15 - Alpinum.at

Werbung
DER AUFSTIEG AUF DAS DACH DER WELT
15. Mai, 4 Uhr morgens – noch liegen Dunkelheit und eisige Kälte über dem Basislager des
Mount Everest. Nun ist es so weit, wir wollen wirklich hinauf auf das Dach der Welt. Kein
Training mehr an Eiswänden, keine Akklimatisationstour – nur noch hinauf, jetzt oder nie.
Wer wird es mir nachher glauben, dass nichts härter ist an diesem Berg als dieses nächtliche
„Anlassen“ des Körpers. Ist der Anstieg später auch noch so anstrengend, die
Körperfunktionen aber bereits in Fahrt, ist alles viel leichter. Das Öffnen des wohlig warmen
Schlafsacks, das Anziehen unzähliger Kleidungsschichten, jedes Berühren der Zeltwände
führt zu einem feinen Eisregen auf den halbnackten Körper. Das Frühstück wird
hinuntergewürgt – schmecken kann es in dieser Höhe und bei diesen Temperaturen sowieso
nicht, zwei Liter Charantea bereite ich zu, dann lege ich den Klettergurt an. Inzwischen ist es
Tag geworden, ich kann die Stirnlampe wegpacken. Die Kälte wird aber noch mehrere
Stunden den Berg überziehen. Zuletzt die größte Herausforderung, das Anlegen der Steigeisen
– ohne Handschuhe. Das Ganze muss ganz schnell gehen, sonst erholen sich die klammen
Finger für Stunden nicht.
Nur wenige Minuten benötigen wir bis zum Einstieg in den berühmt berüchtigten KhumbuEisfall. Dort warten bereits Reporter und Kameramann der BBC, um mit mir ein letztes
Interview zu machen. Die Tatsache, dass ich meinen Anstieg am tiefsten Punkt der Erde, am
Toten Meer in Jordanien, mit dem Fahrrad begonnen habe und dass ich zudem Diabetiker bin,
hat ziemliche Beachtung im Basislager gefunden. Einige der ganz großen Bergsteiger, die ich
bisher nur aus aufregenden Bergbüchern und Zeitschriftenartikeln gekannt habe, haben mir
ihre Anerkennung ausgesprochen. Der Nationalheld der Nepali, Apa Sherpa, der Mensch mit
den meisten Gipfelerfolgen am Mount Everest, hat sich deshalb sogar mit mir fotografieren
lassen. All das hat mich natürlich ein wenig mit Stolz erfüllt, aber nun hat das alles wenig
Bedeutung für mich, solange ich nicht diesen endlosen, aber wunderschönen Anstieg am
höchsten Punkt der Erde vollenden kann.
Vor mehr als sieben Monaten habe ich meine Heimat verlassen, nun liegt die härteste Woche
vor mir. Was habe ich doch für großartige und vergnügliche Abenteuer in dieser Zeit erlebt.
Rekorde und sportliche Höchstleistungen habe ich dabei nie im Sinn gehabt, Lebensfreude
und Genuss – darauf war ich aus gewesen und bin nie enttäuscht worden. Das Rad hat mir alle
Türen geöffnet. Kein Verkehrsmittel ist besser geeignet, den Menschen in ihrer
Ursprünglichkeit zu begegnen. Und ich habe mir Zeit genommen, bin an vielen Orten
mehrere Tage geblieben. Keine kulturelle oder natürliche Schönheit habe ich ausgelassen, oft
habe ich es genossen, bloß das einfache Dorfleben für eine Weile mitzuleben. Oft war es eine
einsame Welt, das Leben auf seine Basis reduziert – die Wüste, ein Weg, mein Rad und ich.
Die Wanderung durch die Bergwelt Nepals bis ins Basislager habe ich als Fortsetzung meiner
Radtour empfunden – reiner Genuss, bewegendes Erleben. Während all der Monate haben
mir meine Vorräte an Insulin, Messstreifen und Tee ein Leben ohne Beschränkung
ermöglicht. Nie in meinem langen Diabetikerleben habe ich derart gute Blutzucker-Werte
gehabt wie auf meiner 8000 km langen Radtour und der darauf folgenden Wanderung. Nur
am Mount Everest selbst, da habe ich nicht den Mut aufgebracht, an diesen Idealwerten
festzuhalten. Der Berg ist zu steil, zu schwer, zu kalt, um an beliebiger Stelle auf eine
Unterzuckerung reagieren zu können. Ich habe meine Blutzucker-Zielwerte deutlich über dem
Normbereich angesetzt.
Ein letztes Mal arbeiten wir uns hinauf durch das zauberhafte Labyrinth aus Eintürmen und
Gletscherspalten. Die faszinierende Schönheit der Landschaft ist trügerisch. Der steile
Gletscherbruch ist in stetiger Bewegung. Wehe dem Menschen, der sich gerade dort befindet,
wo Eiswände dadurch erschüttert werden. Über uns ein mächtiges Donnern. Von der
Westschulter des Everest geht eine Lawine ab, wird im Eisfall abrupt gestoppt. Eine Wolke
aus feinem Schnee bedeckt den Himmel. Sekunden später stehen wir als Schneemänner da.
Niemand ist zu Schaden gekommen – Aufatmen, befreites Lachen, wir steigen weiter. Über
dem Popcorn benannten Gewirr aus Eisblöcken kommen wir in eine Landschaft aus
bedrückend hohen Eistürmen. Hier haben vor knapp einem Monat drei Sherpa ihr Leben
lassen müssen. Leise, so als ob wir die Eisgiganten nicht in ihrem Schlaf stören wollen,
kämpfen wir uns hinauf durch diese unheimliche Szenerie. Durchatmen, als wir nach gut vier
Stunden die Kante erreichen, wo das Gletschereis des Western Cwm in die Tiefe des Eisfalls
abbricht. Die ersten Sonnenstrahlen erreichen uns hier bei der Rast und in Minuten sind wir
„aufgetaut“. Schicht um Schicht wird die Kleidung abgelegt, später wandern wir freizügig im
Unterhemd über das Gletschereis. Der Western Cwm ist die einzige wirklich einfache Passage
des Anstiegs auf den Everest, sanft ansteigend, das höchste Tal der Welt – eine faszinierende
Landschaft. Links erhebt sich der Everest, rechts der Nuptse. Vor mir liegt der Lhotse
(vierthöchster Berg der Welt, 8516m) mit der 1500 Meter hohen Lhotse-Wand, die aus dieser
Perspektive unbezwingbar steil aussieht. Auch im Western Cwm sind wie im Eisfall viele der
schaurig tiefen Gletscherspalten auf schwankenden, horizontal gelegten Alu-Leitern zu
überwinden – jedes Mal ein kleiner Adrenalin-Kick. Zu Mittag erreichen wir das
lawinengefährdete Lager 1 in 6000 Metern Höhe und entscheiden uns für den Weitermarsch
zu Lager 2, das fast am Ende des Western Cwm auf Moränenhügeln liegt.
Zwei Etappen an einem Tag, das schreit fast nach einem Ruhetag. Und wir können ihn
genießen, die Sonne heizt das Zelt auf über 40 Grad auf. Leider ist noch kein Team der
Südseite auf dem Südsattel, um diesen herrlichen Tag für den Gipfelangriff zu nützen. Von
der tibetischen Nordseite werden über Funk einige Gipfelerfolge gemeldet.
17. Mai – nach zweistündigem Zustieg stehen wir am Fuß der Lhotse-Wand. Der Aufstieg ist
nicht spektakulär, der ständig wechselnde Ausblick auf die umgebenden Berggiganten lässt
aber keinen Wunsch offen. Der Schneefall der letzten Wochen hat hier kaum Spuren
hinterlassen, Blankeis überzieht diese steile, 1500 Meter hohe Wand. Zwei etwas flachere
Absätze in etwa 7300 Metern – hier errichten die Expeditionen ihr Lager 3. Stark geneigt
kleben die Zelte hier am Hang, kaum einen Meter entfernt von einer tiefen Spalte. Ohne
Selbstsicherung sollte man hier nicht aus dem Zelt treten. Nudelsuppe, Charantea, feste
Nahrung will ich hier nicht mehr einnehmen, leichte Magenschmerzen. Für eine gute Nacht
ist gesorgt, erstmals atmen wir künstlichen Sauerstoff. Das erleichtert das Einschlafen.
Danach verrutscht die Maske und bläst den Sauerstoff ungenutzt ins Freie. Hauptsache
Eingeschlafen – ich werde den Umgang mit diesem neuen Gerät auch noch lernen.
Am nächsten Tag setzen wir unseren Aufstieg durch die Lhotse-Wand fort – erstmals mit
künstlichem Sauerstoff, 1,5 Liter/Minute. Bei sonnigem Wetter steigen wir langsam, aber
ohne große Schwierigkeiten Meter um Meter hinauf. In knapp 7900 Metern Höhe klettern wir
am Genfer Sporn, einer Felsnase, die vom Südsattel in der Mitte der Lhotse-Wand
herabreicht. Auf der anderen Seite des Sporns plötzlich gänzlich anderes Wetter – ein Sturm
erfasst uns, dass wir uns kaum auf den Beinen halten können. Da hier die Fixseile enden, ist
extrem sauberes Steigen angesagt. Ein Fehltritt würde hier 1200 Meter tiefer enden. Zum
Glück ist hier der Südsattel schon zum Greifen nahe, wo die vorausgeeilten Sherpa schon
Zelte aufgestellt haben – Lager 4, das höchste Camp am Berg in 7930 Metern Höhe.
Schnell richten sich Vern und ich im windgeschüttelten Zelt ein, ich messe meinen
Blutzucker. Sensationelle 83 mg/dl! Sensationell auch mein Blutzuckermessgerät, das in
dieser Höhe noch verlässliche Werte liefert. Während all der Aufstiegstage war der
Blutzucker stets dort, wo ich ihn haben wollte, manchmal sogar etwas darunter. In großen
Höhen steigt der Blutzucker bei Diabetikern in gefährliche Höhen, früher hatte ich mehrfach
600 mg/dl oder HI(GH) gemessen. Dank Charantea kann ich nun mit fast normalen Werten in
die Todeszone aufsteigen.
Ich lege mich zurück im Schlafsack, die Müdigkeit entweicht aus meinem Körper. Dreißig
Stunden wollen wir hier am Südsattel warten und ruhen, ehe wir in der nächsten Nacht den
Aufstieg wagen wollen. Doch erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Hektische
Unterredungen der Expeditionsleiter am Südsattel. Bergsteigerlegende Guy Cotter kommt
mehrfach in unser Zelt. Telefonate in die USA, nach Indien und in die Schweiz – dort, wo die
für das Höhenbergsteigen kompetenten Wetteranalytiker sitzen. Die Vorhersagen sind
deprimierend. Schon jetzt bläst der Wind mit 60 km/h über den Südsattel, in der Nacht soll er
noch wesentlich stärker werden. Und für morgen sieht es ganz düster aus.
Dave Morton, unser Leiter, entscheidet sich für alles oder nichts. Noch in dieser Nacht, nach
nur wenigen Stunden Ruhe, soll der Aufstieg zum Gipfel beginnen. Ellie, unsere BasecampManagerin, per Funk mit den Bergführern verbunden, wartet darauf jede Neuigkeit via
Internet um den Erdball zu senden. Um 23 Uhr kommt die euphorische Meldung, dass wir auf
dem Weg zum Gipfel sind. Drei Stunden später werden unsere Hoffnungen gedämpft.
Aufgabe, Rückkehr zum Südsattel! Der Sturm ist immer heftiger geworden, unsere Chancen
von Minute zu Minute gesunken. In diesen drei Stunden haben wir erlebt, in welches Inferno
sich der Berg verwandeln kann. Unweit der Zelte, schon im Abstieg begriffen, hat sich ein
White-out entwickelt – ein Schnee- und Eissturm, bei dem die Sicht praktisch auf null fällt. In
diesen Momenten haben wir gesehen, welch perfekt eingespieltes Team die uns begleitenden
Sherpa bilden. In Sekunden haben sie das gesamte Team zu einer Kette
zusammengeschlossen und, für mich unerklärlich wie, den Weg zu den Zelten gefunden, die
wir erst aus einem halben Meter Entfernung erkennen konnten. Der gescheiterte Gipfelangriff
hat Kraft gekostet. Erschöpft schlüpfen wir in unsere Schlafsäcke und schlafen sofort ein.
Am nächsten Morgen wird uns bewusst, dass der nächste Abend unsere letzte Chance auf den
Gipfel sein wird, doch die Wettervorhersage ist weiterhin schlecht. Die Sauerstoffreserven
würden für eine weitere Nacht nicht ausreichen, der Südsattel würde zur Todesfalle werden,
da der Körper in solchen Höhen extrem schnell abbaut. Irgendwann will man dann nur noch
im Schlafsack liegen bleiben und kann sich zu keinem Abstieg mehr aufraffen.
Überraschenderweise flaut der Wind während des Tages ab, die Hoffnung auf eine falsche
Prognose steigt.
Wie ich später zu meinem Erstaunen erfahren habe, haben viele meiner Freunde, und auch
Diabetiker und Berginteressierte, die ich nicht kenne, die folgende Nacht vor ihren Monitoren
verbracht, um die Neuigkeiten vom Everest live mitzuerleben. Und es sollte eine spannende
Nacht werden. Um 20 Uhr, noch immer ist es windstill, bricht die Gruppe zum Gipfel auf. Ich
bin wieder einmal zu spät dran, mein niedriger Blutzucker muss noch auf die richtige Höhe
getrieben werden. Eine Viertelstunde später sind auch Mingma und ich auf dem Weg nach
oben und versuchen Anschluss an unsere Gruppe zu finden. Nach einer Stunde bin ich dran an
meinen Freunden, aber vorne haben sich fünf von uns, etwas schneller als der Rest, bereits
abgesetzt. Nun kämpfen sich zwei Gruppen (fünf und acht) im Schein der Stirnlampen Meter
um Meter höher in der immer steiler werdenden Eiswand des Triangular Face. Langsam,
kontinuierlich, ja nicht verausgaben!
Um 1:30 Uhr erreiche ich einen flachen Absatz, den Balcony in 8430 Metern Höhe. Hier
würgen wir einige Kohlehydrate hinunter und versuchen so viel wie möglich zu trinken – eine
richtige Qual. Im Dunkel der Nacht hebt sich die weiß-graue Silhouette des höchsten Berges
der Welt ab, der markante Südgipfel und dahinter einige Zacken – eine davon muss der
Hauptgipfel sein, 420 Meter über uns. Um 2:20 Uhr setzen wir unseren Anstieg über den
Südostgrat fort, die Schritte werden immer langsamer. Immer wieder braucht jemand eine
kurze Rast, es geht stockend voran. Mühsam ist es, die kurzen Felspassagen und eisigen
Steilstufen zu überklettern – Atemlosigkeit. Ein goldener Streifen am Horizont über dem
tibetischen Hochplateau, bald wird der Tag den Blick auf die grandiose Bergwelt freigeben.
Ich erreiche einen Mini-Gipfel, dahinter geht es wenige Meter hinunter in einen schmalen
Sattel – der Südgipfel mit 8751 Metern Höhe. Auf den Monitoren erscheint die Meldung,
dass die gesamte zweite Gruppe den Südgipfel erreicht hat. Ich spüre die wärmende Sonne, es
scheint ein wunderschöner Tag zu werden. Ich stehe wie gebannt auf dieser zweithöchsten
Anhöhe der Erde. Vor mir liegt der messerscharfe Gipfelgrat, der auf beiden Seiten Tausende
Meter in die Tiefe abbricht. Mitten im Grat eine felsige Steilstufe - der legendäre Hillary
Step. Hinter mir ragen Lhotse und Makalu (der viert- und fünfthöchste Berg der Welt) aus
einer grandiosen Berglandschaft von Sechs- und Siebentausendern heraus, rechts von mir die
unendliche Weite Tibets, fast 5000 Meter unter mir. Gegen sieben Uhr raffen wir uns ein
letztes Mal auf. Trotz Atemlosigkeit pure Faszination auf diesem exponierten Grat! Der
Aufstieg über den gefürchteten Hillary Step (Schwierigkeit III in 8800 Metern Höhe) erweist
sich leichter als erwartet. Plötzlich wird der Gipfelgrat flach und breit, 80 Meter vor mir ein
kurzer, waagrechter Schneegrat, geschmückt mit dem Bunt buddhistischer Gebetsfahnen –
das Dach der Welt. Minuten später geht eine Meldung übers Internet hinaus in die Welt:
May 20 – 8:50 am
And the second group arrives at the summit!!! Now standing on the top are Lakpa, Vern,
Jacques, Geri, Suzanne, Tsering, Mingma and Fura Kancha. The weather is still excellent…
Bewegende Augenblicke, die mir viel zu kurz werden. Nur langsam sickern all die
überwältigenden Eindrücke in mein Bewusstsein. Ich setze mich auf den höchsten Punkt,
neben mir das gerahmte Bild des Dalai Lama im Schnee. Der längste Anstieg auf dieser Erde
hat hier sein Ende gefunden, doch Befreiung werde ich erst im Basislager verspüren. Der
gefährlichste Teil der Besteigung liegt vor uns, der zweieinhalbtägige Abstieg. Erschöpfung
und mangelnde Konzentration müssen wir in uns niederringen, wir dürfen uns keinen Fehltritt
erlauben. Fünf Stunden später, nach mehr als achtzehn Stunden Kletterei, erreiche ich die
Zelte am Südsattel.
Geschafft! Ich werde Wochen brauchen, um zu verarbeiten, was mir heute gelungen ist. Doch
ganz ohne Probleme ist dieser Aufstieg nicht verlaufen. Kleine Fehler meinerseits haben sich
summiert, mir Schwierigkeiten bereitet - zum Glück, ohne zur ernsten Gefahr zu werden. Ich
messe meinen Blutzucker, der Wert liegt über 500 mg/dl. Hat mich die Kraft des Charantea
verlassen? Nein, ich habe ihn gestern und heute gar nicht getrunken. Als ich meine
Magenschmerzen erwähnte, haben die Bergführer gemeint, ich solle nur noch reines Wasser
trinken. Was ich nicht geahnt habe: damit habe ich in doppelter Hinsicht auf die Wirkung des
Tees verzichtet. Nie hätte ich gedacht, dass es eine derartige Qual ist, in großen Höhen reines
Wasser zu trinken. Mit dem angenehm schmeckenden, reizarmen Charantea hatte ich nie
solche Probleme gehabt. Völlig dehydriert bin ich ins Lager zurückgekehrt. Zudem scheint
die Blutzucker-regulierende Wirkung des Tees in großen Höhen akut zu wirken, d.h. sie setzt
recht schnell ein, hält aber auch nur 1-2 Tage an. Also anders als die Blutzuckerstabilisierung
im „normalen Leben“. Diese setzt erst nach einigen Wochen ein, hält aber dann auch an,
wenn man den Tee mehrere Tage nicht trinken kann. Nach meiner Rückkehr nach Österreich
erfahre ich von Experten, dass nun Dehydrierung, extremer Adrenalin-Anstieg und
Übersäuerung als Ursache für den bisher unerklärlichen Blutzucker-Anstieg in großen Höhen
angesehen werden. Das hätte ich vorher wissen sollen.
Ein Fehler kommt selten allein. Nach Messung meines hohen Wertes spritze ich Insulin, lege
es auf den Schlafsack und will mich für wenige Minuten ausruhen. Am nächsten Morgen
wache ich auf, mein Insulin ist gefroren. Kein großes Problem, denn Vern und Dave haben
Reserveampullen um den Hals am Körper getragen. Aber meine basale Spritze am Abend
habe ich verschlafen. Der Blutzucker ist auf fast 600 mg/dl angestiegen. Wie soll ich in zwei
Stunden mit dem Abstieg durch die steile Lhotse-Wand beginnen? Charantea und Insulin! Bis
zum Aufbruch schaffe ich es, ihn auf 330 mg/dl zu senken. Müde, aber nicht unkonzentriert
steige ich die Wand hinab und erreiche am Nachmittag mit 175 mg/dl Camp 2. Die Krise ist
überwunden.
22. Mai – der letzte Tag am Berg! Ich fühle mich recht frisch, der Blutzucker ist im
Zielbereich. Wir steigen ein letztes Mal durch den durch den nahenden Sommer
aufgeweichten und damit sehr gefährlichen Khumbu-Eisfall. Am frühen Nachmittag erreichen
wir die Zelte des Basislagers. Binnen Minuten entweicht die ungeheure Anspannung der
letzten Wochen – fast körperlich spürbar. Nun sind wir in Sicherheit, zum Feiern aber noch zu
müde. Mehrere Tage auf einfachen Wanderwegen – dann werden wir wieder die uns vertraute
Welt erreichen.
Vor 22 Jahren war ich bis zum Basislager des Mount Everest gewandert, habe den Berg aus
der Nähe gesehen. Damals hat mich Miyo Langsangma, die Göttin, die auf dem Gipfel der
Welt residiert, in ihren Bann gezogen. Wenige Monate später bin ich Diabetiker geworden.
Alle Träume waren zerronnen Langsam habe ich sie Schritt für Schritt zurück gewonnen.
Nun, nach all den Jahren hat mich Miyo Langsangma wieder losgelassen. Mit zerschundenen
Füßen wandere ich durch die blühenden Rhododendron-Wälder – glücklich – auf dem Weg
nach Hause.
Herunterladen