Seite aus: Natura aktuell 6, ISBN: 3-12-043493-0 Autor: Hans-Peter Krull Grafiken: Jörg Mair, Herrsching www.klett-verlag.de Sozial- und Paarungssysteme bei Blaumeisen Klassenstufe: 12/13 Schwerpunkt: Soziobiologie Voraussetzungen: Evolutionsbiologie Sachinformation Sozialsysteme Seit Mitte der 80er- bis in die späten 90er-Jahre betrieb man u. a. in belgischen Waldgebieten Forschungen an Blaumeisen (Parus caeruleus). Inzwischen ist die Datenmenge so groß, dass es sich lohnt, die Ergebnisse vorzustellen. Dies insbesondere, da der Bedarf an Materialien zur Soziobiologie gewachsen ist und das Beispiel eine bekannte einheimische Tierart betrifft. Bei den untersuchten Blaumeisenpopulationen herrschte Weibchenüberschuss, weil einerseits aus der Umgebung vermehrt Weibchen einwanderten und außerdem die Verluste unter den Männchen größer waren als die Weibchensterblichkeit. Unter diesen Bedingungen muss ein Teil der Weibchen auf Fortpflanzung verzichten oder sich mit einem Männchen paaren, das schon eine Partnerin hat. Die Forscher beobachteten, dass rund 20 % der Männchen und etwa 35 % der Weibchen an polygynen Paaren beteiligt waren. Sie unterschieden: 1. ganzjährige Polygynie: Ein Männchen tut sich im frühen Winter mit zwei Weibchen zusammen und bleibt über ein Jahr mit ihnen verpaart. Diese Männchen waren besonders begehrt und erfolgreich. Alle ihre Weibchen produzierten Jungtiere, die bis in die nächste Brutsaison überlebten. 2. Sukzessive Polygynie: Ein monogames Männchen erhält während der Brutsaison durch Zuwanderung ein Sekundärweibchen. Man unterscheidet zwei Formen: – frühe sukzessive Polygynie: Das Sekundärweibchen erscheint, bevor das Primärweibchen Eier gelegt hat. – späte sukzessive Polygynie: Das Sekundärweibchen erscheint, nachdem das Primärweibchen begonnen hat zu brüten. Während normalerweise Weibchen unaufgefordert zuwandern, bemühen sich manche Männchen aktiv um weitere Partnerinnen. Sie beginnen in der Nähe eines anderen Nistkastens zu singen. Dies aber nur, wenn ihr eigenes Weibchen im Vergleich zu den anderen früh mit dem Brüten begonnen hat. Sie verhalten sich so, als ob sie ihre Partnerin verloren hätten. 3. Ersatzpolygynie: Ein Männchen verschwindet und ein Nachbarmännchen übernimmt sein Revier inklusive Weibchen mit. Bruterfolg der Weibchen Die Gelegegröße nimmt ab, je später im Jahr die Weibchen mit dem Legen anfangen. Primärweibchen produzieren im Schnitt größere Gelege als monogame Weibchen, da sie früher verpaart sind und entsprechend früher legen. Sekundärweibchen legen am wenigsten Eier. Dies kann daran liegen, dass sie später mit dem Brüten beginnen. Primärweibchen ziehen im Schnitt genauso viele Junge auf wie monogame, zahlen aber ihren Preis, da sie weniger männliche Hilfe bekommen und dies durch mehr eigene Brutpflegearbeit ausgleichen müssen. Monogame Weibchen und Primärweibchen erreichen aber mehr flügge Jungtiere als Sekundärweibchen. Vollständige Brutverluste nach dem Schlüpfen treten am häufigsten bei Sekundärweibchen auf. Bruterfolg der Männchen Polygyne Männchen erreichten im Jahr im Schnitt 13,1 (N = 12) Junge, während monogame Männchen durchschnittlich 7,5 Junge (N = 74) aufzogen. Außer-Paar-Kopulationen (APK) Um ihren Fortpflanzungserfolg zu maximieren müssten Vogelweibchen ein Männchen als Partner auswählen, das ein Revier mit guten Ressourcen und „gute Gene“ besitzt, sowie intensiv in den Nachwuchs zu investieren bereit ist. Da einerseits nicht alle Männchen alle diese drei Merkmale gut ausgebildet haben und andererseits die Weibchen um die besten Männchen konkurrieren, ist ihre Wahlfreiheit eingeschränkt. Dadurch bekommen einige Weibchen relativ „schlechte“ Männchen ab. Außer-Paar-Kopulationen können für diese Weibchen einen Ausweg aus ihrem Problem darstellen. Weibchen könnten Männchen mit einem guten Revier und einer intensiven Brutpflege als Brutpartner wählen und als Paarungspartner ein Männchen mit „guten Genen“. Weibchen von „begehrten Männchen“ mit allen drei Eigenschaften müssten demzufolge treu sein. Über genetische Fingerabdrücke aller beteiligter Brutpartner und Jungtiere der Population ließen sich APKs der Weibchen nachweisen. Das APKVerhalten der Weibchen hatte folgende Merkmale: – Nester enthielten entweder keine oder mehrere AP-Jungtiere (APJ). – Meist waren die APJ von einem einzigen Nachbarmännchen gezeugt. – AP-Vaterschaften waren nie reziprok, d. h. einige Männchen waren immer Verlierer, einige immer Gewinner. – Gewinner wurden meist von mehreren Nachbarweibchen aufgesucht. – Weibchen von Gewinnern waren treu. – Weibchen suchten aktiv nach APKs und drangen dazu in Nachbarreviere ein, ohne dort jedoch nach Futter zu suchen. – Wurde das eigene Gewinner-Männchen weggefangen, verweigerten die Weibchen Kopulationen mit nachrückenden fremden Männchen. All diese Verhaltensweisen belegen eindeutig, dass die Weibchen bestimmte Männchen als Paarungspartner auswählen. © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2003. Von dieser editierbaren Druckvorlage ist die Vervielfältigung und Veränderung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Für Veränderungen durch Dritte übernimmt der Verlag keine Verantwortung. 40 Seite aus: Natura aktuell 6, ISBN: 3-12-043493-0 Autor: Hans-Peter Krull Grafiken: Jörg Mair, Herrsching Merkmale der AP-Jungtiere Das Geschlechterverhältnis in Gelegen mit bzw. ohne APJ war gleich (ungefähr 1:1). Befanden sich jedoch APJ im Nest, waren erstaunlicherweise signifikant mehr Söhne vom AP-Männchen gezeugt und vom eigenen Partner mehr Töchter. Dies passt zu der Beobachtung, dass Weibchen von „hochwertigen“ Männchen mehr Söhne produzierten als statistisch zu erwarten war. Verhungerte ein Teil der Jungtiere, überlebten die APJ mit größerer Wahrscheinlichkeit. APJ waren signifikant schwerer, was möglicherweise darauf zurückzuführen war, dass es sich häufiger um Männchen handelte. Merkmale der AP-Männchen Männchen aller Altersstufen konnten Vaterschaften verlieren. In 37 Paarvergleichen war der APKonkurrent in fünf Fällen jünger, 14-mal gleich alt und 18-mal älter als der „Betrogene“. Männchen, die fremden Nachwuchs im Nest hatten, besaßen insgesamt eine geringere Überlebenswahrscheinlichkeit. AP-Männchen sangen im morgendlichen Chorgesang längere Strophen als „betrogene“ Männchen. Lange Gesangsstrophen und gute Überlebensfähigkeit sind bei Blaumeisenmännchen korreliert. Seitensprünge finden meistens morgens nach dem Chorgesang statt. Dies legt nahe, dass Weibchen am wahrscheinlichsten nach der Strophenlänge auswählen. Scheidungen bei Blaumeisen Partner, die in einem Jahr zusammen brüten, können dies auch im nächsten tun, d. h. treu bleiben. Sie können sich aber auch trennen und einen neuen Partner wählen (Scheidung). Die Untersuchungen an fünf Populationen in Belgien deckten Scheidungsraten zwischen 8 % und 85 % auf. Vögel, die sich trennten, hatten im Jahr vor der Trennung signifikant später mit dem Brüten begonnen und weniger Junge großgezogen als vergleichbare Paare, die zusammenblieben. Die zuletzt genannten Meisen brüteten erfolgreicher als der Populationsdurchschnitt. Verglichen mit Paaren, die zusammenblieben, erhöht sich der Fortpflanzungserfolg der Weibchen nach einer Scheidung, aber nicht derjenige der geschiedenen Männchen. Die Scheidungsrate nimmt mit zunehmendem Alter des Weibchens, aber nicht mit dem des Männchens ab. Dies legt nahe, dass Weibchen die Männchen verlassen und nicht umgekehrt. Die Forscher nehmen an, dass die unterschiedlichen Scheidungsraten in verschiedenen Populationen von den unterschiedlichen „Kosten“ abhängen, einen neuen Partner zu finden. Diese sind wahrscheinlich wiederum auf die soziale Organisation außerhalb der Brutsaison im Winter zurückzuführen. In einigen Populationen überwintern die Partner in ihrem Territorium. Dadurch sind die „Kosten“ für die Suche nach einem neuen Partner hoch und die Scheidungsrate ist niedrig. Ziehen die Vögel über Winter in kleinen, gemischtgeschlechtlichen Gruppen umher, sind die Suchkosten gering und die Scheidungsraten entsprechend hoch. www.klett-verlag.de Arbeitsblatt Seite 43 1. Da alle Weibchen von ganzjährig polygynen Männchen besonders erfolgreich Junge großziehen, die bis zur nächsten Brutsaison überleben, ist Aggression zwischen den Weibchen nicht nötig. Bei einer frühen sukzessiven Polygynie überlappen sich die fruchtbaren Perioden der Weibchen. Da das Männchen einen Teil der Bruthilfe auf das Sekundärweibchen überträgt, verliert das Primärweibchen väterliches Investment. Versuche, die Ansiedlung des Sekundärweibchens zu verhindern, sind daher stark. Dies gilt für späte sukzessive Polygynie nicht. Kommt es bei der Ersatzpolygynie zu starken Überlappungen der fruchtbaren Perioden beider Weibchen, sind die Aggressionen entsprechend stark. 2. Primärweibchen beginnen im Schnitt etwas früher mit dem Brüten als Monogame, Sekundärweibchen etwas später. Sekundärweibchen produzieren dadurch durchschnittlich etwas kleinere Gelege und bekommen aufgrund der geringeren männlichen Hilfe weniger Junge groß. Primärweibchen können den Verlust an väterlichem Investment durch Steigerung der eigenen Anstrengungen fast kompensieren. Es fällt auch besonders auf, dass die Primärweibchen größere Gelege haben als die Monogamen. 3. Verschwindet ein Weibchen, so wird es mit großer Wahrscheinlichkeit noch bis zum Zeitpunkt der Eiablage durch ein neues unverpaartes ersetzt. Das liegt daran, dass es zu diesem relativ frühen Zeitpunkt noch unverpaarte Weibchen (Überschuss) gibt. Freie Männchen gibt es nur sehr früh, sodass Weibchen schon bei einem Partnerverlust während der Nestbauzeit auf verpaarte Nachbarmännchen zurückgreifen müssen. Arbeitsblatt Seite 44 1. Nach der ersten Hypothese ist zu erwarten, dass Weibchen ohne auszuwählen sich mit möglichst vielen verschiedenen Männchen paaren. Nach Hypothese 2 müssten viele Weibchen einzelne, besonders attraktive Männchen als Paarungspartner bevorzugen. 2. Ein attraktives Männchen, das häufig von fremden Weibchen besucht wird, wird vom eigenen Weibchen selten verlassen. Männchen, die in einem Jahr betrogen werden, erleiden das gleiche Schicksal mit großer Wahrscheinlichkeit im nächsten Jahr wieder. Für nicht betrogene bleibt die Wahrscheinlichkeit, im nächsten Jahr wiederum nicht betrogen zu werden, dagegen etwas größer. Erfolgreiche Männchen können meist auch im nächsten Jahr APJ zeugen. 3. Männchen, die APJ in ihren Nestern hatten, besaßen eine geringere Überlebensrate, das gilt nicht für Weibchen. Je größer die mittleren Strophenlängen des Gesanges der Männchen waren, desto geringer war der Anteil an APJ im eigenen Nest. Da sich diese Gesangslänge im Verlaufe des Lebens nicht ändert und sie mit der Überlebensfähigkeit des Männ- © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2003. Von dieser editierbaren Druckvorlage ist die Vervielfältigung und Veränderung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Für Veränderungen durch Dritte übernimmt der Verlag keine Verantwortung. 41 Seite aus: Natura aktuell 6, ISBN: 3-12-043493-0 Autor: Hans-Peter Krull Grafiken: Jörg Mair, Herrsching chens korreliert ist, eignet sie sich als Beurteilungskriterium für die Weibchen. 4. Ein attraktives Männchen zeugt attraktive Söhne, wodurch wiederum die Anzahl der Enkel maximiert werden kann (diese Überlegung ist auch als Sexy-Son-Hypothese bekannt). 5. Da Weibchen eindeutig eine gezielte Auswahl unter den Männchen treffen, kann nur Hypothese 2 gestützt werden. Arbeitsblatt Seite 45 1. Bei Nicht-adaptiven-Scheidungen ist zu erwarten, dass sich der Bruterfolg des überlebenden Partners nicht verbessert. Bei der Inkompatibilitätshypothese sollten beide Partner im nächsten Jahr ihren Fortpflanzungserfolg verbessern. Auch nach der Bessere-Möglichkeit-Hypothese müsste ein Tier mit einem neuen Partner seinen Erfolg erhöhen. 2. Je später im Jahr ein Paar zu brüten beginnt, desto größer wird die Scheidungsrate. Aus Abb. 1 vom Arbeitsblatt „Sozialsysteme“ ist bekannt, dass die Gelegegröße abnimmt, je später der Brutbeginn ist. Dadurch wird der Fortpflanzungserfolg geringer und die Scheidungsrate steigt. 3. Meisen, die im Winter in ihrem Revier verbleiben, lernen keine neuen Partner kennen. Verlassen des Reviers und Aufsuchen von Nachbarrevieren sind aber mit hohen „Kosten“ (Gefahren) verbunden. Meisen, die im Winter in kleinen Gruppen umherwandern, lernen leichter potenzielle Alternativen zum derzeitigen Partner kennen. 4. Während sich die angegebenen Brutparameter für Blaumeisenweibchen wesentlich verbessern, tun sie dies für die Männchen nur unwesentlich oder verschlechtern sich sogar. Dies passt zur Bessere-MöglichkeitHypothese. Danach ist zu erwarten, dass die Weibchen ihre Männchen verlassen. „Gen-shopping“ In 87 % von 46 Nestern mit APJ waren alle APJ von einem einzigen Männchen gezeugt. In den anderen Nestern (13 %) hatten die AP-Jungtiere zwei verschiedene Väter. AP-Väter waren meist die Nachbarn aus dem angrenzenden Territorium. Die Weibchen suchten zum Teil aber auch Partner aus weiter entfernten Territorien auf. Anzahl der Fälle 30 25 20 15 10 5 0 1 2 3 4 5 Abstand der APK-Partner in Territorienzahl www.klett-verlag.de „Heiratsmarkt“ Die Abbildung gibt die Häufigkeit von Männchen und Weibchen an, die mit Brutaktivitäten beschäftigt sind sowie die Häufigkeit von FloaterWeibchen und Floater-Männchen, die noch kein Territorium und keinen Partner besitzen. Anzahl der Vögel 60 brütende Vögel 50 40 30 Floater 20 10 0 2 Feb. 1 März 2 März 1 April 2 April 1 Mai Zeitraum (1. und 2. Monatshälften) Die Zeiteinteilung der x-Achse beschreibt jeweils die erste bzw. zweite Monatshälfte. Deutlich erkennbar ist, dass es im Untersuchungsgebiet schon ab Mitte März keine freien Männchen mehr gibt. Ab Anfang April sind auch alle FloaterWeibchen verpaart, diese „späten“ Weibchen werden zu Sekundärweibchen. Der schmale Pfeil markiert die Anzahl der ganzjährig polygynen Paare (hier etwa 40). Der offene Pfeil markiert den ersten Fall von früher sukzessiver Polygynie, der gefüllte den ersten späten Fall. Literaturhinweise DHONDT, A. A.: Reproduction and survival of polygynous and monogamous Blue Tit Parus caeruleus. IBIS 129, 1987, S. 327–334 DHONDT, A. A., ADRIAENSEN, F.: Causes and effects of divorce in the blue tit Parus caeruleus. Journal of Animal Ecology 63, 1994, S. 979–987 KEMPENAERS, B.: A case of polyandry in the Blue Tit: female extra-pair behaviour results in extra male help. Ornis Scandinavica 24:3, 1993, S. 246–249 KEMPENAERS, B, DHONDT, A. A.: Why do Females engage in extra-pair Copulations? A review of Hypotheses and their predictions. Belg.J.Zool. 123, 1993, S. 93–103 KEMPENAERS, B.: Polygyny in the blue tit: unbalanced sex ratio and female aggression restrict mate choice. Anim. Behav. 47, 1994, S. 943– 957 KEMPENAERS, B., VERHEYEN, G. R., DHONDT, A. A.: Mate guarding and copulation behaviour in monogamous and polygynous blue tits: do males follow a best-of-a-bad-job strategy? Behav. Ecol. Sociobiol. 36, 1995, S. 33–42 KEMPENAERS, B., VERHEYEN, G. R., DHONDT, A. A.: Extrapair paternity in the blue tit (Parus caeruleus): female choice, male characteristics, and offspring quality. Behavioral Ecology 8, 1997, S. 481–492 SVENSSON, E., NILSSON, J.-A.: Mate quality affects offspring sex ration in blue tits. Proc. R. Soc. Lond. B 263, 1996, S. 357–361 © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2003. Von dieser editierbaren Druckvorlage ist die Vervielfältigung und Veränderung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Für Veränderungen durch Dritte übernimmt der Verlag keine Verantwortung. 42 Seite aus: Natura aktuell 6, ISBN: 3-12-043493-0 Autor: Hans-Peter Krull Grafiken: Jörg Mair, Herrsching www.klett-verlag.de Sozialsysteme bei Blaumeisen In der Nähe von Antwerpen untersuchte man in einem Waldstück mit aufgehängten Nistkästen das Brutverhalten von Blaumeisen. Man stellte fest, dass in jedem Jahr rund 20 % der Männchen und etwa 35 % der Weibchen an polygynen Partnerschaften beteiligt waren. Polygyne Männchen erreichten im Durchschnitt 13,1 flügge Jungtiere, monogame dagegen nur 7,5. Die Forscher unterschieden mehrere Polygynie-Formen: 1. ganzjährige Polygynie: Ein Männchen tut sich im frühen Winter mit zwei Weibchen zusammen und bleibt über ein Jahr bei ihnen. Diese Weibchen ziehen besonders erfolgreich Junge groß. 2. sukzessive Polygynie: Ein Männchen erhält durch Zuwanderung während der Brutsaison ein Sekundärweibchen. Wandert dieses zu, bevor das Primärweibchen Eier gelegt hat, spricht man von früher sukzessiver Polygynie, hat das Primärweibchen schon mit dem Brüten begonnen, ist es die späte Form. 3. Ersatzpolygynie: Ein Männchen erweitert sein Territorium und übernimmt ein verwitwetes Weibchen. ganzjährige Polygynie frühe sukzessive Polygynie späte sukzessive Polygynie Ersatzpolygynie Aggression der ♀ keine stark schwach meist stark getrennte Territorien nein normalerweise nein ja Überlappung der fruchtbaren Perioden ja ja nein ja ja/nein (beides möglich) ja nein ja/nein (beides möglich) Männchen hilft dem Sekundärweibchen Tab. 1 Verhalten der Partner in den jeweiligen Polygynieformen Monogam Primärweibchen Sekundärweibchen durchschnittliche Eizahl im Gelege 10,6 11,4 10,1 durchschnittliche Anzahl flügger Jungtiere 7,5 7,3 5,4 Tab. 2 Bruterfolg verschiedener Weibchen Gelegegröße monogame Weibchen Primärweibchen Sekundärweibchen 16 14 12 8 10 6 8 4 2 3 März 1 April 2 April 3 April 1 Mai 0 Legebeginn (1/2/3= Monatsdrittel) Abb. 1 nicht ersetzt ersetzt durch: unverpaartes / verpaartes / 10 12 6 Anzahl verschwundener Tiere 14 Abhängigkeit der Gelegegröße vom Legebeginn Abb. 2 nach der Paarbildung während des nach der während des Nestbaus Paarbildung Nestbaus Anzahlen ersetzter bzw. nicht ersetzter Partner Aufgaben 1. Fassen Sie die Sachverhalte aus Text und Tabelle 1 zusammen und deuten Sie das Aggressionsverhalten der Weibchen aus soziobiologischer Sicht. 2. Stellen Sie einen Zusammenhang zwischen den beiden Tabellen und Abb. 1 her. 3. Welche Unterschiede im Partnerersatz gibt es bei Männchen- bzw. Weibchenverlust (Abb. 2)? Geben Sie jeweils eine entsprechende Deutung. © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2003. Von dieser editierbaren Druckvorlage ist die Vervielfältigung und Veränderung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Für Veränderungen durch Dritte übernimmt der Verlag keine Verantwortung. 43 Seite aus: Natura aktuell 6, ISBN: 3-12-043493-0 Autor: Hans-Peter Krull Grafiken: Jörg Mair, Herrsching www.klett-verlag.de Außer-Paar-Kopulationen Bei Blaumeisen wurden in vielen Nestern Junge nachgewiesen, die eindeutig nicht vom Partner des brütenden Weibchens gezeugt worden waren. Man beobachtete, dass die Weibchen die fremden Männchen aktiv aufsuchen, im fremden Revier aber weder Futter suchen noch Balzgeschenke o. Ä. erhalten. Sie können aus diesem Verhalten nur genetische Vorteile ziehen. Die Wissenschaftler haben 2 Hypothesen dazu aufgestellt: – Hypothese 1: Erhöhung der genetischen Vielfalt unter den eigenen Nachkommen, um angesichts der Unwägbarkeiten der natürlichen Bedingungen das Überleben wenigstens einiger Nachkommen zu sichern. – Hypothese 2: Verbesserung der genetischen Qualität (Gute-Gene-Hypothese). Die Jungen sollten vom erfolgreichsten Männchen stammen. Ergebnis der Untersuchungen der Außer-Paar-Kopulationen: 1. Nester enthielten entweder keine oder viele Außer-Paar-Junge (APJ). 2. APJ verschiedener Weibchen waren meist von einem Männchen aus der Nachbarschaft gezeugt. 3. Erfolgreiche „Betrüger“ verloren nie Nachwuchs an den „Betrogenen“. eigenes Weibchen im Nachbarrevier (pro Stunde) 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0,0 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 fremde Weibchen im eigenen Revier (pro Stunde) Abb. 1 Besuche fremder Weibchen im eigenen Revier und Besuche des eigenen Weibchens im Nachbarrevier Männchen verlor Vaterschaft im Jahr x+1 nein ja Männchen verlor nein Vaterschaft im Jahr x ja Tab. 1 6 1 10 5 Verteilung der Vaterschaftsverluste Anteil Überlebender mit APJ 0,8 beobachtete Fälle ohne APJ 0,7 21 11 21 19 19 16 0,6 24 11 25 20 22 16 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0,0 1 2 3 1 2 3 Beobachtungsjahre Abb. 2 Überleben bis zur nächsten Brutsaison Männchen zeugte APJ im Jahr x+1 nein Männchen zeugte APJ im Jahr x Tab. 2 nein ja 15 1 ja 8 7 Fitnessgewinn durch APJ Anteil an APJ im eigenen Nest 1,0 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0,0 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 mittlere Strophenlänge im morgendlichen Chorgesang (sec) Abb. 3 APJ im Nest und Länge des Gesangs Aufgaben 1. Welche unterschiedlichen Verhaltensweisen der Weibchen sagen die Hypothesen 1 und 2 vorher? 2. Was sagen die Tabellen und Abbildung 1 über das Wahlverhalten der Weibchen aus? 3. Stellen Sie einen Zusammenhang zwischen den Abbildungen 2 und 3 her. 4. Die AP-Jungtiere sind mit größerer Wahrscheinlichkeit männlich. Geben Sie diesem Sachverhalt eine soziobiologische Deutung. 5. Welche der oben genannten Hypothesen wird durch das beobachtete Verhalten gestützt? © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2003. Von dieser editierbaren Druckvorlage ist die Vervielfältigung und Veränderung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Für Veränderungen durch Dritte übernimmt der Verlag keine Verantwortung. 44 Seite aus: Natura aktuell 6, ISBN: 3-12-043493-0 Autor: Hans-Peter Krull Grafiken: Jörg Mair, Herrsching www.klett-verlag.de Ursachen und Auswirkungen von Scheidungen Wenn zwei Partner eines Paares bis zum nächsten Jahr überleben, können sie entweder wieder gemeinsam brüten (treu bleiben) oder beide einen anderen Partner wählen („Scheidung“). Scheidungen kommen bei Vögeln relativ häufig vor. Wissenschaftler haben unterschiedliche Hypothesen dazu aufgestellt. Adaptive „Scheidungen“: 1. Inkompatibilitäts-Hypothese: Beide Partner sind gut, passen aber nicht zusammen und sind daher nicht erfolgreich mit der Brut. 2. Bessere-Möglichkeit-Hypothese: Ein Paarmitglied kann seinen Bruterfolg verbessern, wenn er seinen Partner verlässt und einen besseren Partner bzw. ein besseres Territorium auswählt. Nicht adaptive „Scheidungen“: 1. Unfall-Hypothese: Ein Paarmitglied geht z. B. auf der Wanderung verloren. 2. Hypothese der „erzwungenen Scheidung“: Ein Partner wird von einem Dritten mit Gewalt aus dem Brutgebiet verjagt. Merkmale des Paares Partner getrennt Partner treu Legebeginn im gemeinsamen Jahr spät früh Gelegegröße unterdurchschnittlich überdurchschnittlich Anzahl flügger Nestlinge unterdurchschnittlich überdurchschnittlich Fortpflanzungserfolg gering gut Tab. 1 Merkmale von sich trennenden und von treuen Paaren Scheidungswahrscheinlichkeit 1,0 0,8 B2 0,6 A,B,C = Populationen in 3 verschiedenen Habitaten (1 = junge Weibchen im 1. Jahr der Fortpflanzung; 2 = ältere Weibchen) B1 0,5 0,4 A1 C1 0,3 0,2 A2 getrennte Tiere im Folgejahr 0,1 0,4 C2 0,2 0,0 – 0,1 0,0 –2,5 –2,0 –1,5 –1,0 –0,5 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 standardisiertes Legedatum Abb. 1 standartisierte Werte Scheidungsraten in belgischen Brutgebieten Ausgangspaar – 0,2 Vorverlegung des Brutbeginns Abb. 2 Gelegegröße Anzahl flügger Nestlinge Änderungen im Brutbeginn und Bruterfolg Aufgaben 1. Erörtern Sie, welche Voraussagen die genannten Hypothesen über den zukünftigen Fortpflanzungserfolg der betroffenen Paarungspartner zulassen. 2. Fassen Sie die Sachverhalte aus der Tabelle zusammen und analysieren Sie die Aussagen von Abbildung 1. Welche Zusammenhänge gibt es? 3. In einigen Gebieten bleiben die Tiere im Winter in ihren Territorien, in anderen ziehen sie in gemischtgeschlechtlichen Gruppen umher. Forscher sehen in den unterschiedlichen „Kosten“ für die Suche nach einem neuen Partner den Grund für die abweichenden Scheidungsraten. Erläutern Sie mögliche Zusammenhänge (Abb. 1). 4. Beschreiben Sie die in Abbildung 2 enthaltenen Aussagen und vergleichen Sie sie mit den oben aufgestellten Prognosen. Welche der Hypothesen wird gestützt? © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2003. Von dieser editierbaren Druckvorlage ist die Vervielfältigung und Veränderung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Für Veränderungen durch Dritte übernimmt der Verlag keine Verantwortung. 45