Immanuel Kant zu ehren - zum Kantjahr 2004 Erweiterte Fassung des Vortrages „Immanuel Kant zu ehren - zum Kantjahr 2004" vor der Sokratischen Gesellschaft 20. März 2004 von Ulrich Fritz Wodarzik I. Erinnerung und Einführung, S. 3 II. Leben und Werk, S. 8 III. Natur und Freiheit, die Türangeln seiner Philosophie, S. 22 Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit IV. Ausblick, S 31 Immanuel Kant zu ehren Nie kann man ohne Kenntnis ein Philosoph werden; aber nie machen Kenntnisse allein einen Philosophen aus. I. Kant I. Erinnerung und Einführung Kant und seine Ausleger heißt ein Gedicht von Schiller: „Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung setzt! Wenn die Könige bauen, haben die Kärrner zu tun.“ Immanuel Kant war ein reicher und großer König der Weisheit, denn sein Denken führte eine philosophiegeschichtliche Wende herbei, die uns heute noch zu schaffen macht. Wir befinden uns im Kantjahr 2004 und an zwei denkwürdige Jubiläen ist zu erinnern: am 22. April vollendet sich der 280. Geburtstag und am 12. Februar der 200. Todestag des Weltweisen aus Königsberg. Auf einer japanischen Schenkung, einer Wiedergabe eines Bildes aus dem Tempel der Philosophen in Tokio, die im Königsberger Museum hing, sind die vier großen Philosophen der Erde abgebildet: Buddha, der indische Religionsstifter, geb. 480 v. Chr., der Chinese Konfutse 555 bis 478 v. Chr., der Grieche Sokrates und der Preuße Kant. Deutlicher kann nicht auf die Wirkmächtigkeit dieses großen Philosophen hingewiesen werden. Kant hat mit seiner Philosophie, wie Jaspers sagt, weltgeschichtliche Bedeutung erlangt; er zählte Kant neben Platon und Augustinus zu den grundlegenden Denkern des Abendlandes. Der Magistrat der Stadt Königsberg entschloss sich erst vor hundert Jahren, anlässlich des 100. Todestages Kants, zu einer Ehrung. Am 12. Februar 1904 wurde an der Kyklopenmauer des Schlosses in Königsberg eine eiserne Tafel enthüllt, mit den weltberühmten Worten Kants aus dem Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft, die H. Kessler trefflich die zwei Gegenstände der Ehrfurcht nennt1: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Diese Tafel haben viele Menschen gesehen, denn sie befand sich an einer der belebtesten Straßen in Königsberg. Seit 1945 ist sie verschollen. 1904 war der Neukantianismus durch Cohen, Natorp, Vorländer, Cassierer und dem jungen Hartmann in voller Blüte und man erinnerte sich stolz an diesen großen Deutschen. Der 200. 1 H. Kessler, Die Welt des Menschen, Academie Verlag, S. 3, 1992. Geburtstag 1924 wurde in Deutschland laut gefeiert und die Briefmarken trugen Kants Kopf. Man verehrte Kant für „das Deutsche“ und versprach sich durch ihn bessere Zeiten. In jenem Jahr versammelten sich im Krohnsaal der Stadthalle von Königsberg viele Gäste und Gelehrte aus aller Welt, um das „Bohnenmal“ oder „Kantessen“ - beide Ausdrücke wurden Usus - einzunehmen. Unter vielen anderen sprach auch der Soziologe Max Adler über Kant und der ewige Friede, um mit der praktischen Philosophie Kants seine marxistischen Ideen zu fundieren. 15 Jahre später spricht die Geschichte ihre eigene brutale Sprache. Das letzte Bohnenmal erfolgte im Jahre 1944; am 22. April wurde Königsberg von den Sowjets eingenommen und vollständig zerstört. Der 150. Todestag Kants 1954 war ein stilles und bescheidenes Jubiläum. Popper stellte bei scharfer Ablehnung des Deutschen Idealismus fest, dass Kant der „Sokratischen Idee des freien Menschen [...] auf dem Gebiete des Wissens wie auf dem der Ethik eine neue Bedeutung gegeben hat.“ Und Horkheimer sagte, dass Kants Bemühungen schließlich in dem „Versuch“ mündeten, „die philosophischen Ideen, die zutiefst mit den politischen und theologischen zusammenfallen, wie Freiheit, Gerechtigkeit, Mensch und Gottheit, so zu fassen, dass sie vor radikalster Kritik bestehen können.“ Karl Jaspers betonte in seiner Gedächtnisrede, dass die Zeitgenossen Kant als den Alleszermalmer bezeichneten, weil Kant die überlieferte Metaphysik in ihrer dogmatischen Art aufgelöst und die Erfahrung in der Natur als das einzige unserer Erkenntnis zugängliche Feld begriffen hat. Und derselbe Kant beförderte unser Denken über alle Erfahrung zu den Ideen Freiheit, Unsterblichkeit und dem absoluten Guten in Gott. Das Absolute, wohin uns unsere Vernunft treibt, kennen wir nicht, werden wir auch nie erkennen, aber wir denken daran und vergewissern uns dessen durch Sinn, Sitte und Tun. Auch damals schon wies Kant auf die Gefährlichkeit einer Leibhaftigkeit des Absoluten hin, die sich in der Schwärmerei, dem Fanatismus, dem Dogmatismus und heute insbesondere durch den religiösen Fundamentalismus zeigt. Kant als Gründer der Aufklärung ist nicht nur ein großer Kopf, sondern auch ein wahrhaftiger Mensch. Mit Jaspers beteuern wir: „Sein Ethos ist der Ethos des Alltags und jeden Augenblicks. Ihn brauchen wir nicht als ein Fremdes zu bewundern. Mit ihm können wir leben. Ihm möchten wir folgen.“ Seit dies gesprochen wurde, sind 50 Jahre vergangen. Die Welt hat eine neue Ordnung bekommen, und man spricht heute von dem drohenden Kampf der Kulturen. Als 1967 an den Universitäten Deutschlands die studentische Revolte ausbrach, war Karl Marx in aller Munde. Von ihm 4 versprachen sich die Leute eine bessere und gerechtere Gesellschaft, andere genau das Gegenteil. Kant, der führende Denker der Aufklärung mit seinem „Sapere aude“ 2 , wurde nicht zur Kenntnis genommen. Die großen kommunistischen Machtblöcke sind in der Zwischenzeit weggebrochen. Heute wuchert der Kapitalismus der Multis unheilvoll verstärkt durch die Globalisierung ungehemmt weiter, so dass demokratisch-soziale Strukturen, die als Gemeinwesen dem Menschen sittlichen Halt und Sicherheit geben, möglicherweise zerstört werden könnten. Der Hass der Menschen steigert sich heute vieler Orts bis zur Selbstzerstörung; ein Fanatiker war für Kant ein „Verrückter von einer großen Vertraulichkeit mit den Mächten des Himmels. Die menschliche Natur kennt kein gefährlicheres Blendwerk.“ 3 Wir brauchen heute eine zweite weltweite Vernunftaufklärung, die durch Lehre und Lernen den jungen Generationen der Welt das eigentliche und sittliche Leben ehrfurchtsvoll vermittelt und das moralische Bewusstsein entfaltet. In unserer Zeit, in der Wissenschaften und Technik zur höchsten Autorität, zum alleinigen Träger der Wahrheit befördert werden, besteht die Gefahr, dass wir Zwecke wie die Wohlfahrt und die Würde der Menschen verlieren. Es wird höchste Zeit sich der Aufklärung erneut zu besinnen. In seiner Anthropologie in pragmatische Hinsicht von 1798 schreibt Kant: „Die wichtigste Revolution in dem Innern des Menschen ist: der Ausgang desselben aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Mittlerweile blicken wir auf eine mehr als zweihundertjährige Kantphilologie zurück, mit viel gelehrtem Ballast, der einen Diskurs über die Transzendentalphilosophie erschwert. Daher sind die eigenen Kantischen Schriften von größtem Interesse; es liegt mittlerweile die meisterlich gemachte Akademieausgabe der Werke Kants mit insgesamt 29 Bänden vor. Diese gesammelten Schriften teilen sich in vier Abteilungen: Abt. I: Werke, Abt. II: Briefe, Abt. III: Handschriftlicher Nachlass und Abt. IV: Vorlesungen. Immanuel Kant hinterlässt uns ein gewaltiges philosophisches Erbe, das noch lange nicht erschöpft ist. Die Metaphysik von Natur und Sitten und die Humanisierung der Religion durch Kant ist auch durch Geistesgrößen wie Nietzsche oder Heidegger nicht überholt. Immer Horaz, Sapere aude (lat., wage es weise zu sein) - das Credo der Aufklärung, was so viel heißt wie: bediene dich deines eigenen Verstandes und urteile selbst. 2 Kant, Versuch einer Krankheit Weischedel-Ausgabe, Bd. II, S. 887 3 des Kopfes von 1764, 5 noch gibt es Finsterlinge, die Kant durch Nietzsche schlagen wollen. Kant habe die Autonomie des Willens verkündet; die richtige Konsequenz daraus hätte Nietzsche gezogen: die Verweigerung jeder sittlichen Rechenschaft und Ordnung, die Entfesselung der gesetzlosen Willkür oder des Rausches des Einzelnen, der seinen Machtwillen auslebt. Die Einsamkeit des von Gott entfernten freien Menschen, thematisiert von Nietzsche und der Existenzphilosophie, wird bei Kant nicht als Fluch oder Verzweiflung, sondern als Zeichen der Würde des Menschen gefasst. Die technische Vernunft beherrscht unsere mannigfaltigen Handlungsweisen und es besteht die Gefahr, dass die zarten sittlichen Elemente der moralischen Vernunft verschüttet werden. Anthropologische Grundformen der Praxis sind nach Kant die Geschicklichkeit, die Klugheit und die Sittlichkeit. Der Mensch soll aus eigener sittlicher Kraft handelnd in die Welt treten, um sich des Daseins würdig zu machen. Bei diesem Lebensvollzug kann ihm kein irdisches oder überirdisches Wesen helfen, nur die Würde ist sein treuer Begleiter. Jede „bloß passive Ergebung an eine äußere, wenn auch göttliche Macht“, jede „schwärmerische Einbildung gefühlter besonderer Gnadenwirkungen“ ist für Kant ein Verrat an seine Würde. Der Sokratischen Idee des freien Menschen, die wir als Erbe des abendländischen Denkens besitzen, hat Immanuel Kant in dem Reich des Wissens wie in dem der Ethik eine neue Bedeutung gegeben. Indem er die Besinnung des Geistes über alle Verhaltensweisen des Menschen bis hin zu den unbedingten Voraussetzungen trieb, lieferte er mögliche Antworten auf Fragen, wie: gibt es eine objektive Erkenntnis von Weltzusammenhang und Weltgrund, ferner was ist der höchste Wert und letzter Zweck? Kant feiern und gedenken bedeutet heute, sich auf seine Idee der allgemeinen Menschenvernunft zurückzubesinnen, die immer auch die Vernunft des Andersdenkenden ist.4 4 Vgl. Hinske, Kant als Herausforderung an die Gegenwart, S. 66, 1990 6 II. Leben und Werk Das Werk eines Philosophen ist mit seinem Leben eng verknüpft, und in Anbetracht der Ehrung Kants werde ich mich nicht scheuen, Kant oft selbst in Form von ausgesuchten Zitaten sprechen zu lassen. Immanuel Kant wurde am 22. April 1724 als Kind des Riemermeisters Johann Georg Kant und seiner Frau Anna Regina in Königsberg geboren. Er wuchs in einfachen aber ordentlichen Verhältnissen auf. Seiner Mutter verdankte Kant viel, er erinnerte sich im Alter oft an seine pietistische Erziehung: „Nie werde ich meine Mutter vergessen, denn sie pflanzte und nährte zuerst den Keim des Guten in mir. Sie öffnete mein Herz den Eindrücken der Natur, sie weckte und erweiterte meine Begriffe, und ihre Lehren haben einen immerwährenden heilsamen Einfluß auf mein Leben gehabt.“ In der Kindheit schlummerten bereits die beiden Seelen - das Natürliche und das Gute - in Kants Brust, die im reifen Alter die beiden Fixpunkte seiner Philosophie begründen werden. Kindheit, Jugend, Studium und neunjährige Hauslehrertätigkeit vergingen schnell. Seine Mutter, geb. 1697 starb im Dezember 1737, als Kant 13 Jahre alt war. Kant begann seine schriftstellerische Laufbahn mit einem mathematisch-physikalischen Werk, „Über die Schätzung der lebendigen Kräfte“, die er, 1746 22-jährig, herausgab. Im selben Jahr starb sein Vater (geb. 1682), infolge dessen mußte er als Vollwaise die Universität verlassen und sich mit Hauslehrerstellen durchschlagen. 1755 avancierte Kant zum Privatdozenten, vergeblich bemühte er sich in der Folgezeit um eine feste Stelle an der Universität. Zu dieser Zeit war er der galante kleine Magister Kant, wie ihn sein Freund und Widersacher Hamann nannte. Er trug bordierte Kleider und war in der Königsberger Gesellschaft sehr beliebt. Sein sprühender Witz, seine, wie sein begabtester ehemaliger Schüler und späterer Kollege Kraus schreibt: „für einen so tie fdenkenden Gelehrten seltene feine Lebensart, Gewandtheit und Delicatesse“ machten ihn zu einem angesehenen Gesellschafter. Und „was dieses Leben so liebenswert macht, ist die etwas kindliche Fröhlichkeit, von der es getragen wird, und die warme Dankbarkeit für sein Schicksal, die wohl in den sich im Alter mehrenden Stunden des Versagens in eine leise Wehmut übergeht, aber nie in Murren und Hadern umschlägt“, wie ein Biograph meint.5 Schon in dieser Zeit zeigte Magister Zitiert aus K. Stavenhagen, Kant und Königsberg, S. 45, 1949. Stavenhagen war „Bohnenkönig“ der Gesellschaft der Freunde Kants in Göttingen. 5 7 Kant seine scharfe Beobachtungsgabe und Originalität, wie das kleine Buch Beobachtungen über das Gefühl zum Schönen und Erhabenen von 1764 beweist, von dem Goethe sagte, eine „recht artige Schrift“; es ist „voll allerliebster Bemerkungen, und man sieht seine Grundsätze schon keimen.“ Hier eine kleine Kostprobe: „Verstand ist erhaben, Witz ist schön. Kühnheit ist erhaben und groß, List ist klein, aber schön. Die Nacht ist erhaben, der Tag ist schön. Das Erhabene rührt, das Schöne reizt. Ein etwas größeres Alter vereinbart sich mehr mit den Eigenschaften des Erhabenen, Jugend aber mit dem Schönen. Wer das Abenteuerliche liebt und glaubt ist ein Phantast, die Neigung zu Fratzen macht den Grillenfänger. Andererseits artet das Gefühl des Schönen aus, wenn das Edle dabei gänzlich mangelt, und man nennt es läppisch. Eine Mannsperson von dieser Eigenschaft, wenn sie jung ist, heißt ein Laffe; ist sie im mittleren Alter, so ist es ein Geck. Weil dem Alter das Erhabene am notwendigsten ist: so ist ein alter Geck das verächtlichste Geschöpf in der Natur, so wie ein junger Grillenfänger das Widrigste und Unleidlichste ist.“6 In der Freundschaft sieht Kant den Zug des Erhabenen, in der Geschlechterliebe den des Schönen. Kant, der eine ritterliche Gesinnung besass, war auf der Suche nach den Fixpunkten der menschlichen Natur. Der Mensch war ihm nahe,7 vor allem die Geheimnisse seiner Charakterbildung. Anthropologische Studien und Vorlesungen waren Kants Lieblingsbeschäftigungen. Er erkannte, dass in der menschlichen Natur die Vernunft ebenso eine zentrale Rolle spielt wie das moralische Gefühl. In den Beobachtungen, in seiner Lehre von dem Gefühl des Melancholikers, stellt Kant seinen eigenen Charakter dar: „Er hat vorzüglich ein Gefühl für das Erhabene. Selbst die Schönheit, für welche er eben so wohl Empfindung hat, muß ihn nicht allein reizen, sondern, indem sie ihm zugleich Bewunderung einflößt, rühren. Der Genuß der Vergnügen ist bei ihm ernsthafter: aber um deswillen nicht geringer. Alle Rührungen des Erhabenen haben mehr bezauberndes an sich, als die gaukelnden Reize des Schönen. Sein Wohlbefinden wird eher Zufriedenheit als Lustigkeit sein. Er ist standhaft. Um deswillen ordnet er seine Empfindungen unter Grundsätzen.“8 46-jährig und nach 15-jähriger Magisterzeit bekam Kant Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Riga, S. 5 bis 16, 3. Auflage, 1771 6 7 „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd“, sagte Kant oft. 8 S. 30 in Fußnote 6 8 1770 endlich den langersehnten Ruf auf eine Professur in Logik und Metaphysik von seiner geliebten Universität in Königsberg. Kants Vorlesungen waren sehr geschätzt. Wie seine ersten Biographen schreiben, hatte er den freien Diskurs, mit Witz und Laune gewürzt. Vor allem war Kant ein Meister der scharf pointierten Anekdote. Er verstand es „mimisch“, wie Hamann sagt, Menschen zu charakterisieren, und benutzte zur Steigerung der Drastik Dialektredewendungen. „Eine Gesellschaft ohne Frauenzimmer ist nicht komplett,“ pflegte er im Kolleg zu sagen. Der Kant dieser Jahre hat zwei Arten von weiblichen Schönheiten unterschieden, die „reizenden“ und die „rührenden“. Zu Kants Charakter, seinem häuslichen Leben, Werk und sein Alter gibt es viel zu erzählen. Hier muß ich auf Kant-Biographien verweisen.9 Kants Schreibart ist oft dunkel und schwerfällig, weil er mit seinen Gedanken die Wortgebilde für seine Belange anders als üblich zusammenfügte, denn seine Argumentationsfiguren sind originell. Die langen Sätze Kants sind berüchtigt, ein Lehrer würde sie sicher rot durchstreichen. Viele Sätze erfordern volle Konzentration und oft ermüdendes Mitdenken, man muss sie vorwärts und rückwärts lesen, um sie zu verstehen. Kant war ein sehr geselliger Mensch. Er liebte den Umgang und die Unterhaltung mit Menschen, unabhängig von deren gesellschaftlicher Stellung. Beim Essen führte er immer die Unterhaltung an, er bestimmte worüber gesprochen und diskutiert werden sollte. Oft ging das Mittagsessen bis nach drei Uhr, und man war bemüht die Mahlzeit in einer allgemeinen Heiterkeit enden zu lassen. Kant meinte, Lachen würde die Verdauung fördern. Die immer noch beste ältere Biographie ist die von Karl Vorländer, Immanuel Kant, Sonderausgabe im Fourier-Verlag 2003. Eine sehr detaillierte ist die neue von M. Kühn, Kant, Verlag C.H.Beck, 2003. 9 9 Kant blieb immer in Königsberg. In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1798 schreibt er: „Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reiches, eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden; wo diese, ohne zu reisen, erworben werden kann.“ Gründe für den lebenslangen Aufenthalt in Königsberg waren sein Freundes- und Bekanntenkreis und die gewollte Gleichmäßigkeit seines Lebens. Kant war ein ausgeprägter Willensmensch und was er sich vorgenommen hatte, erreichte er durch Hartnäckigkeit, er besaß eine enorme Energie und zweifelte kaum jemals an seinem Erfolg. Sein Leben war de facto in hohem Maße diszipliniert. Durch seine regelmäßige Lebensführung blieb Kant bis ins hohe Alter gesund, trotz seines schwächlichen Körpers. Nun kurz zum oft beschriebenen, genau geregelten Tagesablauf: 5 Uhr Aufstehen, 1 - 2 Tassen Tee bei einem Pfeifchen Tabak. Es war seine glücklichste Stunde am Tage, in der er seine Gedanken sammelte. Es folgten Vorlesungsvorbereitungen und um 7 Uhr ging er in seinen Hörsaal hinunter, wo er bis 9 oder 10 Uhr las. Den restlichen Vormittag arbeitete er an seinem Schreibtisch. Um 3/4 1 Uhr versammelten sich die täglichen Mittagsgäste, höchsten fünf an der Zahl. Kant besaß nur 6 Bestecke. Das Mittagessen bestehend aus drei Gängen mit 2 Flaschen Wein, unter regen Gesprächen ohne philosophische Themen dauerte bis 4 Uhr, manchmal auch länger. Dann folgte der tägliche Spaziergang zur Friedrichsburg mit Ausblick auf das Frische Haff. Am Abend las er noch Reisebeschreibungen, schöne Literatur, naturwissenschaftliche Schriften und vor allem Zeitungen und ging um 10 Uhr schlafen.10 Dieses Bild ist das Bild des alten Kant in seinem Hause, der Lebensstil dieser Jahre entspricht nicht dem seiner Magisterund der ersten Professorenjahre. Der 54-jährige Kant spricht von Resignation, seine sprühende Lebendigkeit hat er verloren. Er setzt sich unter Druck um seine Werke - alle drei große Kritiken sind noch nicht geschrieben - zu vollenden. Er spürt die Endlichkeit seiner Lebenskraft und sagt: „Alle Veränderung macht mich bange ... und ich glaube auf diesen Instinkt meiner Natur Acht haben zu müssen, wenn ich anders den Faden, den mir die Parzen11 sehr dünn und zart spinnen, noch etwas in die Länge ziehen will.“ In den Jahren des Schweigens, als er die Kritik der reinen Vernunft schrieb, klagte Kant erschütternd „über den tantalischen 10 Fußnote 5, S. 76 11 Parzen sind römische Schicksalsgöttinen 10 Schmerz, für seine Geistesarbeiten bei sonst körperlichem ziemlichen Wohlsein wie gelähmt zu sein“ und den völligen Abschluss des Ganzen seiner Philosophie „vor sich liegen und immer noch nicht vollendet zu sehen.“12 In seinem letzten Werk Der Streit der Fakultäten von 1798, in dem Abschnitt Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein, sagt Kant von sich selbst: „Ich habe wegen meiner flachen und engen Brust [...] eine natürliche Anlage zur Hypochondrie, welche in früheren Jahren bis an den Überdruß des Lebens grenzte. Aber die Überlegung, daß die Ursache dieser Herzbeklemmung vielleicht bloß mechanisch und nicht zu heben sei, brachte es bald dahin, daß ich mich an sie gar nicht kehrte, und während dessen, daß ich mich in der Brust beklommen fühlte, im Kopf doch Ruhe und Heiterkeit herrschte.“ Den Grundsatz der Diätetik fand Kant bei den Stoikern: „sustine et abstine“, was so viel bedeutet wie „ertrage und entsage“. Wie wahr uns auch der folgende Satz erscheint: „Man kann sich gesund fühlen (aus dem behaglichen Gefühl seines Lebens urteilen), nie aber wissen, daß man gesund ist.“ Kant hatte viele berühmte Freunde und Bekannte, ich nenne nur Hippel, Hamann, Mendelssohn und den Mathematiker und Philosophen Lambert. 1795 wechselte Kant mit Schiller Briefe, in denen es um die Frage der Neigung oder Pflicht ging. Mit seinem Schüler Herder, der ihn einst bewunderte, verfeindete sich Kant im Alter. Rund 40 Jahre lehrte Kant an der Königsberger Universität. Seine letzte Vorlesung hielt er 1796, 72-jährig, eine unglaubliche Leistung! Immanuel Kant hat Zeit seines Lebens keine äußere Ehrung gesucht. Bereits zu Lebzeiten in die erste Reihe der europäischen Denker gestellt, empfand er die Zelebrität eher anstrengend als angenehm. Das Alter war für Kant sehr beschwerlich. Die letzten Jahre seines Lebens wurde er einsam. Alle seine besten und liebsten Freunde waren bereits gestorben, auch Herder starb 1803. Probleme, wie das Fehlen der Zähne und vor allem der Verlust des Geruchs- und des Geschmacksinns, machten seine letzten Jahre immer beschwerlicher. Das Leben wurde ihm lästig. Wasianski, ein Schüler und späterer Hausfreund und treuer Lebensgefährte, berichtete, wie Kant in seiner Gegenwart sagte: „Meine Herren, ich bin alt und schwach, Sie müssen mich wie ein Kind betrachten.“ 13 Er äußerte den Wunsch zu sterben und erklärte, „er könne nicht mehr der Welt nützen und wisse nicht, was er mit sich anfangen solle.“ Eine rührende Anekdote des 12 Fußnote 5, S. 77 13 Wasianski, Kant, S. 232, 261 11 greisen Kant sei hier wiedergegeben. „Eine der wenigen Freuden, die ihm geblieben waren, bestand darin, einen Vogel, eine Grasmücke, zu beobachten, die jedes Frühjahr kam und in seinem Garten sang. Als sich dieser Vogel in einem Jahr verspätete, sagte er: ‚Auf den Apenninen muß noch eine große Kälte sein‘, und er wünschte dem Vogel schönes Wetter für seine Heimkehr. Im Jahre 1803 kam der Vogel nicht wieder. Kant war traurig und klagte: ‚Mein Vögelchen kömmt nicht.‘ Am 24. April 1803 schrieb er in sein Notizbuch: ‚Nach der Bibel: unser Leben währet 70 Jahr und, wenn‘s hoch kommt, 80 Jahr und wenn‘s köstlich war, ist es Mühe und Arbeit gewesen.‘ Der Sommer 1803 verlief ziemlich gut. Unter anderem erfreute Kant sich an den Märschen, die bei der Wachablösung gespielt wurden. Da die Wachen an seinem Haus vorbeikamen, ließ er alle Türen offen, um ihre Märsche besser hören zu können.“14 Kant hatte ein großes Ansehen bei Studenten und den Bürgern Königbergs. Dies zeigen die großen Feierlichkeiten zu seinem Begräbnis. Seine äußerst bescheidene Bestattungsart hatte Kant vorsorglich, wie bei ihm üblich, auf einen Zettel geschrieben. Wasianski überredete Kant, seine schriftlich fixierte letzte Willensäußerung auf diesem Zettel zu vernichten, um seinem Nachlassverwalter freie Hand zu lassen. Wasianski ahnte wohl, dass die Studenten und Bürger anläßlich Kants Beisetzung etwas vorhatten; aber die Größe und Würde der Feierlichkeiten überraschte ihn dennoch gewaltig. Kurz nach Kants Tod veröffentlichten die „Königlich Preußischen Zeitungen“ eine Notiz, in der es u. a. hieß: „Heute Mittags um 11 Uhr starb hier an völliger Entkräftung im 80sten Jahre seines Alters Immanuel Kant. Seine Verdienste um eine Revision der spekulativen Philosophie kennt und ehrt die Welt. Was ihn sonst auszeichnete, Treue, Wohlwollen, Rechtschaffenheit, Umgänglichkeit - dieser Verlust kann nur an unserem Orte ganz empfunden werden, wo also auch das Andenken des Verstorbenen am ehrenvollsten und dauerhaftesten sich erhalten wird.“15 Das wissenschaftliche Leben Kants besteht im Wesentlichen aus zwei Phasen. Die erste Phase ist die bis ca. 1770, die sogenannte vorkritische Zeit. Dazu gibt es einen Beleg; in der Reflexion 5037 aus seinem handschriftlichen Nachlass sagt Kant: „Ich versuchte es ganz ernstlich, Sätze zu beweisen und ihr Gegenteil, nicht um eine Zweifellehre zu errichten, sondern weil ich eine Illusion des Verstandes vermutete, zu Zitiert aus der hervorragenden Biographie Kant von M. Kühn, S. 484, C. H. Beck, 2003 14 15 Karl Vorländer, Immanuel Kants Leben, Leipzig: Meiner, S. 207, 1911 12 entdecken, worin sie stäke. Das Jahr 69 gab mir großes Licht.“ Offensichtlich ist Kant beim Studium der Schriften Newtons, Eulers, Rousseaus und Humes ein Licht aufgegangen. Ihm ist klar geworden, dass neben der skeptischen Vernunft das menschliche Gemüt auch von starken freiheitlichen und moralischen Gefühlen beeinflusst wird. Kant erkannte mit einem Mal das dialektische Verhältnis von Natur und Freiheit. Diese beiden Begriffe werden die Türangeln seiner Spätphilosophie. Das Verhältnis von Natur und Freiheit als eine Antinomie entdeckt zu haben, war eine der großen gedanklichen Leistungen Kants. Diese Antinomie zeigt die aporetische Konstitution oder die Zerrissenheit des Menschen in ein sensibles und zugleich intelligibles Wesen. Vermöge dieser Vernunftantinomie glaubte Kant den Schlüssel zum Geheimnis der Metaphysik gefunden zu haben. Nun begann die kritische Zeit; es folgten Jahre des Schweigens16. Erst im Mai 1781 erschien das riesige, über 800 Seiten fassende, Werk Kritik der reinen Vernunft. Es zählt heute zum Schwierigsten der Weltliteratur. Nach Schopenhauer ist es „das wichtigste Buch, das jemals in Europa geschrieben worden ist“. Kurz gesagt, geht es darum, „durch die kritische Prüfung der Verstandeskräfte in einer Transzendentalphilosophie die Bedingungen der Möglichkeit und die Grenzen der Erkenntnis zu bestimmen.“ Die Bedeutung der Kritik der reinen Vernunft für die modernen Naturwissenschaften ist umstritten. Albert Einstein sagte einmal in seinen späten Jahren, Kant sei der einzige Philosoph, der einem Physiker einiges zu sagen hätte. Heute scheint mir, dass die theoretische Physik diese Bemerkung Einsteins überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat. Und Karl Popper schreibt schon zum hundertfünfzigsten Todestages von Kant: „Es gibt so etwas wie ein Kantisches intellektuelles Klima, ohne das die Theorien von Einstein oder Bohr undenkbar sind.“ Die berühmte Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? wird immer noch diskutiert. Kants Erkenntnistheorie ist durch die sogenannte Revolution der Denkart charakterisiert. Der Verstand mit seinen Denkformen schreibt der Natur die Gesetze vor, während Raum und Zeit subjektive Anschauungsformen sind. Die Subjektivität der Raumzeit ist in Ansehung der Einsteinschen Relativitätstheorie, der Quantentheorie und der Frage nach der objektiven Ende 1773 schreibt Kant an M. Herz: „so bleibe ich nummehro halsstarig bey meinem Vorsatz mich durch keinen Autorkitzel verleiten zu lassen in einem leichteren und beliebteren Felde Ruhm zu suchen, ehe ich meinen dornigen und harten Boden eben und zur allgemeinen Bearbeitung frey gemacht habe.” 16 13 Realität immer noch revolutionär und kontrovers. Kant ist aus philosophiegeschichtlicher Sicht der Begründer der Metaphysik der Sitten. Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erschien im April 1785. In diesem Buch begründete Kant seine Vorstellung einer auf das Gebot der Vernunft basierenden, nicht von Zwecken oder Gefühlen geleiteten, Ethik. In der Vorrede dieses vielleicht eindruckvollsten Buches heißt es, „Alle Vernunfterkenntnis ist entweder material und betrachtet irgend ein Objekt; oder formal und beschäftigt sich bloß mit der Form des Verstandes und der Vernunft selbst und den allgemeinen Regeln des Denkens überhaupt, ohne Unterschied der Objekte.“ Diese Unterscheidung ist für das Verständnis der Kantischen Werke sehr bedeutsam. Der Kategorische Imperativ, das Grundgesetz der Sittenlehre ist bloß ein rein formales Sittenprinzip und steht nicht für das Materiale. Jenes handelt Kant später in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht 1798 ab. Die Kritik der praktischen Vernunft erscheint 1788, es ist die Ausformulierung dessen, was in der Grundlegung etabliert wurde. Kant weist darauf hin, dass die Philosophie es nur mit Naturphilosophie und Moralphilosophie zu tun habe und der Gemeinschaft dieser beiden Teile. Naturbegriffe und der Freiheitsbegriff bilden unser gesamtes Erkenntnisvermögen. „Denn so wenig der Naturbegriff auf die Gesetzgebung durch den Freiheitsbegriff Einfluß hat, ebensowenig stört dieser die Gesetzgebung der Natur.“ Die Kritik der Urteilskraft von 1790 bildet den Abschluss seines Systems der Transzendentalphilosophie. Dieser Abschluss, der im Verhältnis von theoretischer und praktischer Philosophie, oder mit anderen Worten in der Relation von Naturlehre und Sittenlehre besteht, ist nun Kants intensivstes Anliegen. Die antinomische Kluft zwischen Natur und Freiheit versucht Kant durch die Urteilskraft zu verstehen, in dem er auf den Vorwurf reagierte, durch sein Newtonsches Naturbild das Lebendige zu ignorieren. Das System des Geistes besteht nun also aus drei Vermögen. Der Verstand zusammen mit der Sinnlichkeit bildet die Begriffe und Regeln, um die Mannigfaltigkeit der Natur zu vereinheitlichen und zu ordnen. Die Vernunft bildet die regulativen Ideen von Freiheit, Gott, dem Weltganzen und der unsterblichen Seele. Das dritte Geistvermögen, die Urteilskraft bildet den Zusammenhang zwischen den Gesetzen der Natur und der Freiheit. Kant sucht in der Kritik der Urteilskraft nach einem Brückenprinzip, das die beiden sich ausschließenden Bereiche verbindet. Jenes Werk zentriert sich um die Begriffe des Schönen, Erhabenen und der Naturzweckmäßigkeit zusammen mit der Teleologie. Er entdeckt dabei, dass 14 der transzendentale Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur, weder ein Naturbegriff noch ein Freiheitsbegriff ist. Das Prinzip der Zweckmäßigkeit ist subjektiv notwendig, d. h. für die systematische Naturforschung insbesondere des Lebendigen ist es die erforderliche Denkbedingung, ohne dass es der Natur objektiv zugesprochen werden kann. Die Urteilskraft muss „für ihren eigenen Gebrauch es als Prinzip a priori annehmen, daß das für die menschliche Einsicht zufällige in den besonderen (empirischen) Naturgesetzen dennoch eine für uns zwar nicht zu ergründende, aber doch denkbare gesetzliche Einheit enthalte.“17 Diese fundamentalen Kantischen Grundbegriffe, so denke ich, münden in den alles umfassenden Begriff des Lebens schlechthin. Die Kritik der Urteilskraft erschien als eine völlig neuartige Ästhetik 18 inmitten der Diskussionen des damaligen kunstfreundlichen Zeitalters. Schiller schrieb 1791 an Körner: „Seine Kritik der Urteilskraft reißt mich hin durch ihren neuen, lichtvollen, geistreichen Inhalt und hat mir das größte Verlangen beigebracht, mich nach und nach in seine Philosophie hineinzuarbeiten.“ Selbst Goethe wuchs unter Schillers Einfluß mit Kants Ästhetik „ganz zusammen“; er bewunderte auch die religionsphilosophischen Gedanken des Werkes. In sein Exemplar schrieb er an den Rand: „Gefühl von Menschenwürde objektiviert Gott.“ Alle drei Kritiken bilden das trivalente Grundvermögen unseres Gemüts ab, nämlich das theoretische Erkenntnisvermögen, das ästhetische Gefühl von Lust und Unlust und das praktische Begehrungsvermögen.19 Diese Kantische Trilogie, wie ich sie Vgl., Immanuel Kant und die Berliner Aufklärung, Hrsg. Dina Emundts, S. 198, 2000, anläßlich des IX. Internationalen Kant Kongresses im März 2000 in Berlin 17 Die Ästhetik fasse ich neben der Wissenschaft vom Schönen auch als die Lehre von der Gesetzmäßigkeit und Harmonie in Natur und Kultur (Kunst) auf. Der Begriff der Ästhetik zielt auf den Lebensbegriff ab; ein Ästhet ist ein Wahrnehmender, der bestimmt lebt, einen Lebensstil hat. 18 In der gleichen Reihenfolge, Kritik der reinen Vernunft, Kritik der Urteilskraft und Kritik der praktischen Vernunft. Der Begriff „ praktisch“, ein typisch Kantischer Begriff, meint nicht das wirkliche Handeln oder Tun, sondern „sittlich“, unabhängig von der äußeren Sinnesempfindung. Die praktische Vernunft charakterisiert das Moralische im Menschen und ist relationell mit dem Drang zum Unbedingten, zum Vollkommensten, zur Idee des Guten, zur Idee der Freiheit verknüpft. Das Begehrungsvermögen verbindet Kant daher mit Vernunft, Endzweck und Freiheit, hat also mit sinnlichen Begehren nichts zu tun; das muß man 19 15 nenne, strukturiert das System der Transzendentalphilosophie. Man kann sie durch die Begriffstrias Wahrheit-Schönheit-Freiheit fassen. Damit zusammenhängend sind die drei berühmten Kantischen Fragen anzusehen: was kann ich wissen? was soll ich tun? was darf ich glauben? Sie führen alle zu der einen Frage: was ist der Mensch? Schon in seinen früheren Vorlesungen taucht bei Kant oft diese Dreiheit als die drei Spielarten menschlichen Handelns in der Praxis auf: die Geschicklichkeit, die Klugheit und die Sittlichkeit. Diese Dreigliederung war zunächst anthropologischer Art. An Stelle der Sittlichkeit spricht Kant später von der Weisheit in Ansehung der praktischen Vernunft. Geschicklichkeit hat was mit Sinnlichkeit zu tun, Klugheit ist eine Eigenschaft des Verstandes. Die Sittlichkeit ist durch Würde oder Weisheit charakterisiert; hieraus folgen regulativ-sittlichen Ideen der reinen Vernunft. Daraus abgeleitete Grundregeln für die Menschheit ergeben sich im Technischen, im Pragmatischen und im Moralischen. Kant entdeckte eine Zweiteilung dieser drei Handlungsweisen, nämlich in hypothetische und kategorische Imperative. 20 Damit gelingt es Kant, zwei ganz verschiedene Handlungsweisen zu begründen, die in unserem physisches und moralisches Wesen ihren Grund haben. Er sagt: „Der hypothetische Imperativ sagt also nur, daß die Handlung zu irgend einer möglichen oder wirklichen Absicht gut sei. Im erstern Falle ist er ein problematisch, im zweiten assertorisch praktisches Prinzip. [Unsere Wirtschaftsgesellschaften funktionieren gemäß dieser Handlungen.] Der Kategorische Imperativ, der die Handlung ohne Beziehung auf irgend eine Absicht, d. i. auch ohne irgend einen Zweck für sich als objektiv notwendig erklärt, gilt als ein apodiktisch - praktisches Prinzip.“21 Der Mensch ist allen anderen Naturwesen durch seine technische, seine pragmatische und seine moralische Natur überlegen. Technisches Handeln ist auf Sachen bezogen, pragmatisches Handeln bezieht sich immer auf Menschen als tätiges Wesen, d. h. auf die Politik. Ethisches Handeln ist keine Angelegenheit der Geschicklichkeit oder der Klugheit, sondern allein eine der Sittlichkeit. Für Kant heißt das, jeder Mensch als ein vernünftiges beachten, vgl., KdU, Meiner, S. 36, 1993. hypothetischer Imperativ: nur unter gewissen Bedingungen notwendiges Sollen; kategorischer Imperativ: unbedingt gültiges ethisches Gesetz, Pflichtgebot, keinen Widerspruch duldend. 20 21 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten = GMS, Meiner 1994, S. 35 16 Wesen muss über sein Leben selbst entscheiden und darf niemals bloß als ein Mittel oder eine Sache zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen mißbraucht werden. Erst in der Dimension des Moralischen ist der Handelnde ganz auf sich gestellt, in ihr findet er seine wahre Identität, erst in ihr wird er unverwechselbar er selbst.22 Kant hat nicht nur den sogenannten deutschen Idealismus begründet, der dann durch Fichte, Schelling und Hegel seine endgültige, wenn auch andere Form bekam, sondern seine Philosophie hat im letzten Vierteljahrtausend maßgeblichen und weltweiten Einfluß auf alle möglichen Felder des Denkens und Handelns gewonnen. Seine Einteilung der Philosophie in theoretische und praktische, liefert uns die Einsicht, dass wir gleichermaßen Bürger zweier Welten sind. Die eine ist die des Seins, die Welt der Erscheinungen oder der Natur. Die andere ist die Welt der Freiheit des Menschen, die Welt des Sollens und der selbstgesetzten Pflicht. Weil die Seele unsterblich ist, als eine Idee der reinen Vernunft, hat jeder Mensch als Träger der Seele die Möglichkeit, seinen zeitlichen Teil zum Besseren und Guten für die Menschheit zu tun. Die Kritik der reinen Vernunft führte Kant zur Entdeckung des letzten Grundes der Vernunft. Es gibt keine göttliche Vorsehung, das Grundprinzip liegt in der Autonomie, der Freiheit der Selbstgesetzgebung, d. h. im Selbstbewusstsein des Menschen. Im Gang der Wissenschaften haben Ideen über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele zunächst keinen Platz. Kann Metaphysik überhaupt Wissenschaft sein? Bei dem Versuch diese Frage zu beantworten, entdeckt Kant seine Transzendentalphilosophie, die zur Vernunftkritik führt. Mit ihrer Hilfe begründet er die Voraussetzungen unseres Wissens von der Natur und des Menschen und zeigt die Grenzen von Theorie und Praxis. Die Vernunft will immer das Absolute fassen, findet aber nur Bilder oder Perspektiven. Kants große Leistung war, die Erfahrung von der Metaphysik befreit zu haben, indem er die Natur, deren Gesetzgeber wir sind, nur in Form von Erscheinungen dachte und Metaphysisches unter dem problematischen Begriff des Dinges an sich subsumierte. Der Mensch ist ein physisches und ein moralisches Wesen, bestehend aus Leib und Gemüt. Diese im Grunde einfache Annahme, bildet die Basis der Kantischen Transzendentalphilosophie und - und, was ich hier betonen möchte - grenzt sie damit von der Epikureischen, der Spinozistischen, der von Schelling und anderen pantheistisch-naturalistisch gefärbten Weltbildern ab. Es sei eine wichtige 22 Vgl. Hinske, 1980, S. 131 17 Erkenntnis Fichtes an dieser Stelle hervorgehoben: „Was für eine Philosophie man wählt, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist.“ Es macht keinen Sinn eine Perspektive durch eine andere zu kritisieren, oder ad absurdum zu erklären, denn jedes Weltbild hat sein Recht, sofern es auf Vernunft gründet und dabei andere Darstellungsweisen der menschlichen Natur nicht ausschließt. 1793 schrieb Kant in einer Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik eine Zusammenfassung seiner ganzen Philosophie. Der Entwurf endet im Anhang zur Übersicht des Ganzen interessanterweise folgendermaßen: „Es sind nämlich zwei Angeln, um welche [die Metaphysik] sich dreht: Erstlich die Lehre von der Idealität von Raum und Zeit, welche in Ansehung der theoretischen Prinzipien aufs Übersinnliche, aber für uns unerkennbare, bloß hinweiset, indessen dass sie auf ihrem Wege zu diesem Ziel, wo sie es mit der Erkenntnis a priori der Gegenstände der Sinne zu tun hat, theoretisch-dogmatisch ist; zweitens, die Lehre der Realität des Freiheitsbegriffes, als Begriffes eines erkennbaren Übersinnlichen, wobei die Metaphysik doch nur praktisch-dogmatisch ist. Beide Angeln sind gleichsam in dem Pfosten des Vernunftbegriffes von dem Unbedingten in der Totalität aller einander untergeordneter Bedingungen eingesenkt, wo der Schein weggeschafft werden soll, der eine Antinomie der reinen Vernunft, durch Verwechslung der Erscheinungen mit den Dingen an sich selbst bewirkt, und in dieser Dialektik selbst Anleitung zum Übergange vom Sinnlichen zum Übersinnlichen enthält.“23 23 Akademieausgabe, Bd. 20, S. 311 18 III. Natur und Freiheit, die zwei Türangeln seiner Philosophie Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit In Würdigung der Kantischen Gedanken und Ideen werde ich meinen Blick nun- mehr auf den Primat der Sittlichkeit24 als auf die Natur legen und dabei auf das Kantische Vernunftgeheimnis, wie ich es nennen will, aufmerksam machen. Nur in der praktischen Philosophie zeigt sich, trotz der Grenzen der menschlichen Vernunft das sich öffnende Tor zum Bild des Absoluten im Menschen, vielleicht seine Göttlichkeit. Unsere Zwecke sind moralischer Natur und „praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist.“25 Die Kritik Kants wehrt dogmatische Metaphysiken wie „freche und das Feld der Vernunft verengende Behauptungen des Materialismus, Naturalismus und Fatalismus“ usw. ab. In der praktischen Vernunft stößt Kant auf das Subjekt als Zweck an sich. Die Grenzen der Vernunft entdeckte Kant deshalb als erster, weil es ihm eigentlich immer um das Verhältnis von Erfahrung und Metaphysik des Unbedingten ging. Wer an dem Unbedingten keinen Gefallen findet oder Sinn sieht, dem bleibt das Tor zum Haus der Transzendentalphilosophie, in dem es um die letzten Voraussetzungen und Bedingungen unseres Denkens und Fühlens geht, verschlossen. In jedem Menschen steckt aber die Sehnsucht nach dem Absoluten, so dass die Kantische Philosophie jeden Menschen ansprechen muss. Das Gute als Idee war im Vordergrund der Philosophie Platons. Kant hat den Begriff des Guten mit dem Willen zum guten Willen verschmolzen. In der Grundlegung der Metaphysik der Sitten steht der Satz, dass es etwas in der menschlichen Vernunft gibt, „was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“26 Der Bestimmungsgrund des Willens ist natur- und sittenbedingt. Die Kantische Neuentdeckung des Sittlichen, bereits bei Sokrates thematisch, wird hell erleuchtet. Das Sittliche nämlich wird von Kant als eine eigene Vernunftart, neben der theoretischen wiederentdeckt, welche Kant die praktische Vernunft nennt. Die theoretische Vernunft denkt in Begriffen und die praktische Vernunft neben Ideen in Geboten, oder in anderen Man erinnere sich dazu eines Spruches von Freiherr von Feuchtersleben: „Die Theorie ist nicht die Wurzel, sondern die Blüte der Praxis.“ Oder in anderen Worten, das Sein ist nicht die Wurzel, sondern die Blüte der Pflicht. 24 25 Kritik der reinen Vernunft = KdV, A 800 26 GMS, 10 19 Worten: die praktische Vernunft denkt in Begriffen des Sollens, die theoretische Vernunft in Begriffen des natürlichen Seins. Der Mensch sieht sich von einer Naturordnung, aber auch von einer sittlichen Ordnung umgeben; erkennt er nicht den wesentlichen Unterschied zwischen diesen beiden Ordnungen, erstirbt er in einem Phäakenleben27. Die Anerkennung einer moralischen Weltordnung als Grundlage der physischen Weltordnung nachzuweisen, ist seit Sokrates das Problem der Philosophie. Biologische Eigenschaften oder zeitliche Zustände können niemals sittliches Verhalten oder gar die Menschenwürde begründen. Die Frage, ob ein Zellhaufen bereits Menschenwürde hat oder nicht, dürfen wir nicht von der Natur in Form von empirischen Daten ablesen. Diese Fragen müssen wir durch unser sittliches Selbst beantworten. Bei der Navigation durch das menschliche Dasein führt uns unsere allgemeine Menschenvernunft. Sie sagt uns, was gut, was böse und was die humane Pflicht ist. Man muss sie nicht etwas Neues lehren, „sie nur, wie Sokrates es tat, auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam machen, und daß es also keiner Wissenschaft und Philosophie bedürfe, um zu wissen, was man zu tun habe, um ehrlich und gut, ja sogar weise und tugendhaft zu sein.“28 Handelnd tritt der Mensch heraus aus den Schranken der kausalen Natur und stößt in eine neue unnatürliche Ordnung der Dinge, der intelligiblen Ordnung. Diese gegensätzlichen Reiche, das Sein der Natur und das Sollen des Geistes zum Guten, durch den zweckmäßigen und teleologischen Lebensvollzug29 möglicherweise verbunden, bilden das Zentrum des Kantischen Denkens seit seiner Kindheit. Natur und transzendentale Freiheit unterscheiden sich wie Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit und deshalb hat unsere Vernunft einen empirischen und einen transzendentalen Charakter. In der Kritik der reinen Vernunft kommt der merk- und denkwürdige Satz „Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit“ 30 vor. Freiheit ist ein rein menschliches Vermögen: sich selbst zu bestimmen, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe. Es ist das Bewusstsein von Freiheit, was dem Menschen seine Würde verleiht und den Freiheitsentzug Nach dem als besonders glücklich geltenden Volk der Phäaken in der griechischen Sage. Ein Phäake ist ein sorgloser Genießer. 27 28 GMS, 22 Dieses geistige Vermögen regelt, neben dem Verstand und die Vernunft, die Urteilskraft. 29 30 KrV, A 556 20 begründet und verursacht durch andere Menschen - in all seinen Formen so entsetzlich macht. Die Vernunft ist bestimmend, aber niemals bestimmbar. „Daher kann man nicht fragen: warum hat sich nicht die Vernunft anders bestimmt? sondern nur: warum hat sie die Erscheinungen durch ihre Kausalität nicht anders bestimmt? Darauf aber ist keine Antwort möglich.“ 31 Die Handlungsmöglichkeiten der Natur sind dem Menschen bekannt. Kant setzt hierbei rigoros voraus, dass die Vernunft in ihrer Kausalität keinen Bedingungen der Natur und der Zeit unterworfen ist. Ich möchte erneut hervorheben: Für einen Epikureer gibt es diese Freiheit nicht, denn für ihn ist alles Natur. Epikur war für Kant daher der konsequenteste Philosoph des Altertums. Bis auf Epikur sahen sich alle anderen Denker gedrungen, zur Erklärung der Weltbewegungen einen “unbewegten Beweger”32 anzunehmen, d. h. eine spontane frei handelnde Ursache, durch die alles von selbst anfing. „So schafft sich die Vernunft die Idee von einer Spontanität, die von selbst anheben könne zu handeln, ohne daß eine andere Ursache voran geschickt werden dürfe, sie wiederum nach den Gesetzen der Kausalverknüpfung zur Handlung zu bestimmen.“ 33 Mit dieser transzendentalen Freiheit begründete Kant vielleicht philosophiegeschichtlich seine großartigste Leistung - die Moralphilosophie, dessen Basis der Kategorische Imperativ ist. Das Sittengesetz in Form des Kategorischen Imperativs ist ein rein formales Faktum der reinen Subjektivität. „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.“34 Kritiken übersehen, dass der kategorische Imperativ als Fundamentalprinzip ja nur rigoros sein kann, sonst löst er sich selbst auf. Es ist der letztlich bestimmende Grundsatz für das Verhalten des Menschen, denn „er ist längst in aller Menschen Vernunft gewesen und ihrem Wesen einverleibt und ist der Grundsatz der Sittlichkeit.“35 Bei Kant leuchtet in seinen Schriften immer der Glaube oder die Idee von der allgemeinen moralisch durchsetzten Menschenvernunft, eine Vernunft die für jeden Menschen galt, gilt und gelten wird. Angesichts der vergangenen krieger31 KrV, B 584 32 Dieser Begriff stammt von Aristoteles 33 KrV, B 561 34 GMS, 43 35 Kritik der praktischen Vernunft = KpV, A 188 21 ischen Jahrhunderte oder der Weltgeschichte bekommt man Zweifel an eine solche Menschenvernunft, aber es bleibt dabei: Alle Moralität beruht auf Ideen und diese Moralität ist für uns ein Rätsel, denn die letzte Bedingung der Möglichkeit von Sittlichkeit verstehen wir nicht, obwohl jeder Mensch ein Wissen und ein Gewissen davon hat. Das Bewusstsein eines Reiches nicht von dieser Welt bringt den Menschen in eine erhabene meditative Stimmung des Gemüts, die ihn seine göttliche Macht spüren läßt36. Diese Macht in praktischer Absicht wird oft ins moralische Übel gekehrt, so lehrt uns die Geschichte. Warum neben dem Guten auch das Böse existiert, darauf hat die Philosophie als Weisheitslehre keine Antwort. Der Mensch hat einen „unausrottbaren Hang zum radikal Bösen“, weil er ein triebhaftes Sinneswesen ist, aber er ist auch zum Guten fähig. Wir stoßen hier auf das Freiheitsparadox, denn wir betrachten uns selbst sowohl als triebhafte Wesen, gebunden durch die Naturgesetze, wie auch als transzendentale Wesen, die allein den Imperativen der Vernunft verpflichtet sind. Was ist das für ein Verhältnis zwischen dem empirischen Ich und dem transzendentalen Selbst? Wie kommt das Selbstbewusstsein zum Bewusstsein seiner eigenen Körperlichkeit in der Natur? Der Hiat37 zwischen Ich und Natur ist ein echtes metaphysisches Problem und erinnert uns an das Sokratische Nichtwissen. Schon der Sokratische Logos wurde von der Aporie38 eingeholt und Sokrates gesteht: „Es ist ein Dünkel, etwas zu wissen, was man nicht weiß.“39 Ich existiere einerseits als ein empirisches Selbst und andererseits als ein transzendentales (freies) Selbst außerhalb der Natur. Wie soll man das Ding an sich und Erscheinung zusammen denken? Wie so oft kommen wir mit einer Frage weiter. Fragen wir, warum ist die Freiheit des transzendentalen Selbst „Daß der Mensch sich bewusst ist, er könne dieses, weil er es soll: das eröffnet in ihm eine Tiefe göttlicher Anlagen, die ihm gleichsam einen heiligen Schauer über die Größe und Erhabenheit seiner wahren Bestimmung fühlen läßt.“ Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein taugt aber nicht für die Praxis, Weischedel-Ausgabe, Bd. XI, S. 142, Suhrkamp, 1977. 36 37 Von Hiatus, Kluft. Unmöglichkeit eine philosophische Frage zu lösen, - in einer bestimmten Situation die richtige Entscheidung zu treffen oder eine passende Lösung zu finden, Ausweglosigkeit, Ratlosigkeit, Verlegenheit. 38 39 Apol. 29 A 22 oder des Menschen so wertvoll und daher unantastbar? Es gibt zwei Arten von Kausalität in Ansehung dessen, was geschieht, entweder nach der Natur oder aus Freiheit. 40 Ich nenne die letztere Pflichtkausalität im Gegensatz zur Naturkausalität, sie herrscht im Reich der reinen Vernunft im Ansichsein der Dinge. Jeder von uns kennt Situationen, in denen man etwas tun soll, es aber nicht vollzieht und deshalb in Unruhe versetzt wird, weil man auf der Pflichtkausalität sitzen bleibt und sie nicht befreiend in die Naturkausalität überführt, das heißt, es einfach tut41, was getan werden soll. Das Gewissen treibt uns zum Sollen, es „drückt eine Art Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt.“42 Allerdings räumt Kant in einer Fußnote sehr bedenkenswert ein: „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.“ 43 Jeder natürliche Prozess, der meine Handlung bedingt, überträgt die Unfreiheit seiner kausalen Ursache auf mich. Kant unterstellt nun44, dass eine mögliche Handlung ihren Grund in mir selbst hat, der nicht sinnlich begründet werden kann. Also kann ich nur ein transzendentales Selbst neben meinem empirischen Dasein sein, denn das erklärt meine Freiheit inmitten der Naturkausalität. Ich wähle eine Handlung um ihrer selbst willen, etwa wenn ich lieben oder helfen will; die Liebe oder die Hilfe ist ihr eigener Zweck! Ich wähle eine Handlung im Lebensvollzug als einen Zweck für sich selbst. Eine solche Handlung kann, wie Kant meinte, keiner Kette empirischer Ursachen zugeschrieben 40 Siehe oben und KrV, A 532 41 E. Kästner: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ 42 KrV, A 547 43 KrV, A 551, B 579 Naturalisten wie Epikur oder Spinoza würden das nie akzeptieren, sie würden es als Torheit oder Spinnerei verwerfen. Wieder sei daran erinnert, dass es verschiedene Perspektiven gibt und niemand die „Eine“ kennt, auch Kant nicht. 44 23 werden; derartige Handlungen werden von meiner Vernunft oder meinem Gefühl spontan emergiert. Hieraus entwickelt Kant die Autonomie des Willens im Gegensatz zur Heteronomie in der Natur. Da die Autonomie sich ausschließlich im Gehorsam und Achtung gegenüber der Vernunft offenbart, und da das Ich seine Handlungen durch Imperative bestimmen muss, läßt sich die Autonomie des Willens beschreiben, als „die Tauglichkeit der Maxime eines jeden guten Willens, sich selbst zum allgemeinen Gesetz zu machen.“ 45 Der Bestimmungsgrund unseres Handelns kann nur natürlich oder nur moralisch sein oder beides. Das Problem besteht jetzt in der Frage: in welchem Verhältnis steht das transzendentale Selbst zum empirischen Selbst? Wie soll eine geistige Idee auf die Natur wirken? Was bedeutet „Möglichkeit der Kausalität aus Freiheit“ in der Praxis? Hier stoßen wir an die äußersten Grenzen des Kantischen Systems. Freiheit und Autonomie in der Erfahrung, d. h. im praktischen Gebrauch, bildet den Schlussstein der praktischen Philosophie. Kant behauptet, dass die Ursache-Wirkungs-Relation als Kategorie des Verstandes eine Relation in der Zeit bedeutet (also ein Verhältnis von vorher und nachher); das Verhältnis eines Grundes für das, was daraus folgt, ist dagegen zeitlos. In der Kritik der reinen Vernunft bietet uns Kant eine ziemlich geheimnisvolle Diskussion46; er unterlässt es zu erklären, wie das, was dem transzendentalen Selbst als Grund gilt, ein Ereignis in der Natur anfeuert. Kants Stellungnahme zu diesem Fragenkomplex sei in der Behauptung gebündelt, dass die Idee von meinem Selbst als Glied eines rein intelligiblen Bereichs47, zugleich auch Glied der Sinnenwelt, „immer eine brauchbare und erlaubte Idee zum Behufe eines vernünftigen Glaubens“ bleibt. Zugleich hält Kant aber daran fest, dass die Antinomie der menschlichen Freiheit unvermeidlich ist: niemals können wir sie mit Hilfe der theoretischen Vernunft auflösen, während uns die praktische Vernunft bloß versichert, dass es eine Lösung gibt. Doch er gesteht, „wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist 45 GMS, 70 KrV, A 538 - A 558. Vielleicht verstehen wir diese schwierige Stelle bei Kant immer noch nicht? Diese Diskussion endet dann auch mit dem Geheimnis der Vernunft. 46 Die nur geistig wahrnehmbare Ideenwelt Platons ist dieses intelligible Reich, es ist die Gesamtheit des objektiv Geistigen, des nur Gedachten oder die unerkennbare u. unerfahrbare Welt des Ansichseins der Dinge. 47 24 alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und Arbeit, hiervon Erklärung zu suchen, ist verloren.“48 Der Zusammenhang des Physischen und des Moralischen im Menschen „überschreitet alle Fassung seines Geistes, der, je nachdem er es versucht, diese Handlungen entweder gemäß dem Bedürfnisse des Verstandes als durch Natur bestimmt oder gemäß dem Erfordernisse der Moral als durch Freiheit hervorgebracht anzunehmen, bald einsieht, daß es im ersteren Fall das Wesen der Sittlichkeit und im anderen den Gebrauch des Verstandes aufgeben müsse und sonach, da keines von beiden sich aufgeben läßt, gewahr wird, daß hier ein Geheimnis vor ihm liege.“49 Und Kant schließt seine Grundlegung der Metaphysik der Sitten von 1785 geschrieben während seiner besten und kreativsten Jahre - mit einem Satz, dessen Inhalt ein Vernunftgeheimnis widerspiegelt: „Und so begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeit; welches alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft strebt, gefordert werden kann.“50 Mir fallen die Worte Kesslers aus seinem Buch Philosophie als Lebenskunst auf S. 386 ein: das „Geheimnis des Menschseins“ ist das „Hauptmerkmal echter Weisheit. Nur wer den Hauch dieses wahren Geheimnisses verspürt hat, sich im Umgreifenden geborgen gefühlt, befleißigt sich jener Lebenskunst, die über den Tag hinausreicht.“ Vom Standpunkt der Ethik 48 GMS, 89 49 Akademieausgabe, Bd. VIII, S. 453 GMS, S. 91. An dieser Stelle erlaube ich mir aus der Kritik der Urteilskraft, in der Kant über das Bewusstsein der Tugend und dem daraus folgenden erhabenen und beruhigenden Gefühl und die grenzenlose Aussicht in eine frohe Zukunft meditiert, die Fußnote zu entlehnen. „Vielleicht ist nie etwas Erhabeneres gesagt oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden, als jene Aufschrift über dem Tempel der Isis (der Mutter Natur): *Ich bin alles, was da ist, was da war, und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt.* KdU, Meiner S. 171, 1993. In diesen Zusammenhang ist es vielleicht interessant, dass Ludwig van Beethoven genau diesen Spruch aus Friedrich Schillers Schrift „Die Sendung Moses“ abgeschrieben hat. Dieser Spruch der Göttin Isis war für Beethoven ein eigenhändig geschriebenes Glaubensbekenntnis auf einen Zettel, welchen er auch stets eingerahmt auf seinem Arbeitstisch hatte. Man kann die originale Abschrift Beethovens im Bonner Beethovenmuseum bewundern. 50 25 ist die Problematik des Freiheitsproblems für Kant abgeschlossen, aber wir stoßen auf das Aporetische, das auch Sokrates spürte, und offenbar muss hier das Wissen anheben um dem Glauben Platz machen. Das bedeutet nicht, dass der Glaube oder irgendeine religiöse Überzeugung das Geschäft der Moral vorantreiben soll. Eine moralische Religion, nicht eine religiös fundierte Ethik wollen wir. Eine theologische Ethik wäre für Kant fast ebenso ein Monstrum, wie eine theologische Physik. 26 IV. Ausblick Was sagt uns Kant heute? Sind seine Ideen eine Herausforderung an die Gegenwart? „Die Moral muß mit der Erkenntnis der Menschheit verbunden werden“ war sein Leitspruch. Kant gehört der ganzen Welt, er schuf eine Philosophie für die Menschheit. Heute im Zeitalter der Globalisierung sollte der Geist der Kantischen Friedensidee in uns wach werden. Sie besteht in der Gemeinschaft aller Menschen und der universellen Forderung nach Moralität aus Vernunft, das heißt, der freien apriorischen Gesetzgebung durch den guten Willen. Kants Abhandlungen über Metaphysik der Natur und der Sitten, ferner die Arbeiten über logische, anthropologische, ästhetische und naturwissenschaftliche Themen auch zu Recht, Politik und Religion51, bilden noch heute einen unerschöpflichen Schatz von Gedanken. Seine Tugend- und Rechtslehre bezweckt die Beförderung der individuellen Vollkommenheit sowie das Gemeinschaftswesen bis zum gesetzlich weltweiten Völkerbund. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart und die Zukunft liegt in der Erkenntnis der Eigenverantwortlichkeit des Menschen und seiner Selbstbestimmung in Freiheit. Die Debatten um die Philosophie des Geistes, die Frage ob die Genetik den Menschen allein und zwangsläufig bedingt, verwischen ein Menschenbild, das durch Kant etabliert wurde. Die Würde und das Selbstbewusstsein sei eine Illusion, wollen uns die Hirn- und Geistforscher weismachen. Das sind Menschenbilder von fragwürdiger Art. Es muss daran erinnert werden, dass auch die Biowissenschaften nie über die Voraussetzungen ihres Denkens nachdenken können. Hier ist die Philosophie gefordert. Ein falscher Naturalismus hätte fatalste Folgen für den Weltfrieden; auf die Natur hatte sich unser Volk schon einmal berufen mit den unvorstellbar furchtbarsten Auswüchsen der Menschennatur. Der Gedanke Kants ist vielen heute vertretenden Positionen überlegen. Er liegt in der mündigen Selbstbewusstheit des natürlichen Menschen und in der Anerkennung und Forderung der freiheitlichen, mannigfaltigen und kulturellen Praxis der Völker unserer Erde. Heute leben wir in einer Zeit, in der die Weltbestimmung überdreht ist. Unglaublich viel Nützliches und Unsinniges ist technisch möglich geworden, aber die moralische Willensbestimmung und der innere Friede der Menschen verkümmert immer mehr. In der gegenwärtigen Lebens- und Wirtschaftsordnung haben Erfolg, Machtstreben, Geld, Ansehen und Beherrschung der Kommunikationssysteme Vorrang vor anderen vitalen Grundformen menschlicher 51 Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793 27 Entfaltung. Der Gehalt und Inhalt dieser Lebenseinstellung führt zur Entfremdung der Menschen von sich selbst: wir sind Opfer einer selbstgewählten Gesellschaftsordnung geworden, in der zwar vom individuellen Glück und Freiheit die Rede ist, de facto aber als Lebenszweck nur die Unterwerfung unter das Streben nach Macht, Erfolg und Geld gilt, ganz zu schweigen von der dadurch zwangsläufigen Ausbeutung der Natur. Wissenschafts- und wirtschaftgläubigkeit als das Allheilmittel führt zum gnadenlosen Wettbewerb unter den Völkern der Erde, verdrängt andere Lebenswelten und Kulturen und erzeugt feindliche Spannungen unter den Menschen, die zu Furcht und Ängsten führen: Furcht vor der Feindseligkeit anderer. Zum Wesenszug des Menschlichen gehört ja die lebenstragende Verbindung mit den Mitmenschen, die sich in der Agape äußert. In einer Zeit, wo das weltweite öffentliche Leben in verhängnisvoller Weise von neurotischen und apokalyptischen Zügen durchsetzt ist, muss der Mensch der simplen Aufforderung nachkommen, die einst Kant aussprach: „Man muß gut sein und das übrige erwarten.“ Der moralische Wert einer Handlung liegt eben nicht in der Wirkung, die aus dem moralischen Handeln erwartet wird oder folgen mag, sondern nur in der Achtung und bedingungslosen Befolgung des Sittengesetzes. Achtung ist die Vorstellung eines Wertes, der meiner Selbstliebe entgegensteht. Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Zwecke moralischer Natur sind, nicht bloß die Erhaltung und Steigerung des Lustvollen und der technischen Beherrschung der Natur. Glückseligkeit und Wohlverhalten scheinen sich auszuschließen. „Es ist kein natürlicher Zusammenhang zwischen dem Wohlverhalten und der Glückseligkeit. Wer sich wohl verhalten will, handle so wie Sokrates, und wer glücklich sein will, wie Cäsar etc.“52 Die erfolgreiche Skrupellosigkeit Cäsars und die erfolglose Redlichkeit des Sokrates bringen in ihrer ungewöhnlichen Steigerung und Einseitigkeit nur eine Problematik ans Licht, vor die in Wahrheit jeder einzelne in seinem Handeln gestellt ist.53 Die Kritik gegen Enzyklopädievorlesung Kants, S. 67, hrsg. von Lehmann 1961. Einen Zusammenhang zwischen Wohlverhalten und Glückseligkeit zu leben gelingt keinen Menschen, dazu müsste man ein göttliches Wesen annehmen, welches das anzustrebende höchste Gut (Tugend = Glückseligkeit) selbst ist. Kant sagt, werde würdig (moralisch rein) um glücklich zu sein. Dagegen sagt Epikur, der Mensch hat von Natur aus ein Recht auf Glückseligkeit ohne sittliche Pflichten. Hier prallen zwei völlig verschiedene philosophische Auffassungen gegeneinander, vgl. oben. 52 53 Vgl., Hinske, S. 93 28 Kant ist groß, viele Denkweisen in Philosophie, Wissenschaft und Politik stehen zu Kant im krassen Widerspruch. Kants Alterswerk Zum ewigen Frieden ist mit aller Wucht seines ausgereiften Denkens mitten im Kriegslärm von 1795 geschrieben. Ein ewiger Friede scheint angesichts der kriegerischen Weltgeschichte ein romantischer Wunschtraum zu sein. Aber das wäre Resignation. Die aufklärerische Kritik Kants kann nur appellativen Charakter haben. Wie bei vielen Gedankengängen Kants erschließt sich die Idee eines möglichen Weltfriedens nicht ohne Anstrengung. Wie und warum kann der Mensch so irren? Der Mensch hat einen Hang zum Bösen, dessen muss man sich bewusst sein, wenn man über gesetzliche Strukturen der menschlichen Gemeinschaft nachdenkt. Alles was der Mensch ist oder sein will, muss und kann er durch sein Denken und Tun subjektiv wie intersubjektiv erreichen. Niemals kann ihm irgend ein Gott oder ein Idol seinen Sinn, seine Würde und seine Wohlfahrt verleihen. Dazu muß der Mensch unter Umständen die „Höllenfahrt der Selbsterkenntnis“ auf sich nehmen und seine faule Vernunft54 bekämpfen. Die irrationalen Auswüchse des Menschen lassen sich nur durch das Gesetz binden. Die Bedeutung des Begriffs der Gesetzlichkeit ist bei Kant gar nicht hoch genug zu bewerten, denn: „Ein Gesetz aber hebt das Willkürliche der Handlungen auf und ist darin von aller Anpreisung unterschieden.“ 55 Die Vereinten Nationen sind von dem Kantischen Friedensgedanken, der „Vernunftidee einer friedlichen durchgängigen Gemeinschaft der Völker auf Erden“ glücklicherweise geprägt. Kant sagt: „Für Staaten, im Verhältnisse unter einander, kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie, eben so wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen, und so einen Völkerstaat, der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden.“ 56 Die Welt muss zu einem globalen Pflichtkonsens finden, der auf einem für alle Völker geltenden Sittenkodex basiert, der allen Freiheit, Frieden und Wohlergehen garantiert und die Würde des Menschen neben religiösen Überzeugungen nicht antastet. In seiner 1798 geschriebenen Anthropologie lesen wir: „Die Summe der pragmatischen Anthropologie in Ansehung der Bestimmung 54 Dieser Begriff stammt von Leibniz. 55 Metaphysik der Sitten, Reclam, S. 265 56 Zum ewigen Frieden, Weischedel-Ausgabe, Bd. XI, S. 212 29 des Menschen und die Charakteristik seiner Ausbildung ist folgende. Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren; wie groß auch sein tierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr tätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen.“ 57 Am Ende von Zum ewigen Frieden heißt es ferner: „Daß Könige philosophieren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen; weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt. Daß aber Könige oder königliche Völker die Klasse der Philosophen nicht schwinden oder verstummen, sondern öffentlich sprechen lassen, ist beiden zur Beleuchtung ihres Geschäfts unentbehrlich.“58 Es ist die Idee des Weltbürgerrechts, die Kant in Zeiten der Globalisierung so aktuell macht. Kant ist der Denker der Neuzeit, der den Begriff Frieden zu einem philosophischen Grundbegriff erhoben hat. Moral läßt sich nicht erzwingen, das Recht schon. Und so bleibt uns hier eine Aporie des Menschlichen, denn der Mensch lebt für sich und mit anderen zusammen. Freiheit muss er anderen unbedingt zubilligen, wenn er frei sein will. Der Mensch muss sich der antinomischen Spannung zwischen Naturmechanismus und menschlicher Freiheit bewusst sein, er darf Erscheinungen der objektiven Welt nicht mit den Dingen an sich verwechseln. Die aufklärerischen Grundelemente, das Selbstdenken, die Kritik und der Glauben an die allgemeine Menschenvernunft müssen uns auf eine frohe Zukunft hoffen lassen. Der Mensch als ein Geistwesen ist der Endzweck der Natur und das moralisch Gute kennt jeder Mensch durch Einsicht und Verstand. Lassen wir uns durch die Zuversicht des Kantischen Denkens leiten, nämlich durch seine These von der Unmöglichkeit des totalen Irrtums: „Nie kann der Mensch ganz und gar irren. Scheint es uns bisweilen: so haben wir den Menschen nicht verstanden.“59 Anthropologie in pragmatischer Absicht, Weischedel-Ausgabe, Bd. XII, S. 678 57 58 59 Zum ewigen Frieden, Weischedel-Ausgabe, Bd. XI, S. 228 Akademieausgabe, Bd. 24, S. 825 30