1 MARTIN LEUTZSCH DIMENSIONEN GERECHTER

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MARTIN LEUTZSCH
DIMENSIONEN GERECHTER BIBELÜBERSETZUNG1
„Übersetzungen sind am besten dort, wo sie
ein Werk der Zuneigung und des Mißtrauens
zugleich sind.“
(Karl Dedecius)
0. Vorfragen
Ziel der folgenden Überlegungen ist es, Kriterien für die Beurteilung vorhandener und für
die Erstellung künftiger Übersetzungen zu erarbeiten.
Kontinuierliche Beschäftigung mit der Frage der Gerechtigkeit von Bibelübersetzungen
gibt es seit den Konflikten um die Übersetzungen der Bibeltexte für den Deutschen
Evangelischen Kirchentag 1991. Dabei spielte das Kriterium der Angemessenheit einer
Übersetzung im Kontext des christlich-jüdischen Gesprächs und im Kontext der Bemühungen
um eine Frauen nicht diskriminierende Sprache eine Rolle, daneben das der Verständlichkeit
für die TeilnehmerInnen des Kirchentags. Ein Gesichtspunkt war auch das zwischen der
Kirchentagsleitung und den ÜbersetzerInnen nicht geklärte Verhältnis von Zuständigkeiten
und Verantwortlichkeiten.
Über den Kirchentag hinaus kam der kräftigste Impuls, Bibelübersetzung unter dem
Gesichtspunkt der Gerechtigkeit zu betrachten, aus dem Bereich feministisch-theologischer
Erarbeitung einer nicht-sexistischen Sprache in der Kirche2.
Während für die Kirchentage jeweils nur einige Abschnitte der Bibel übersetzt werden –
die Übersetzungen tragen bis heute den genannten Kriterien Rechnung – , sind als Teil des
vierbändigen Projekts „der gottesdienst“ (1997-2001), das liturgische Texte in gerechter
Sprache präsentiert, die Psalmen und die Bibeltexte der gottesdienstlichen Lesungen unter
dem Gesichtspunkt gerechter Sprache übersetzt worden3. Im Jahr 2001 begann ein Projekt,
das eine entsprechende Gesamtübersetzung der Bibel erarbeiten soll.
Zum Kontext gehört, dass eine Fülle von deutschsprachigen Bibelübersetzungen
Für konstruktive Kritik danke ich herzlich Marion Keuchen und den MitherausgeberInnen des Projekts „Die
Bibel in gerechter Sprache“, insbesondere Hanne Köhler und Erhard Domay. – Der Text, von dem eine erste
Fassung bereits ist auf der Tagung des Heidelberger Arbeitskreises 1992 in Kronberg vorgetragen wurde, ist
nicht unmittelbar auf dieses Projekt hin geschrieben. Die hier vorgetragenen Überlegungen gehen deshalb in
verschiedenen Hinsichten über das hinaus, was im Projekt „Die Bibel in gerechter Sprache“ erreicht werden
kann und soll.
2
Stellvertretend für viele einschlägige Veröffentlichungen nenne ich Hildburg Wegener/Hanne Köhler/Cordelia
Kopsch eds., Frauen fordern eine gerechte Sprache. (Gütersloher Taschenbücher 484). Gütersloh 1990.
3
Vgl. Erhard Domay/Hanne Köhler eds., der gottesdienst 4: Die Lesungen. Gütersloh 2001 (ebd. 10-20 zu den
Übersetzungsprinzipien).
1
2
vorhanden ist4. Weltweit ist diese Fülle und Pluralität eher die Ausnahme; oft existiert nicht
einmal eine einzige vollständige Bibelübersetzung in einer Sprache. Im deutschen
Sprachraum hingegen haben BibelleserInnen die Möglichkeit zum Vergleich.
1. Zur Geschichte der Fragestellung „gerechte Bibelübersetzung“
1.1. „Gerechtigkeit“ in der Metaphorik der Übersetzungstheorie
In der Metaphorik der Übersetzungstheorie hat „Gerechtigkeit“ seit den antiken Anfängen
keine Rolle gespielt, obwohl eine ganze Reihe von Metaphernfeldern aus dem
gesellschaftlichen, politischen und ethischen Bereich stammen. So wird das Spannungsfeld
von „Freiheit“ und „Sklaverei“ auf Übersetzungen angewandt („freie“ und „sklavische“
Übersetzungsweisen). Bei „Bewältigung“ von Übersetzungsaufgaben und „Überwältigung“
von Originalen werden militärisch-gewaltförmige Assoziationen frei; dies gilt entsprechend
für die „Gewaltsamkeit“ eines Übersetzungsvorgangs oder die „Vergewaltigung“ eines
Originals. Aus der wirtschaftlichen Sphäre stammt die Rede von den mehr oder weniger
großen „Verlusten“, die beim Übersetzen im Vergleich zum Original auftreten. Oft wird das
Rechtsverhältnis
der
„Treue“
einer
Übersetzung
bemüht,
und
in
den
übersetzungstheoretischen Kategorien „fides“, „falsare“ und „simplicitas“ schwingt oft eine
moralische Komponente mit.
Gelegentlich taucht in neueren Veröffentlichungen zu Übersetzungsproblemen „gerecht“
als unspezifischer, nicht terminologisch gebrauchter Begriff auf. So kann gesagt werden, eine
Übersetzung werde dem Gehalt einer Stelle gerecht oder sei motivgerecht. Nicht am Original,
sondern am Verwendungszusammenhang der Übersetzung macht sich die Forderung fest, die
Übersetzung müsse der Zielsprache gerecht werden. Auch die Beurteilung einer Übersetzung
solle gerecht sein, mindestens sachgerecht. In dem unter dem Namen Aristeas verbreiteten
legendarischen Bericht über die Septuaginta-Übersetzung deutet sich auch die Frage nach der
Gerechtigkeit der ÜbersetzerInnen an.
Interessant sind besonders einige Bemerkungen, die der evangelische Alttestamentler
Klaus Koch anlässlich einer Übersetzungskritik mit eigenem Übersetzungsversuch zu Jes
1,21-28 macht. Koch will „dem Autor und seinem Wollen mehr Gerechtigkeit widerfahren“
lassen „als die übliche, philologisch im engen oder engsten Sinn ausgerichtete deutsche
Vgl. den Überblick von Rudolf Kassühlke, Eine Bibel – viele Übersetzungen. Ein Überblick mit Hilfen zur
Beurteilung. Wuppertal 1998.
4
3
Übersetzungspraxis“5. Unter anderem spricht er das Problem der Übersetzung von mischpat
und zädäk an: „Beide Begriffe werden seit Luther im Deutschen mit ‚Recht‘ und
‚Gerechtigkeit‘ übersetzt und damit juridisch akzentuiert. Hebräisch gesehen, durchaus zu
Unrecht.“6 Aber nicht nur das Verhältnis der Übersetzung zur Ausgangssprache steht zur
Debatte, sondern auch die Wirkung: Diese juridische Akzentuierung leistet dem verbreiteten
Missverständnis Vorschub, „als verkünde das Alte Testament im allgemeinen und die
Profeten im besonderen einen überaus strengen, gerechten, u. U. sogar übergerechträchenden, zornschnaubend dreinfahrenden Gott.“7
Es zeigt sich, dass bei Bibelübersetzungen die Frage nach deren Gerechtigkeit im
umfassenden Sinn erst gestellt und reflektiert werden muß.
Abgesehen von den genannten Anknüpfungspunkten gibt es dabei indes wenigstens eine
wichtige Vorarbeit: die Überlegungen des Schweizer religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz
(1868-1945).
1.2. Der Beitrag von Leonhard Ragaz
Leonhard Ragaz veröffentlichte 1941 einen 1937/38 gehaltenen Vortrag mit dem Titel
„Falsche Übersetzungen der Bibel von welt- und reichsgeschichtlicher Bedeutung“8.
Wenngleich das Stichwort „Gerechtigkeit“ nicht fällt, sind Ragaz‘ Analysen und Vorschläge
für eine gerechte Bibelübersetzung von grundsätzlicher Bedeutung. Ragaz‘ Kritik an
bestimmten Bibelübersetzungen steht im Zusammenhang mit einer weit gespannten
Situationsanalyse. In meinen eigenen Worten kurz zusammengefasst, stellt Ragaz fest:
ÜbersetzerInnen, die in ungerechten Strukturen und im Einverständnis damit leben,
übersetzen ungerecht und stützen dadurch wiederum die ungerechten Strukturen9. Und: Die
Kirche ist in ihrer Geschichte eine Größe gewesen, die durch eine umfassende
Sozialdisziplinierung ihrer Mitglieder ungerechte Strukturen hervorgebracht und gestützt hat.
Im einzelnen geht Ragaz auf folgende Gesichtspunkte falscher Bibelübersetzung ein:
- Staatsdevotion: Eine Übersetzung wie „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ (Mt
5
Klaus Koch, Zur deutschen Wiedergabe poetischer Profetensprüche am Beispiel von Jes 1,21-28. In: Heimo
Reinitzer ed., Was Dolmetschen für Kunst und Erbeit sey. Beiträge zur Geschichte der deutschen
Bibelübersetzung. (Vestigia Bibliae 4). Hamburg 1982, 124-141: 130.
6
Ebd. 137.
7
Ebd. 139.
8
Leonhard Ragaz, Sollen und können wir die Bibel lesen und wie? Anhang: Falsche Übersetzungen der Bibel
von welt- und reichsgeschichtlicher Bedeutung. Zürich 2. Aufl. 1948 (1. Aufl. 1941), 37-56 (für die Beschaffung
des Texts danke ich herzlich Karlheinz Lipp).
9
Vgl. ebd. 37f. Ragaz ist deshalb auch nicht genötigt, den Übersetzern subjektive Unredlichkeit unterstellen zu
müssen (ebd. 37).
4
22,21) erlaubt die permanente Übertragung des (in seinem Verständnis sehr umstrittenen)
Anspruchs von Mt 22,21 auf die jeweils gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse. Ragaz
plädiert demgegenüber für eine konsequente Historisierung: „Gebt dem Caesar, was des
Caesars ist!“, die noch vor jeder Auslegung die historische Distanz zur Gegenwart betont 10.
- Sozialer Fatalismus: Ragaz bespricht hier Spr 22,2, Dt 15,4 und 1Kor 7,21, Stellen, die
durch bestimmte Übersetzungsentscheidungen immer wieder im Sinne einer Ewigkeit und
Normativität sozialer Ungleichheit gebraucht werden konnten11.
- Falsche Verinnerlichung und Spiritualisierung: Hier wendet sich Ragaz gegen ein
Verständnis von entos hymon Lk 17,20f. als „inwendig in euch“ (statt „mitten unter euch“)
und wendet bei der von ihm als Spiritualisierung verstandenen Hinzufügung von en pneumati
an die Seligpreisung der Armen Mt 5,3 (diff. Lk 6,20) die Fragestellung von der Ebene der
Bibelübersetzung auf die Ebene der Bibel selbst zurück12.
- Verlegung des auf die erneuerte Erde bezogenen Reiches Gottes ins Jenseits: Hier geht
Ragaz auf die mit der Übersetzung von basileia ton ouranon als „Himmelreich“ (statt „Reich
Gottes“) und von zoä aionios als „ewiges Leben“ (statt „Leben des Gottesreiches“)
verbundenen Konnotationen ein, die zu einer Entweltlichung der Heilsgüter führen13.
- „Kirche“ und „Gemeinde“: Entsprechend der Auffassung von Kirche als einer
Institution struktureller Ungerechtigkeit wendet sich Ragaz dagegen, dass die Kirche durch
die Übersetzung von ekklesia mit „Kirche“ statt „Gemeinde“ ihre eigene Legitimität in die
Bibel zurückprojiziert14.
- Systematisierung und Dogmatisierung: Hier kritisiert Ragaz die Eintragung des
lutherischen sola („allein“) in Röm 3,28, die in der Wirkung die Praxis des Glaubens zur
Nebensache gemacht hat, und das auf Röm 3,23 beruhende Wort „Wir sind allzumal Sünder“,
das eine geschichtsphilosophische These des Paulus in eine ewige Wahrheit verwandelt 15.
- Unter der problematischen Überschrift „Die Entmännlichung und Verkleinlichung der
Botschaft Christi“16 verhandelt Ragaz zum einen die inkludierende Ersetzung von „Sohn“
durch „Kind“, wo es um Christen geht, und kritisiert diese als Strategie der Infantilisierung,
10
Vgl. ebd. 38-41. Ragaz bespricht hier auch Röm 13,1. Vgl. auch die entsprechenden Bemerkungen in
Leonhard Ragaz, Die Bibel - eine Deutung, Bd. I-VII. Zürich 1947-1950 (ich benutze die Neuauflage in vier
Bänden Fribourg/Brig 1990, zitiere aber nach der Originalpaginierung), V 111f.; VI 84f.
11
Vgl. Ragaz, Sollen 41-45. Zu Dt 15,4 vgl. auch ders., Bibel II 124, zu 1Kor 7,21 ebd. VI 118-120.
12
Vgl. Ragaz, Sollen 45-48. Zu Lk 17,20f. vgl. auch ders., Bibel V 122f., zu Mt 5,3 ebd. V 38-40.
13
Vgl. Ragaz, Sollen 48-50. Zum „ewigen Leben“ vgl. auch etwa ders., Bibel VII 123f.
14
Vgl. Ragaz, Sollen 50f.
15
Vgl. ebd. 51-53. Zu Röm 3,23.28 vgl. auch ders., Bibel VI 143-145; eine Kritik der Erbsündenlehre auch ebd.,
I 94f.
16
Vgl. Ragaz, Sollen 53-55. Der mit „Entmännlichung“ gemeinte Sachverhalt ließe sich auch mit “Appell zur
Passivität" o. ä. wiedergeben - eine Wiedergabe, die indes das Problem nicht zum Verschwinden brächte, dass
Ragaz im Geschlechtsstereotyp Männlichkeit und Stärke verknüpft (vgl. zu diesem Geschlechtsrollenstereotyp z.
B. ders., Bibel I 105). Problematisch ist auch die Art der Bezugnahme auf die „Deutschen Christen“ ebd. 54.
5
des Unmündighaltens der Christen17. Zum anderen macht er auf die Tendenz aufmerksam,
aktives christliches Handeln im Übersetzungs- und Rezeptionsprozeß in Passivität zu
verwandeln18.
Folgerichtig fordert Ragaz am Ende seines Vortrags sowohl eine neue Übersetzung als
auch eine neue Deutung der Bibel19.
Für das Projekt einer gerechten Bibelübersetzung ist von Ragaz zu lernen, dass es in eine
umfassende Situationsanalyse von Kirche und Gesellschaft eingebettet sein muß. Ragaz‘
Intention liegt in der Warnung vor ungerechten, weil gegenwärtige Ungerechtigkeit
stützenden
Übersetzungsvorgängen:
Untertanenmentalität,
Akzeptieren
Nicht
sozialer
erzeugt
oder
verstärkt
Ungerechtigkeit,
werden
sollen
Verharmlosung
oder
Verjenseitigung biblischer Hoffnungspotentiale, Legitimation heutiger Kirche als Institution,
Unmündigkeit und Passivität christlichen Handelns und Selbstverständnisses.
Außer
den
von
Ragaz
besprochenen
Gesichtspunkten
sind
vor
allem
die
Übersetzungsprobleme einzubeziehen, die sich in der christlich-jüdischen Beziehung und in
der Beziehung von Frauen und Männern stellen und die deshalb hier ausführlicher erörtert
werden (Abschnitte 3 und 4). Doch zuvor noch einmal zur Frage: Was macht eine
Bibelübersetzung zu einer ungerechten?
2. Zwei Beispiele ungerechter Bibelübersetzung
2.1. Gen 3,16 in der Vulgata des Hieronymus
Eine ungerechte Übersetzung ist Hieronymus‘ Vulgata im Blick auf Frauen. Jane Barr hat
in mehreren Untersuchungen gezeigt, dass sich in der Vulgata Fehlübersetzungen häufen,
wenn es um Frauen geht20. Am bekanntesten und folgenreichsten ist die Wiedergabe von el17
Ragaz diskutiert dieses Phänomen am Beispiel von Mt 5,9.45 und Röm 8,15 (zu Mt 5,9 vgl. auch ders., Bibel
V 46f.). Er sieht bei „Sohn“ inklusiven Sprachgebrauch (vgl. ebd. 53), würde indes anstelle der infantilisierenden
inkludierenden Wiedergabe „Kind“ wohl eher mit „Söhnen und Töchtern“ operieren (von „Söhnen und
Töchtern“ Gottes spricht Ragaz z. B. auch in ders., Bibel I 45.53). - Zur „Verkleinlichung“ vgl. auch ders., Bibel
I 101 (im Blick auf die Engel).
18
Beispieltexte sind Mt 5,4 („sanftmütig“ statt „äußerlich schwach und gering“ bzw. „gewaltlos“; vgl. auch
ders., Bibel V 42, wo die Übersetzung „mild“ vorgeschlagen wird; vgl. auch ebd. 101) und 5,9 („friedfertig“ statt
„friedeschaffend“; vgl. auch ders., Bibel V 46f.)
19
Ragaz, Sollen 55f. Während die Forderung einer neuen Übersetzung bestehen blieb (vgl. ders., Bibel I 9), hat
Ragaz das Projekt einer neuen Deutung in seinem groß angelegten Bibelwerk eingelöst. Vgl. dazu (auch zur
Einordnung des Übersetzungs-Vortrags) Markus Mattmüller, Die Bibel als politisches Buch - das Bibelwerk des
späten Ragaz. In: Neue Wege 79 (1985) 348-362.
20
Vgl. Jane Barr, The Influence of Saint Jerome on Medieval Attitudes to Women. In: Janet Martin Soskice ed.,
After Eve. Women, Theology and the Christian Tradition. (Women & Religion). London 1990, 89-102; dies.,
The Vulgate Genesis and St. Jerome's Attitudes to Women. In: Studia Patristica 17/1 (1982) 268-273. Barr
bespricht Gen 3,16; 20,16; 29,30; 31,35; 34,3; 38,24.28; 39,8.
6
ischekh tschuqatekh whu jimschal bakh („nach deinem Mann wirst du verlangen, er aber soll
dein Herr sein“) Gen 3,16 mit et sub viri potestate eris et ipse dominabitur tui („und unter der
Macht des Mannes wirst du sein, und er wird dich beherrschen“)21. Was macht diese
Übersetzung ungerecht?
(a) Sie ist philologisch falsch; Hieronymus kannte die korrekte Bedeutung von tschuqah
und übersetzte das Wort in Gen 4,7 mit appetitus („Verlangen“).
(b) Sie hängt mit der breit dokumentierten negativen Einstellung des Hieronymus zu
Frauen zusammen. Hieronymus ist hier Repräsentant patriarchaler Strukturen und hat sich in
dieser Hinsicht nicht von der Bibel korrigieren lassen.
(c) Ungerecht wird die frauenfeindliche Übersetzung des Hieronymus vor allem durch die
enorme Verbreitung und Wirkung der Vulgata.
(d) Hinzu kommt, dass die Wirkung und Geltung der Vulgata jahrhundertelang gegen
Kritik immunisiert wurde: Auf dem Konzil von Trient wurde die Vulgata als die in
öffentlicher Vorlesung, Disputation, Predigt und Auslegung authentische Fassung der Bibel
bestimmt (Denzinger-Hünermann37 1506), und eine Entscheidung der Konzilskongregation
von 1576 erklärte, man dürfe weder einen Satz noch eine Silbe der Vulgata bestreiten; erst die
Enzyklika „Divinu afflante Spiritu“ von 1943 hat hier einen anderen Umgang mit der Vulgata
möglich gemacht.
(e) Würde die Vulgata heute noch viel gelesen, trüge sie damit auch zu dem
Missverständnis bei, die Juden seien schuld am Patriarchat22.
Dieses Beispiel zeigt, dass im Blick auf die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nicht alles
in der Hand der ÜbersetzerInnen liegt. Wäre Hieronymus‘ Übersetzung ohne öffentliches
Interesse geblieben, hätte sie sich nicht als die maßgebliche durchgesetzt, wäre sie nicht der
Kritik entzogen worden, so bliebe immer noch eine philologisch falsche Übersetzung, die mit
patriarchalen Attitüden des Übersetzers zusammenhinge, aber ihre Auswirkungen wären
weitaus weniger ungerecht.
2.2. Mt 5,9 in den „Deutschen Gottesworten“ von Ludwig Müller
Ein zweites Beispiel ungerechter Bibelübersetzung ist die völkische Vereinnahmung der
Bergpredigt in „Deutsche Gottesworte, verdeutscht von Reichsbischof Ludwig Müller“, 1936
erschienen im Verlag Deutsche Christen Weimar.
21
Zur Übersetzung von Gen 2f., insbesondere 3,16, vgl. auch Carol Meyers, Discovering Eve. Ancient Israelite
Women in Context. New York/Oxford 1988, ch. 4.5 (ebenfalls mit Bezug auf Hieronymus).
22
Vgl. dazu Judith Plaskow, Sind die Juden schuld am Patriarchat? Gegen christlich-feministische
Mythenbildung. In: Junge Kirche 51 (1990) 434-436.
7
Aus dieser „Verdeutschung“, deren genaue Analyse sehr aufschlussreich wäre, greife ich
die Wiedergabe von Mt 5,9 heraus. Müller schreibt: „Wohl denen, die mit ihren
Volksgenossen Frieden halten, sie tun Gottes Willen.“23
Was macht diese Übersetzung falsch?
(a) Sie erweitert („mit ihren Volksgenossen“) und ersetzt („sie tun Gottes Willen“) den
Urtext.
(b) Durch die Erweiterung schränkt sie den Geltungsbereich ein und verstärkt die NaziDichotomie „Volksgenossen“ vs „Gemeinschaftsfremde“24.
(c) Sie ist philologisch falsch, indem sie das passive Missverständnis von eiränopoioi
voraussetzt. Dieses wird auch von Ragaz kritisiert, der „Friedfertige“ als Falschübersetzung
wertet und stattdessen für „Friedestifter“ plädiert25. Mit dieser Kritik trifft er etwa die
Lutherbibeln des 20. Jahrhunderts, nicht aber Luther selbst: In der Lutherbibel von 1545
findet sich zu Mt 5,9 folgende Glosse: „Die Friedfertigen sind mehr denn Friedsamen /
nemlich / die den friede machen / fordern vnd erhalten unter andern. Wie Christus vns bey
Gott hat friede gemacht.“ Der Sprachwandel macht hier eine unrevidiert weiterbenützte
Übersetzung ungerecht.
Meine Folgerung aus diesen beiden Beispielen: Gerechte Bibelübersetzung hat darauf zu
achten, Revidierbarkeit und Revisionsbedürftigkeit der Übersetzung zu institutionalisieren.
Eine Kultur des permanenten Streits um Bibelübersetzung ist zu fördern. Zu bedenken ist
ferner, wie die Kanonisierung einer Übersetzung, die das schwierige Problem des Kanons der
Bibel potenziert, verhindert werden kann.
3. Übersetzungsgerechtigkeit in der christlich-jüdischen Beziehung
Im folgenden nenne ich, ohne Vollständigkeit anzustreben, eine Reihe von Problemen, die
im Blick auf die christlich-jüdische Beziehung bei Bibelübersetzungen eine Rolle spielen.
3.1. Hebräische Bibel
(a) Im Blick auf das Gottesbild kritisiert Schalom Ben-Chorin an christlichen Wiedergaben
des Schma Israel, dass bei ächad Dt 6,4 „der Ewige ist einer“ der Aspekt der zahlenmäßigen
23
Ludwig Müller, Deutsche Gottesworte. Weimar 1936, 9.
Vgl. dazu Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren
unter dem Nationalsozialismus. Köln 1982.
25
Vgl. Ragaz, Sollen 53.
24
8
Einheit und Unteilbarkeit Gottes im Gefolge der Trinitätslehre aufgeweicht wird, indem mit
„einiger Herr“ (Luther 1914) oder „der Herr allein“ (Luther 1964) übersetzt wird26.
(b) An vielen Stellen nicht nur der Lutherbibel und ihrer Revisionen wird die hebräische
Bibel christologisch übersetzt, so etwa, wenn in Gen 3,15 der generische Begriff „Samen“
durch „Nachkomme“ im Singular wiedergegeben oder wenn in Jes 7,14 die „junge Frau“ im
Gefolge von Mt 1,23 als „Jungfrau“ (im Sinn einer wunderbare Jungfrauengeburt) verstanden
wird27.
(c) Bekannt ist auch das Problem der Wiedergabe von torah (bzw. nomos) mit „Gesetz“,
was vor allem in protestantischem Kontext negative Konnotationen hat; Buber/Rosenzweig
verdeutschen deshalb mit „Weisung“.
(d) Auch im Blick auf das Volk Israel wäre Aufmerksamkeit vonnöten: Rainer Kessler hat
gezeigt, wie in der Übersetzung von Est 8,11 von der Vulgata bis zu Luther 1984 (eine
Ausnahme ist Luther 1545) die dort erwähnten Frauen und Kinder aus potentiellen jüdischen
Opfern von Judenfeinden uminterpretiert werden zu potentiellen nichtjüdischen Opfern
jüdischer Aggression - ein Verständnis, das antijüdischen Attitüden christlicher Theologen der
Neuzeit gerade recht kam28.
Die Beispiele ließen sich vermehren.
(e) Hinzu kommt das Problem der Textbasis29: Was ist maßgeblich für eine Übersetzung
der hebräischen Bibel? Der masoretische Text mit Punktation und Akzenten? Der
Konsonantentext? Ein kritisch rekonstruierter mutmaßlicher Urtext? Und wie ist mit den so
genannten Apokryphen umzugehen, über deren Kanonizität zwischen den christlichen
Kirchen keine Einigkeit besteht, die im heutigen Judentum indes nicht als kanonisch gelten30?
(f) Noch wesentlich gewichtiger ist folgendes Problem: Seit langem wird von jüdischer
Seite die Frage gestellt, ob die hebräische Bibel für Juden und Christen identisch sei. Bei
Moses Mendelssohn (1783) liegt der Akzent zunächst auf der Textgrundlage, dann aber auch
auf der Relevanz der hebräischen Bibel für die Lebenspraxis:
„... die christlichen Übersetzer haben ja keine rabbinische Überlieferung, die Massora
26
Vgl. Schalom Ben-Chorin, Jüdischer Glaube. Strukturen einer Theologie des Judentums anhand des
Maimonidischen Credo. Tübinger Vorlesungen. Tübingen 1975, 55-57.
27
Das parthenos der Septuaginta kann sowohl „junge Frau“ als auch „Jungfrau“ bedeuten. Erst die christliche
Vereindeutigung auf „Jungfrau“ veranlasst die jüdischen Revisionen der Septuaginta zur Ersetzung von
parthenos durch neanis.
28 Vgl. Rainer Kessler, Die Juden als Kindes- und Frauenmörder? Zu Est 8,11. In: Erhard Blum/Christian
Macholz/Ekkehard W. Stegemann eds., Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte. Festschrift für
Rolf Rendtorff zum 65. Geburtstag. Neukirchen-Vluyn 1990, 339-345.
29
Vgl. etwa Adrian Schenker, Was übersetzen wir? Fragen zur Textbasis, die sich aus der Textkritik ergeben. In:
Joachim Gnilka/Hans Peter Rüger eds., Die Übersetzung der Bibel - Aufgabe der Theologie. Stuttgarter
Symposion 1984. (Texte und Arbeiten zur Bibel 2). Bielefeld 1985, 65-80.
30
Vgl. dazu Hans Peter Rüger, Was übersetzen wir? Fragen zur Textbasis, die sich aus der Traditions- und
Kanonsgeschichte ergeben. In: Gnilka/Rüger eds., ebd. 57-64.
9
ist für sie nicht verbindlich, auch über Vokalzeichen und Akzente, die wir haben, setzen
sie sich hinweg. ... sie fügen hinzu, streichen weg und nehmen Veränderungen vor an
Gottes Tora. - Sie verändern nicht nur Vokalzeichen und Akzente, sondern gelegentlich
sogar Buchstaben und ganze Wörter ... je nachdem, wie sie es zu verstehen meinen, und
dadurch kommt es vor, dass sie in der Tora nicht das lesen, was dort geschrieben steht,
sondern was ihnen in den Sinn kommt.
Damit will ich diese Gelehrten durchaus nicht verächtlich machen, denn wieso sollten
sie einer Überlieferung verpflichtet sein, die sie nicht von ihren Vätern erhalten haben,
oder der Massora, die ihnen nicht durch bei ihnen anerkannte Autoritäten überliefert ist.
Sie übernehmen ja auch nicht die Worte der Tora, um zu bewahren und zu befolgen
alles, was dort geschrieben, sondern ihnen ist sie ein Geschichtenbuch, um die
Ereignisse früherer Zeiten zu erfahren und die Wege der Vorsehung und höchsten
Leitung in jeder einzelnen Generation zu begreifen. Und zu diesem Zweck schadet es ja
nichts, gelegentlich einzelnes zu verändern, Buchstaben oder Wörter hinzuzufügen oder
wegzustreichen, wie sie es in den bekannten und berühmten weltlichen Werken tun, wo
jeder Korrektor nach Gutdünken korrigiert. Mag dies auch für die christlichen Gelehrten
und ihre Schüler möglich sein, für uns Israeliten nicht!“31
Zweihundert Jahre später hebt Tuviah Kwasman (1987) den Zusammenhang von Text und
Auslegung hervor:
„Es muß bedacht werden, dass bei der Aneignung der Hebräischen Bibel durch das
Christentum ein gewichtiger Aspekt ausgeklammert wurde: Mit dem hebräischen
Bibeltext hat die christliche Tradition nur die Hälfte des Bestands aufgegriffen; ohne die
lebendige jüdische Tradition ist der Text unvollständig. Er bedarf der mündlichen
Tradition als Auslegungshilfe, um nicht sprachlos zu werden wie Dokumente
untergegangener Kulturen. Die so enteignete Bibel ist daher, übertragen in einen
anderen Zusammenhang, sinnentfremdet.“32
3.2. Neues Testament
Keine kanonische Geltung hat für das Judentum das Neue Testament. Hier stellen sich
noch Probleme anderer Art.
(a) Die Auseinandersetzung zwischen David Flusser und Ulrich Wilckens über Wilckens‘
Übersetzung des Neuen Testaments zeigt, dass hier nicht nur auf der Ebene der Übersetzung
und insbesondere der Kommentierung in einer Übersetzung, sondern auch auf der des
Originals Schwierigkeiten liegen33. Es geht um das Problem des Antijudaismus im Neuen
Testament, und speziell im Zusammenhang einer Übersetzung darum, inwieweit
ÜbersetzerInnen sich mit den diesbezüglichen Aussagen des Neuen Testaments identifizieren
31
Moses Mendelssohn, Or laNativa, hebräische Einleitung. Übersetzung von Dafna Mach in: dies., Jüdische
Bibelübersetzungen ins Deutsche. In: Stéphane Moses/Albrecht Schöne eds., Juden in der deutschen Literatur.
Ein deutsch-israelisches Symposion. (suhrkamp taschenbuch 2063). Frankfurt 1986, 54-63: 54f.
32
Tuviah Kwasman, Die ent- und angeeignete Bibel. In: Kirche und Israel 2 (1987) 102-108: 103.
33
Vgl. David Flusser, Ulrich Wilckens und die Juden. In: Evangelische Theologie 34 (1974) 236-243; Ulrich
Wilckens, Das Neue Testament und die Juden. Antwort an David Flusser. In: Evangelische Theologie 34 (1974)
602-611; Rolf Rendtorff, Die neutestamentliche Wissenschaft und die Juden. Zur Diskussion zwischen David
Flusser und Ulrich Wilckens. In: Evangelische Theologie 36 (1976) 191-200.
10
oder - etwa durch Vorreden und Erläuterungen - ihre Distanzierung deutlich werden lassen.
(b)
Schließlich
gibt
es
noch
einen
Bereich,
der
bei
der
Diskussion
von
Übersetzungsproblemen oft nicht gebührend berücksichtigt wird: die Rolle von Überschriften,
Einleitungen und Erläuterungen bei der Formung eines Textverständnisses. Im Blick auf
christlichen Antijudaismus hat Peter Fiedler in einer Analyse deutschsprachiger Schulbibeln
und Bibelausgaben gezeigt, wie durch Überschriften etwa bei den Debatten in den Evangelien
„die Juden“ oder „die Pharisäer“ generalisierend als Gegner Jesu hervorgehoben werden oder
in Einleitungen und Anmerkungen antijüdisches Verständnis nicht nur des Judentums des
ersten Jahrhunderts propagiert, sondern auch von dem der Gegenwart als einer selbstgewollt
verstockten, verworfenen Größe geredet wird; die Juden hätten in Vergangenheit und
Gegenwart das Maß ihrer Sünden vollgemacht, und ihr Wohlleben gereiche ihnen zum
Verderben34. Hier wären viele neue Akzentsetzungen denkbar. Für Mk 12,28-34 nicht eine
neutrale Überschrift wie „Die Frage nach dem höchsten Gebot“ (Luther 1984) zu wählen,
sondern etwa „Jesus und ein Schriftgelehrter sind sich in einer Grundfrage einig“ o. ä., könnte
eine wichtige Klarstellung sein.
Eine ähnliche verständnisformende Funktion haben die fettgedruckten Stellen in der
Lutherbibel; hinter der Entscheidung, welche Stellen jeweils im Druck hervorgehoben
werden, steckt eine ganze Theologie oder besser, weil der Bestand dieser Fettdruckstellen im
Lauf der Jahrhunderte immer wieder verändert worden ist, Theologien35. Ein bislang noch
ausstehender Fettdruck etwa von Joh 4,22b („das Heil kommt von den Juden“) würde für eine
positive christlich-jüdische Beziehung sehr förderlich sein.
Für eine im Blick auf die christlich-jüdische Beziehung gerechte Bibelübersetzung ziehe
ich
eine
formale
Folgerung:
Bei
christlichen
Bibelübersetzungen
sind
jüdische
ÜbersetzerInnen gleichberechtigt zu beteiligen. Anknüpfungspunkt dafür wäre die
Konsultierung jüdischer ExpertInnen und rabbinischer Bibelauslegung bei christlichen
Bibelübersetzungsprojekten von Hieronymus über Luther und Sebastian Münster bis hin zur
niederländischen „Statenbijbel“ und zur englischen „King James Version“. Wie die
Antijudaismen von der Vulgata bis zur Lutherbibel zeigen, reicht die bloße Konsultation
jüdischer ExpertInnen und jüdischer Bibelauslegung indes nicht aus, um eine von
Antijudaismen freie christliche Bibelübersetzung herzustellen. Ohne die gleichberechtigte
34
Vgl. Peter Fiedler, Das Judentum im katholischen Religionsunterricht. Analysen, Bewertungen, Perspektiven.
(Lernprozeß Christen Juden 1). Düsseldorf 1980, 18-20.217-231; referiert sind die ebd. 231 angeführten
Anmerkungen zur Übersetzung des Neuen Testaments von Rösch in der Neubearbeitung von Bott 1967.
35
Vgl. Hartmut Hövelmann, Kernstellen der Lutherbibel. Eine Anleitung zum Schriftverständnis. (Texte und
Arbeiten zur Bibel 5). Bielefeld 1989; ders., Tabellen zu den Kernstellen der Lutherbibel. Bielefeld 1989.
11
Mitwirkung jüdischer ÜbersetzerInnen besteht nur allzuleicht die Gefahr, dass ChristInnen
darüber entscheiden, was antijüdisch ist und was nicht - eine fatale Variante des verbreiteten
fragwürdigen Phänomens christlicher Konstruktion jüdischer Wirklichkeit. In jedem Fall ist
dafür Sorge zu tragen, dass christliche Vereinnahmungen der (etwa im Gottesbild, in
christologischen Zuspitzungen) ebenso unterlassen werden wie der Transport antijüdischer
Stereotype.
Daneben
ist
Kommentierungen,
Überschriften
u.
ä.
Verständnishilfen
erhöhte
Aufmerksamkeit zu schenken.
4. Übersetzungsgerechtigkeit in der Beziehung zwischen Frauen und Männern
Entsprechende Folgerungen sind auch für eine Bibelübersetzung zu ziehen, die im Blick
auf die Beziehung zwischen Frauen und Männern gerecht sein will.
(a) Auch hier ist auf gleichberechtigte Mitwirkung von Frauen und Männern an
entsprechenden Bibelübersetzungen zu achten.
(b) Auch hier sind verständnisleitenden Faktoren wie Erläuterungen oder Vorreden
Aufmerksamkeit zu widmen. So wird in Überschriften im Blick auf die Vergewaltigungstexte
der hebräischen Bibel der Gewaltaspekt oft verharmlost oder gar ausgeblendet und das Opfer
nicht erwähnt. Die Vergewaltigung der Dina und deren Folgen werden in der
Einheitsübersetzung auf die Folgen reduziert, wenn dort Gen 34 so überschrieben wird: „Die
Rache der Jakobssöhne an den Sichemiten“. Die Vergewaltigung mit Todesfolge der
namenlosen Frau in Ri 19 bleibt unter der Überschrift „Die Schandtat von Gibea in
Benjamin“ (Luther 1984) sehr nebulös. Im Fall von 2Sam 13 erfährt man bei Luther 1984
wenigstens andeutungsweise, dass hier von „Amnons Schandtat an Absaloms Schwester“
erzählt
wird;
der
Name
des
Inzest-
und
Vergewaltigungsopfers
wird
in
der
Einheitsübersetzung erwähnt, die mit ihrer Überschrift "Amnon und Tamar" aber eher
Assoziationen an „Romeo und Julia“ oder „Eduard und Kunigunde“ auslöst als an das
Vergewaltigtwerden eines Mädchens.
(c) Ich will im folgenden einige Probleme ansprechen, die im Spannungsfeld
androzentrische vs. inklusive Sprache eine Rolle spielen. Zunächst eine Entdeckung: Die
entsprechende Diskussion ist nicht so neu, wie es vielleicht den Anschein hat. Bereits im
tannaitischen Schrifttum haben die Rabbinen des zweiten und dritten Jahrhunderts Probleme
dieser Art thematisiert; allein in Mekhilta Ex und in Sifre Dt gibt es fast vierzig entsprechende
Passagen. Dabei wird festgelegt, an welchen Stellen der Tora bei der Erwähnung von
„Mann“, „Sohn“, „Sklave“ die Frauen, Töchter und Sklavinnen eingeschlossen oder
12
ausgeschlossen sind. Bei „Prophet“ Dt 13,2 gilt die „Prophetin“ als eingeschlossen (Sifre Dt §
83) - also dann doch „Gesetz und ProphetInnen“? Auch weibliche Rollenbezeichnungen
müssen nicht notwendig stets exklusiv sein: In der „Hebräerin“ Ex 21,3 ist der Hebräer
eingeschlossen (Mekhilta Mischpatim 1), in der „Zauberin“ Ex 22,17 der Zauberer (Mekhilta
Mischpatim 17).
Das Problem androzentrischer bzw. inklusiver Sprache wurde mithin bereits thematisiert
in einer Zeit, die nahe an die Abfassungszeit neutestamentlicher Schriften heranreicht. Kann
man folgern, dass ein Mann, der um dieses Problem weiß, bei seinem Reden und Schreiben
bewußt eindeutig formuliert? Wie wäre in einem solchen Fall eine inklusive Übersetzung
androzentrischer Formulierung zu beurteilen?
Die Stärke der Bemühung um inklusive Sprache besteht darin, Weibliches sichtbar zu
machen. Dies geschieht gelegentlich bereits im Neuen Testament: 2Kor 6,18 fügt gegenüber
dem hebräischen Text und der Septuaginta in 2Sam 7,14 zu den Söhnen ein „und Töchter“
hinzu - ein Beispiel ausdrücklich inklusiven Bibelverständnisses im ersten Jahrhundert. Im
Einzelfall tut sich hier eine breit angelegte sozialgeschichtliche Forschungsaufgabe auf: Ist
von Arbeitern im Weinberg Mt 20,1-16 auszugehen oder von ArbeiterInnen? Neben vielen
anderen Belegen spricht z. B. eine Stelle aus der Mischna (mJeb 15,2) für eine inklusive
Übersetzung. Wo werden SklavInnen sichtbar, wo sind nur männliche Sklaven gemeint? Sind
die mit epitropoi und oikonomoi bezeichneten Verwaltungsposten im Haushalt Gal 4,2
Männerrollen, oder wäre hier - etwa mit Verweis auf Jdt 8,10 - angemessener von
VerwalterInnen zu reden? Auch gesamtgesellschaftlich negativ bewertete Arbeit käme bei
solchen Fragen zum Vorschein: Erlaubt (oder erfordert?) die zwar nicht in zahlreichen, aber
in verschiedenen Quellengattungen bezeugte selbständige und abhängige Arbeit von Frauen
bei der Steuer- und Zolleinnahme die Übersetzung „ZöllnerInnen und SünderInnen“? usw.
Das Problem der Unschärfe stellt sich nicht nur angesichts (noch) nicht (hinreichend)
geklärter sozialgeschichtlicher Sachverhalte36. Zwar lässt sich adelphoi an vielen Stellen
inklusiv mit „Geschwister“ wiedergeben, doch nicht durchgängig (vgl. etwa 1Kor 7,29; 1Th
4,1-7). Umgekehrt ist an manchen Stellen eine gängige inklusive Übersetzungspraxis zu
hinterfragen. So ist in den Übersetzungen zu Nu 23,19 und zu Hos 11,9 zu lesen, dass Gott
kein Mensch ist. Im masoretischen Text steht an entsprechender Stelle lo isch el (Nu 23,19)
bzw. ki el anokhi wlo isch (Hos 11,9). Im Kontext der Bileam-Erzählung Nu 22-24 ergäbe die
Übersetzung „Gott ist kein Mann“ einen guten Sinn, wird doch zumindest auf menschlicher
Ebene eine reine Männergeschichte erzählt. In Hos 11,9 geht es um einen Kontrast zwischen
36
Hierbei wäre auch die Möglichkeit der Differenz zwischen historischer Wirklichkeit und stilisiertem Text zu
bedenken.
13
dem gnadenlosen Verhalten der Großreiche gegenüber Israel und dem barmherzigen
Verhalten Gottes - nicht eine generalisierende Aussage über den Unterschied von Gott und
Mensch, sondern eine pointierte Zusage, dass Gott nicht ist wie die Männer an den
Schalthebeln der Macht, die durch militärische Expansion, Dominanz und Zerstörung Israel in
Bedrängnis bringen37. Wäre es in Hos 11,9 um eine generelle Aussage zum Verhältnis Gott Mensch gegangen, so hätte dies durch die Wahl von adam (vgl. Hos 6,7; 9,12; 11,4; 13,2)
statt isch (vgl. Hos 2,4.9.12.18; 3,3; 4,4; 6,9; 9,7) zum Ausdruck gebracht werden können;
auch wäre vorstellbar, dass hier ein bewusster Kontrast zu Hos 2 vorliegt, der deutlich
machen soll, dass Gott trotz der in Hos 2 verwendeten Ehemann-Ehefrau-Beziehung zu Israel
eben doch nicht wörtlich als Mann aufzufassen ist38.
Hinzu kommt als weiteres Problem, dass etwa neutestamentliche Texte unterschiedliche
Härtegrade androzentrischer Sprache aufweisen: In einigen Texten wird explizit etwa von
„Brüdern“ und „Schwestern“ geredet, in anderen nicht. In einigen Texten wird das
Androzentrische gegenüber der Vorlage verschärft (z. B. Lk im Vergleich mit Mk). Und auch
hier liegt das Problem nicht allein auf der Ebene der Übersetzung, sondern auch auf der Ebene
des Originals selbst: Nicht nur Übersetzungen, auch biblische Texte sind sexistisch.
Gerade das Projekt inklusiver Bibelübersetzung wird so an vielen Stellen jenes Phänomen
gerade
erst
ins
Bewusstsein
rücken,
das
Senta
Trömel-Plötz
und
andere
als
sozialpsychologische Auswirkung androzentrischer Sprache beschrieben haben: das Gefühl
der Verunsicherung der Adressatinnen39 – wo sind sie mitgemeint, wo nicht?
Angesichts dessen sind verschiedene Umgangsformen mit dem Problem androzentrischer
Sprache in der Bibel denkbar, etwa in Abhängigkeit von der Zielsetzung und der
Verwendungsweise einer Übersetzung. Denkbar ist eine möglichst genaue Reproduktion der
androzentrischen Sprache des Originals (mit der entsprechenden Produktion von
Verunsicherung bei der Rezeption). Möglich ist auch eine möglichst umfassende inklusive
Übersetzung, die das (subjektiv von den AutorInnen der Bibel kaum intendierte) Moment der
Verunsicherung vermeidet. Bietet sich die erste Möglichkeit etwa bei einer Übersetzung für
Studienzwecke an, die zweite vielleicht bei einer Verwendung im Gottesdienst, wo der
Aspekt der Stärkung weiblicher Identität demgegenüber möglicherweise stärker im
37
Nur bei einer nicht-inklusiven Übersetzung ergibt sich auch der Kontrast zu Ex 15,3 wo Gott als isch
milchamah bezeichnet wird.
38
Bei einer ausführlichen exegetischen Erörterung wäre auch 1Sam 15,29 einzubeziehen, ein mit Nu 23,19
sachlich weithin identischer Satz, nur dass in 1Sam 15,29 Gott nicht dem isch, sondern dem adam
gegenübergestellt wird. Interessant ist auch, dass in Nu 23,19 und 1Sam 15,29 davon gesprochen wird, dass Gott
nicht bereut (auch in Nu 23,19 mit ben-adam verbunden), während Hos 11,8 von Gottes Sinneswandel (ebenfalls
nchm) spricht.
39
Vgl. z. B. Senta Trömel-Plötz, Frauensprache - Sprache der Veränderung. (fischer 3725). Frankfurt 2. Aufl.
1982, z. B. 63-66.94-96.
14
Vordergrund zu stehen hätte? Denkbar ist auch eine Unterscheidung zwischen schriftlicher
Vorlage und mündlichem Vortrag (analog dem Ketib-Qere-Verfahren im Blick auf den
masoretischen Text), so dass eine entsprechende Markierung deutlich machte, wo „Brüder“
exklusiv als „Brüder“ zu lesen wäre, wo inklusiv als „Geschwister“ oder „Schwestern und
Brüder“...
Diese Überlegungen führen zu einem Grundproblem der Zielsetzung gerechter
Bibelübersetzung: Wie verhält sich gerechte Bibelübersetzung zu einem heiligen Text, der
nicht nur ein Dokument der Befreiung ist, sondern auch - etwa im Blick auf androzentrische
Sprache als Herrschaftssprache oder im Blick auf Antijudaismus im Neuen Testament - teilhat
an struktureller Ungerechtigkeit? Zugespitzt: Kann es eine gerechte Übersetzung ungerechter
Texte geben?
Welcher Umgang mit Ungerechtigkeit wäre hier gerecht? Das kritische Aufdecken von
Ungerechtigkeit? Die Elimination von Ungerechtigkeit (durch Verzicht auf Übersetzung
bestimmter Passagen)? Die Korrektur von Ungerechtigkeit40?
5. Übersetzung als Korrektur
In der bisherigen Bibelübersetzungstradition lässt sich Übersetzung als Korrektur in
verschiedenen Hinsichten belegen.
(a) Einer rabbinischen Tradition zufolge, die Unterschiede zwischen hebräischem Urtext
und Septuaginta-Übersetzung auflistet, hätten die Übersetzer den Text mehrfach verändert,
und zwar besonders mit Rücksicht auf den Auftraggeber (Ptolemaios II.). So hätten sich die
Übersetzer bei Lev 11,6/Dt 14,7 dagegen entschieden, arnävät mit „Hase“ wiederzugeben,
„denn Ptolemaios‘ Frau hieß ‚Hase‘ und er solle nicht sagen können: ‚Die Juden haben mich
verhöhnt, indem sie den Namen meiner Frau in die Tora gesetzt haben“ (bMeg 9a; in pMeg
71d; LevR 13,5 ist statt der Frau die Mutter des Ptolemaios genannt). Bei einer wörtlichen
Übersetzung ins Griechische hätte als Äquivalent lagoos gewählt werden müssen, und das
hätte in der Tat Assoziationen zu Lagos, dem Großvater des Ptolemaios II., wach werden
lassen können, nach dem die Ptolemäer-Dynastie auch als "die Lagiden" bezeichnet wurde. In
der Septuaginta steht nun dasypoda "Haarfüßler". Wichtig ist die rabbinische Erwägung, eine
Übersetzung dürfe den Text korrigieren, um nicht dessen AdressatInnen oder LeserInnen zu
kränken oder zu beschämen. Der genannten rabbinischen Tradition gilt die Septuaginta als
40
Analog wäre etwa folgendes Problem beim Dolmetschen (und z. B. in der Psychoanalyse): (Wie) soll ich
einen Versprecher oder ein Versehen der sprechenden Person übersetzen? Und was, wenn sich der Versprecher,
das Versehen als typisch für die betreffende Person herausstellt?
15
legitimes Übersetzungsunternehmen und wird positiv gewertet.
(b) Im Blick auf das Gottesbild kommt es aus Ehrfurcht vor Gott von der Septuaginta bis
heute immer wieder zur Abschwächung der so genannten Anthropomorphismen und
Anthropopathismen der Bibel.
(c) Im Blick auf die Rezeption der hebräischen Bibel im NT werden in christlicher
Tradition immer wieder Texte der hebräischen Bibel im Sinne ihrer Rezeption im Neuen
Testament wiedergegeben. Den umgekehrten Weg wollte Hieronymus gehen, indem er bei
der Aufnahme von Sach 11,12f. in Mt 27,9f. für eine Angleichung an den Urtext plädierte41.
(d) Die Anpassung eines Texts an je gegenwärtige Herrschaftsstrukturen hat Ragaz zu Mt
22,21 kritisiert. Ähnliche Anpassungen gibt es z. B. auch im Fall von doulos, das von
„Sklaven“ zum „Knecht“, vom „Knecht“ zum „Diener“ und vom „Diener“ im 20. Jh. gar zum
"Mitarbeiter im Dienst" (Zink bei Phil 1,1) werden konnte, obwohl die damit jeweils
verbundenen Abhängigkeitsbeziehungen durchaus unterschiedliche sind. Indes muß auch hier
die Adaption des Texts an die Gegenwart nicht notwendig als Affirmation intendiert sein. So
gibt es etwa folgenden Vorschlag für eine Revision der Lutherbibel zu Röm 13,1: „Jeder
nehme die Verantwortung in seiner Gesellschaft auf sich. Denn es gibt keine Gesellschaft,
deren Ordnung nicht von Gott kommt; alle Gesellschaften hat Gott der Verantwortung von
Menschen anvertraut.“42
(e) Ein eigener Bereich wäre die Korrektur ungerechter Aussagen des Originals. So stellt
Max Küchler ans Ende seiner Untersuchungen zu 1Tim 2,8-15; 1Kor 11,3-16; 14,33b-36; 1Pt
3,1-6 Neufassungen, die allerdings nicht als Übersetzungsvorschläge gekennzeichnet sind. In
seiner Neufassung lautet etwa 1Tim 2,12 folgendermaßen: „Zu lehren empfehle ich den
Frauen sehr und sich dem Mann als ebenbürtiger Partner zu erweisen.“43
(f) Schließlich gibt es auch die stillschweigende Korrektur des Originals im Sinne der
herrschenden Sprachnormen. Wer eine beliebige Übersetzung der Apk liest, wird nicht
bemerken, dass das Original eine ganze Reihe von Spracheigentümlichkeiten aufweist, die im
Sprachsystem der griechischen Koine des ersten Jahrhunderts teils als Härten, teils als
Regelwidrigkeiten zu gelten haben, insbesondere die Vernachlässigung der Kongruenz44.
Gerard Mussies hat in einer minutiösen Untersuchung nachgewiesen, dass sich diese
41
Hieronymus, ep. 57,7.
Hans Ulrich Nübel, Die Bibel soll Freude erregen! Theologische und ästhetische Reflexionen zur Revision der
Lutherbibel. In: Reinitzer ed., Dolmetschen (Anm. 3) 164-178: 176. Nübel nimmt ebd. für sich in Anspruch,
Luthers theologischen Intentionen und Impulsen gerecht zu werden.
43
Max Küchler, Schweigen, Schmuck und Schleier. Drei neutestamentliche Vorschriften zur Verdrängung der
Frauen auf dem Hintergrund einer frauenfeindlichen Exegese im antiken Judentum. (Novum Testamentum et
Orbis Antiquus 1). Freiburg/Göttingen 1986, 493.
44
Vgl. etwa die Liste bei Wilhelm Bousset, Die Offenbarung Johannis. (Kritisch-exegetischer Kommentar über
das Neue Testament XVI). Göttingen 1906), 159-161.
42
16
sprachlichen Eigentümlichkeiten daraus erklären, dass Griechisch nicht die Muttersprache des
Autors gewesen ist, sondern die Zweitsprache eines Menschen mit Hebräisch und/oder
Aramäisch als Muttersprache45. Dass die Syntax der Apk Ausdruck des Radebrechens in der
mühsam gelernten Zweitsprache ist, kann einer Übersetzung nicht entnommen werden. Der
Autor der Apk begegnet im Medium der Übersetzung nicht als der Fremde, der Ausländer,
der Flüchtling, als der er im Original mühelos zu erkennen ist. Wollte man diesem Aspekt der
Apk gerecht werden, so müsste man auf entsprechendes „Glattmachen“ in der Übersetzung
verzichten
und
beispielsweise
ein
Deutsch
wählen,
wie
es
von
ausländischen
ArbeitnehmerInnen oder Flüchtlingen gesprochen wird, wenn sie einige Jahre im deutschen
Sprachbereich gelebt haben: Johannes als türkischer Gastarbeiter. An diesem Beispiel wird im
übrigen deutlich, dass zwischen der Person, die übersetzt, und der, deren Werk übersetzt wird,
nicht nur zeitliche und räumliche, sondern auch gravierende soziale und kulturelle
Unterschiede bestehen können.
Diese Beispiele mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass auch das vielleicht auf den
ersten Blick sympathische Verfahren von Übersetzung als Korrektur nicht unproblematisch ist
und mindestens zu Differenzierungen im Begriff der Korrektur (etwa Korrektur als Heilung,
als Anpassung usw.) führen muß.
6. Formale Bedingungen gerechter Bibelübersetzung
Was die formalen Bedingungen gerechter Bibelübersetzung angeht, so kommt meinem
Ideal am nächsten die Legende über die Entstehung der Septuaginta, und zwar in der Fassung,
die PsAristeas (§ 301-311) erzählt.
(a) Zweiundsiebzig männliche Experten werden mit der Übersetzung der Tora beauftragt.
Die Übersetzung ist mithin von vornherein als Teamarbeit konzipiert. Was diese Art von
Teamarbeit von der heute üblichen, auch von Nida und Taber empfohlenen Praxis
unterscheidet, ist das Fehlen von Arbeitsteilung: Jeder Übersetzer übersetzt zunächst für sich
das Tagespensum. Anschließend werden die verschiedenen Entwürfe im Plenum diskutiert.
Ein Protokollant hält als Ergebnis die Fassung fest, auf die man sich in der Diskussion
geeinigt hat (§ 302). Schon bei Philon wird das laut PsAristeas in der Diskussion gemeinsam
erarbeitete Ergebnis ersetzt durch die bekanntere und wirkungsträchtigere Versicherung, die
Übersetzer seien unabhängig voneinander durch göttliche Inspiration zu exakt identischen
Versionen gekommen. Die von PsAristeas präsentierte Verfahrensweise hat gegenüber der
45
Vgl. Gerard Mussies, The Morphology of Koine Greek As Used in the Apocalypse of St. John. A Study in
Bilingualism. (Supplements to Novum Testamentum 27). Leiden 1971; die Schlußfolgerung ebd. 352f.
17
üblichen Praxis bei Bibelübersetzungen heute den Vorzug, dass alle Übersetzer bei jedem
Punkt der anschließenden Diskussion in gleicher Weise kompetent sind. Bei der Beurteilung
der verschiedenen Vorschläge und dem Einigungsprozeß müssen nicht schon von vornherein
Hierarchien in Kauf genommen werden.
(b) Ein zweiter wichtiger Gesichtspunkt ist die Beteiligung der AdressatInnen an der
Approbation der Übersetzung. Bei PsAristeas liest der Protokollant die vollendete
Übersetzung der versammelten jüdischen Gemeinde vor (§ 308). Anschließend wird die
Übersetzung von den Priestern, den führenden Vertretern der jüdischen Gemeinde und der
jüdischen Bürgerschaft und Vertretern des Übersetzungsteams beurteilt und für gut befunden
(§ 310). Schließlich erfolgt die Zustimmung der Versammlung als ganzer (§ 311). Die
Mitbeteiligung und Zustimmung aller AdressatInnen, für die eine Übersetzung bestimmt ist
und auf deren Leben sie Einfluß nehmen soll, ist für mich ein weiteres formales Kriterium
gerechter Bibelübersetzung.
PsAristeas schließt damit ab, dass die Unveränderbarkeit der approbierten Übersetzung
durch Flüche abgesichert wird (§ 311). Nach PsAristeas herrscht in der Gemeinde großer
Jubel angesichts der Übersetzung (§ 308), und nach Philon wird alljährlich ein Freudenfest
zum Gedenken an die Vollendung der Septuaginta gefeiert. Die meisten Varianten der
Septuagintalegende enthalten diesen Zug der Freude und des Jubels. Indes gibt es daneben
auch die spärliche Gegentradition: Ein gaonäischer Zusatz zu Megillat Ta‘anit weiß zu
berichten: „Am achten Tevet wurde die Tora griechisch niedergeschrieben in den Tagen des
Königs Ptolemaios. Und drei Tage lang kam Finsternis in die Welt.“46 Eine solche Reaktion
entspringt dem Bewußtsein, dass keine Übersetzung an das Original heranreicht, dass jede
Übersetzung unvollkommen und revisionsbedürftig ist und dass Übersetzung auch
Profanierung bedeuten kann.
Die Revisionsbedürftigkeit der Septuaginta zeigte sich in der Notwendigkeit späterer
Bearbeitungen und Neuübersetzungen (Aquila, Symmachus, Theodotion). Auch die beste
Übersetzung wird bei sich wandelnder Sprache im Lauf der Zeit mindestens teilweise
unverständlich und missverständlich. Hinzu kommt als weiterer Gesichtspunkt, dass eine
Übersetzung später von Gruppierungen für sich in einer Weise in Anspruch genommen
werden kann, die mit der ursprünglich intendierten AdressatInnengruppe nicht mehr viel oder
gar nichts verbindet und eine Weiterbenutzung durch sie schwer erträglich oder unmöglich
macht.
46
Zitiert bei Karlheinz Müller, Die rabbinischen Nachrichten über die Anfänge der Septuaginta. In: Josef
Schreiner ed., Wort, Lied und Gottesspruch. Beiträge zur Septuaginta. Festschrift für Joseph Ziegler, Bd. I.
(forschung zur bibel 1). Würzburg 1972, 73-93: 77.
18
Die Septuaginta, die Bibel des griechischsprachigen Judentums in der Diaspora, wurde
abgelehnt, als sie bestimmte Geltungsansprüche des Christentums, das sich vom Judentum
schon weitgehend gelöst hatte, gegenüber dem (Mehrheits-)Judentum zu bestätigen schien.
Darüber hinaus besteht insbesondere da, wo die Textbasis unzuverlässig oder unkontrollierbar
ist, die Gefahr der Verfälschung durch Interpolationen.
An der Septuaginta wie an der Vulgata oder später an der Lutherbibel ist zu beobachten,
welche Probleme entstehen können, wenn Übersetzungen kanonisiert werden, universale
Verbreitung bekommen, ihnen hohe Geltung zugeschrieben wird und sie - etwa durch ein
Inspirationspostulat - gegen Kritik immunisiert werden. Was ist daraus zu lernen für eine
gerechte Bibelübersetzung?
Der Kanonisierungs- und Immunisierungseffekt und die Gefahr, dass eine Übersetzung
gegen die mit ihr verbundene Absicht zum Mittel von Herrschaft missbraucht wird, können
durch selbst gewählte Begrenzungen in Zeit und Raum und in der Veröffentlichungsform
vermieden werden. Es ist ja nicht von vornherein einleuchtend, dass eine Bibelübersetzung
weit verbreitet werden und womöglich für Generationen gedacht sein muß.
Ich greife in diesem Zusammenhang eine Anregung von Dirk Römmer auf, die er auf den
Bereich der plattdeutschen Bibelübersetzung bezogen hat, die aber von grundsätzlicher
Bedeutung ist. Römmer geht von der grundsätzlichen Berechtigung einer Bibelübersetzung
aus, bespricht die bereits vorliegenden, teils miteinander konkurrierenden Übersetzungen und
weist auf das Problem hin, dass der plattdeutsche Sprachraum in sich selbst wieder zu
heterogen ist, als dass eine Übersetzung für das gesamte Gebiet hilfreich und befriedigend
sein könnte.
„Bei allen bis heute vorgelegten und veröffentlichten Übersetzungen der
niederdeutschen Bibel ist eine allgemein gültige, in allen Bereichen der kirchlichen
Praxis verwendbare Textfassung nicht entstanden. Jeweils nur für regionale Bezirke
brauchbar, entlassen sie allesamt den Prediger nicht aus seiner Pflicht, eine eigene
Fassung für die konkrete Sprachsituation seiner Gemeinde zu erarbeiten. Folgen wir der
Aufforderung Bellmanns, so sollen die Kreise der Übersetzung ganz eng an die
Ortsgemeinde herangeführt werden. Da es für den jeweiligen Übersetzer schwer sein
dürfte, die Bedürfnisebene des regionalen Sprach- und Sprechduktus theoretisch zu
konstatieren, bietet sich die Schaffung eines Übersetzerteams an, in dem die
Bevölkerung, die angesprochen werden soll, entsprechend vertreten ist. Überhaupt
scheint uns die Zeit der einsamen Einzelübersetzer abgelaufen, die nicht mit dem Ohr
am Menschen übersetzen, sondern ihre jeweilige Schreibtischfassung herstellen. Nur in
der Teamarbeit ist garantiert, dass nicht papierene Sprache das Ergebnis der
Übersetzung bleibt. Der Hörer soll wissen, dass er in die aktuelle biblische Situation
hineingenommen ist. Er soll sich aufgehoben fühlen und keine unnötigen sprachlichen
Stolpersteine vorfinden, die ihm das Mitdenken und den Mitvollzug erschweren.“47
47
Dirk Römmer, Worttreue oder Paraphrase? Audiatur et altera pars. Gedanken zum Problem der
Dialektübersetzung. In: Reinitzer ed., Dolmetschen (Anm. 3) 97-108: 103.
19
Römmers Vorschlag ist nicht so neu, wie es vielleicht scheinen möchte. Lokal und zeitlich
eng begrenztes Übersetzen ohne Ewigkeitsdauer ist vermutlich beinahe so alt wie die
Schriftvorlesung in der Synagoge überhaupt. In Sprachgebieten, wo die Sprache der
hebräische Bibel nicht oder nur teilweise verstanden wurde, trat eine Übersetzung zur
Schriftvorlesung hinzu oder ersetzte sie gar (tMeg 4,13). Das Targum war zunächst eine
mündlich vorgetragene, frei improvisierte Übersetzung ohne schriftliche Vorlage, von der
sogar eigens verlangt wurde, dass sie auf strenge Wörtlichkeit verzichten sollte. Die
erhaltenen schriftlichen Targumim sind im Grunde schon wieder Verfestigungen einer
Übersetzungspraxis, die ihrer Intention nach bewußt flüssig gehalten werden sollte. Ich halte
etwas in der Art einer Targumpraxis für eine gute Art, das Diktum von Karl Dedecius in die
Tat umzusetzen: ÜbersetzerInnen „produzieren keine Produkte, sondern Prozesse“48.
Solche lokalen Übersetzungen dürften für die Zwecke des gottesdienstlichen Gebrauchs
ausreichen. Im Falle gedruckter Bibelübersetzungen scheint mir die Übersetzung Moses
Mendelssohns zu beachten zu sein: Sie enthält nicht nur Mendelssohns Übersetzung, sondern
auch den masoretischen Text, weiter das Targum, also eine zweite Übersetzung, schließlich
noch den Raschi-Kommentar. Zwei Übersetzungen, neben- oder untereinander abgedruckt,
sind jedenfalls ein weniger autoritäres Medium als eine einzige – sie halten das Bewusstsein
fest, dass eine Übersetzung das Original eben übersetzt, nicht ersetzt. Dadurch wird auch der
Akt potentieller Ungerechtigkeit gemindert, der jeder Übersetzung anhaftet49.
In jedem Fall ist - inspiriert durch Leonhard Ragaz – zu bedenken, dass gerechte
Bibelübersetzung eingebettet sein muß in politisches und gesellschaftliches Engagement für
gerechte Strukturen: Sie ist ein Teil, nicht das Ganze.
Veröffentlicht in:
Helga Kuhlmann ed., Die Bibel – übersetzt in gerechte Sprache? Grundlagen einer neuen
Übersetzung. Gütersloh 2005, 16-35
48
49
Karl Dedecius, Vom Übersetzen. Theorie und Praxis. (suhrkamp taschenbuch 1258). Frankfurt 1986, 140.
R. Jehuda bar Ilaj wandte sich gegen jede Übersetzung der Bibel (bQidd 49a; tMeg 4,41).
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