragsteller diese Bedrohung erlebt, als er den Status eines Kombattanten besaß, ist sie bei der Prognoseprüfung nicht zu berücksichtigen. Maßgebend ist jedoch die in die absehbare Zukunft gerichtete Gefahrenprognose und damit die Frage, ob der Antragsteller im Falle der Rückkehr als Zivilperson ernsthafte Rechtsgütergefährdung befürchten muss. Dass er früher den Status eines Kombattanten hatte, schließt nicht zwingend aus, dass er im Falle der Rückkehr als Zivilperson individuelle Bedrohungen seiner Rechtsgüter erfahren muss. Hat er allerdings vor der Ausreise im Kriegsgebiet als Kombattant oder Nichtkombattant etwa an Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder die Menschlichkeit teilgenommen oder eine schwere Straftat begangen, entfällt der subsidiäre Schutz unabhängig davon, ob eine individuelle Bedrohung festgestellt worden ist (vgl. Art. 17 Abs. 1 Buchst. a) und b) der Richtlinie). In diesem Fall kann aber Refoulementschutz nach Art. 3 EMRK geboten sein (vgl. Art. 21 der Richtlinie). c) Verbot der Anwendung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG aa) Allgemeines Zwar bezieht der Gesetzgeber die verfahrensrechtliche Sperrwirkung in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG auch auf § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und damit auf die Umsetzungsnorm von Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG. Danach ist die Sperrwirkung nicht anwendbar, „solange eine Entscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG noch nicht getroffen ist“ (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht problematisch an diesem Ansatz ist einerseits, dass er Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG – also nach Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG – dann der verfahrensrechtlichen Sperrwirkung unterwerfen will, wenn eine Entscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG getroffen ist, und andererseits, dass er nach seinem Wortlaut auch Anwendung finden kann, wenn in der Innenministerkonferenz zwar eine Entscheidung, aber auch eine gegen eine generelle Anordnung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG getroffen wird. 370 Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Band. Kriegsrecht, 2. Auflage, 1969, S. 140 f. 162 bb) Bedeutung des Erwägungsgrundes Nr. 26 RL 2004/83/EG Zwar stellen nach Erwägungsgrund Nr. 26 RL 2004/83/EG „Gefahren“, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt ist, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar. Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG verknüpft jedoch das Erfordernis der „individuellen Bedrohung“ mit dem Moment „willkürlicher Gewalt“. Nicht „generelle Gewalt“ als solche, sondern die „unvorhersehbaren wahllosen Folgen willkürlicher Gewalt“ vermitteln deshalb den subsidiären Schutzstatus. Art. 15 Buchst. c) einerseits sowie Erwägungsgrund Nr. 26 RL 2004/83/EG andererseits können bereits aufgrund ihrer Begrifflichkeit wie auch ihrer Zweckrichtung nicht aufeinander bezogen werden. Erwägungsgrund Nr. 26 ist auf Gefahren gemünzt, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind. Der verwendete Begriff der Gefahr bezieht sich jedoch auf eine Situation, die nicht in das Stadium eines durch „willkürliche Gewalt“ geprägten „internen bewaffneten Konfliktes“ gelangt ist. Anschaulicher als der deutsche verdeutlicht dies der englische Text. Danach begründen Risiken, welche die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe im Allgemeinen ausgesetzt ist, „normally“ keine individuelle Bedrohung. Erwägungsgrund Nr. 26 kann danach dahin verstanden werden, dass in Situation, die nicht die Gefahrenschwelle von Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG erreicht haben, generelle Gefahren, die jedermann treffen können, nicht berücksichtigt werden. Auf die besondere Situation des bewaffneten Konfliktes ist danach Erwägungsgrund Nr. 26 RL 2004/83/EG nicht gemünzt. Bestätigt wird diese Auslegung durch die Verwendung des Begriffs „indiscriminate violence“ in Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG. Wird Gewalt ausgeübt, die nach ihrem Charakter, ihrer Struktur wie auch ihren unterschiedslosen Auswirkungen „wahllos“ („indiscriminate“) jeden in einem bestimmten Gebiet treffen kann, handelt es sich nicht mehr um Risiken, die das gesellschaftliche Zusammenleben normalerweise („normally“) mit sich bringt. Ist danach die Situation im Herkunftsland von willkürlichen Gewaltmustern geprägt, herrscht keine in Erwägungsgrund Nr. 26 RL 2004/83/EG vorausgesetzte Situation lediglich „allgemeiner“, sondern „willkürlicher“ Gewalt im Sinne von Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG vor. Nur wenn allgemeine Gefahren nicht Ausdruck „innerstaatlicher bewaffneter Konfliktes“ sind, stellen sie „für sich genommen“ (Erwägungsgrund Nr. 26 RL 2004/83/EG) keinen ernsthaften Schaden dar. Darüber hinaus spricht auch der Gesamtzusammenhang der Richtlinie 2004/83/EG gegen die Anwendung der Sperrwirkung. Zunächst ist nämlich – bezogen auf die Herkunftsregion des Antragstellers - zu prüfen, ob dort für diesen eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit besteht. Wird diese Frage bejaht, ist anschließend zu prüfen, ob dem Antragsteller in anderen Teilen des Herkunftslandes interner Schutz gewährt werden wird (vgl. Art. 8 RL 2004/83/EG). Demgegenüber prüft die deutsche Rechtsprechung bei der Anwendung der Sperrwirkung im Rahmen des verfassungsunmittelbaren Prüfungsdurchgriffs lediglich, ob in irgendeinem Landesteil die Voraussetzungen der extremen Gefahr nicht gegeben sind, ohne zuvor bezogen auf die Herkunftsregion einen „ernsthaften Schaden“ zu ermitteln. Diese Vorgehensweise ist mit der Richtlinie 2004/83/EG nicht vereinbar, weil zunächst die in der Herkunftsregion bestehende Situation zu prüfen ist. Denn nach Art. 18 RL 2004/83/EG erkennen die Mitgliedstaaten den subsidiären Schutzstatus zu, wenn der Antragsteller die Voraussetzungen von Kap. II und Kap. V der Richtlinie 2004/83/EG erfüllt. Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG ist eine Regelung im Rahmen von Kapitel V. Deshalb müssen zunächst die 163 entsprechenden tatbestandlichen Voraussetzungen geprüft werden. Anschließend ist dem Einwand der internen Schutzes nachzugehen, da Art. 8 RL 2004/83/EG eine Norm im Kapitel II der Richtlinie darstellt. Da die deutsche Rechtsprechung bei der Anwendung der Sperrwirkung die Situation in der Herkunftsregion unberücksichtigt lässt, deren Berücksichtigung aber nach Art. 18 RL 2004/83/EG unerlässlich ist, verletzt die Sperrwirkung in § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG, soweit sie auch auf § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bezogen ist, Art. 18 RL 2004/83/EG Eine Richtlinie darf nicht nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts eines Mitgliedstaates, sondern muss nach gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen ausgelegt werden. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann eine Begründungserwägung einer Verordnung zwar dazu beitragen, Aufschluss über die Auslegung einer Rechtsvorschrift zu geben. Sie kann jedoch selbst nicht eine solche Rechtsvorschrift darstellen.371 Dementsprechend ist es nach Nr. 10 des „Gemeinsamen Leitfadens des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission“372 Zweck der Erwägungsgründe, die wichtigsten Bestimmungen des verfügenden Teils in knapper Form zu begründen, ohne deren Wortlaut wiederzugeben oder zu paraphrasieren. Sie dürfen aber keine Bestimmungen mit normativem Gehalt und auch keine politischen Willensbekundungen enthalten. Die Erwägungsgründe sind jener Teil des Rechtsaktes, der die Begründung enthält und zwischen den Bezugsvermerken und dem verfügenden Teil des Rechtsaktes steht. Sie werden im Gegensatz zum verfügenden Teil „so formuliert, dass ihe Unverbindlichkeit deutlich wird“ (Nr. 10.1 des Gemeinsamen Leitfadens). Eine Vielzahl von rechtlichen Gründen lässt danach ein Verständnis, das unter Berufung auf Erwägungsgrund Nr. 26 RL 2004/83/EG den individuellen Zugang zum Schutzsystem des Art. 18 RL 2004/83/EG sperrt, nicht zu. Ein derartiges Verständnis würde die lediglich auf die Auslegung von Bestimmungen der Richtlinie zielende unverbindliche Funktion des Erwägungsgrundes Nr. 26 RL 2004/83/EG überdehnen. Denn es wiese diesem die Funktion zu, ausgerichtet am Vorbild der Rechtsprechung des BVerwG den Zugang zum subsidiären Schutzsystem, der im verfügenden Teil der Richtlinie geregelt wird, in mechanistischer und starrer Weise zu sperren. Die Bezugnahme der Sperrwirkung in § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG auf § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und damit auf Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG verletzt damit den gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrang. 5. Nationaler subsidiärer Schutz (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) a) Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verb. mit Art. 3 EMRK Nach Auffassung des BVerwG hat der Gesetzgeber mit der deklaratorischen Verweisung auf die EMRK in § 53 Abs. 4 AuslG 1990, jetzt § 60 Abs. 5 AufenthG, bewusst die Beachtung unmittelbar aus der EMRK selbst folgender Abschiebungsverbote anerkannt und angeordnet. Gleichzeitig habe er die von § 53 Abs. 4 AuslG 1990 erfassten zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote aus der EMRK als zwingende rechtliche Abschiebungshindernisse ausgestaltet, die bereits dem Erlass einer Abschiebungsandrohung in einen entsprechenden Zielstaat entgegenstünden. Schutz vor der Abschiebung komme danach nicht schon dann in Betracht, wenn der hohe Menschenrechtsstandard, zu dessen Einhaltung sich die Vertragsstaaten der EMRK verpflichtet hätten, im Zielstaat der Abschiebung nicht oder nicht in vollem Umfang gewährleistet erscheine.373 371 372 373 EuGH, U. v. 13. 7. 1989, Rs. 215/88, § 31 – Casa Fleichhandel. http://eur-lex.europa.eu/de/technleg/10.htm BVerwGE 111, 223 (229 f.) = NVwZ 2000, 1302 (1303). 164 Der EGMR habe seine Rechtsprechung zu Refoulementverboten bisher nur auf Art. 3 EMRK gestützt und nicht entschieden, ob sich auch aus anderen Konventionsnormen als Art. 3 EMRK ein Verbot der Abschiebung wegen der Verhältnisse im Zielstaat ergeben könne. Diese Frage sei dahin zu entscheiden, dass eine Abschiebung eines Ausländers nicht nur unzulässig sei, wenn ihm im Zielstaat unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe. Ein Abschiebungsverbot komme vielmehr auch dann in Betracht, wenn im Einzelfall andere in der EMRK verbürgte, von allen Vertragsstaaten als grundlegend anerkannte Menschenrechtsgarantien in ihrem Kern bedroht seien.374 Verletzungen von Art. 3 EMRK sind danach zunächst im Rahmen von Art. 15 Buchst. b) der Richtlinie, § 60 Abs. 2 AufenthG zu prüfen. Insoweit wird ein über die Richtlinie hinausgehender nationaler subsidiärer Schutz nicht relevant. Wird eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung behauptet, ist der subsidiäre Schutz stets nach Maßgabe von § 60 Abs. 2 AufenthG zu prüfen. Über Art. 3 EMRK hinausgehende Refoulementverbote sind im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG zu prüfen. Die deutsche Rechtsprechung hat insoweit aus Art. 6 und 9 EMRK ein Refoulementverbot hergeleitet. Das Gemeinschaftsrecht enthält hierzu jedoch keine bindenden Vorgaben. Vielmehr findet insoweit ein spezifischer nationaler subsidiärer Schutz Anwendung, dessen Konkretisierung allerdings eine Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR erfordert. Das BVerwG schränkt den Anwendungsbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG außerhalb des Refoulementschutzes nach Art. 3 EMRK allerdings grundsätzlich auf die Abschiebung in Staaten ein, die nicht Vertragsstaaten der EMRK sind.375 Es begründet diese Einschränkung damit, die bisher ergangenen Entscheidungen des EGMR zum Refoulementschutz aus Art. 3 EMRK hätten, soweit ersichtlich, nur Abschiebungen in Nicht-Vertragsstaaten betroffen. Deshalb seien die Grundsätze zum Refoulementschutz aus der EMRK „nur eingeschränkt auf die Abschiebung in einen Vertragsstaat anwendbar.“ Denn hier stehe die eigene Verantwortung des Abschiebezielstaates als Vertragsstaat für die Einhaltung der Konventionsrechte im Vordergrund. Ein Mitverantwortung des abschiebenden Staates, den menschenrechtlichen Mindeststandard im Zielstaat der Abschiebung zu wahren, bestehe nur dann, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohten und effektiver Rechtsschutz – auch durch den EGMR – nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen sei.“376 b) Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verb. mit Art. 9 EMRK (Verletzung der Religionsfreiheit) Nach Auffassung des BVerwG ist bei drohenden Eingriffen in die Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK eine Abschiebung „nur in krassen Fällen“ unzulässig, wenn nämlich „die drohenden Beeinträchtigungen von ihrer Schwere her dem vergleichbar sind, was nach der bisherigen Rechtsprechung wegen menschenunwürdiger Behandlung zu einem Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK geführt“ habe. 377 Werde etwa Apostaten eine Teilnahme an Gottesdiensten abseits der Öffentlichkeit nicht oder nicht ohne Gefahr für Leib, Leben oder persönliche Freiheit ermöglicht, sei weiter zu prüfen, ob der Betroffene durch diese Beschränkung der Religionsausübung persönlich betroffen sei. Dazu sei zu prüfen, ob diese Form der Glaubensausübung im Bereich des „forum internum“, 374 BVerwGE 111, 223 (229 f.) = NVwZ 2000, 1302 (1303); so bereits BVerwG, U. v. 11.11.1997 – BVerwG 9 C 13.96; BVerwG, U. v. 11. 11. 1997 – BVerwG 9 C 54.96. 375 BVerwGE 111, 223 (…) = NVwZ 2000, 1302 (1303). 376 BVerwGE 122, 271 (277) = EZAR 51 Nr. 2. 377 BVerwGE 111, 223 (…) = NVwZ 2000, 1302 (1303). 165 nämlich die Teilnahme an Gottesdiensten gemeinsam mit anderen Christen, insbesondere anderen Apostaten, abseits der Öffentlichkeit nach dem Selbstverständnis der betroffenen Religionsgemeinschaft unter den besonderen Bedingungen der Diaspora in einem Land mit fundamentalistischer Staatsreligion zum schlechthin unverzichtbaren Bestandteil des religiösen Lebens gehöre. Dabei sei auch zu bedenken, dass staatliche Beschränkungen und Verbote in die Öffentlichkeit hineinwirkender Formen religiöser Betätigung, wie etwa die Missionierung oder des Tragens religiöser Symbole in der Öffentlichkeit,378 unabhängig davon, ob sie nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft zum unverzichtbaren Inhalt der Religionsausübung gehörten, allein noch keine erhebliche Verfolgung darstellten.379 Darüber hinaus seien Feststellungen dazu gefordert, ob der Asylsuchende durch eine Beschränkung von derartigen Gottesdienstbesuchen auch selbst in seiner religiös-personalen Identität betroffen sei. Da das religiöse Existenzminimum – sofern nicht die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft als solche unter Strafe gestellt werde – für jeden Gläubigen je nach dem Grad seiner praktizierten religiösen Betätigung unterschiedlich zu bestimmen sei, komme es darauf an, ob die Gottesdienstbesuche abseits der Öffentlichkeit gerade für den Asylsuchenden selbst unverzichtbar seien. Hierfür könne neben den eigenen Angaben des Asylsuchenden über die von ihm bei einer Rückkehr beabsichtigte Ausübung seines Glaubens und der stets zu prüfenden Ernsthaftigkeit des während des Asylverfahrens im Bundesgebiet vollzogenen Glaubenswechsels u. a. auch dessen bisherige religiöse Betätigung und der Grad der Verbundenheit mit einer Kirchengemeinde oder anderen Gläubigen im Bundesgebiet ein Indiz sein.380 c) Refoulementschutz wegen Kriegsdienstverweigerung In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist umstritten, ob die EMRK ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung enthält. Einerseits wird vertreten, dass die Abschiebung in ein Land, das ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht kenne, nicht Art. 9 EMRK verletze.381 Demgegenüber geht die Gegenmeinung davon aus, dass eine Einberufung zum Wehrdienst verbunden mit der Gefahr, bei der Ableistung des Grundwehrdienstes unmenschlich behandelt zu werden, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG begründen könne. Dem Betroffenen sei es aber zuzumuten, nach Mitteln und Wegen zu suchen, der Einberufung nicht Folge zu leisten. Damit werde dem Betroffenen kein nach hiesigem Rechtsverständnis strafbares Verhalten angesonnen. Es erscheine vielmehr nicht unzumutbar, von dem Betroffenen zu erwarten, dass er sich wie ein Großteil der russischen Wehrpflichtigen verhalte, sich also gewissermaßen an den in seinem Herkunftsland gegebenen Verhältnissen und Gepflogenheiten ausrichte.382 Der EGMR hatte früher Beschwerden niederländischer Soldaten, die aus Gewissensgründen Befehlsverweigerung begangen hatten, im Blick auf Art. 5 EMRK nicht als Konventionsverletzung angesehen.383 Im Falle eines tschetschenischen Kriegsdienstverweigerers, der wegen seines Einsatzes in der tschetschenischen Armee im ersten Tschetschenienkrieg durch russische Behörden eine Art. 3 EMRK zuwiderlaufende 378 S. aber Art. 10 Abs. 1 Buchst. b) der Richtlinie, § 17 Rdn. 10 bis 12. BVerwGE 120, 16 ff. (24?) = InfAuslR 2004, 319 (322) = NVwZ 2004, 1000 = AuAS 2004, 125; unter Hinweis auf BVerwGE 74, 31 (40) = EZAR 202 Nr. 7 = NVwZ 1986, 569 = D 19. 380 BVerwGE 120, 16 ff. (24?) = InfAuslR 2004, 319 (322) = NVwZ 2004, 1000 = AuAS 2004, 125. 381 OVG Hamburg, NVwZ-RR 1999, 342 (343) = InfAuslR 1999, 105 = AuAS 1998, 275, mit zahlreichen Hinweisen. 382 BayVGH, B. v. 21. 6. 2001 – 11 B 97.34642; ähnlich für die GFK BayVGH, NVwZ-Beil. 1999, 3. 383 EGMR, HRLJ 1986, 321 ((331 ff.) (§ 42 ff.)) – de Jong et. al v. The Netherlands. 379 166 Behandlung befürchtete, hatte er hingegen die Beschwerde für zulässig erklärt. Dabei hatte die niederländische Regierung eingewendet, der Beschwerdeführer könne in anderen Landesteilen der Russischen Föderation Schutz erlangen. Demgegenüber hatte der Beschwerdeführer darauf hingewiesen, dass er durch den russischen Geheimdienst und damit landesweit verfolgt werde.384 Im Falle eines Geistlichen der Zeugen Jehovas, der sich für seine Dienstpflichtverweigerung auf die Militärdienstbefreiung zugunsten anderer anerkannter Religionsgemeinschaften berufen hatte und deshalb inhaftiert worden war, erkannte der Gerichtshof in der freiheitsentziehenden Maßnahme eine Diskriminierung der Glaubensgemeinschaft der „Zeugen Jehovas“. Die Inhaftierung wegen der Dienstverpflichtverletzung des Beschwerdeführers sei deshalb nach dem innerstaatlichen Recht nicht gerechtfertigt gewesen und damit willkürlich.385 In einem weiteren Fall eines Zeugen Jehovas, der sich bei einer generellen Mobilmachung geweigert hatte, eine Uniform zu tragen und allein deswegen zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war, stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 9 EMRK fest.386 Das BVerwG hat unter ausführlicher Auseinandersetzung mit der auslieferungsrechtlichen Rechtsprechung des BGH zwar Zweifel daran geäußert, ob der Schutz aus Art. 4 Abs. 3 GG so weit reiche, dass deutsche Stellen durch Überstellung eines Ausländers an sein Heimatland nicht daran wirken dürften, dass dieser gegen sein Gewissen zur Ableistung des Militärdienstes gezwungen werde. Eine Entscheidung dieser Frage könne indes auf sich beruhen. Jedenfalls wäre den Belangen des ausländischen Kriegsdienstverweigerers ausreichend Rechnung getragen, wenn man ihm gestattete , sein Anliegen einredeweise gegenüber aufenthaltsbeendenden Maßnahmen geltend zu machen. Keinesfalls gebiete es Art. 4 Abs. 3 GG, dem betroffenen Ausländer in solchen Fällen ein förmliches Anerkennungsverfahren nach Art. des im Kriegsdienstverweigerungsrechts geregelten Verfahrens zur Verfügung zu stellen.387 Danach steht ausländischen Kriegsdienstverweigerern aus Gewissengründen zwar kein Recht auf Durchführung eines auf Art. 4 Abs. 3 GG beruhenden förmlichen Anerkennungsverfahrens ihres Status als Kriegsdienstverweiger zu. Die Ausländerbehörde hat vor dem Vollzug aufenhaltsbeendender Maßnahmen jedoch eine geltend gemachte Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu beachten. Dabei ist keine Beschränkung auf ernsthafte Gewissenskonflikte, die sich auf völkerrechtswidrige Einsätze beziehen, zulässig. Vielmehr ist bei der Gewährung des Abschiebungsschutzes Art. 4 Abs. 3 GG im vollen Umfang zu berücksichtigen. Danach kommt es ausschließlich auf ein glaubhaft begründetes Vorbringen an, dass der Kriegsdienst aus Gewissengründen verweigert wird und im Abschiebezielstaat ungeachtet dessen die Einberufung zum Kriegs- und/oder Wehrdienst droht. d) Refoulementschutz wegen Verletzung des Rechtes auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) Der EGMR weist darauf hin, dass das Recht auf einen fairen Prozess im Strafverfahren, wie dies in Art. 6 EMRK ausgedrückt wird, einen herausragenden Platz in jeder demokratischen Gesellschaft einnehme. Deshalb schließe er nicht aus, dass ausnahmsweise eine Verletzung von Art. 6 EMRK durch eine Auslieferungsentscheidung in Fällen vorliegen könnte, in denen EGMR, Entscheidung v. 3. Juli 2001 - Application No. 58964/00 – K.K.C. v. the Netherlands. EGMR, Entscheidung v. 25. April 1997 - Application No. 54/1996/673/859-860 – Tsirlis and Kouloumpas v. Greece. 386 Entscheidung v. 6. April 2000 - Application No. 34369/87 – Thlimmenos. v. Greece. 387 BVerwG, InfAuslR 2005, 432, unter Hinweis auf BGHSt 27, 191 = NJW 1977, 1599. 384 385 167 der flüchtige Straftäter im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Prozess erfahren habe oder ihm eine solche drohe.388 Da nach Auffassung des Gerichtshofes die Fakten in Soering eine solche Gefahr nicht ersichtlich machten, verneinte er eine Verletzung von Art. 6 EMRK. Der Gerichtshof hat seine Auffassung wiederholt bekräftigt und festgestellt, er könne nicht ausschließen, dass ausnahmsweise Art. 6 EMRK dann einer Auslieferung entgegenstehen könne, wenn der flüchtige Straftäter eine krasse Verletzung des Rechts auf einen fairen Prozess erlitten hätte oder ihm eine solche Verletzung drohe.389 So drohe ohne Zweifel eine Verletzung des Rechts auf einen fairen Prozess, wenn der Angeklagte in Abwesenheit verurteilt worden und deshalb nicht in der Lage sei, sich vor dem Gericht zu verteidigen und Rechtsmittel gegen ein Urteil einzulegen. Die Auslieferung verletze deshalb Art. 6 EMRK, wenn vernünftige Gründe dagegen sprächen, dass nach der Auslieferung des Verfolgten das Verfahren neu eröffnet werde und er deshalb das in Abwesenheit erlassene Strafurteil verbüßen müsse. Der Beschwerdeführer müsse in derartigen Fällen aber den krassen Verfahrensverstoß belegen.390 Bezugnehmend auf diese Rechtsprechung erkennt auch die deutsche Rechtsprechung an, dass aus Art. 6 EMRK ein Abschiebungsverbot folgen kann. Dies komme aber nur in krassen Fällen in Betracht, wenn dem Betroffenen im Abschiebezielstaat hierdurch Beeinträchtigungen drohten, die einen äußersten menschenrechtlichen Mindeststandard unterschritten und in einen absolut geschützten Menschenrechtskern eingriffen und damit von ihrer Schwere her dem vergleichbar seien was nach der bisherigen Rechtsprechung wegen menschenunwürdiger Behandlung zu einem Abschiebungsverbot geführt habe.391 Auch die grundlegenden Strukturen eines fairen Strafverfahrens gehörten zu dem menschenrechtlichen Mindeststandard, dessen Missachtung in einem anderen Staat eine Abschiebung dorthin unzulässig machen könne. Die Garantie für ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK stelle einen unantastbaren Grundwert dar, den es zu schützen gelte.392 Ein mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender „besonders schwerer Verstoß gegen die Garantie eines fairen Verfahrens könne deshalb im Einzelfall zu einem Abschiebungsverbot führen, soweit dadurch der Menschenwürdekern der Garantie verletzt werde. Dies setze voraus, dass die drohende Beeinträchtigung nach Qualität und Quantität dem vergleichbar sei, was ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK wegen menschenunwürdiger Behandlung begründe. Für diese Beurteilung seien alle Umstände des Einzelfalles maßgebend. Zu berücksichtigen seien insbesondere die Art der Behandlung bzw. Strafe sowie der Zusammenhang, in dem sie erfolge, die zeitliche Dauer der Maßnahme sowie psychische und physische Auswirkungen unter Berücksichtigung der Konstitution des Betroffenen. 393 Der Gerichtshof hat andererseits darauf hingewiesen, dass Art. 6 EMRK auf Verfahren über die Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung von Ausländern keine Anwendung findet.394 Insbesondere in diesem Zusammenhang gewinnt die Tatsache Bedeutung, dass der Zielstaat der Abschiebung Vertragsstaat der EMRK ist. Das BVerwG hat deshalb nicht abschließend erörtert, welche ausländerrechtlichen Folgen Verletzungen des Beweisverwertungsverbotes EGMR, EZAR 933 Nr. 1 = NJW 1990, 2183 = EuGRZ 1989, 319 = B 1 – Soering. EGMR, Series A No. 240, § 110 - Drozd and Janousek; EGMR, Entscheidung v. 16. Oktober 2001 – Nr. 71555/01, § 32 – Einhorn. 390 EGMR, Entscheidung v. 16. Oktober 2001 – Nr. 71555/01, § 33 – Einhorn. 391 BVerwGE 122, 271 (280 f.) = EZAR 51 Nr. 2; Thür.OVG, NVwZ-Beil. 1999, 19 (20OVG NW, U. v. 26. 5. 2004 – 8 A 3852/03.A. 392 OVG NW, U. v. 26. 5. 2004 – 8 A 3852/03.A. 393 OVG NW, U. v. 26. 5. 2004 – 8 A 3852/03.A. 394 EGMR, InfAuslR 2001, 109 = EZAR 933 Nr. 1 – Maaouia; ThürOVG, NVwZ 1998, 1100 (1101). 388 389 168 (vgl. Art. 15 Übereinkommen gegen Folter) im Falle der Türkei nach sich ziehen. Verstöße gegen Verfahrensgarantien seien in aller Regel korrigierbar. Daher sei allenfalls in Ausnahmefällen denkbar, dass dem Betroffenen schwere und insbesondere irreparable Beeinträchtigungen drohten. Nach den Feststellungen der Vorinstanz sei in der Türkei effektiver Rechtsschutz erreichbar.395 e) Subsidiärer Schutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aa) Allgemeines Wie die Vorgängernorm des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990 vermittelt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG subsidiären Schutz, wenn im Abschiebezielstaat für den Antragsteller eine erhebliche, konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Norm ist Auffangnorm für alle individuell-konkreten Gefahren, die nicht bereits in Art. 15 RL 2004/83/EG und § 60 Abs. 5 AufenthG enthalten sind. Am engsten verwandt ist § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG mit Art. 15 Buchst. c) der Richtlinie. Soweit es um die Gefahrenschwelle, die Individualisierbarkeit der Gefahr sowie die anzuwendenden Prognosegrundsätze geht, ist § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nahezu identisch mit Art. 15 Buchst. c) der Richtlinie. Zwischen beiden Normen gibt es jedoch einen bedeutsamen Unterschied: Art. 15 Buchst. c) RL 2004/83/EG ist auf Bedrohungen infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes eingeschränkt. Diese Einschränkung enthält § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht. Entwicklungsgeschichtlich ergibt sich damit ein paradoxer Befund. Die Rechtsprechung des BVerwG hatte in den 1990er Jahren unter Hinweis auf § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG 1990 sowie § 54 AuslG 1990 versucht, individuelle Gefahren, die ihre Ursache in einem bewaffneten Konflikt haben, aus dem Anwendungsbereich von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990 auszuschließen. Art. 15 Buchst. c) der Richtlinie reagiert auf diese Rechtsprechung, in dem er gerade Bedrohungen infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen bewaffneter Konflikte zum Gegenstand des subsidiären Schutzes macht. bb) Betroffene Rechtsgüter Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG müssen die Rechtgüter Leib, Leben oder persönliche Freiheit gefährdet sein. Das Rechtsgut Leben umfasst zugleich auch die „Leibesgefährdung“. Die relevanten Bedrohungsfaktoren lassen zumeist keine hinreichend zuverlässigen Schlussfolgerungen zu, ob durch diese lediglich die körperliche sowie seelische Unversehrtheit oder darüber hinaus auch das Leben betroffen ist. Auch wenn im Einzelfall das Rechtsgut Leben nicht betroffen ist, kann aus prognoserechtlicher Sicht eine Bedrohung der Unversehrtheit nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Im Rahmen der Prognoseprüfung lässt sich zumeist gar nicht vorhersehen, ob aufgrund der festgestellten Tatsachen Lebensgefahren drohen oder lediglich die körperliche oder geistige Unversehrtheit bedroht ist. Der Begriff „Leib“ verweist auf Beeinträchtigungen der körperlichen und seelischen Unversehrtheit, also auf Folter und Misshandlungen. „Leibesgefährdungen“ sind insbesondere gesundheitliche Gefahren, die in der Vergangenheit den Hauptanwendungsfall des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990, § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dargestellt haben. Auch eine ohne Verletzung der äußerlichen Integrität des Leibes mögliche, gravierende Störung der inneren BVerwGE 122, 271 (280 f.) = EZAR 51 Nr. 2 – Metin Kaplan; OVG NW, U. v. 26. 5. 2004 – 8 A 3852/03.A – Metin Kaplan. 395 169 Lebensvorgänge, d. h. eine schwere Gesundheitsgefährdung ist bei der Anwendung und Auslegung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu beachten.396 Der Begriff „Freiheit“ ist ein offener Begriff. Er umfasst grundsätzlich alle Freiheitsrechte. Das notwendige Korrektiv erfolgt durch das Erfordernis der Individualisierbarkeit der Freiheitsbedrohung und das Moment der erheblichen konkreten Gefahr. Es ist deshalb im Ansatz unzulässig, den Freiheitsbegriff von vornherein auf Freiheitsentziehungen im Sinne des Art. 104 GG einzuschränken,397 wenn auch im Ergebnis beide Ansichten zum selben Ergebnis führen. Der Freiheitsbegriff ist prinzipiell offen. Da aber nur erhebliche und konkrete Gefahren der Freiheitsrechte subsidiären Schutz begründen, wird man wohl in Anlehnung an die Rechtsgüter Leib und Leben eine vom Gewicht und Intensität her vergleichbare Rechtsgutverletzung fordern müssen. cc) Erfordernis der erheblichen Gefahr Dem Erfordernis der „Erheblichkeit“ in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt eine materielle Funktion zu, d. h. es zielt auf den Umfang des Bedrohungserfolges. Denn die Bedrohung der Rechtsgüter Leib, Leben oder Freiheit ist in unterschiedlichen Abstufungen möglich. Die Bedrohung des Rechtsgutes Leben ist allerdings keiner Abstufung zugänglich. Das Leben ist entweder bedroht oder nicht. Demgegenüber sind Bedrohungen der Rechtsgüter Leib und Leben in unterschiedlicher Intensität möglich. Nicht jede geringfügige Bedrohung der körperlichen oder seelischen Unversehrtheit oder der Freiheit der Person, sondern nur erhebliche Gefahren sollen den subsidiären Schutzstatus nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen. Es bedarf eines nicht unerheblichen Umfangs der Verletzung der bezeichneten Rechtsgüter. Da die Feststellung Prognosetatsachen betreffen und deshalb Grundlage prognostischer Einschätzungen sind, kann eine präzise Abstufung des Bedrohungserfolges nicht verlangt werden. Es reicht die ernsthafte Möglichkeit (§ 26 Rdn. 5 ff.) aus, dass Leib, Leben oder Freiheit erheblich gefährdet sind. Durch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG werden auch die Gefahren erfasst, die nicht dem Zielstaat zuzurechnen sind. Im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist es deshalb unerheblich, ob die Gefahren von staatlichen Behörden ausgehen, von diesen offen oder stillschweigend geduldet werden oder ob sie aufgrund nichtstaatlicher Bedrohungen bestehen. In diesen Fällen ist aber stets zu prüfen, ob dem Betroffenen ein Ortswechsel zuzumuten ist.398 dd) Begriff der konkreten Gefahr Der Begriff der „konkreten Gefahr“ in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezieht sich auf den Gefährdungsgrad.399 Er ist in Abgrenzung zur „allgemeinen Gefahr“ (vgl. § 60 Abs. 6 AufenthG) zu bestimmen. Eine allgemeine Gefahr ist nur möglich, indes noch nicht hinreichend wahrscheinlich. Anders als bei Bedrohungen nach Art. 15 Buchst. c) der Richtlinie, § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, bei denen bei erlittenen oder unmittelbar bevorstehenden Bedrohungen vor der Ausreise wegen Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ausreicht, dass eine Bedrohung nicht ausgeschlossen werden kann, ist bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch in derartigen Fällen der normale Beweismaßstab anzuwenden.400 Bei einer beachtlichen 396 Wilhelm Treiber, in: GK-AuslR, II - § 53 AuslG Rdn. 235. Wilhelm Treiber, in: GK-AuslR, II - § 53 AuslG Rdn. 235 398 BVerwGE 99, 324 (…) = EZAR 046 Nr. 6 = NVwZ 1996, 199 = AuAS 1996, 32 = D 58; BVerwG, EZAR 043 Nr. 26; VGH BW, EZAR 043 Nr. 12; VGH BW, EZAR 043 Nr. 25; Günther Renner, AuslR, 8. Aufl., 2005, § 60 AufenthG Rdn. 52; Wilhelm Treiber, in: GK-AuslR, II - § 53 AuslG Rdn. 233. 399 Wilhelm Treiber, in: GK-AuslR, II - § 53 AuslG Rdn. 237. 400 BVerwG, InfAuslR 1995, 24 (…)?; BVerwGE 99, 331 (…)?; BVerwG, NVwZ 1999, 668 (…) = EZAR 043 Nr. 30 = AuAS 1999, 76. 397 170 Wahrscheinlichkeit einer drohenden Rechtsgutverletzung wird das Ermessen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aber regelmäßig auf Null reduziert. Im Rahmen der Prognoseprüfung kann zumeist nicht zuverlässig vorhergesagt werden, ob der Bedrohungserfolg materiellrechtlich gesehen nur geringfügig, sondern weitergehend ist. Es geht damit um die Eintrittswahrscheinlichkeit der Gefahr. Nicht jede abstrakte oder nur entfernt liegende Möglichkeit der Rechtsgutbeeinträchtigung, die noch nicht hinreichend wahrscheinlich ist, löst danach den Schutzanspruch aus, sondern nur die „ernsthafte“ Möglichkeit. Konkret ist danach eine Gefahr für die Rechtsgüter Leib, Leben oder Freiheit, wenn die hierfür sprechenden Umstände nach ihrer Intensität und Dichte von einem solchen Gewicht sind, dass sich hieraus die ernsthafte Möglichkeit ihrer Verletzung für den Fall der Rückkehr ergibt. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG muss die Gefahr „für diesen Ausländer“ drohen. Damit muss die Gefahr individualisierbar sein. Es geht letztlich um die sachgerechte prognoserechtliche Einschätzung, ob die aufgezeigten, festgestellten oder sonstwie erkennbaren Gefahren dem Antragsteller persönlich drohen. Eine Gefahrenquelle kann gleichzeitig die bezeichneten Rechtsgüter einer Vielzahl von Personen oder aller Angehörigen der Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe bedrohen und damit für jeden Einzelnen aus dieser Gruppe eine konkrete, individuelle Gefahr darstellen. Selbst wenn eine allgemeine Gefahr etwa durch Kriegsereignisse, Kriegsstrategien, bestimmte Verfolgungspraktiken oder Naturkatastrophen für eine Vielzahl von Personen besteht, wird dadurch nicht begriffslogisch ausgeschlossen, dass gleichzeitig auch eine individuelle Gefährdung des Einzelnen bestehen kann. Letztlich geht es stets um eine prognoserechtliche Bewertung, ob aufgrund des Charakters, der Intensität sowie des Umfangs derartig allgemeiner Gefahren die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass diese auch für den Antragsteller drohen. Auf individualbezogene Gefahren, die ihren Ursprung in allgemeinen Gefahren haben, findet grundsätzlich § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Anwendung. Nur für den Fall, in dem allgemeine Gefahren nicht zugleich auch individualbezogenen Charakter haben, entfällt eine Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. In diesem Fall kann aber Abschiebungsschutz aus einer generellen Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG folgen. Man kann die subsidiären Schutznormen des § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG insgesamt als Ausdruck verfassungs- und völkerrechtlicher Wertsetzungen verstehen und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auf individuelle Bedrohungen, die ihren Grund in allgemeinen Gefahren haben, auslegen und anwenden. # In diesem Sinne hatte das BVerfG die fachgerichtliche Rechtsprechung dazu angehalten, bei der Interpretation des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG die Ausstrahlungswirkungen der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu beachten.401 Diese Rechtsprechung ist mithin so zu verstehen, dass aus der Verfassung keine zusätzlichen Abschiebungshindernisse abgleitet werden müssen, sondern der in § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG geregelte subsidiäre Schutz im Sinne eines grundrechtsorientierten Verständnisses ausgelegt und angewendet werden soll. Dies gilt zunächst auf materieller, aber auch auf prognoserechtlicher Ebene insbesondere für individuelle Bedrohungen als Folge allgemeiner Gefahren: Stets ist festzustellen, welche Gefährdungsmomente im Einzelnen für die Anwendung des Begriffs der individuellen Bedrohung herangezogen werden können. Sind diese Folge der Praxis willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes, findet nicht § 60 Abs. 401 BVerfG (Kammer), NVwZ 1992, 660=InfAuslR 1993, 176 0 C 27a. 171 7 Satz 1 AufenthG, sondern Art. 15 Buchst. c) der Richtlinie Anwendung. Erscheint die allgemeine Gefahr nicht als Ausdruck eines bewaffneten Konfliktes und hat sie für den Einzelnen eine Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit zur Folge, ist Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Nach dem Referentenentwurf greift in diesem Falle nur dann eine verfahrensrechtliche Sperrwirkung ein, wenn eine generelle Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG ergangen ist (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthGE). Das Fehlen einer solchen Anordnung zwingt die zuständigen Behörden, über den Antrag zu entscheiden, ohne dabei beweisverschärfende Grundsätze ins Spiel zu bringen (Rdn…). ee) Keine Anwendung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG bei Gesundheitsgefährdungen Nach der Rechtsprechung ist bei der Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 die verfahrensrechtliche Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG zu beachten. Dies gilt indes grundsätzlich nicht bei zielstaatsbezogenen Gesundheitsgefährdungen. Die Rechtsprechung der Instanzgerichte wendete frühere die verfahrensrechtliche Sperrwirkung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG allerdings auch auf Gesundheitsgefährdungen an. Dies wurde damit begründet, eine allgemeine Gefahr könne insbesondere auch dann vorliegen, wenn die Erkrankung, an der der Betroffene leide, in seinem Herkunftsland so verbreitet sei, dass die Frage, ob ihretwegen Abschiebungsschutz gewährt werden solle, eine Befassung der obersten Landesbehörde sowie eine bundeseinheitliche Praxis und damit eine politische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfordere.402 Das BVerwG hat seine bisherige Position in dieser Frage geändert. Während es jahrelang auch bei einer durch Krankheit bedingten Gefahr eine „extreme individuelle Gefahrensituation“ und damit eine „Gefährdung mit dieser besonderen Intensität“ verlangt hat,403 stuft es in seiner neueren Rechtsprechung die Kriterien herab: Die befürchtete Verschlimmerung der gesundheitlichen Beeinträchtigung als Folge fehlender Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat müsse lediglich zu einer „erheblichen Gesundheitsgefahr“ führen. Eine (erhöhte) „existenzielle“ oder „extreme“ Gefahr, die den Betroffenen im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde, habe das BVerwG jedoch nur bei verfassungskonformere Durchbrechung der verfahrensrechtlichen Sperrwirkung gefordert.404 Ausdrücklich stellt das Gericht klar, die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung verschlimmert, sei in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 bs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist.405 Das BVerwG hat aber einschränkend festgestellt, eine Gesundheitsgefährdung aufgrund zielstaatsbedingter unzureichender Versorgungslage sei ausnahmsweise dann als allgemeine Gefahr oder Gruppengefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG zu qualifizieren, wenn es – etwa bei Aids – um eine große Anzahl Betroffener im Zielstaat gehe und deshalb ein Bedürfnis für eine ausländerpolitische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Aufenthg bestehe.406 Es muss daher zwischen dem singulären Charakter einer Erkrankung und einer Erkrankung, die „eine große Anzahl Betroffener“ erfasst differenziert. Letztere Voraussetzungen können nur ausnahmsweise angenommen werden. 402 BVerwG, NVwZ 1998, 973 (973 f.) = = InfAuslR 1998, 409 = AuAS 243; OVG Rh-Pf, NVwZ-Beil. 2004, 11 (12). 403 Zuletzt BVerwGE 122, 103 (108) = NVwZ 2005, 462 = InfAuslR 2005, 120. 404 BVerwG, B. v. 24. 5. 2006 – BVerwG 1 B 118.05 405 BVerwG, AuAS 2007, 30 (31). 406 BVerwG, AuAS 2007, 30 (31). 172 ff) Einwand der Nachsorge Zwar kann nach der Rechtsprechung die Ausländerbehörde grundsätzlich den Wegfall der Gefahrenlage bewirken, indem sie für den Ausländer die tatsächliche Behandlung vor Ort sicherstellt und finanziert.407 Die von der zuständigen Behörde in diesem Zusammenhang ergriffenen oder zugesagten Maßnahmen müssen jedoch so konkret und Erfolg versprechend sein, dass sie eine Unterbrechung des Kausalverlaufs erwarten lassen, der ansonsten alsbald zum sicheren Tod oder zu schwersten Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit des Ausländers führen würde. Nicht ausreichend ist es hingegen, wenn alternativ verschiedene Maßnahmen zugesagt werden, deren Erfolgsaussichten ungeprüft sind, oder wenn diese Maßnahmen lediglich geeignet erscheinen, das ansonsten zu erwartende Geschehen um eine Zeitspanne hinauszuschieben, die einer dann eintretenden Aktualisierung der Gefahr nicht die zeitliche Nähe zum Abschiebungsakt nähme.408 Die von den zuständigen Behörde in diesem Zusammenhang ergriffenen oder zugesagten Maßnahmen müssen jedoch so konkret und Erfolg versprechend sein, dass sie eine Unterbrechung des Kausalverlaufs erwarten lassen, der ansonsten eine nicht unwesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes zur Folge hat. Darüber hinaus kann die gebotene Nachsorge nicht lediglich auf die Gewährleistung des Übergangs in Form einer Erstbetreuung beschränkt bleiben. Vielmehr entfällt ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis nur dann, wenn die erforderliche weiterreichende und auf Dauer angelegte medizinische Versorgung sichergestellt ist.409 Es darf also nicht nur eine zeitnahe medizinische Versorgung in den Blick genommen werden. Dabei lässt jedenfalls die Sicherstellung einer medizinischen Versorgung lediglich für einen Zeitraum von zwei Monaten nach der Abschiebung das Abschiebungshindernis nicht entfallen. 410 Bei psychischen Erkrankungen muss der in den Blick zu nehmende Zeitraum wegen der spezifischen Ausprägung dieser Krankheit bedeutend länger sein. 407 VG Braunschweig, AuAS 2005, 137; VG Göttingen, NVwZ-RR 2004, 536. VG Braunschweig, NVwZ-RR 2004, 300, Unzulässigkeit der Abschiebung eines an Bluthochdruck leidenden Armeniers. 409 OVG Rh-Pf, NVwZ-Beil. 2004, 11 (13). 410 OVG Rh-Pf, NVwZ-Beil. 2004, 11 (13); a. A. BayVGH, NVwZ-Beil. 2004, 14 (15), die finanzielle Übernahme der medizinischen Versorgung für drei Monate ist ausreichend . 408 173