Universität Regensburg Antrag an die DEUTSCHE FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT auf Förderung eines Graduiertenkollegs „Kulturen der Lüge“ Juli 2000 Inhalt des Dokumentes: Antragstext Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 1-30 31-34 35-39 40-64 1 1. Allgemeine Angaben 1.1 Thema Das Thema des zu beantragenden Graduiertenkollegs lautet: Kulturen der Lüge 1.2 Antragstellende Hochschullehrer/innen Prof. Dr. Jan-Wilhelm Beck Institut für Klassische Philologie, Lehrstuhl für Lateinische Philologie Prof. Dr. Hans-Christoph Dittscheid Institut für Kunstgeschichte Prof. Dr. Roswitha Fischer Institut für Anglistik Prof. Dr. Rainer Hammwöhner Institut für Allgemeine und Indogermanische Sprachwissenschaft, Lehrstuhl für Informationswissenschaft Prof. Dr. Dr. Robert Hettlage Institut für Soziologie, Lehrstuhl für Soziologie Prof. Dr. Walter Koschmal Institut für Slavistik, Lehrstuhl für slavische Philologie Prof. Dr. Helmut Lukesch Institut für Psychologie, Lehrstuhl für Psychologie Prof. Dr. Mathias Mayer Institut für Germanistik Prof. Dr. Jochen Mecke Institut für Romanistik, Lehrstuhl für Romanische Philologie (Literaturwissenschaft) Prof. Dr. Hans Rott Institut für Philosophie, Lehrstuhl für Theoretische Philosophie Dr. Andreas-P. Alkofer/ Prof. Dr. Herbert Schlögel Katholisch-theologische Fakultät, Lehrstuhl für Systematische Theologie (Moraltheologie) Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich-Christian Schroeder Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Ostrecht 2 Dienstanschrift des Sprechers: Prof. Dr. Mathias Mayer Institut für Germanistik Universität Regensburg 93040 Regensburg Tel. 0941-943-3445 e-mail: [email protected] 1.3 Fachgebiet Antragsteller: Fachgebiete und Arbeitsrichtungen: Prof. Dr. Jan-Wilhelm Beck Klassische Philologie: Lateinische Philologie Prof. Dr. Hans-Christoph Dittscheid Mittlere und neuere Kunstgeschichte Prof. Dr. Roswitha Fischer Anglistische Sprachwissenschaft Prof. Dr. Rainer Hammwöhner Informationswissenschaft Prof. Dr. Dr. Robert Hettlage Soziologie Prof. Dr. Walter Koschmal Slavische Philologie: Literaturwissenschaft Prof. Dr. Helmut Lukesch Psychologie Prof. Dr. Mathias Mayer Neuere deutsche Literaturwissenschaft Prof. Dr. Jochen Mecke Französische und spanische Literaturwissenschaft Prof. Dr. Hans Rott Theoretische Philosophie Prof. Dr. Herbert Schlögel Systematische Theologie (Moraltheologie) Prof. Dr. Dr. h.c. F.-C. Schroeder Strafrecht, Strafprozessrecht, Ostrecht 1.4 Voraussichtliche Laufzeit 6 Jahre 3 1.5 Antragszeitraum 3 Jahre 1.6 Beginn der Förderung SS 2001 1.7 Angestrebte Zahl der Kollegiaten 22 Kollegiaten sollen im Rahmen des Graduiertenkollegs gefördert werden. Nach Möglichkeit soll mindestens ein Drittel der Kollegiatenplätze an Bewerber anderer Universitäten vergeben werden. Hinzu kommen Doktoranden mit Finanzierung aus anderen Mitteln. Bei Förderungsbeginn im SS 2001 könnte die Ausschreibung der Stipendien im Rahmen des Graduiertenkollegs im Wintersemester 2000/2001 erfolgen. 2. Ziele, Programm und Struktur des Graduiertenkollegs 2.1 Zusammenfassung Die Lüge ist ein Ursprungsphänomen der individuellen wie der gesellschaftlichen Etablierung, ja sie reicht bis in die gemeinsame Erbmasse von Mensch und Tier zurück. Lange Zeit wurde das Phänomen der Lüge nahezu ausschließlich als ein moralisches - zu verwerfendes Phänomen wahrgenommen. Dass die Lüge inzwischen auch "im außermoralischen Sinn" beurteilt wird, ist weder ihrer universellen Bedeutsamkeit noch ihrer fortgesetzten Selbstverbergung abträglich gewesen. Das Abbröckeln allgemeinverbindlicher Sinnkonzeptionen, die Pluralisierung unserer Welt in mannigfache, interagierende Kulturen und Subkulturen sowie ganz aktuelle Zuspitzungen von lügnerischen Praktiken in Politik und Wirtschaft geben den Anstoß zur Frage nach den einerseits gruppen- oder gesellschaftsstabilisierenden, den andererseits aber individuell wie sozial subversiven Auswirkungen von Lügenhaftigkeit. In der ersten Themengruppierung des Graduiertenkollegs wird eine systematische Erschließung des Wortfeldes "Lüge" unternommen, die ausgehend von der engen, restringierten Wortbedeutung des Begriffs durch Variation von Merkmalen ein breites Band von mindestens lügenähnlichen, nur interdisziplinär erforschbaren Phänomenen aufschlüsselt. Diese binnensystematische Untersuchung soll nicht nur als Leitlinie für angewandte Studien verwendet werden, sondern intensive Rückkoppelung aus einer breit gefächerten Palette konkreter, an empirischen Beispielen orientierter und fachwissenschaftlich je unterschiedlich unterlegter Projekte erhalten. Der Kollegtitel proklamiert die Kulturfähigkeit der Lüge und deutet durch den Plural zugleich an, dass die Fragestellung ausdrücklich im Fachgrenzen überschreitenden Dialog geführt werden soll. Nach der genannten theoretischen sollen vier weitere Themengruppierungen als Rahmen für die Erforschung der "Kulturen der Lüge" dienen, die sich gemäß ihrer schrittweisen Distanzierung von der lebensweltlichen Basis ergeben: Alltagswelten der Lüge, Politische Kulturen der Lüge, Lüge und Medien, und Ästhetik der Lüge. Das Zusammenspiel von abstrakt-theoretischer Reflexion mit inhaltlich ausdifferenzierten Phänomenstudien aus Theologie und Philosophie, Psychologie und Soziologie, Linguistik und Informations4 wissenschaft, Klassischen und Neueren Philologien, Rechtswissenschaft und Kunstgeschichte soll die Chance eröffnen, im Graduiertenkolleg ein abgerundetes, undogmatisches Bild der auch gerade durch Lügen geprägten Gegenwart zu entwerfen. 2.2 Forschungsprogramm Weder das Alter noch die Ausmaße der Lüge, freilich auch nicht ihre Aktualität lassen sich definitiv bestimmen. Vielmehr handelt es sich um ein Phänomen, das zwar immer wieder gemieden oder verleumdet, bisweilen auch respektiert wurde, dem man jedoch auf keinen Fall seine universale Bedeutung absprechen kann. Gerade im Zeitalter der Wissens- und Informationsgesellschaft kommt der Notwendigkeit und reziprok der Schwierigkeit, Manipulationen von Wahrheiten zu beobachten, eine erhebliche, in jüngster Zeit auch aktuelle Bedeutung zu. Allerdings setzt die Relevanz der Lüge keineswegs erst im öffentlichen Raum ein, sondern stellt in der individuellen Entwicklung ebenso eine entscheidende Zäsur dar wie sie - in einem ganz anderen Bereich - in Kunst und Medien theoretische Trennschärfe herausfordert. Weit davon entfernt, nur ein moralisches Problem darzustellen, ist die Lüge auch schon immer als Schatten der Wahrheit präsent. Doch erstreckt sich ihre unübersehbare Gestalt auf den Menschen als psychologisches, soziales oder politisches Wesen wie auch auf seine Handlungen und Werke, Medien und Künste, reicht aber selbst über ihn, das ”Genie der Lüge” (Nietzsche III, 692), zurück bis auf die Primatenebene (Sommer 1993) und gehört damit zum ältesten Erbteil. Neben dieser Universalität der Lüge als dem ersten steht ihre Selbstverbergung als zweites Problem, denn als Spielart der Täuschung entzieht sie sich durch vielfältige Strategien der eindeutigen Identifizierbarkeit, wenn sie als Grenzphänomen alle Bereiche individuellen, interpersonellen und kollektiven Verhaltens infiziert: Ihre Universalität arbeitet ihrer Unauffälligkeit zu, so dass die Lüge nicht nur als Grenz-, sondern vor allem als sich einem definitorischen Zugriff entziehendes Gleitphänomen zu charakterisieren ist, das eine interdisziplinäre, polyperspektivische Herangehensweise erfordert. Der gewählte Titel „Kulturen der Lüge“ zeigt diese Programmatik insofern an, als er in Analogie etwa zur Rehabilitierung des Häßlichen oder des Bösen als wissenschaftlichen Feldern nunmehr eine Kulturfähigkeit der Lüge proklamiert, besonders jedoch durch den Plural andeutet, wie sehr hier eine kulturwissenschaftliche Fragestellung ausdrücklich im interdisziplinären Dialog geführt werden soll. Denn gerade der Blick auf den Stand der Forschung der letzten Jahre zeigt deutlich, dass eine Erfassung und Bewertung der Lüge zwar in den Einzeldisziplinen auf mitunter hohem Niveau geleistet wurde (Harald Weinrich, Volker Sommer, Arno Baruzzi, Timur Kuran etc.), doch steht eine Vernetzung dieser vorliegenden Ergebnisse erst an. Hingegen bietet der Dialog sehr unterschiedlicher Disziplinen eine noch nicht genutzte Chance, der Mimikry der Lüge kritisch zu Leibe zu rücken, sie dabei aber weniger zu entlarven als in ihrer einerseits stabilisierenden, andererseits destabilisierenden Wirkungsweise zu analysieren und zu beschreiben. Es sind im wesentlichen fünf Dialogkonzepte, in deren Rahmen „Kulturen der Lüge“ erforscht werden sollen. Sie ergeben sich nach ihrem Ausgangspunkt in der theoretischen Verankerung gemäß ihrer schrittweisen Distanzierung von der lebensweltlichen Basis wie folgt: 1. Theorien der Lüge 2. Alltagswelten und Herstellungsprozesse von Lüge 5 3. Politische Kultur(en) der Lüge 4. Lüge und Medien 5. Ästhetik der Lüge 2.2.1. Theorien der Lüge Ziel dieser Themengruppierung ist erstens eine systematische Erschließung des Wortfeldes „Lüge“, die ausgehend von einer engen, restringierten Bedeutung des Wortes durch Variation von Merkmalen ein breites Band von zumindest lügenähnlichen Phänomenen erfasst, die sämtlich unter das Generalthema des Graduiertenkollegs fallen. Zweitens aber ist es das explizite Ziel des Kollegs, diese binnensystematische Untersuchung nicht nur als Leitlinie der mehr angewandten Projekte zu verwenden, sondern Feedback aus der breit gefächerten Palette relativ konkreter, an Beispielen orientierter und fachwissenschaftlich je unterschiedlich unterlegter Projekte zu gewinnen. In diesem Zusammenspiel von abstrakt-theoretischer Reflexion und inhaltlich spezialisierten Phänomenstudien sehen die Antragsteller die große Chance des Graduiertenkollegs. Sprachliche Kommunikation in ihren Voraussetzungen und Folgerungen ist ebenso zu berücksichtigen wie die Frage nach der Trennbarkeit theoretischbegrifflicher und praktisch-moralischer Überlegungen. Eine erste Definition der Lüge scheint zunächst nicht weiter problematisch und sogar zwischen Antipoden wie Augustinus oder Nietzsche kaum umstritten: Eine Lüge besteht im bewussten Behaupten eines nach eigener Überzeugung falschen Satzes, zumeist in täuschender, irreführender oder betrügerischer Absicht (vgl. Augustinus, De mendacio, Nietzsche II, 1222). Bei der Abgrenzung sind systematisch die Perspektiven von Sprecher und Hörer, Autor und Leser zu unterscheiden. Die kognitiven Leistungen eines Subjektes, die (erfolgreiches) Lügen erst ermöglichen, verringern die Chance des Rezipienten und Interpreten, eine Lüge zu dechiffrieren. Mithin stellt sich zunächst die Frage nach den repräsentationalen Voraussetzungen der Lüge, nach dem Format mentaler Repräsentation, innerhalb dessen Lüge eigentlich stattfinden kann. Eine zeichentheoretische Differenzierung wird neben der als paradigmatisch anzusehenden Lüge im Aussagesatz einer natürlichen Sprache auf die medialen Möglichkeiten der Lüge – etwa mittels Bild(sequenzen), Mimik oder Statistik (Huff 1954, Krämer 1991) – eingehen müssen. Zum Begriffsfeld gehören Verstellung, Fälschung und Manipulation, doch ist es vor allem die Falschheit im Wortsinne, die die Lüge in ihrer originären Bedeutung von irreführenden wahren Äußerungen, dem Zurückhalten von relevanten Informationen (Verschweigen und Verheimlichen) und von missglückten Lügen unterscheidet, die entstehen, wenn jemand in lügnerischer Absicht irrt und versehentlich die Wahrheit sagt. Die Unumgänglichkeit eines systematischen Wahrheitsbezuges bei allen Phänomenen der Lüge läßt sich aus hermeneutisch-heuristischer Perspektive bis hin in die Ethik und Theologie verfolgen, doch gilt Entsprechendes auch für die Ästhetik der Lüge, die allenfalls als Teil einer ästhetischen Wahrheit möglich ist (der erst nach und nach durchschaute Lügner). Die Frage nach der Absicht oder Bewußtheit der Falschheit ist nicht nur ein Differenzkriterium gegenüber Irrtum oder Selbsttäuschung, sondern vorwiegend eine psychologische Problematik: Was muß im Kopf des potentiellen Lügners vorgehen, wie sind seine Annahmen über den wahren Zustand des Sachverhaltes, über das bisherige Wissen darüber im Gegenüber, über die Methoden der Meinungsbeeinflussung beim anderen, schließlich wie verhalten sich Täuschungsintention und konkurrierende Motivationen, etwa eigennützige oder antisoziale Faktoren (Fiedler 1989, Buller et al. 1994, Peterson 1996, De Paulo 1996, Backbier et al. 1997, Lee & Ross 1997). 6 Absicht und Bewusstheit der Falschheit haben darüber hinaus auch eine ästhetische Dimension, so etwa im Hinblick auf die bewusste Verschleierung der Authentizität (Ossian). Damit ist die Kategorie des Wahrheitsanspruchs aufgeworfen, die die Lüge von fiktiver, von bewußt „gespielter“ und nicht „ernst gemeinter“ Rede unterscheidet - also von Aussagen, die ohne Wahrheitsanspruch geäußert werden und normalerweise auch als solche erkannt werden. Hiervon sind nicht nur Situationen in der Alltagswelt, der Politik oder der Medien betroffen, sondern auch eine grundlegende Verankerung zumindest der Literatur: Die sicherlich prekäre Unterscheidung ästhetischer von semantischer Wahrheit (etwa im Sinne von Gabriel 1975) hat dem literaturtheoretischen Spektrum der „poiesis“, der Wahrscheinlichkeit wie der Illusion Rechnung zu tragen, geht es dabei doch nicht nur um die Verteidigung gegenüber dem hesiodischen Verdacht der lügenden Dichtung, sondern auch um Absetzung von der dilettantischen Verwechslung von ”Kunst und Leben”. Der literarische Wahrheitsanspruch ist schon mit der Grenzziehung zwischen griechisch pseudos und lateinisch mendacium Thema (Hose 1996), das zuletzt auch in pragmatischer Hinsicht aufgegriffen wurde (Tadié 1998), wenn der Wirklichkeitswert eines Textes in Abhängigkeit von seinem Wahrheitsprogramm definiert wird. Außerhalb des ästhetischen Sektors sind damit Rituale der Kommunikation angesprochen, deren Handlungskontexte sich dadurch von Lügen unterscheiden, dass die Erwartung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit aufgehoben wird, wie z.B. in Antworten auf Nachfragen nach dem Wohlergehen, in Höflichkeitsfloskeln oder Grabreden, Arbeitszeugnissen oder Auskünften im Pokerspiel. Häufig liegen solchen Praktiken generelle Vorstellungen der Schonung des Gesprächspartners zugrunde, während ironische, satirische oder metaphorisch geprägte Sprechakte zur Interpretation auffordern. Es ist für die Theorie der Lüge aus philosophischer Sicht in jedem Fall entscheidend, dass die formale Falschheit einer Aussage weder hinreichend noch notwendig für eine Irreführung oder Täuschung des Rezipienten ist. Vielmehr stellt sich die Frage nach den Perspektiven und Kontexten, die von genuinen Lügen diejenigen Aussagen oder Repräsentationen zu unterscheiden erlauben, deren Wahrheitswert je nach Standpunkt variieren kann: Welche Kontextfaktoren entscheiden im konkreten Fall darüber, ob eine Lüge vorliegt oder nicht? Auch Stilisierung, Idealisierung oder Übertreibung weisen eine Nähe zur Lüge auf, indem sie zwar „in der Tendenz“ wahr, aber im Ausmaß nicht korrekt sind, ein Thema, das sich für die Medien wie gerade die politische „Kultur“ der Lüge als zentral erweisen wird. Die Unschärferelation der Lüge geht deutlich aus ihrer ”milden” Fassung hervor, wenn von gewissen einschränkenden Bedingungen oder Faktoren bewusst abgesehen wird, sei es um Sachverhalte zu vereinfachen (was pädagogisch oder wissenschaftsgeschichtlich freilich unterschiedlich bewertet wird) oder um bestimmte Vorzüge beschönigend herauszustreichen (in den Medien oder abermals der Politik, auch in der Kunst, etwa in der Idylle), doch können dafür auch Sätze der Wissenschaft herangezogen werden: „Die Beschleunigung im freien Fall ist konstant“. Damit ist der Übergang zur approximativen Bestimmbarkeit der Lüge vollzogen, in Differenz zu denjenigen Aussagen, die zumindest beinahe wahr sind („Karl hat eine Glatze“): Hier geht es um den Anteil von Wahrheitsnähe oder Wahrscheinlichkeit (im nicht-technischen Sinne), der notwendig ist, um Aussagen in einem gegebenen Kontext richtig verstehen zu können. Voraussetzung dafür ist die Quantifizierbarkeit der betrachteten Sachverhalte, wobei die Aussichten auf eine adäquate Verwendung der mehrwertigen Logik (mit einer Mehrzahl von Wahrheitswerten) geprüft werden sollten. Schließlich ist aber auch hervorzuheben, dass es keine Beschränkung für den Grad der Bedeutsamkeit von Lüge gibt, deren Spektrum etwa von der kleinen, lokalen „Notlüge“ über 7 die „white lies“ der Höflichkeit bis hin zur fundamentalen „Lebenslüge“ reicht. Gerade von Seiten einer theologischen Ethik ist hier eine „Hierarchie der Lügen“ zu differenzieren, die von der „pia fraus“ des Mittelalters bis zur „heiligen Lüge“ bei Nietzsche reichen könnte, sodann sind aber auch Nuancierungen der thomanisch-scholastischen adaequatio-Lehre zu bedenken, die Relativität bzw. Verlässlichkeit von „geschuldeter Wahrheit“ oder „geschuldeter Unwahrheit“. Die Lüge steht damit in dezidiert theologischen wie außermoralischen Kontexten als lebensdienliches oder –behinderndes Instrument zur Diskussion, die von je spezifischer Bedeutung ist für die einzelnen Bereichsethiken (Bioethik, Medizinethik, Medienethik, Kommunikationsethik etc.). Darüber hinaus müssen Auswirkungen auf soziale und institutionelle Vernetzungen untersucht werden, etwa indem Funktionen sich strukturell verfestigender Formen jenseits der „reinen Wahrheit“ untersucht werden; damit vollzieht sich bereits der Übergang zu juristischen Perspektiven. Geplante Dissertationsprojekte: 1. Vergleichende Untersuchung zu alltagspsychologischen Konnotationen von „Lüge“ sowie zur Entwicklung des Lügenverständnisses (Psychologie) 2. Literatur – Theorie der Lüge? (Neuere deutsche Literaturwissenschaft) 3. Mentale Repäsentation, Missrepräsentation, Lüge (Philosophie) 4. „Schwache Wahrheit“ - „starke Lüge“: Jenseits substantialistischer Engführungen. Prozessethische Überlegungen aus theologischer Sicht (Theologie) 2.2.2. Alltagswelten und Herstellungsprozesse von Lüge Nach den theoretischen Grenzen bzw. der Unbegrenztheit der Lüge ist auch der Komplex von Verschleiern, Heucheln und bewusstem Lügen als Verhaltensstrategie auf der individuellen, der interpersonellen und der kollektiven Ebene zu diskutieren. Anknüpfungen bestehen dabei in phylogenetischer Hinsicht an die schon auf der Primatenebene ausgebildete Metaebene einer „Täuschung des Täuschenden“ (Sommer 1993) wie auch in ontogenetischer Hinsicht an die Voraussetzung, dass der Täuschende über Wissen im Hinblick auf die eigene Person, den Interaktionspartner sowie dessen mutmaßliche Interpretation einer Situation verfügen muss (s.o.). Aus der gekonnten Nutzung des Zusammenspiels dieser Elemente lassen sich Verhaltensakte setzen, die der gezielten Maximierung eigener Vorteile dienen, bisweilen, wenn auch nicht notwendigerweise auf Kosten des Interaktionspartners. Lügen können somit durchaus „lebensdienlich“ sein, indem sie etwa als ein Mittel der Schwächeren fungieren, um in der Auseinandersetzung mit einer übermächtigen Umwelt bestehen zu können, so dass der gekonnte Einsatz von Täuschungen geradezu als Beleg sozialer Kompetenz interpretiert wird. Im Humanbereich sind damit u.a. die geschönte Selbstdarstellung oder das gezielte „impression management“ (Jones & Pitman 1982) als alltägliche Handlungsstrategie im Dienste der Erhöhung des Selbstwertes gemeint. Wie durch diese Formen der Selbstdarstellung (nicht zuletzt auch ein Thema der Ästhetik der Lüge in den sogenannten „Ego-Dokumenten“ wie Tagebuch, Autobiographie etc.) der Interaktionspartner kontextabhängig gezielt beeinflusst werden kann, hat Goffman (1969) als Theaterspiel der sozialen Interaktion beschrieben: Jeder Darsteller habe die Aufgabe, bestimmte Eindrücke insoweit hervorzurufen, als damit das eigene Gesicht („face“) gewahrt und die soziale Interaktion aufrecht erhalten werde. Da alle Interaktionsteilnehmer bestrebt sind, ihr Gesicht zu wahren, besteht Reziprozität – jeder trägt dazu bei, dass die anderen „in face“ bleiben, dass Lügen also nicht schonungslos aufgeklärt, sondern allenfalls eingerechnet werden. Hieran schließt die Untersuchung von Timur Kuran (1997) an, die den sozialen und politischen Alltag als umfassendes „Leben in Lüge“ charakterisiert, bei dem jeder sich so 8 verhält, dass er die vermeintliche Meinung der anderen zum Maßstab seines eigenen Handelns macht. Damit sind diese Prozesse nicht auf die individuelle Ebene beschränkt, sondern zeigen sich auch auf kollektiver Ebene, wo sie sogar einen Beitrag zur sozialen Identität leisten, indem sie gruppenspezifische (z.B. „corporate identity“), ethnische oder nationale Selbstdefinitionen bewirken. Analog zur oben angesprochenen Berücksichtigung von Sender- und Rezipientenseite geht es auch hier darum, welche Strategien zwischen Subjekt und Objekt der Täuschungshandlung ausgebildet werden, um mögliche Betrüger zu „entlarven“ bzw. allgemein Methoden zu finden, um nicht permanent zum Opfer von Betrugsmanövern zu werden. Entlarvung ist dabei nicht automatisch mit Bloßstellung gleichzusetzen, denn es kann durchaus ausreichen, wenn das Wissen um den Täuschungsversuch ebenfalls als Aspekt sozialer Kompetenz bei weiterem sozialen Austausch in Rechnung gestellt wird. Stellt man aber auch die Bewertung solcher Täuschungshandlungen aus der Perspektive allgemeiner ethischer Prinzipien zugunsten deskriptiv nachweisbarer, kontextuell akzeptierter Moralen zurück, so bleibt etwa aus sprachphilosophischer Sicht die Frage, wie Meinen und Verstehen, Intendieren und Interpretieren durch das Lügen beeinflusst werden: Auch wenn die sogenannten ”white lies” aus Freundlichkeit, Taktgefühl oder Pietät in der Einzelsituation nicht bedenklich sind, so erhöht schon eine kleine, unbedeutende Lüge in einer konkreten Situation die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Lügen folgen: zum einen, weil zur Sicherung der Originallüge auf Nachfragen von interessierter Seite häufig weitere Lügen nachfolgen, zum anderen, weil das einmalige Überschreiten einer gewissen Hemmschwelle der Ausbildung einer gewohnheitsmäßigen Form des Lügens Vorschub leisten kann: Das gegenseitige Vertrauen der Mitglieder einer Gesellschaft kann somit unterminiert, die Möglichkeit der Kommunikation in Frage gestellt werden, zumal wenn das Einlassen auf Lüge und Täuschung in einer speziellen Situation auch als Akzeptanz einer für diese Situation geltenden Moralauffassung interpretiert werden kann. Ist das Vertrauen in die Wahrheit des Gesagten oder Geschriebenen nicht nur im Einzelfall, sondern grundsätzlich in Frage gestellt, dann scheint die Interpretation alltagssprachlicher Äußerungen gefährdet, bei der (nach Donald Davidson 1984) das Vertrauen in die Wahrheit des Gesagten mit der prinzipiellen Annahme von Rationalität des Sprechers oder Autors verknüpft ist. Solche Hermeneutiken des Vertrauens sollen an praktischen Beispielen (missbrauchte Begriffe wie „Ehrenwort“, „Terrorist“, „sexuelles Verhältnis“) im Hinblick auf Stabilität bzw. Destabilisierung sprachlicher Bedeutungen überprüft werden. Kontextuell akzeptierte Moralen können - etwa nach der Tradition von Piaget und Kohlberg Gebrauch machen von unterschiedlich komplexen Auffassungen oder Begründungen dessen, was erlaubt, geboten oder verboten ist. Damit zeichnet sich die Möglichkeit ab, eine Situations- oder Moraltypologie zu entwicklen, in der die verschiedenen Varianten von Lüge als akzeptabel gelten. Im zwischenmenschlichen Austausch sind je nach sozialen Rahmenbedingungen unterschiedliche Grade der Wahrhaftigkeit zugestanden und anvisiert, denn nicht jeder Kontext verlangt (schonungslose) Offenheit, ja die demonstrative Darstellung von Offenheit kann vielmehr in der sozialen Interaktion, für die eine Reziprozitätsnorm gilt, als unangenehm und aufdringlich erlebt und entsprechend zurückgewiesen werden, was wiederum zur Destabilisierung ganzer Handlungsschemata führen kann. Wenn in den Alltagswelten für den Täuscher die Möglichkeit zu mehrdimensionalen kalkulierbaren Kosten- und Nutzabwägungen besteht, nämlich das Entdeckungsrisiko, erwartbare Sanktionen oder auch die die sozialen Konsequenzen einschränkenden 9 Konventionen zu bewerten, dann ist damit auch eine soziologische Perspektive aufgerufen. Dabei lassen sich die Lügen-Rituale des Alltags idealtypisch in zwei Formen unterscheiden: einerseits die bewusste Täuschung des Gegenübers, bei der die Teilnehmer die Situation unterschiedlich interpretieren. Anders gelagert ist die sogenannte „freundliche Übertreibung“ (Schmeichelei, übertriebenes Lob), bei der zwar alle beteiligten Personen wissen, dass die Aussagen nicht völlig der Wahrheit entsprechen, bei der aber dennoch die rituellen Erfordernisse mitspielen. Das abgespielte Ritual hat für den/die einen den „echten“ Inhalt, der/die anderen wissen aber, dass es sich um eine Lüge handelt. Im Anschluß an die aporetische „Grammatik des Alltags“ von Bahrdt (1996), die die Konfliktspanne zwischen Identität (Individualität und Autonomie) und sozialem Imperativ (Anschlußfähigkeit, Teamfähigkeit, Interaktionsbereitschaft) sichtbar macht, soll anhand einer an Goffman orientierten „Ethnographie kleiner Lebensausschnitte“ ein soziologisches „Maskenprojekt“ erarbeitet werden: In den Alltagsinteraktionen gelten Identitätsbehauptungen oftmals als deplatziert oder unstrategisch, „heiße“ Themen werden nicht selten ausgespart, so dass unverbindliche Konsensformeln und -rituale das Geschehen verunklaren und die eigene Meinung durch verbindliches Schweigen maskiert bleibt. Typische, fokussierte Begegnungssituationen, bei denen die Wahrhaftigkeit hinter den ritualisierten Erhalt eines Interaktionszusammenhalts zurückgestellt wird und ein möglicher Dissens durch einen erlogenen Konsens überlagert wird, sollen - etwa anhand von Kaffee-Gesprächen, Wartezimmer-Begegnungen, Einladungen, Höflichkeitsbesuchen etc. - erforscht werden. Die Herstellung manipulierter gruppenspezifischer Identität fordert eine Berücksichtigung totalitärer Systeme heraus, die im Graduiertenkolleg von der slavistischen Literaturwissenschaft übernommen werden soll: Der sozialistische Realismus leistet einer ideologischen Funktionalisierung Vorschub, sofern er die „Einfachheit als Wahrheit, die Kompliziertheit als Lüge“ definiert (M. Gor’kij: H. Günther 1973, 55-67). Die ideologisch transformierte Pseudofolklore in Kunst und Literatur nach 1917 legt ein homogenes, gruppenspezifisches Verhalten nahe, das gleichermaßen auf Bestätigung des eigenen Milieus wie auf Ausgrenzung des Fremden zielt. Mittels dieser ”Folklorelüge” lässt sich die eigene Ideologie in einem breiten Rezipientenkreis optimal durchsetzen. Der synkretistische Diskurs der Folklore, der jedes primär ästhetische Wort als falsch, störend, unverständlich diskreditiert, lässt sich besonders an Vladimir Majakovskijs ROSTA-Fenstern, Bildern und gereimten Texten aus den frühen 20er Jahren, sowie den Gedichten Demjan Bednijs zeigen, die folkloristische Muster ideologisch funktionalisieren und damit deästhetisieren. Einheitliche Verfahren, Reduktion im Bereich der Thematik, der Lexik und der Bildsprache, intermedial-didaktische Strategien zielen auf eindeutige und breite Verständlichkeit, durch die Rezipienten beeinflusst und zu Handlungen bewegt werden sollen. Die von Jakobson (1929: 51) formulierte „kollektive Mentalität“ der Folklore stellt damit das literarische Äquivalent zur Alltagswelt der Lüge und ihrer Herstellung gruppenspezifischer Identität dar. Geplante Dissertationsprojekte: 5. Stabilität und Destabilisierung der Möglichkeit sprachlicher Kommunikation in Kulturen der Lüge (Philosophie) 6. Masken, Lügen, Demaskierung - Zur Ethnographie des Alltags (Soziologie) 7. Formen und Funktionen der Folklorelüge im nachrevolutionären Rußland: V. Majakovskijs ROSTA-Fenster und D. Bednyjs Lyrik (Slavistik) 2.2.3. Politische Kultur(en) der Lüge 10 Die entscheidenden Fragen nach Absicht oder Bewußtheit des Fälschens stellen nicht nur eine theoretische, entwicklungspsychologische oder ästhetische Herausforderung dar, sondern sie sind natürlich auch die Brücke zwischen dem individuellen und dem sozialen, dem theoretischen und dem praktischen Feld einer Kultur der Lüge. Zwar gehört „politische Kultur“ (die Wortprägung nach Almond 1956) im Sinne der Deutungsgrundlage politischer Systeme, etwa der Meinungen, Einstellungen und Werte, die die Mitglieder sozialer Einheiten durch ihre Interaktionen herstellen und die auf sie als Habitus zurückwirken, zu den von den klassischen Autoren der Gesellschaftswissenschaften behandelten Themen, doch sind die wissensmäßigen, gefühlsmäßigen und wertenden Prädispositionen keineswegs klar. Immerhin besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich damit ein wichtiger Beitrag zur Erfassung der gesellschaftlichen (sozialstrukturellen und kulturellen) Grundlagen politischer Ordnungen ergäbe, sofern die analytische Präzision und die empirische Anbindung gelänge; international vergleichende und historisch-soziologische Fragestellungen sind damit verknüpft (BergSchlosser 1986, 388). Politik im Sinne von Max Weber liegt dann vor, wenn Menschen oder Gruppen mit Hilfe eines besondere Verbindlichkeit beanspruchenden Herrschaftsapparates zum Bewusstsein gemeinsamer Interessen und zu gemeinsamem Handeln für gemeinsame Ziele gebracht werden. Gesellschaftliche Ordnungsleistungen, ja schon der Machterwerb und erst recht der Machterhalt, die Legitimation von Herrschaft sind wesentlich von der gesellschaftlichen - d.h. der gesellschaftlich manipulierbaren - Kommunikation abhängig: Eine Untersuchung politischer Kulturen der Lüge hat damit nicht nur eine Auseinandersetzung mit der theoretischen Unbestimmtheit, sondern auch mit der medialen Institutionalisierung zu führen. In dieser Themengruppe wird eher Gewicht auf die politisch-gesellschaftliche Herrschaftsthematik, also auf die Chancen mediengestützter Willensdurchsetzung, gelegt, während im nachfolgenden Teil („Lüge und Medien“) die Medien als solche bzw. die Produktions- und Rezeptionsaspekte im Vordergrund stehen. Beide Bereiche sind heute nicht ohne engen Bezug aufeinander zu behandeln. In der modernen Demokratie mit ihren pluralistischen Interessenkämpfen ist die gesellschaftliche Auseinandersetzung medienabhängig geworden. Zwar mußten Interessen und Politik zu allen Zeiten gegenüber den wichtigen Bezugsgruppen richtig „verkauft“ werden, doch ist unter dem Eindruck der Fundamentaldemokratisierung (Karl Mannheim 1958), der Mediatisierung von Öffentlichkeit und dem Übergewicht von „Anbietermärkten“ das „Marketing“ noch bedeutsamer, für Bestechung noch anfälliger geworden. Politik ist zu einem nicht unerheblichen Teil mittels Selbstbenennungen, Sprachreinigungen oder Sprachlenkungen Sprach- und Bildpolitik geworden. Da Klassifikationen einen wesentlichen Teil unseres Wissens, unserer Definitionen des eigenen Handelns und der Fremdsteuerung ausmachen (im Bereich Gesetzgebung, Verwaltung, Aushandlungsprozesse, Erziehung und Propaganda), muss die Sprache außerordentlich flexibel gehandhabt werden: Sie muss als präzise Formulierung wie als geschmeidiges Instrument der Kompromissbildung fungieren, sie muss argumentativ wie emotiv eingesetzt werden. Deswegen steht Sprache nicht nur unter dem Ideal der Eindeutigkeit. In der Diplomatie ist sogar das Gegenteil verlangt, ja ihre Kunst besteht gerade darin, in einem fein abgestimmten System von Begriffen die eigenen Interessen und Ziele darzulegen, ohne - schon verbal - einen Konflikt mit den Zielen des Partners herbeizuführen. Politik kommt ohne Rhetorik, Rede- und Überredungskunst, nicht aus. Das war zu allen Zeiten und kulturübergreifend klar (Geitner 1992). Allerdings zählte in der Antike und bis hinein in die frühe Neuzeit überwiegend die Unmittelbarkeit des Wortes. Die moderne Welt - und besonders die Gegenwart - kennt 11 hingegen immer ausgefeiltere, medienspezifische Vermittlungs- und Werbestrategien, die das Bewusstsein der Akteure selbst und das der Öffentlichkeit insgesamt verändern. Zum einen wird die Grenze zwischen Privatheitsanspruch und Öffentlichkeit fließend, zum anderen steht jede Botschaft - auch die politische - unter dem Gesetz der Geld- und Zeitökonomie. Wichtig ist nicht die inhärente Bedeutsamkeit von Themen, sondern deren öffentliche Geltung. Die Botschaften stehen unter Effizienzkontrolle und unter dem Diktat der Aufnahmefähigkeit des breiten Publikums. Deswegen gebietet sich eine hohe Selektivität und plakative Zuspitzung der Argumente. Hinzu kommt, dass sich das Zentralmedium Fernsehen wegen der Bilddominanz und schneller Bild- und Schnittsequenzen der vertieften Argumentation schon technisch weitgehend verschließt. An ihre Stelle treten als Mittel gesellschaftlicher Steuerung die Schlaglichter und Schlagwörter („key words“). Selbst Wissenschaft als „Expertensystem“ im Umfeld (oder sogar im Dienst) der Politik ist, sofern sie über Märkte vermittelt wird, nicht frei von diesen Gesetzmäßigkeiten. Die hohe Selektivität der Schlagwörter, ihre flexible, mehrdeutige, „offene“ Verwendbarkeit und ihre Eignung zur Verkürzung von Argumentationsketten lädt auch zur Fälschung, Entdifferenzierung und Lüge ein - sei sie bewusst oder unbewusst, sei sie in Kauf genommen oder willentlich erzeugt. Wo schließlich kein politischer Diskurs in und mit der Öffentlichkeit mehr gewünscht ist, verfällt gar der demokratische Anspruch. Zur systematischen Ausprägung einer politischen Kultur wird dieser Vorgang dann, wenn die Korrumpierung der demokratischen Verfahren und die Lügenhaftigkeit der politischen Akteure, ihrer Netzwerke, Zielvorgaben, Praktiken und Rechtfertigungen allgemein unterstellt wird. Damit setzt eine generelle Delegitimierung von öffentlicher Rede und politischen Handlungen ein, die das „Systemvertrauen“ zum Einsturz bringt (s.o., Hermeneutik des Vertrauens). Nicht jede Vereinseitigung ist schon Lüge. Die Übergänge zwischen Präzision und Lüge sind sogar fließend. Das hängt damit zusammen, dass Begriffe - und Schlagwörter besonders meist eine Orientierung und Wertung mit enthalten. „Wörter, die man sich ohne Kontext denkt, können nicht lügen“ (Bergsdorf 1986: 488). Sobald sie aber in einen Kontext gebracht werden, können sie mindestens täuschen, wenn nicht lügen, nämlich dann, wenn die zugrundeliegenden Wertsetzungen nicht explizit gemacht werden, die Handlungsdimension unausgesprochen bleibt und appellative Kontextannahmen sogar unbemerkt in das Bewusstsein der Adressaten einfließen sollen. Im Recht wird die Bezeichnung „Lüge“ nicht verwendet. Unter anderen Formulierungen wird die Lüge jedoch vielfach sanktioniert. Aufgrund von „arglistiger Täuschung“ abgegebene Willenserklärungen sind anfechtbar; bei Kaufverträgen besteht nach einer Täuschung ein Recht auf Wandelung oder Minderung. „Falsche“ Aussagen, Vortäuschungen von Straftaten, Vermögensschädigungen durch Täuschung und die „Leugnung“ des nationalsozialistischen Völkermordes sind strafbar. Bei der Vernehmung von Beschuldigten ist die Täuschung unzulässig; durch Täuschung erlangte Aussagen dürfen für die Strafverfolgung nicht verwertet werden. Hierbei stellt sich einerseits die Frage, ob der Schutz des Rechts vor „Lügen“ ausreichend ist. Im Strafprozess wird die Lüge immer mehr auch rechtlich toleriert. Die Ablehnung des Zwangs zur Selbstbelastung („nemo tenetur se ipsum prodere“) hat zu der Forderung nach einem „Recht auf Lüge“ für den Beschuldigten geführt. Auf der anderen Seite erlaubt der Staat zur Aufdeckung schwerer Formen von Kriminalität den Polizeiorganen und damit letztlich sich selbst weitgehende Möglichkeiten der Täuschung. Diese Gesichtspunkte werfen eine Fülle von Fragen auf. Dabei ergeben sich viele Beziehungen zu den anderen beteiligten Disziplinen. Besonders dringlich erscheinen folgende 12 Untersuchungen: Es ist zu untersuchen, ob es im deutschen Strafprozeß ein „Recht auf Lüge“ gibt. Umgekehrt stellt sich die Frage, wie sich die verschiedenen Möglichkeiten der Täuschung, die sich der Staat im Kampf gegen schwere Kriminalität erlaubt, mit dem allgemeinen Täuschungsverbot vertragen. Besonders reizvoll, aber auch entsprechend schwierig, wäre die Verbindung dieser beiden Themen zu einem allgemeinen Thema „Lüge und Täuschung im Strafprozess“. Diese Fragen lassen sich historisch und methodisch in ganz unterschiedlichen Bereichen verfolgen: In einer latinistischen Arbeit soll die Rolle der Lüge im Bereich von Politik und Rhetorik untersucht werden, gezielt für die forensische Rhetorik der Römer. Vor dem Hintergrund theoretischer Reflexionen (rhetorische Handbücher oder philosophische Traktate) müssten etwa die (Gerichts-)Reden Ciceros nicht nur auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht werden, sondern auch auf die Funktionalisierung der Manipulation (inwieweit setzt z.B. Cicero in der ersten Catilina-Rede bewusst oder unbewusst Fiktionen - mit gleitendem Übergang zur Lüge - ein, um den Gegner zum Verlassen der Stadt zu bringen?). Eine zweite Aufgabe stellt sich in der Diskussion der in Geschichtswerke eingelegten Reden als eines Konfliktes von Fiktionalität und Authentizität, wenn etwa Sallust in den Historien den vom Volk tätlich angegriffenen Konsul Cotta sprechen lässt und die Art seiner Rede über die Bewertung des Vorfalles entscheidet. Zeitgenössische Praktiken der Rhetorik sollen im Problemfeld der „political correctness“ untersucht werden, wo es darum geht, die eigene Meinung hinter nicht-diskriminierenden Reden zu verstecken und damit Gefahr zu laufen, der Lügenhaftigkeit den Boden zu bereiten und eine Verständigung zu unterlaufen: Eine sprachtheoretische Analyse (s.o.) findet hier eine praktische Ergänzung in der anglistischen Sprachwissenschaft. Es geht dabei nicht nur um die Untersuchung des Einflusses, den die Sprache etwa mittels „Begriffswäscherei“ auf das Denken hat, sondern auch um sprachwissenschaftliche Analyse einzelner Termini der „political correctness“ nach Herkunft, sodann nach ihren Funktionen innerhalb der gesellschaftlichen Dynamik: Gesellschaftlich als „richtig“ definierte Schlüsselwörter haben Auswirkungen auf die Selbstbeschreibung der Gruppe, auf die Positionierung der Politiker, auf Binnen- oder Außendifferenzierung, Erzeugung von Gruppensolidarität etc. Ein kulturvergleichender Blick (etwa zwischen Nordamerika und Europa) muss die Spannbreite der „political correctness“ zwischen akzeptiertem Moralkodex und bloßem Ritual oder Versteckspiel untersuchen. Insofern ist auch regionalen Differenzierungen Rechnung zu tragen: Nicht überall ist der Verlust des Systemvertrauens aufgrund vermuteter Lügen gleich hoch. Ist die institutionelle Sicherung von öffentlicher Moral und sozialer Kontrolle einmal ausgehebelt, ist es sehr schwer, den „circulus“ von allgemein unterstellter Lügenhaftigkeit „des Systems“ und Selbstermächtigung zu eigener Lüge zu durchbrechen. Lüge erzeugt Lüge (und Schweigen über Lügen), so dass sich die Spirale aus Intransparenz, Schweigen, Lüge, Korruption, Mißtrauen, Schweigen etc. weiterdreht (sog. „Sizilianisierung Europas“). Die Furcht vor einer Ausbreitung solch mafioser Verhaltensmuster ist weit verbreitet. Wenn heute „corruption as usual“ unterstellt wird, dann mag das mit den Fakten vielleicht nicht überall und nicht unbedingt übereinstimmen (was empirisch zu prüfen wäre), die Erwartung einer solchen allgemeinen Situation allein genügt aber schon, um die Selbsterfüllung der Prophezeiung zu fördern. Wie weit die Vermutung einer systematischen Unterwanderung öffentlicher Verantwortung in verschiedenen Subsystemen durch Fälschung, Lüge, Cliquenbildung und Käuflichkeit allgemein geteilt wird, ist in einer soziologischen Arbeit anhand der organisierten Kriminalität in Deutschland und Europa zu überprüfen. 13 Geplante Dissertationsprojekte: 8. Lüge und Täuschung im Strafprozess (Jura) 9. Rhetorik, Politik und Lüge im antiken Rom (Klassische Philologie/Latinistik) 10. Das Phänomen der politischen Korrektheit - Vermögen oder Unvermögen der Sprache? (Anglistische Sprachwissenschaft) 11. ‘Corruption as usual’ - Korruptionsverdacht als gesellschaftliches Risiko (Soziologie) 2.2.4. Lüge und Medien Die Diffusion, die Rhetorik und Medien zu politischen Kulturen der Lüge beitragen, lassen die Diskussion des Zusammenhangs von Medien und Lüge als vordringlich erscheinen. Während sich die „Ästhetik der Lüge“ mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, Fiktionalität könne von Lüge nicht unterschieden werden (s.u.), gilt für die Medien des 19. und 20. Jahrhunderts zunächst das Gegenteil: Denn aufgrund ihrer Fähigkeit, die Wirklichkeit mittels technischer Apparaturen vermeintlich rein mechanisch und ohne Einmischungen eines menschlichen Subjektes zu reproduzieren, schien ihnen ein besonders hoher Grad an Wahrhaftigkeit zuzukommen. Ob Photographie, Film, Grammophon, Radio oder Fernsehen, die modernen Aufzeichnungsmedien scheinen als Mittel mechanischer Reproduktion der Wirklichkeit in geradezu idealer Weise geeignet zu sein, eine authentische Abbildung der Wirklichkeit zu liefern und die Grenzen menschlicher Wahrnehmung zu sprengen und zu erweitern (McLuhan 1968). Sind technische Aufzeichnungsmedien daher vorderhand mit einem größeren Glaubwürdigkeitspotential ausgestattet, da sie Wirklichkeit vermeintlich total und später auch synchron reproduzieren können, so potenziert gerade diese größere Glaubwürdigkeit die Möglichkeiten zur Manipulation, besonders in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Lassen sich Wahrheit und Lüge also bis zu diesem Zeitpunkt immer noch als Ergebnisse einer freien Entscheidung des einzelnen Medienproduzenten betrachten, so verschiebt sich diese Problematik im Laufe der siebziger und achtziger Jahre allerdings zusehends von der ethischen zur systemtheoretischen Problematik (Luhmann 1995). Ob eine Nachricht wahrhaft oder erlogen ist, entzieht sich zunehmend der Entscheidung einzelner, sondern ist vielmehr eine Frage, die immer weniger einzelne Akteure, sondern mehr und mehr das gesamte System betrifft. Mit der Verabschiedung einer Theoriebildung und Terminologie, die an der Face-toface-Kommunikation orientiert ist, zeigt sich aus systemtheoretischer Perspektive, dass der Zug zur Lüge den Medien selbst eingeschrieben ist, unabhängig von den Entscheidungen einzelner Subjekte medialer Kommunikation. Hier ist an die „Wertigkeit“ von Nachrichten zu denken, die sich nicht ihrer Fremdreferenz, ihrem Wirklichkeitsbezug, als vielmehr ihrer Differenz gegenüber anderen Nachrichten verdankt, damit aber eine Zirkularität des Informationsflusses erzeugt, die als bloße Selbstreferenz des Mediums gelten muss. Und wo die Grenzen zwischen Ereignis und Abbild - etwa im Simulakrum (Baudrillard 1984) verschwimmen, werden Nachrichten nicht wiedergegeben, sondern von den Medien unabhängig von einer Referenz produziert (Bourdieu 1998). Darauf kann die Medienanalyse extern reagieren, indem sie den medialen Diskurs mit anderen kritisch vergleicht, doch wird auch im Medium selbst eine medieninterne Differenz eingeführt, die den wahren und den erlogenen Wirklichkeitsbezug unterscheidbar machen soll. Wenn Täuschungsresultate sich nicht unmittelbar einer Täuschungsintention verdanken, verändert sich die Fragestellung medienbezogener Untersuchungen im Kontext der Analyse 14 von Kulturen der Lüge: Die Frage lautet dann nicht mehr (wie oben): „Wie beziehen sich Medien auf die sie umgebende Wirklichkeit?“ (Abbildung, Wahrhaftigkeit, Täuschung, Lüge, Simulakrum) oder „In welcher Form konstituieren sie Fremdreferenzen und in welcher Form werden solche Referenzen mit Täuschungsabsichten vorgetäuscht?“, sondern „Wie produzieren Medien im Binnenraum ihres eigenen Zeichensystems die Differenz zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz?“ Daran schließt sich die Frage an, mit Hilfe welcher diskursiver Strategien und Zeichensysteme Medien Binnenunterscheidungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Wahrhaftigkeit und Lüge, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit produzieren. Diese Frage umfasst alle Sendearten, sowohl fiktionale als auch die referenziellen Genres (Spielfilm, Reportage, Talkshow, Diskussion). Im Fall der Nachrichten wird die referenzielle Illusion eines direkten Fremdbezuges auf die Wirklichkeit durch vorgeblich objektiven Sprachgebrauch, durch die Stützung von Aussagen durch Eliten und Autoritäten und durch Zitate bzw. Reportagen vor Ort erzeugt. Eine komplexere Form der Wahrheitsinduktion besteht darin, innerhalb eines Genres, subjektivere „Falschheit“ neben der objektiveren „Wahrheit“ mit zu enkodieren, um die Authentizität des Dargestellten durch den Kontrast zu profilieren. Dies geschieht unabhängig von der jeweiligen Medienform, von Sendeformaten und von Sendeinhalten. So setzt die Tageszeitung die „reine“ Nachricht von Meinung und Kommentar ab; die Nachrichtensendung beglaubigt ihre Bezüge zur Realität durch Augenzeugen, durch das Zeigen von Originalschauplätzen und durch eine bestimmte, „realitätsbezogene“ Aufnahmetechnik im Unterschied zu den Fiktionen des Spielfilms. Innerhalb der Talkshow wird der Anspruch auf Authentizität durch Wechselperspektiven der Kamera, durch die Lebhaftigkeit der Diskussionen und durch den Einbezug des zuhörenden Publikums erzeugt. Der Dokumentarfilm setzt sich durch „mediale Techniken der Unmittelbarkeit“ vom Spielfilm ab und selbst innerhalb des Spielfilms ziehen verschiedene ästhetische Strömungen eine Trennlinie der Binnendifferenzierung zwischen „falschen“, „verlogenen“ und solchen Filmen, die unmissverständlich Ansprüche auf Authentizität anmelden. Von dieser klaren semiotischen Enkodierung von Differenzen sind Sendeformate zu unterscheiden, die medieninterne Binnendifferenzierungen bewusst aufheben wie z.B. das „Infotainment“ oder „faction“ als gewolltes Ergebnis einer Mischung von Tatsachen und Fiktion. Die semiotische Perspektive der Binnendifferenzierung zwischen authentischen und uneigentlichen Wirklichkeitsbezügen muss durch eine rezeptionsorientierte Perspektive ergänzt werden. Wenn es für den Rezipienten trotz aller interner Unterscheidungen immer schwerer wird, Wirklichkeitsebenen, Konstruktionsvorgänge und die Produktion von Scheinwirklichkeiten auseinander zu halten, muss er Strategien entwickeln, das Medienangebot zu strukturieren. Die Frage ist sowohl in wirkungspsychologischer und soziologischer als auch in medienethischer Hinsicht zu stellen. Konkret könnten aus der Gesamtperspektive folgende Teilprojekte hervorgehen: Die Erschaffung und Manipulation von Illusionen in den Nachrichten: Untersucht werden die sprachlichen und visuellen Mittel, mit denen der Referenzbezug von Nachrichten enkodiert wird, so dass Leser bzw. Zuschauer den Eindruck haben, die gegebene Information sei - im Unterschied zur massenmedialen Aufbereitung der Information als „sensationell“ authentisch. Unter linguistischem Aspekt (Anglistik) ist die politische Instrumentalisierung der Nachrichten in Form offener oder verdeckter Appellstrukturen mit einzubeziehen, da von ihr letztendlich eine systemstabilisierende oder aber destabilisierende Wirkung ausgeht. Realitätskonstruktionen in politikbezogenen Talkshows: Die in den Rundfunkgesetzen 15 festgelegten drei Funktionen der Medien - Unterhaltung, Bildung, Information - haben nicht nur zu getrennten Sendeformaten geführt, sondern auch zu hybriden Formen wie z.B. Infotainment oder Politiktalkshows, in denen sich die Einzelfunktionen überschneiden bzw. Konkurrenz machen, so dass dem Wahrheitsanspruch etwa von Talkshows enge Grenzen gesetzt sind. Bei einer medienspezifischen Analyse der Wirklichkeitsfiktionen (Psychologie) geht es u.a. auch um die Frage, ob die Analyseinstrumente von Face-to-faceKommunikationen auf mediale Kommunikationssituationen übertragen werden können: Wie wird die alltägliche Handlungsstrategie der geschönten Selbstdarstellung, des impression management, des Einsatzes von Lüge und Täuschung in den Medien umgesetzt? Welche mediale Kompetenz ist dazu nötig? Sind hier die gleichen Wirkfaktoren am Werk wie im interpersonellen Bereich oder sind spezifische mediale Faktoren anzusetzen. Menschenwürde und Menschenbilder in den Medien (Werbung, Daily Soap, Infotainment, Talkshow): Angesichts der mediensystemisch immanenten Kapazität zur En- und Decodierung von Information als wahr oder falsch ist in und jenseits dieses binären Codes nach der ethischen Funktion „komplementärer Wahrheiten/Lügen“ und nach den zu fordernden systemischen wie transsystemischen Axiologien und Kodierungskompetenzen im Sinn einer Produktions- wie Rezeptionsethik zu fragen. Insbesondere zur Rezeptionsethik soll das moraltheologische Teilprojekt einen Beitrag liefern, denn von der Medien- und Kommunikationspragmatik wie der Wirkweisenforschung ist zur ethischen Reflexion ein kleiner, aber folgenreicher Schritt. Hier wäre genreübergreifend zu denken an Komplexe wie: Medien und Verklärung des Alltags in der „Daily Soap“, faktische Ritualisierung und Ritenübernahme durch Medien bei ungeklärtem Wahrheitsanspruch (TV-Talkshows als Bekenntnisrituale, Medien als Religionssimulation, A. Schilson 1997, V. Flusser 1990, 1997), Medien und Totalitätsanspruch (Sicherung und Verunsicherung von Leit- und Menschenbildern), erklärende/verklärende Bilder des Menschseins zwischen Vorbildfunktion und Idolatrie. Die Ideologisierungs- und Instrumentalisierungsthematik lässt sich hier anschließen (z.B.: unzensiertes Internet versus staatsgelenkte Presse) und individual- wie sozialethisch hinsichtlich Funktionen wie Folgen vom Phänomen der „Lüge“ und anderer komplexer Simulations- oder Dissimulationsformen aufschlüsseln. Fake und fact - Wahrheit und Lüge in der modernen Filmästhetik: Die moderne Filmästhetik der Nachkriegszeit versteht sich unter anderem als Reaktion auf die massive Manipulation der Filmbilder durch die totalitären Systeme der (Vor-)Kriegszeit im alten Montagekino der Illusion, der Täuschung und der Lüge. Die Kamerafahrt wird zur Frage der Moral (Godard), Ethik und Ästhetik sind unmittelbar konvertierbar. Den damit verbundenen realistischen Anspruch auf Wahrhaftigkeit suchte das neue Kino (nach dem ital. Neorealismus) vor allem in den sechziger Jahren (nouvelle vague, new British cinema etc.) durch neue Techniken einzulösen. Auch diese neue Authentizität des Kinos ist jedoch inszeniert, sie erzeugt referenzielle Illusionen (Barthes 1982). Das romanistische Teilprojekt untersucht, durch welche filmästhetischen Strategien das Kino der sechziger Jahre seine eigene Authentizität und Wahrhaftigkeit zu verbürgen suchte. Eine besondere Rolle spielen dabei Techniken der Illusionsbrechung, die Offenlegung des kinematographischen Kodes und der Verfahren, die den Unterschied zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge als ästhetisch bedeutsames re-entry in den Film selbst einschreiben, etwa durch Zitate aus der Filmgeschichte, die im Kontrast zum eigenen Film dessen Eigentlichkeit und Glaubwürdigkeit unterstreichen. Eine systemtheoretisch fundierte Auffassung von Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit liegt auch bei der Untersuchung der neuen netzbasierten elektronischen Medien, insbesondere des WWW, nahe (Informationswissenschaft). Das System der diesem neuen Medium zu Grunde 16 liegenden Wertvorstellungen und Ausdrucksformen, der das Medium nutzenden Akteure und der zu vermittelnden Inhalte ist noch nicht gefestigt. Das Zeichensystem des Web ist noch im Entstehen begriffen. Dies zeigt sich an den noch fortlaufenden Standardisierungsbemühungen des WWW-Consortiums. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass die Interpretation der Äußerungen der Leser (meist Auswahloperationen), weder festgelegt noch ersichtlich ist. Fest steht allein die unmittelbare Bedienfunktion. Über statistische Auswertungen und ihre Auswirkung auf die weitere Inanspruchnahme von Informationsdienstleistungen ist dem Leser nichts bekannt. Aufgrund der Neuheit des Mediums sind die bei der Einführung der Technologie präsenten Utopien und Wunschvorstellungen noch weniger tief abgesunken und leichter zu reflektieren. Aber schon jetzt ist eine Kluft zwischen Utopie bzw. Anspruch und Wirklichkeit zu verzeichnen, die in Unwahrhaftigkeit umzuschlagen droht. Die Einführung der vernetzten elektronischen Medien war - zumindest hinsichtlich der Bemühungen um einen theoretischen Überbau - eng mit der postmodernen und poststrukturalen Sprach-, Literatur- und Gesellschaftskritik verbunden. Die damit verbundenen Vorstellungen um Dezentralisierung, das Entschwinden des Autors, die Emanzipation des Individuums etc. fanden ihre ungetrübte Realisierung in einer kurzen anarcho-kreativen Phase des WWW. Als Reaktion auf die zunehmende Unbeherrschbarkeit des neuen Mediums, die allein aus dem Umfang der verfügbaren Materialien und der fehlenden Qualitätskontrolle resultierte, aber auch als Folge der bald Platz greifenden Kommerzialisierungstendenzen, etablierten sich schnell neue Autoritäten – Suchmaschinen, Kataloge, Portale - , die allerdings im Vergleich zu den alten Autoritäten – Verlage etc. – überwiegend anonym bleiben. Die hier vorgestellten Informationsdienstleistungen werden, bei weitgehender Unkenntnis der Auswahlmechanismen sowie der Interessen der Betreiber, als objektiv, weil technisiert und damit interesselos, wahrgenommen. Dabei ist über die Verfahren, nach denen die großen Suchmaschinen operieren, selbst in der Fachwelt nur Ungefähres bekannt. Man kann sich fragen, inwieweit der Zugang zu den von den modernen Informationsgesellschaften als konstitutiv empfundenen Medien Kräften überlassen werden darf, die weitgehend anonym und scheinbar rein technokratisch operieren und deren Interessen nicht expliziert sind. Geplante Dissertationsprojekte: 12. Macht ohne Verantwortung - eine kritisch-linguistische Analyse der englischen Presseberichterstattung über den Kosovo-Krieg (Anglistische Sprachwissenschaft) 13. Analyse der Selbstdarstellung in massenmedialen Kommunikationssituationen auf dem Hintergrund sozialpsychologischer Faktoren der Face-to-face-Kommunikation (Psychologie) 14. Menschenbilder in der Werbung. Ideale oder Idole und ihr Wirkung: Aufklärung, Erklärung oder Verklärung (Theologie) 15. Simulationen des Authentischen im Film der sechziger Jahre (Romanistische Literaturwissenschaft) 16. Herstellung von Glaubwürdigkeit im WWW (Informationswissenschaft) 17. Verlässlichkeit von Suchdiensten (Informationswissenschaft) 2.2.5. Ästhetik der Lüge Ausgangspunkt für den Beitrag einer „Ästhetik“ der Lüge im Gesamtrahmen der „Kulturen der Lüge“ ist der grundsätzliche Konflikt zwischen ästhetischer und ethischer Qualität, 17 insofern „Lüge“ vielfach als moralischer Terminus verwendet wird: Innerhalb einer „Ästhetik der Lüge“ soll dieser Konflikt aber gerade wieder ästhetisch produktiv werden, das heißt ethische Fragen sind dabei erst in zweiter Hinsicht bedeutsam. Allerdings bildet eine ethische Anfechtbarkeit von „Ästhetik der Lüge“ insofern einen Hintergrund, als der Mißbrauch einer solchen „Ästhetik der Lüge“ kontrolliert werden muß, sobald er etwa in die Nähe des Faschismus, des Kitsches oder einer ökonomischen Instrumentalisierung gerät. Wenn denn vor diesem Hintergrund die ästhetische Dimension hier die ausschlaggebende sein soll, so verkörpern Kants „Urteilskraft“, die das Ästhetische aus den Zweckbindungen löst, und Nietzsches antimoralistische Kehre historische Befreiungsschläge, hinter die man nicht zurückfallen darf. Hier besteht einerseits ein Austausch mit der philosophisch-ästhetischen „Theorie der Lüge“, die ihr in ontologischer oder analytischer Weise Rechnung tragen muß, andererseits aber auch mit den Anwendungsgebieten der „Medien“ oder der Politik. Eine spezifische „Ästhetik der Lüge“ rechtfertigt ihren Status gegenüber anderen Dimensionen von „Kulturen der Lüge“ vor allem als eine Simulation des Authentischen, die im Bereich der Philologien wie der Kunstgeschichte als Simulakren von Lebensskripten, von Ursprüngen und Handlungen differenziert werden muß. Dabei werden (in den Einzelprojekten) hybride Verwerfungen zwischen den Kategorien Ästhetik und Ethik oder Natur und Kultur zu beobachten sein („Landschaftsgarten“, „Folklorelüge“) wie zwischen Realismus und Ästhetizismus („novela picaresca“), zwischen Intrige und Handlung („Lüge im Drama“) wie zwischen Legitimation und Fiktion („Autobiographie“). Synkretistische Strukturen verbinden dabei vermeintlich höhere und niedrigere Gattungen der Literatur, denn die Artifizialität des antiken Dramas trifft sich hier mit der Schein-Natürlichkeit des Schelmenromans oder der Folklore ebenso wie mit der vermeintlichen Authentizität der Autobiographie oder der hergestellten Natürlichkeit des Landschaftsgartens. (Eine Erweiterung der Fragestellung bis hin zur künstlichen Natürlichkeit der Oper wäre möglich.) Das Stichwort „Ästhetik der Lüge“ beschreibt somit die Ästhetisierung und ihre Entlarvung in einem, wobei in allen (zu behandelnden) Fällen der Anspruch auf Unmittelbarkeit, auf „Realismus“ (gerade auch in der Komödie) und ursprüngliche Natürlichkeit das ästhetische Phänomen begründet und zugleich desavouiert. Die entwickelten Projekte tragen der Simulation des Authentischen auf je unterschiedliche Weise Rechnung, wobei sich sowohl in den philologischen Beiträgen eine Reihung (a) als auch eine Verbindung zwischen literaturwissenschaftlichen und kunstgeschichtlichen Fragestellungen (b) von selbst ergibt. (a) In ganz unterschiedlichen historischen und gattungstheoretischen Zusammenhängen kommen die hier zu behandelnden Aspekte doch darin überein, dass sie jeweils Natürlichkeit oder Authentizität reklamieren, diese aber gerade durch diese Reklamation (die Anzeichen ihrer Nicht-Selbstverständlichkeit ist) in Frage stellen. Schon die vermeintliche Unmittelbarkeit der Folklore erweist sich als brüchig, so wie andererseits die angebliche Nicht-Künstlichkeit der Autobiographie (als eines „natürlich reinen“ Bekenntnisses) oder der novela picaresca (mit ihrem Anspruch, in einfacher Sprache geschrieben und damit dem „Leben“ unmittelbar abgeschaut zu sein) sich als Konstrukte erweisen. Die Schillersche Terminologie ließe sich als nur „scheinbare“ Naivität und kaschierte Sentimentalität weiterschreiben. Dieser Logik nur scheinhafter, letztlich bewußt erzeugter, insofern (herbei)gelogener Nicht-Künstlichkeit kann auch noch das antike Drama zumindest teilweise unterstellt werden, indem es reale Handlungen lediglich vortäuscht. (b) Die Fiktionalisierung der eigenen Herkunft und damit die Scheinauthentizität der eigenen 18 Legitimität erweist sich als eine zweite Klammer der einzelnen Projekte: Der zumindest fragwürdige Umgang der Gartenbaukunst mit ihrem fingierten Alter (etwa durch Ruinen oder fiktive Grabmäler) tritt neben die folkloristische Natürlichkeitshypothese wie neben die Ursprungsfiktion der Autobiographie. In allen Fällen wird der Anschein des Authentischen sei es als Alter und Herkunft, als Natur oder Ursprung - nachträglich, rückwirkend erzeugt. Die synkretistische Folklore ist vom sozialistischen Realismus wie vom Nationalsozialismus instrumentalisiert und ideologisiert worden, indem der zunächst zweckfreie, eher mythische Diskurs politisch funktionalisiert wurde, die „kollektivistische Mentalität“ der Folklore wurde in „Volkstum“ umgelogen, was die Unterordnung der ästhetischen Funktion unter eine politisch-nationale, ethnische Funktion erlaubte: Dabei maskiert sich das ideologisch Neue durch den Anschein alter Traditionalität (Slavistische Literaturwissenschaft). Eine analoge Problematik ergibt sich auf dem Feld der Autobiographie, die nicht so sehr durch die Vermischung von Ästhetik und Moral als vielmehr durch die Gleichzeitigkeit von Lebensunmittelbarkeit und Literarizität strukturiert wird. Sie steht damit einerseits am Rand des literarischen Systems wie andererseits in seinem Zentrum, indem ihre Authentizität zugleich den Verdacht unliterarischer Unmittelbarkeit erweckt, ästhetischer und dokumentarischer Wert konfligieren (Neuere deutsche Literaturwissenschaft). Die Grenze zur novela picaresca ist dabei fließend, vor allem in erzähltheoretischer Perspektive und im Blick auf die Reliabilität der Ich-Instanz. Im Schelmenroman gehört die Täuschung allerdings ebenso zur Überlebenstaktik des Protagonisten - gerade in einer ihm feindlich gesinnten, geschlossenen Welt - wie zur poetologischen Gattungsstruktur: Die Aufspaltung des Protagonisten führt nicht zum legitimierenden „autobiographischen Pakt“, sondern zur paradoxen Konkurrenz, bei der die Wahrheit über die Gesellschaft nur als Lüge getarnt oder denunziert vermittelt werden kann (Romanistische Literaturwissenschaft). Mit dem Wegfall der vermittelnden Erzählinstanz tritt die Maskierung im Drama in die Unmittelbarkeit der theatralischen Präsentation hinüber: Die Intrige vor allem der antiken Komödie, dann aber auch der Tragödie baut sich auf einem komplizierten Netz von improvisierten oder geplanten Lügen auf. Auch ein rezeptionstheoretischer Aspekt ist zu berücksichtigen, der sich mit der Ideologisierung der Folklorelüge verknüpft: Die im 1. Jahrhundert zum Lesedrama reduzierte Tragödie wird zum unzensurierten, maskierten Spiegel der Staatskritik und weist der Lüge damit eine texttranszendierende Rolle zu. Als Vergleich ist dazu die Lüge im Roman heranzuziehen (Klassische Philologie/Latein). Der in Konkurrenz zum französisch-aristokratischen Garten entwickelte englische Landschaftsgarten räumt bewußt - und insofern künstlich - der Natur den ersten Platz ein und sucht mithin die gestaltende Hand des Menschen zum Verschwinden zu bringen; er suggeriert Freiheit und Öffnung, schließt sich aber exklusiv von der Außenwelt ab, seine „Sentimentalität“ appelliert an das Individuum, bleibt aber in den deutschen Ländern, im Gegensatz zu England, Teil der Hofkultur. Weltläufige Ferne (durch exotische Pflanzen oder Gebäude) und große Zeiträume (durch antikisierende Bauten) werden fingiert, ja sogar die Zukunft durch ästhetisierte (fingierte) Grabdenkmäler noch lebender Aristokraten vorweggenommen (Kunstgeschichte). Die geplanten Projekte greifen auf diverse komparatistische und interdisziplinäre Verfahren zurück. Die Folklorelüge bildet den Hintergrund für eine Verortung Hans Watzliks im ästhetischen und pragmatischen Kontext, der vor allem als Bestätigung der eigenen Kultur 19 angelegt ist. Für die Strategien der Selbstdarstellung in der modernen deutschsprachigen Autobiographie (imaginäre Autobiographie bei Ingeborg Bachmann, fiktive Autobiographie bei Wolfgang Hildesheimer oder das phantastisch Genaue bei Christa Wolf) wird sich eine kritische Auseinandersetzung mit der dekonstruktivistischen Autobiographie-Forschung als unverzichtbar erweisen. Ein diskursanalytisch (und systemtheoretisch) inspiriertes Verfahren zeigt bei der Erforschung des spanischen und französischen Schelmenromans (vom ‘Lazarillo’ über Quevedo und Lesage bis hin zu José C. Cela oder Thomas Pynchon) ein „pikareskes Prinzip“, das noch in der Postmoderne seine Gültigkeit erweist. Eine vierte methodische Orientierung wird im altphilologischen Kontext sichtbar, indem gattungstheoretische und sozialgeschichtliche Fragestellungen kombiniert werden. Der durch den jeweiligen Gegenstand provozierte Methodenpluralismus im philologischen Bereich soll im interdisziplinären Dialog des Graduiertenkollegs bewußt die Stipendiaten zur Absicherung ihres Vorgehens zwingen, überdies die Leistungsfähigkeit und die Exportbereitschaft der Philologien begründen. Geplante Dissertationsprojekte: 18. Formen und Funktionen der Folklorelüge: Hans Watzlik - ein Nazidichter? (Slavistische Literaturwissenschaft) 19. Strategien der Selbstdarstellung: Autobiographie als Wille zur Macht (Neuere deutsche Literaturwissenschaft) 20. Lüge als Form paradoxaler Kritik im Schelmenroman und in der Autobiographie (Romanistische Literaturwissenschaft) 21. Gespielte und erzählte Wirklichkeit: Die Lüge im Drama und Roman der Antike (Klassische Philologie/Latinistik) 22. Zur Manipulation von Zeit und Raum im Landschaftsgarten (Kunstgeschichte) 20