Kolumbien-Monatsbericht Dezember 2004 No. 12/2004 "Ich glaube an die Kraft der kleinen Schritte ein friedliches Kolumbien ist möglich!" Ein Interviewgespräch mit P. Amadeo Eberle von Peter Stirnimann Draussen fällt Schnee. Wir sitzen in der warmen Küche und geniessen den feinen Braten, den uns die 85-jährige und rüstige Mutter von Padre Amadeo, meinem Interviewpartner, aufgetischt hat. Ich kenne Amadeo - Gottlieb, wie er sich früher nannte - seit den 70er Jahren von der Jugendarbeit in Basel her. 1983 besuchte ich ihn in Monteria, wo er in einem Armenviertel seine Arbeit als katholischer Priester aufgenommen hatte, bevor er in die Millionenstadt Cali zog, um dort im grössten Armenviertel Aguablanca als Pfarrer zu wirken. Er lebt heute immer noch in Cali und begleitet teilweise ein von ihm und seinem Team aufgebautes Kultur- und Bildungszentrum "El Chontaduro" in Aguablanca. Sein Hauptprojekt aber ist eine biologisch bewirtschaftete Finca oberhalb Calis, welche auch als Begegnungsund Freizeitstätte für die Leute aus den Armenvierteln dient. Ich traf Amadeo in seinem Elternhaus in Flums während seines Heimaturlaubs, um mit ihm über seine 22-jährigen Erfahrungen auszutauschen. Unser Interviewgespräch beginnt mit einem Thema, das Kolumbien seit mehr als 40 Jahren prägt: Krieg und Frieden. Bei der Hinfahrt hierher habe ich eine Analyse gelesen über die verschiedenen Regierungen - es waren sechs - die in den vergangenen 22 Jahren in Kolumbien an der Macht gewesen sind . Alle sind angetreten, um Frieden zu schaffen. Ohne nachhaltigen Erfolg. Wie geht das Volk, vor allem die Verarmten mit dieser Situation um. Haben sie noch Hoffnung? P.Amadeo: Eines ist sicher: der Wunsch nach Friede ist überall spürbar, ebenso die Kriegsmüdigkeit. Die Leute wollen Frieden. Die Hoffnung aber, dass sich dieser ersehnte Friede rasch einstellen wird, ist nicht gross. Die Leute sind sich im Tiefsten bewusst, dass noch ein langer Weg bis dorthin zu gehen ist. Durch ihr mühsames Leben, das von viel Leid geprägt ist, sind sie, was die Hoffnungen in die Geschichte anbetrifft, recht ernüchtert, realistisch, teils auch religiös fatalistisch. In welchem Sinne? P.Amadeo: Viele glauben, dass die Situation gottgewollt ist und sie das so anzunehmen und durchzustehen haben. Die traditionelle Kirche hat dies immer wieder gepredigt. Ist das Vertrauen in friedensschaffende Kräfte im Land nicht mehr vorhanden? P.Amadeo: Nehmen wir das Vertrauen in die Regierung. Die verarmten Bevölkerungsschichten haben ein sehr skeptisches Verhältnis zur Regierungsmacht. Ihre Erfahrungen mit den Regierungen waren und sind negativ, denn diese haben nie Hand geboten, um ihre Probleme wirklich anzupacken und zu lösen. Ihre Probleme zählen nur in Wahlzeiten. Dann versprechen alle Lösungen. Am Tag nach den Wahlen werden die legitimen Forderungen wieder mit Repression unterdrückt, denn diese richtete sich immer gegen das einfache Volk und ihre soziale Organisationen. Und wie steht es mit dem Glauben in die Guerilla, denn diese geben ja vor, für das einfache Volk zu kämpfen? An die verändernde Kraft der Guerilla glauben heute nur noch ganz wenige, denn auch diese nimmt die Zivilbevölkerung oft als Ziel ihrer militärischen Angriffe. Das Resultat von 40 Jahren sogenannt revolutionärem Kampf ist weder sichtbar noch spürbar. Also keine Hoffnung weit und breit? P. Amadeo: So würde ich es nicht sehen. Woran die Leute Hoffnungen knüpfen, sind in politisch unabhängige Alternativen, welche aus Basisorganisationen entstanden sind. Wenn solche von internationalen Organisationen z.B. aus Europa unterstützt werden, nimmt der Glaubwürdigkeitsgrad zu. Die Hoffnungen in internationale Unterstützung zur Lösung der Probleme und zur Schaffung eines nachhaltigen Friedens sind gross. Umfragen in den Medien zeigen aber ein etwas anderes Bild. Danach ist die Popularität des aktuellen Präsidenten Uribe recht gross. P.Amadeo: Das ist eine sehr schwierige Geschichte mit den Umfragen und der Popularität. Es gilt genau hinzuschauen und viele Fragen stellen. Welche? P.Amadeo: Zum Beispiel, warum gibt es eine gewisse Popularität, wie wird diese gemacht, wem dient diese Popularität, welche Rolle spielen die Massenmedien. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Massenmedien in den Händen der Macht sind und ihr dienen. Das einfache Volk konsumiert und konsultiert die eher oberflächlichen Medien wie das Fernsehen oder das Radio. Es hat kein Geld, um geschriebene Medien zu kaufen. Dort erscheint durchaus auch Kritisches, obwohl kritische JournalistInnen in Kolumbien ein schweres Leben haben. Immer wieder werden sie bedroht oder umgebracht. Die Massenmedien helfen, das Bild von Uribe aufzubauen und hoch zu halten, auch mit Umfragen. Dieses Bild kommt beim Volk an. Uribe präsentiert sich in und durch die Medien als Präsidenten, der die Sachen anpackt, der unablässig arbeitet - kurz, der regiert, befiehlt, tadelt. Er legt Zahlen und Fakten auf den Tisch - wie stimmig sie jeweils sind, ist eine andere Frage - und diese zeigen, dass etwas erreicht wurde. Er ist das Gegenbild seines Vorgängers Pastrana, dem "Schwächling", der angeblich nichts zustande gebracht hat mit seinen Friedensverhandlungen. Und in Anbetracht des unsäglichen Leids, das hinter dem ungelösten bewaffneten Konflikt steckt und sich in 40 Jahren akkumuliert hat, ist es verständlich, dass ein Präsident populär ist, der auftritt und verspricht, dass er das Übel der Gewalt in den Griff kriegen wird. Der autoritäre Stil von Uribe kommt beim autoritätsgläubigen Volk an. Ist seine konkrete Politik beim Volk auch populär? P.Amadeo: Das ist ein anderes Kapitel. Ich habe den Eindruck, dass sein Ansatz, die Probleme in Kolumbien mit militärischen Mitteln lösen zu wollen, eindeutig nicht populär ist. Der Weg zum Frieden ist für das Volk nicht der Krieg, sondern man weiss, dass ein nachhaltiger Friede politisch ausgehandelt werden muss und dass dies nicht einfach ist. Die Skepsis in Friedensverhandlungen sind vorhanden und verständlich nach dem Abbruch der erfolglosen Friedensgespräche mit den Guerillas 2002. Die Militarisierung der verarmten Stadtviertel aber, die ganz massiv ist und viel Repression bedeutet, ist ebensowenig populär. Die Menschen wollen doch dort in Ruhe gelassen werden, wo sie wohnen und leben. Wenn der gut situierte Mittelstand diese Militarisierung begrüsst, weil sie an den Feiertagen oder in den Ferien mit ihren Autos in ihre Weekendhäuser auf dem Land fahren können, ist dies verständlich 1. Es gibt durchaus auch GewinnerInnen der aktuellen Regierungspolitik. Das breite Volk aber zählt zu den VerliererInnen. Nehmen wir die Wirtschaftspolitik mit dem ständig wachsenden Verlust der Kaufkraft bei den breiten Massen, der hohe Benzinpreis, die Mehrwertsteuer von 16 Prozent, die nun noch um ein weiteres Prozent erhöht werden soll all dies ist höchst unpopulär. Denken wir an die Arbeitslosigkeit, welche praktisch alle betrifft, oder an die von Uribe angekündigte Bildungsrevolution, welche in unseren Vierteln nicht stattgefunden hat. Die konkrete Politik Uribes und ihre Auswirkungen sind extrem unpopulär. Das Medien-Bild des populären Präsidenten verdeckt die Unpopularität seiner konkreten Politik. Amadeo, Du hast während 22 Jahren dieses einfache Volk als Seelsorger und Animator begleitet. Was gibt Dir Kraft, um nicht aufzuhören angesichts der eher rückwärtstendierenden Entwicklungen? P.Amadeo: Ich glaube an die Kraft der kleinen Schritte. In Kolumbien gibt es über das ganze Land verteilt unwahrscheinlich viele beeindruckende Projekte, welche unter zum Teil höchst schwierigen Umständen versuchen, sich zu realisieren und auch Erfolg haben. Kannst Du uns ein konkretes Beispiel geben? P.Amadeo: Eines der erfolgreichen Projekte im Land, ist die Arbeit der indigenen und afrokolumbianischen Gemeinschaften. Im September konnten wir live die Ernsthaftigkeit dieser Arbeit miterleben. Nach einem tagelangen Friedensmarsch aus den Bergdörfern des Caucas nach Cali kam es hier in der Gegend der Sportstadien zum Schlussakt dieses Marsches von rund 60'000 Menschen. Wir vom "El Chontaduro" nahmen an diesem Fest des Lebens mit einem kulturellen Beitrag teil. Die Stimmung im Freien, während einer sommerlich heissen Nacht, umrahmt von riesigen Sportstadien, wie der Stierkampfarena und der Radrennbahn, ging mir tief unter die Haut. Die Kraft dieser engagierten Menschen, ihre Friedlichkeit, ihre lebensbejahende Fröhlichkeit hat mich tief erfasst. Was da ablief, verursachte bei mir und sicher bei vielen Hühnerhaut! Ich war beeindruckt durch ihr gewaltloses Organisiertsein. Die Guardias Indigenas - unbewaffnete Ordnungskräfte - hatten die Ordnung im Griff. Die erlebnisreiche Erfahrung jener von der Vielfalt kolumbianischer Kultur geprägten Darbietungen zeigte mir, dass ein friedliches und menschenwürdiges Kolumbien möglich ist. Solche Akte motivieren einen für Jahre. Die Anfeindungen gegenüber solchen Initiativen aber sind gross..... P. Amadeo:... ja und gehen von allen Akteuren aus. Zur Zeit befinden wir uns in einer recht schwierigen Phase. Die allgemeine Atmosphäre des Misstrauens untereinander macht das Arbeiten sehr schwer. Man muss sich ständig fragen, wer mit wem unterwegs ist, wer gegen wen arbeitet, wer einen für wen bespitzelt. Das Misstrauen, das von oben geschürt wird, spielt eine grosse Rolle. Die Projekte der kleinen Schritte, wo von unten her Vertrauen aufgebaut und das zerstörte Sozialgefüge wieder hergestellt wird, machen in diesem Umfeld sehr viel Sinn und ich glaube an ihren langfristigen Erfolg vor allem dann, wenn sich diese Initiativen untereinander vernetzen. Das alles ist ein langfristiger und schwieriger Prozess, der von Hoch und Tiefs geprägt ist. 1 Als wichtiges Resultat der Militarisierung des Landes wird immer wieder die zurückgewonnene Sicherheit auf den Strassen gepriesen. Wie unsicher in weiten Teilen des Landes die Strassen weiterhin sind, zeigte sich am 24.November. Eine Buskarawane mit 200 Frauen der Ruta Pacifica war von Medellín nach Quibdo unterwegs. Sie kam nicht in Quibdo an, sondern musste zurückkehren wegen eines bewaffneten Streiks der Guerilla. (Anm.d.Red.) Welchen Beitrag kann die internationale Gemeinschaft in der Stärkung solcher zivilgesellschaftlicher Initiativen leisten? Welche kritische Fragen muss man an das Intervenieren aus dem Ausland stellen ? P.Amadeo: Ich verstehe mich auch als Teil dieses Beitrags der internationalen Gemeinschaft und möchte deshalb zuerst selbst ein paar kritische Fragen an mich und mein Wirken stellen. Ich glaube, dass ein grosser Fehler unserer anfänglichen Arbeit war, dass wir viel zu viel auf die Einschätzung von uns Europäern oder auf die Einschätzung - in der kirchlichen Arbeit der Bischöfe gesetzt haben, was zu tun und zu lassen sei. Ich glaube, wir haben zu wenig auf das verarmte Volk selbst gehört. Im Verlauf der Jahre habe ich gelernt, immer mehr darauf zu hören, was die Leute spüren, denken, welches ihre Träume, ihre Vorschläge sind. Daraus wird klar, wie komplex die Situation ist, wie langfristig angelegt Veränderungen ablaufen und geplant werden müssen. Das ist grundlegend für jeden externen Beitrag, dass er auf die wirklichen Anliegen der verarmten Bevölkerung eingeht und Antwort gibt und nicht auf unsere Vorstellungen, auch unsere Interessen. Für uns als SchweizerInnen oder EuropäerInnen vor Ort gilt es, uns in die Welt und Kultur dieses Volkes einzuleben, einzuordnen, Vertrauen aufzubauen, Brücken zu unserer Ursprungsheimat zu schaffen. Wir dürfen dabei aber nie vergessen, dass wir trotz aller gelebter Solidarität mit den Verarmten, immer Privilegierte bleiben, deren Beitrag durchaus sinnvoll und wirkungsvoll sein kann und ist, wenn er die Interessen und Träume der einfachen Menschen ins Zentrum rückt. So können wir helfen, dass dieses Land zu einer anderen Zukunft kommt. Weihnachten steht vor der Türe. Du fliegst nun wieder zurück nach Kolumbien. Kehrst Du in Deine Heimat zurück oder wo ist heute Deine Heimat? P.Amadeo: Ich habe manchmal den Eindruck, ich sei im Ozean am Schwimmen. Wenn ich hier in der Schweiz bin, fühle ich mich als Kolumbianer. Wenn ich in Kolumbien bin, habe ich den Eindruck, ich sei Schweizer. In Kolumbien wäre ein bisschen mehr Europa nötig im Sinne von mehr Strukturen, mehr Koordination und Organisation und von weniger Chaos und mehr Ordnung im guten Sinne. Hier in der Schweiz denke ich, sollten wir sehr viel übernehmen von der kolumbianischen Kultur, von deren Lebenslust und Fröhlichkeit, von ihrer Kraft, auch über Schwieriges trotz allem hinwegzukommen und weiterzumachen mit Optimismus, dass eine bessere Zukunft für alle möglich ist. In diesem Sinne wünschen wir von der Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien Padre Amadeo und all unseren LeserInnen ein frohes Weihnachtsfest und einen hoffnungsvollen Start ins neue Jahr