Ein Freund in allen Lebenslagen Drei Monate sind nun schon vergangen seit sich Ingrid und Harry Vorndran getrennt haben. Obwohl ihre Beziehung nicht besonders lange gedauert hat, macht es ihr doch mehr zu schaffen, als sie sich anfangs gedacht hat. Ingrid zieht sich, so wie sie es immer getan hat, wenn sie Kummer hatte, immer mehr in ihre Arbeit zurück und lässt niemanden mehr an sich heran. Dies beobachten auch ihre Kollegen mit immer größerer Sorge. In den Wochen seit der Trennung macht Ingrid hauptsächlich Nachtdienste, da sie verhindern will, dass sie Harry in der Klinik allzu oft begegnet, wenn dieser täglich seine Schwester besucht. Die vielen Nachtdienste machen Ingrid allerdings sehr zu schaffen, schließlich ist auch sie nicht mehr die Jüngste. Die Angebote ihrer Kollegen, mit ihr den Dienst zu tauschen, schlägt sie immer wieder aus. Selbst Gernot, der normalerweise in Gefühlsdingen ein Elefant im Porzellanladen ist, macht sich immer mehr Sorgen um Ingrid. Das letzte Mal, als er mit Ingrid auf einer persönlichen Ebene gesprochen hat, war vor einiger Zeit, als Dorothee Vorndran in die Klinik eingeliefert wurde. Damals hatte Ingrid tränenüberströmt bei ihm Rat gesucht, wie sie sich Harry gegenüber verhalten soll, da dieser sich seiner Schwester zuliebe von Ingrid getrennt hat. Mit großen Ratschlägen konnte er ihr allerdings nicht dienen. Doch stattdessen hat er Ingrid einfach in den Arm genommen und versucht, sie durch seine Worte und seine sanften Berührungen zu beruhigen. Irgendwie war es für Gernot ein komisches Gefühl ausgerechnet Ingrid im Arm zu halten, weil sie Liebeskummer hat. Nichts hätte sich Gernot mehr gewünscht, als Ingrid aus einem ganz anderen Grund im Arm zu halten. Doch zu diesem Zeitpunkt schien er, so weit wie nie zuvor von einer gemeinsamen Zukunft mit Ingrid entfernt zu sein. Immer wieder hat er versucht mit Ingrid über ihre derzeitige Diensteinteilung zu sprechen, doch Ingrid blockt nur ab. An mehr als ein dienstliches Gespräch war überhaupt nie zu denken, obwohl sich Gernot nichts mehr gewünscht hätte, als endlich mal offen mit Ingrid zu sprechen. Es ist ihm durchaus bewusst, dass er mit Ingrid nicht über seine Gefühle zu ihr sprechen kann, aber er will ihr einfach das Gefühl geben, dass er für sie da ist, wenn sie ihn braucht. Dass es Ingrid gut geht, dafür ist er auch bereit seinen eigenen Kummer zurück zu stellen. Nur zu gern hätte er ihr gesagt, wie weh es ihm getan hat, Ingrid mit einem anderen Mann zu sehen, wie viel sie ihm nach wie vor bedeutet und wie sehr er sich eine gemeinsame Zukunft mit ihr wünscht. Doch das alles ist im Moment nebensächlich; wichtig ist nur, dass Ingrid bald wieder lachen kann, am liebsten mit ihm. Wie üblich verlässt Gernot an diesem Abend recht spät sein Büro und schlendert über die Klinikflure in Richtung Ausgang. Gedankenverloren geht er den Flur entlang, bis er im Lichtschein des Schwesternzimmers stehen bleibt. Es ist schon kurz vor 23.00 Uhr und auf der Station ist schon die nächtliche Ruhe eingekehrt. Als Gernot durch die Tür tritt, erblickt er, wie schon vermutet, Ingrid am Schreibtisch sitzend. Sie sitzt mit dem Rücken zu ihm und bemerkt daher nicht, wie er näher 1 kommt und seine Tasche neben dem Tisch abstellt. Leise tritt er näher und blickt über Ingrids Schulter hinweg auf den Bildschirm des Computers. Ingrid arbeitet an der Medikamentenbestellung für den nächsten Monat. „Aber das hat doch noch Zeit.“ Erschrocken fährt Ingrid herum und sieht Gernot mit schreckgeweiteten Augen an. „Gernot, hast du mich erschreckt.“ „Tut mir leid.“ „Eine kleine Vorwarnung wäre ganz angenehm.“ „Ich werde es mir merken.“ Gernot sieht Ingrid mit einem versöhnlichen Lächeln an, woraufhin sich auch um Ingrids Lippen ein sanftes Lächeln abzeichnet. Gernots Augen strahlen, als er Ingrids Lächeln sieht. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr sieht Ingrid Gernot mit besorgtem Blick an. „Was machst du denn noch hier, um diese Uhrzeit?“ „Es gab eine Menge Arbeit.“ „Gernot, du solltest schon lange zu Hause sein.“ „Ich weiß, aber die Arbeit erledigt sich nicht von allein.“ Seit sich Ingrid umgedreht hat, hat Gernot ihr unverwandt in die Augen gesehen. Ingrid kommt der Gedanke, dass er sie schon lange nicht mehr so angesehen hat. Eigentlich hat er schon damit aufgehört, als sie noch ein Paar waren. Das entstandene Schweigen macht beide aber etwas unruhig, was Ingrid dazu veranlasst, etwas zu sagen. „Was führt dich zu mir, Gernot?“ Gernot, wieder mal übermannt von der Angst vor seinen Gefühlen, will auf keinen Fall, dass Ingrid bemerkt, dass er sich große Sorgen um sie macht. Daher sucht er schnell nach einer Ausrede. „Ist für die Gastroskopie bei Herrn Erhardt morgen alles klar?“ „Ja natürlich, warum fragst du?“ „Ich wollte nur sicher gehen, warum?“ „Gernot, mach mir doch nichts vor, du hast noch nie nachgefragt, wenn du eine Anweisung gegeben hast.“ „Hab’ ich nicht?“ „Nein, also was führt dich zu mir?“ „Ich wollte nur wissen, wie es dir geht?“ „Warum fragst du mich dann nicht?“ „Als ich dich die letzten Male gefragt habe, bist du mir ausgewichen oder hast mir irgendeine Floskel an den Kopf geworfen.“ Als er ihr so in die Augen sieht, bemerkt er, dass sie geweint haben muss. Diese Tatsache versetzt ihm einen Stich ins Herz. Ingrid weinen sehen, konnte er noch nie. Jetzt tut ihm schon das Wissen darum weh. Ingrid weicht seinem Blick aus, da sie spürt, dass er genau weiß, wie es in ihr aussieht. Er scheint richtiggehend in sie hinein zu sehen. „Gernot, was willst du denn von mir hören?“ „Eine ehrliche Antwort. Oder vertraust du mir mittlerweile so wenig, dass du nur noch dienstliches mit mir besprichst?“ 2 „Natürlich nicht, aber es fällt mir einfach nicht leicht ...“ Im selben Augenblick ertönt ein Signalton. Ingrid blickt in Richtung der digitalen Anzeige. „Die ITS, Gernot ich muss los.“ Bevor Gernot etwas erwidern kann, ist Ingrid aus der Tür verschwunden. Gernot beschließt, sich zu setzen und auf Ingrid zu warten. Dieses Mal will er nicht so schnell aufgeben. Obwohl er beinahe eine Stunde gewartet hat, ist Ingrid nicht wieder aufgetaucht. Da es schon beinahe Mitternacht ist, beschließt Gernot doch nach Hause zu fahren. Er nimmt sich aber fest vor, am nächsten Tag mit Ingrid zu sprechen. Als Ingrid ins Schwesternzimmer zurückkommt, ist sie froh, dass Gernot nicht mehr da ist. Sie hat sich absichtlich viel Zeit gelassen, da sie es vermeiden wollte, dass Gernot bemerkt, wie sehr ihr die Trennung von Harry zugesetzt hat. Außerdem will sie Gernot nicht mit ihren Problemen belasten, schließlich hat er auch so schon genug zu tun. Am nächsten Morgen wartet Ingrid schon in seinem Büro, als Gernot eintritt. Überrascht sieht Gernot sie an. Barbara betritt hinter ihm den Raum und erkundigt sich, ob jemand Kaffee will. „Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?“ Gernot sieht Ingrid fragend an. „Ja, sehr gern. Den kann ich gebrauchen.“ „Für mich auch, Barbara.“ „Kommt gleich.“ „Danke, Barbara.“ Gernot trägt seine Tasche zum Schreibtisch und kommt schließlich zu Ingrid zurück. Nachdenklich blickt er auf seine Armbanduhr. „Müsstet du normalerweise nicht schon lange zu Hause sein?“ Ingrid sieht ihn überrascht an. Gernot scheint sich wirklich Gedanken darüber zu machen, wie es ihr geht und was sie macht. „Du hast Recht, eigentlich müsste ich zu Hause sein.“ „Warum bist du es nicht?“ Gernot setzt sich Ingrid gegenüber und wirft ihr einen erwartungsvollen Blick zu. „Ich bin noch hier, weil Schwester Arzu sich krank gemeldet hat. Sie hat eine Magen-Darm-Grippe.“ „Auch das noch, ihr seid doch ohnehin schon unterbesetzt.“ „Sag das mal Frau Marquardt, ich weiß das schon lange.“ „Ich werde es bei Gelegenheit ansprechen ...“ Gernot zwinkert Ingrid aufmunternd zu. „... hoffentlich hat sich Dr. Brentano nicht angesteckt.“ „Ich fürchte, genau das ist schon passiert.“ „Das darf doch nicht wahr sein.“ „Genau aus diesem Grund bin ich hier...“ Ingrid hebt kurz den Dienstplan vom Tisch hoch und schiebt ihn zu Gernot hinüber. „... wir müssen den Dienstplan überarbeiten.“ 3 Gernot nimmt die Mappe und schlägt die erste Seite auf. „Schöne Aussichten!“ „Was meinst du?“ „Du hast die nächsten Tage frei, Arzu ist krank ...“ „Gernot, ich werde natürlich die nächsten Tage arbeiten.“ „Das wirst du schön bleiben lassen. Du bleibst zu Hause und genießt deine freien Tage!“ „Aber ...“ Gernot unterbricht Ingrid in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zulässt. „Kein aber, es bleibt dabei. Du bleibst zu Hause.“ „Wer macht dann hier die Arbeit?“ „Ich werde Frau Marquardt anweisen, sich nach einer Aushilfe umzusehen.“ „Na dann viel Glück, das hab’ ich schön öfters versucht.“ „Lass mich nur machen ...“ Gernot lächelt Ingrid vielsagend an. Als Ingrid ihm in diesem Augenblick in die tiefblauen Augen sieht, glaubt sie sich in diesen zu verlieren. Gernot strahlt ihr gegenüber so viel Zuversicht und Wärme aus, sodass Ingrid ganz schwindelig wird. Lange Zeit hat er sie nicht mehr so angesehen, was Ingrid dazu veranlasst seinem Blick auszuweichen. Dies bemerkt Gernot natürlich und nimmt es mit Freude zur Kenntnis, denn es ist für ihn ein Zeichen, dass immer noch etwas zwischen ihm und Ingrid ist. Würde er ihr gleichgültig sein, hätte sie seinem Blick wahrscheinlich standhalten können. „... bei dieser Gelegenheit werde ich dafür sorgen, dass die so genannte Aushilfe bei uns eine dauerhafte Anstellung bekommt.“ „Das würdest du tun?“ „Natürlich, es ist doch zum Wohl der Klinik und außerdem ...“ Gernot sieht vor sich auf den Tisch und dreht den Dienstplan in seinen Händen. „Außerdem?“ Jetzt sieht Gernot Ingrid direkt in die Augen. Er hofft, dass sie ihm nicht wieder ausweicht. „Ich kann doch nicht zulassen, dass du deine freien Tage opferst.“ „Ach, das wäre mir Moment auch ziemlich egal.“ Seit Ingrid in Gernots Büro war, strahlten ihre Augen eine gewisse Freude aus, doch jetzt überdeckt sie wieder ein Schleier der Traurigkeit. Ingrids plötzlicher Wandel bleibt Gernot natürlich nicht verborgen. Gerade, als er sie auf ihre letzte Bemerkung ansprechen will, betritt Barbara das Büro und stellt ein Tablett vor ihnen auf den Tisch. „So, der Kaffee.“ „Danke Barbara.“ Gernot sieht Barbara nach, wie sie sein Büro verlässt und wendet sich dann sofort wieder Ingrid zu. „Ingrid, was ist bloß los. Du hast dich doch sonst auch immer auf deine freien Tage gefreut.“ Ingrid überlegt, ob es nicht besser wäre, wenn sie Gernot ausweichen würde. Eigentlich ist es ihr unangenehm, mit ihm über ihre derzeitige Verfassung zu 4 sprechen. Der Gedanke, mit ihrem Ex über eine weitere gescheiterte Beziehung zu sprechen, ist schon etwas befremdlich. Doch der Ausdruck in Gernots Augen veranlasst Ingrid dazu, sich ein Herz zu nehmen und mit Gernot zu sprechen. „Schon, aber im Moment fällt mir zu Hause einfach die Decke auf den Kopf.“ „Aber ...“ Im selben Moment klingelt Gernots Handy. Etwas genervt zieht er es aus der Tasche. „... Immer im falschen Augenblick.“ Gernot beabsichtigt den Anruf abzuweisen, doch Ingrid errät seinen Gedanken und legt ihre Hand auf seine. „Nimm das Gespräch ruhig an.“ Daraufhin hebt Gernot ab und telefoniert mit Günther, wie Ingrid gleich bemerkt. Während dieses Gespräches trinkt Ingrid ihren Kaffee aus und will gerade aufstehen, um Gernots Büro zu verlassen, als Gernot ihr seine Hand auf den Unterarm legt und sie festhält. Als Ingrid in seine Augen sieht, lässt sie sich wieder auf die Couch nieder. Gernot entschuldigt sich sofort bei Günther und beendet das Gespräch. Auch weiterhin liegt seine Hand auf Ingrids Arm. Gernots Hand verursacht in ihr ein angenehmes Kribbeln. Ingrid hätte nie gedacht, dass eine Berührung von Gernot noch immer solche Gefühle in ihr auslöst. „Bekomm’ ich eine Antwort auf meine Frage von gestern?“ Erst jetzt wird ihm bewusst, dass seine Hand noch immer auf Ingrids Arm liegt. Obwohl es sie nicht zu stören scheint, nimmt er seine Hand langsam weg, aber nicht ohne sanft mit seinen Fingern über ihre Haut zu streichen. Es scheint, als würde für ihn endlich in Erfüllung gehen, was er sich schon seit so langer zeit sehnlich wünscht; nämlich Ingrid wieder zärtlich zu berühren. Gernot lehnt sich etwas in seinem Sessel zurück und lässt Ingrid dabei keine Sekunde aus den Augen. Ingrid sieht nachdenklich auf ihren Arm und legt ihre Hand genau an die Stelle, an der kurz zuvor noch Gernots Hand gelegen hat. „Ach Gernot, wenn das alles so einfach wäre.“ „Das waren doch zwei klare und eindeutige Fragen. Zum einen wollte ich wissen, wie es dir geht und zum anderen wollte ich wissen, ob du mir nicht mehr vertraust, da du nur noch dienstliches mit mir besprichst.“ Ingrid steht von der Couch auf und geht hinter Gernots Sessel. Dabei legt sie ihm ihre Hand auf die Schulter und streicht mit den Fingern über seinen Rücken, während sie zum Fenster geht. In Gernot löst diese Berührung ein ungemeines Wohlbefinden aus, obwohl er einigermaßen angespannt ist, da er sich von Ingrid eine Antwort auf die Frage erhofft, ob sie ihm nicht mehr vertraut. „Gernot, natürlich vertrau’ ich dir ...“ Gernot dreht sich in seinem Sessel um und sieht zu Ingrid. „Warum weichst du mir dann immer wieder aus?“ „Keine Ahnung ... irgendwie ist es nicht so leicht darüber zu sprechen.“ „Ich kenne dieses Gefühl.“ 5 Während seiner letzten Worte steht Gernot auf und kommt näher zu Ingrid, die nachdenklich aus dem Fenster sieht. Er sieht sie von der Seite an und legt ihr seine Hand auf die Schulter. Mit dem Daumen streicht er sanft über ihren Oberarm. „Eine Frage hast du mir beantwortet, aber die zweite ...“ „Bei dieser Frage bin ich dir immer wieder ausgewichen.“ „Allerdings.“ „Also?“ „Gernot, was willst du denn von mir hören?“ „Ingrid, ich sehe, dass es dir nicht gut geht, dass musst du mir nicht sagen.“ „Da du es ohnehin weißt, was soll ich dann noch sagen?“ „Sag mir, wie ich dir helfen kann. Ich will für dich da sein.“ Ingrid dreht sich etwas mehr von Gernot weg und sieht weiterhin aus dem Fenster. „Mir helfen, ... für mich da sein? Gernot, weißt du eigentlich, was du da sagst.“ „Natürlich, weiß ich das. Zweifelst du an meiner Ehrlichkeit?“ „Nein, aber ... irgendwie fällt es mir schwer, auf diese Besorgnis deinerseits zu reagieren.“ Gernot umfasst jetzt mit beiden Händen Ingrids Schulter und dreht sie zu sich. „Ingrid, ich weiß, dass ich dir immer das Gefühl vermittelt hab’, dass du mir nichts bedeutest, aber ...“ Ingrid sieht jetzt erstmals seit langem wieder zu Gernot auf. Er erkennt, dass in Ingrids Augen Tränen schimmern. Sie lässt ihn nicht weiter reden indem sie ihren Zeigefinger auf seine Lippen legt. „Lass uns damit aufhören. ... Ich geh’ jetzt besser.“ Ingrid wendet sich zum Gehen und entfernt sich zwei Schritte, doch Gernot greift nach ihrer Hand und hält sie fest. „Ingrid, bitte bleib’.“ „Gernot, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“ Ohne ein weiteres Wort verlässt Ingrid Gernots Büro. Gernot sieht ihr traurig nach und lässt sich dann nachdenklich in seinen Sessel fallen. Ingrids Worte gehen ihm nicht aus dem Kopf. Es scheint, als könnte ihm Ingrid tatsächlich nicht mehr vertrauen, obwohl sie eben das Gegenteil behauptet hat. Für Ingrid ist es offenbar undenkbar, dass Gernot für sie da sein und ihr helfen will. Der Gedanke, wie sehr er Ingrid wohl verletzt haben muss, gibt ihm einen Stich ins Herz. Noch lange Zeit sitzt Gernot auf der Couch und hängt seinen Gedanken nach, bevor er wieder an seine Arbeit geht. Doch während des Tages wandern seine Gedanken immer wieder zu Ingrid. Ebenso ergeht es ihm, als Dr. Kreutzer gegen Mittag zur Besprechung einer komplizierten Operation in seinem Büro sitzt. Normalerweise hätte Dr. Kreutzer seine ungeteilte Aufmerksamkeit gehabt, doch heute wirkt er abwesend. Während Dr. Kreutzer ihm die Krankengeschichte und die bisherigen Behandlungsmethoden des Patienten referiert, tritt Gernot ans Fenster und sieht gedankenverloren hinaus. Als er hinunter in Klinikinnenhof sieht, erblickt er Ingrid, die dort auf einer Bank in der Sonne sitzt. Sie verbringt dort wohl ihre Mittagspause. Obwohl Gernot so weit entfernt ist, erkennt er Ingrids traurigen Gesichtsausdruck. Es tut ihm 6 unendlich weh sie so zu sehen. Im Moment scheint es ihm so, als würde er Ingrid wohl nicht helfen könnte, obwohl er sich nichts sehnlicher wünscht. Doch als er sie so sitzen sieht, fasst er den Entschluss, Ingrid wieder glücklich zu machen. Er will sie wieder lachen sehen. Ingrids derzeitige Verfassung lässt Gernot keine Ruhe, also beschließt er nach Dienstschluss zu ihr zu fahren. Als er bei ihr zu Hause ankommt, ist Ingrid nicht da. Gernot wartet einige Minuten, doch Ingrid taucht nicht auf. Er will gerade wieder ins Auto steigen, um nach Hause zu fahren, als ihm einfällt, wo Ingrid sich aufhalten könnte. Er schließt die Autotür und macht sich zu Fuß auf den Weg in einen nahe gelegenen Park. Ingrid hatte ihm man erzählt, dass sie dort einen Platz hat, an den sie immer geht, wenn sie allein sein will. Manchmal sind sie auch gemeinsam dort spazieren gegangen, allerdings ist das nicht allzu oft vorgekommen. Diese Gedanken kommen Gernot, als er jetzt durch den Parkt geht. Nach wenigen Minuten erreicht Gernot die Stelle an der Ingrid vermutet; tatsächlich findet er sie dort auch vor. Gernot bleibt in einiger Entfernung stehen und betrachtet Ingrid nachdenklich. Sie sitzt auf ihrer Lieblingsbank unter einer großen Trauerweide. Dieser Baum scheint im Moment ein Sinnbild für Ingrids Stimmung zu sein. Es gibt Gernot richtiggehend einen Stich ins Herz Ingrid so zu sehen. Sie wirkt vollkommen abwesend auf ihn, einfach so, als wollte sie der Gegenwart entfliehen. Langsam nähert sich Gernot, doch er überlegt, ob er wirklich zu Ingrid gehen soll. Wer weiß wie Ingrid reagieren wird, schließlich wollte sie sich auch bisher nicht von Gernot helfen lassen. Ingrid kann ganz schön stur sein, besonders wenn jemand versucht sich in ihr Leben einzumischen. Gernot könnte es durchaus verstehen, wenn Ingrid ihn zurückweist; sie wird ihm wahrscheinlich vorwerfen, dass er sich früher auch nicht dafür interessiert hat, wenn es ihr schlecht gegangen ist. Dieser Gedanke macht Gernot am meisten zu schaffen, denn es tut ihm nach wie vor sehr weh, dass er Ingrid damals sehr verletzt hat. Er weiß, dass er ihr sehr wehgetan hat, doch er will ihr zumindest jetzt als Freund zur Seite stehen und dafür sorgen, dass es ihr besser geht und sie wieder mehr Freude am Leben hat. Trotz aller Zweifel kommt Gernot näher und legt Ingrid seine Hände von hinten auf die Schultern. Ingrid durchfährt es wie ein Blitz. Obwohl diese Hände sie so lange Zeit nicht mehr berührt haben, weiß sie sofort, wem sie gehören. Gernot lässt seine Hände liegen, wagt aber nicht etwas zu sagen. Ingrid weiß erst gar nicht, wie sie reagieren soll; was macht Gernot hier? Da Gernot glauben könnte, dass sie nicht will, dass er da ist, legt Ingrid ihre Hand auf die seine; denn auf keinen Fall will Ingrid, dass er wieder geht, ganz im Gegenteil, denn im Moment kann sie sich niemand anderen vorstellen, mit dem sie über ihre Gefühle sprechen könnte. Am Tag zuvor glaubte sie nicht mit ihm über ihre Situation sprechen zu können, doch jetzt verspricht sie sich davon eine große Erleichterung. Auch wenn es absurd kling, aber sie ist mit Gernot genau gleich umgegangen, wie Harry jetzt mit ihr. „Hallo Gernot“ Gernot schaut etwas überrascht. „Ingrid, woher weißt du...?“ 7 „...dass du es bist?“ „Ja.“ Ingrid streicht sanft mit ihrer Hand über Gernots. „Gernot, ich weiß, wie sich dein Hände anfühlen.“ „Das hast du nicht vergessen?“ „Wie könnte ich das vergessen, du kannst so ...“ Ingrid hört mitten im Satz auf zu sprechen. „Ich kann so ...?“ Gernot sieht Ingrid fragend an. Diese dreht sich etwas nach rechts, damit sie Gernot sehen kann, der noch immer hinter ihr steht. Dabei rutscht Gernots linke Hand von Ingrids Schulter in ihren Nacken. Ingrid genießt diese Berührung einen Moment lang, doch als sie Gernots fragendes Gesicht sieht, versucht sie das Thema in eine andere Richtung zu lenken. „Ach nichts, Gernot. Aber sag mal, was machst du eigentlich hier?“ „Ich hab’ dich gesucht.“ „Mich?“ „Ja.“ „Warum das?“ „Weil du mir in letzter Zeit immer wieder ausgewichen bist. Da du mir aber versichert hast, dass du mir nach wie vor vertraust, hab’ ich beschlossen, dich heute nach Dienstschluss zu besuchen.“ „Wie hast du mich denn gefunden?“ „Erst war ich bei dir zu Hause. Da du nicht da warst, hab’ ich überlegt, wo du sein könntest. Schließlich ist mir eingefallen, dass du immer hierher kommst, wenn du allein sein willst.“ „Du weißt das noch?“ „Natürlich, wir waren ja auch manchmal gemeinsam hier.“ Während seiner letzten Worte streicht Gernot sanft über Ingrids Wange. Beiden ist in diesem Moment deutlich anzusehen, dass ihre Gedanken in dieser glücklichen Zeit sind. Um das entstandene Schweigen zu brechen, wendet sich Ingrid wieder an Gernot. „Gernot, willst du dich nicht setzen?“ „Ja, sehr gern.“ Gernot geht um die Bank herum und setzt sich neben Ingrid. „Also?“ Gernot sieht Ingrid überrascht an. „Komm schon, du willst mir bestimmt einiges sagen.“ „Ich? Nicht dass ich wüsste.“ Gernot dreht sich etwas zu Ingrid und stützt dabei den Ellenbogen auf die Lehne der Bank. „Ingrid, ich will dir nicht die üblichen Floskeln und Weisheiten predigen. Du weißt so wie ich, dass diese meist nicht stimmen.“ „Was dann?“ „Ich bin einfach nur da und wenn du reden willst, werde ich dir zuhören.“ Ingrid legt ihre Hand auf Gernots und drückt diese zärtlich. 8 „Danke Gernot“ Gernot sieht in Ingrids Augen, doch sie wendet ihren Blick von ihm ab und senkt ihn auf ihre Hände, die jetzt beide in ihrem Schoß liegen. Gernot merkt, dass es Ingrid schwer fällt die Tränen zurück zu halten. „Ich hätte gleich auf dich hören sollen, Gernot, Du hast gesagt, dass Harry mich nicht glücklich machen wir. Aber ich Sturkopf musste ja wieder mit dem Kopf durch die Wand.“ „Ach was, Ingrid, du wolltest einfach glücklich sein. Ich kann das sehr gut verstehen.“ „Ja, aber wie es scheint, darf oder kann ich nicht mehr glücklich sein.“ „Das ist doch absoluter Blödsinn. Es kommt dir im Moment so vor, als hätte sich die Welt gegen dich verschworen.“ Ingrid wendet sich erst etwas von Gernot ab, damit er ihre Tränen nicht sehen kann, doch dann dreht sie sich zu ihm und lässt ihren Gefühlen freien Lauf. Unentwegt laufen jetzt Tränen über ihre Wangen. Sanft versucht Gernot, Ingrids Tränen mit der Hand wegzuwischen, doch immer wieder kommen welche. Es tut Gernot unendlich weh, Ingrid so verzweifelt zu sehen. Harry könnte er im Moment weiß Gott was antun, für die Schmerzen, die er Ingrid zugefügt hat. Aber irgendwie steigt in ihm ein schlechtes Gewissen auf, denn er glaubt, dass er sich schon viel früher um Ingrid hätte kümmern müssen. Doch in den ersten Tagen und Wochen nach der Trennung von Harry wäre es seiner Meinung nach falsch gewesen, Ingrid nahe sein zu wollen; es hätte wahrscheinlich so gewirkt, als wollte er die Situation ausnutzen, um sie wieder für sich zu gewinnen. Jetzt, wo Gernot Ingrid so sieht, kommt in ihm immer wieder die Frage auf, ob es Ingrid auch so schlecht gegangen ist, als sie sich damals von ihm getrennt hat. Ingrid hatte nach ihrer Trennung immer so gefasst gewirkt, beinahe so, als würde ihr das alles gar nichts ausmachen. Aufgrund Ingrids Entschlossenheit bezüglich ihrer Trennung wollte sich auch Gernot nichts anmerken lassen. Wenn er heute darüber nachdenkt, war es ein Fehler sich so zu verhalten. Sie haben sich gegenseitig die kalte Schulter gezeigt. Auf Gernot wirkt diese Situation von damals irgendwie grotesk; es scheint so, als wollten sie mit dieser Kälte die Trennung erzwingen, die eigentlich nicht hätte sein sollen. Es scheint beinahe so, als wäre unter die Gefühle der beiden noch kein Schlussstrich gezogen. Gernot nimmt sich fest vor, irgendwann mit Ingrid darüber zu sprechen, nur der Zeitpunkt dafür muss erst kommen. Ingrids Tränen wollen und wollen nicht versiegen. Gernot überlegt gar nicht länger, ob Ingrid sein Handeln missverstehen könnte, sondern rutscht näher zu ihr und zieht sie in seine Arme, die er beschützend um sie schlingt. Sanft streicht er mit den Händen über ihre Haare, ihren Nacken und ihren Rücken. Schon nach wenigen Momenten spürt Gernot, dass Ingrid zu entspannen beginnt. In diesem Augenblick hadert Ingrid mit sich selbst. Noch wenigen Sekunden zuvor schien für sie die Welt zusammen zu brechen, doch jetzt fühlt sie sich in Gernots Armen überaus wohl. Seine sanften Berührungen geben ihr die bereits lange ersehnte Ruhe. Sie stellt sich die Frage, warum sie nicht schon viel früher zugelassen hat, dass Gernot für 9 sie da ist. Warum war er nicht schon während ihrer Beziehung so fürsorglich und zärtlich. Lag es vielleicht daran, dass sie damals zu viel von ihm gefordert hat und er sich deshalb so von ihr zurückgezogen hat. Ingrid wird erst aus ihren Gedanken gerissen, als sie Gernots Stimme an ihrem Ohr vernimmt. „Ingrid?“ „Hmm.“ „Geht’s dir besser?“ Ingrid hebt ihren Kopf nur unmerklich von Gernots Schulter. Sanft streicht sie mit der Hand über seine Brust. „Ein bisschen, aber kannst du mich einfach noch eine Weile festhalten?“ Gernot zieht Ingrid zur Antwort noch fester an sich. „Ingrid, du wirst sehen, in ein paar Wochen ist die ganze Sache vergessen.“ „Du meinst also, die Zeit heilt alle Wunden?“ „Ja, so banal es auch klingen mag, sie heilt alle, ... fast alle Wunden.“ Ingrid hebt ihren Kopf und sieht direkt in Gernots Augen. „Welche heilen denn nicht?“ Doch Ingrid braucht von Gernot keine Antwort; also lehnt sie sich wieder an seine Schulter. Sie hat in seinen Augen eine gewisse Traurigkeit gelesen, die ihr sagt, von welchen Wunden er soeben gesprochen hat. Dieser Ausdruck in seinen Augen kommt immer dann, wenn es um das Scheitern ihrer Beziehung geht. Auch Ingrid nimmt sich vor, sobald wie möglich mit Gernot über sie beide zu sprechen. Zu lange schleppen sie beide schon so viele unausgesprochene Dinge mit sich herum. Nach langer Zeit sitzen sie zusammen auf der Parkbank. Gernot versucht Ingrid das Gefühl zu geben, dass er immer und in jeder Situation für sie da ist. Allmählich beginnt es zu dämmern und ein kühler Wind kommt auf. Gernot bemerkt sofort, dass Ingrid fröstelt und zieht sein Jackett aus. „Hier Ingrid, du erkältest dich sonst.“ Gernot hängt ihr das Jackett um die Schultern und lässt seine noch kurz auf ihren Oberarmen liegen. „Danke, ... ich denke, wir sollten uns langsam auf den Weg machen.“ „Ja, lass uns gehen.“ Gemeinsam machen sie sich auf den Weg und Gernot begleitet Ingrid noch bis vor die Haustür; dort steht schließlich auch sein Auto. Dort angekommen bleibt Ingrid stehen und wendet sich an Gernot „Gernot, ich möchte dir danken.“ „Wofür denn?“ „Dafür, dass du für mich da warst.“ „Ingrid, ich werde immer für dich da sein, nicht nur heute.“ Ingrid tritt näher zu Gernot und gibt ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. „Du bist ein wunderbarer Mann, weißt du das.“ Gernot nutz die Tatsache, dass Ingrid sehr nahe bei ihm steht dazu, um seine Hände um ihre Taille zu legen. ‚Schön, dass auch du das mal erkennst’, hätte Gernot am liebsten geantwortet, doch dies verkneift er sich, da er Ingrid nicht überrumpeln will. Stattdessen gibt Gernot 10 Ingrid nun seinerseits einen sanften Kuss auf die Wange. „Trotz des traurigen Anlasses war es schön, mit dir zusammen zu sein.“ „Ja, das war es.“ „Gute Nacht“ „Gute Nacht, Gernot“ Gernot entfernt sich einige Schritte und dreht sich dann noch einmal zu Ingrid um, die gerade dabei ist die Haustür aufzusperren. „Ähm, Ingrid“ Ingrid dreht sich zu ihm um, während Gernot wieder ein paar Schritte auf sie zukommt. Verlegen sieht er auf seine Autoschlüssel, die er nervös in seinen Händen dreht. „Ja?“ „Du hast doch morgen frei, oder?“ „Ja, wo ... warum?“ Ingrid wundert sich doch einigermaßen, dass Gernot so genau über ihren Dienstplan bescheid weiß. Doch dann fällt ihr ein, dass sie ja heute Morgen in der Klinik darüber gesprochen haben. „Ich dachte mir, wir könnten vielleicht etwas zusammen unternehmen, oder auch nur einen gemütlichen Tag miteinander verbringen.“ „Ich bin eher für den gemütlichen Tag, so etwas hatte ich schon lange nicht mehr. Aber musst du nicht arbeiten?“ „Nein, ich hab’ morgen frei.“ „Schön, ich freu mich auf morgen.“ „Ich mich auch. Ich hol’ dich dann im Laufe des Vormittags ab, in Ordnung.“ „Passt perfekt.“ „Dann bis morgen.“ „Ja, bis morgen.“ Gernot schenkt Ingrid eines seines charmantesten Lächelns und macht sich dann auf den Weg zu seinem Auto. Ingrid bleibt noch kurz stehen und sieht Gernot noch nach, bis er hinter der nächsten Ecke verschwunden ist. So, wie sie Gernot heute erlebt hat, fragt sie sich, warum sie einen Mann wie ihn nur jemals verlassen konnte. Bisher schien es ihr ziemlich sicher, dass die Trennung zwischen ihr und Gernot eine endgültige Sache ist. Doch so, wie sie in letzter Zeit miteinander umgegangen sind, wäre es durchaus denkbar, dass sie wieder eine gemeinsame Zukunft haben. Ebenso nachdenklich wie Gernot nach Hause fährt, kehrt Ingrid in ihre Wohnung zurück. Zum ersten Mal seit Monaten nimmt sie dort wieder ein Foto von sich und Gernot aus einer Schublade, welches sie und Gernot in noch glücklichen Zeiten zeigt. Als sie das Foto in ihren Händen hält und Gernot betrachtet, erinnert sie sich an jenes Gefühl, das sie hatte, als Gernot sie vorhin im Arm gehalten hat. Noch vor wenigen Monaten hatte Harry sie noch in den Armen gehalten, doch nie hat es sich so angefühlt, wie bei Gernot. Gernots Gedanken gehen in dieselbe Richtung. So, wie es sich angefühlt hat, Ingrid am heutigen Abend in den Armen zu halten, hätte er sie am liebsten gar nicht mehr losgelassen. Obwohl Ingrid immer wieder von ihren tristen Gedanken eingeholt 11 wird, steigert sich in ihr immer mehr die Vorfreude auf den bevorstehenden Tag mit Gernot. Wie verabredet holt Gernot Ingrid am späteren Vormittag von zu Hause ab. Zu Fuß machen sie sich von hier aus auf den Weg in die Stadt. Erst unterwegs erkundigt sich Ingrid bei Gernot, wohin sie gehen. „Gernot, was hast du heute eigentlich mit mir vor?“ „Ach nichts Besonderes. Du hast dich gestern ja für einen gemütlichen Tag entschieden. Was hältst du also davon, wenn ich dich erst zum Mittagessen einlade, dann hatte ich an einen Stadtbummel gedacht, den wir anschließen bei einem Kaffee ausklingen lassen. Was wir danach machen, überlass’ ich dir.“ Ingrid nickt anerkennend. „Ein Samstag ganz nach meinem Geschmack.“ „Zum Glück, den Geschmack einer Frau zu treffen, ist das schwierigste Unterfangen, das ich kenne.“ Ingrid knufft Gernot freundschaftlich in die Seite. „Hey, so kompliziert sind wir Frauen nun auch wieder nicht.“ Gernot grinst in spitzbübisch an. „Na, wir werden ja sehen.“ Nach einem halbstündigen Spaziergang erreichen sie jenes Restaurant, auf welches sie sich geeinigt haben. Zum Glück ist auf der Terrasse noch ein Tisch frei, sodass sie jetzt die Sonne richtig genießen können. Nachdem sie bestellt haben, sieht Gernot Ingrid prüfend an, denn bisher hatte er kaum Gelegenheit dazu. Ingrid bemerkt seinen Blick natürlich sofort. „Was siehst du mich so an, Gernot?“ „Ach nur so.“ „Nur so, mein lieber Gernot, gibt es bei dir nicht.“ „Bist du sicher?“ „Natürlich, ich kenn’ dich schließlich seit über 40 Jahren.“ „Dann glaub’ ich, hast du Recht.“ Ingrid muss über Gernots Feststellung lachen, was er erfreut zu Kenntnis nimmt. „Es ist schön, dich wieder lachen zu sehen; ist schon eine Weile her.“ „Tut auch gut, schließlich war mir in der letzten Zeit nicht unbedingt zum Lachen zu Mute.“ „Dann war das eben ja ein guter Anfang.“ „Hoffentlich!“ Gernot lächelt Ingrid aufmunternd an, doch Ingrid senkt traurig ihren Blick. „Du siehst müde aus.“ „Ich hab’ auch nicht besonders gut geschlafen.“ „Und auch geweint, wie ich sehe.“ „Tja, es hat sich nicht vermeiden lassen.“ Gernot schiebt vorsichtig seine Hand über Ingrids, ohne jedoch etwas zu sagen. Er will sie auf keinen Fall dazu drängen, mit ihm über ihre Gefühle zu sprechen, schließlich weiß er selbst am Besten, wie schwer diese Offenheit oft fällt. Als Ingrid Gernots Hand auf der ihren spürt, fällt es ihr schon viel leichter ihre 12 Gedanken in Worte zu fassen. Ihren Blick hält sie allerdings auch weiterhin gesenkt, denn Gernots blaue Augen und sein Blick, in dem sie so viel Liebe und Zärtlichkeit liegt, würde sie nur mehr durcheinander bringen, als sie es ohnehin schon ist. Zu ihrem Gefühlschaos nach der Trennung von Harry kommen nun ihre Gefühle für Gernot hinzu, die dabei sind, wieder zu erwachen; denn verschwunden waren sie ohnehin nie. Ingrid hat sie nur in die hinterste Ecke ihres Herzens verbannt. Nach längerem Schweigen beginnt Ingrid schließlich doch noch zu sprechen. „Weißt du, bisher ist es mir so vorgekommen, als würde ich immer an die falschen Männer geraten. Am Anfang ist alles wunderschön, doch irgendwann erreichen wir immer den Punkt, an dem andere Dinge wesentlich wichtiger werden als die Beziehung. Das war bei uns damals genau so und jetzt bei Harry genau das gleiche. Bei dir war’s die Klinik und bei Harry das Gestüt. Von meiner Ehe will ich gar nicht reden.“ Bisher hat Gernot betroffen vor sich auf den Tisch gesehen, doch jetzt sieht er auf, um etwas zu erwidern, doch Ingrid hat sich so in Schwung geredet, dass Gernot gar nicht zu Wort kommt. „Sag mal, fordere ich wirklich so viel von einem Mann, dass er immer gleich die Flucht in die entgegen gesetzte Richtung antritt?“ Dieses Ende war für Gernot zu abrupt, denn so schnell weiß er auf diese Frage keine Antwort. Überrascht sieht er Ingrid an. „Ingrid, ich bin doch nie vor dir geflüchtet.“ „So ist es mir aber oft vorgekommen. Bei jedem Problem hast du die Klinik vorgeschoben, immer war die Klinik wichtiger als unsere Beziehung. „Das war eine schwierige Zeit damals. Heute wäre das ganz anders.“ „Heute ist es aber zu spät.“ „ Ist es das wirklich, Ingrid?“ „Ach Gernot, du glaubst doch wohl selbst nicht, dass sich irgendetwas ändern würde. Du hattest damals kein Vertrauen zu mir und würdest es auch heute nicht haben.“ Entsetzt sieht Gernot Ingrid an. „Wie bitte, kein Vertrauen?“ Gernot, der Ingrid bisher gegenüber gesessen hat, steht auf und setzt sich auf den Stuhl neben Ingrid. „... kein Vertrauen, das ist doch nicht dein Ernst?“ „Doch natürlich.“ „Aber wie kommst du darauf?“ „Gernot, da gäbe es viele Beispiele. Erinnere dich zurück, hast du mich jemals ins Vertrauen gezogen, wenn du ein Problem gehabt hast, oder wenn es dir nicht gut ging.“ „Ingrid, damit wollte ich dir nicht wehtun. Alles, was ich wollte, war dich nicht zu belasten.“ „Mich belasten? Gernot, der Mann, den man liebt, ist doch keine Belastung. Im Gegenteil, es tut mehr weh, wenn man immer von den Hoffnungen und Ängsten des Partners ausgeklammert wird.“ 13 Gernot greift erneut nach Ingrids Hand, die sie ihm aber zu entziehen versucht. Doch Gernot hält sie einfach fest. „Ingrid, ich wollte dir nie wehtun!“ Gernot sucht Ingrids Blick, doch sie weicht ihm aus. „Es fällt mir schwer, dir das zu glauben.“ „Ingrid du musst mir glauben, ... wenn ich bloß wüsste, wie ich dir das beweisen kann.“ „Das musst du nicht, im Grunde ist es doch vollkommen egal.“ „Nein, ist es nicht. Ich will nicht, dass du von mir denkst, dass ich ein gefühlloser Klotz bin.“ „Das musste ich aber glauben, oder nicht. Du hast es ganz einfach bei unserer Trennung belassen, ohne genauer nach zu fragen, was meine Gründe dafür waren.“ „Ingrid, ich war davon überzeugt, dass du mich nicht mehr liebst.“ Vor lauter Überraschung wird Ingrids Stimme etwas lauter. „Wie bitte, ich soll dich nicht mehr geliebt haben.“ „Schscht ... nicht so laut.“ Gernot blickt sich um, ob jemand sie beobachtet. „Ja, das war auch so ein Punkt.“ „Was meinst du?“ „Du hast nie öffentlich zu unserer Beziehung gestanden.“ Etwas genervt lehnt sich Gernot zurück. „Fängst du jetzt schon wieder mit dem ‚Heiraten’ an?“ „Lass doch die Geschichte mit dem ‚Heiraten’, wenn es das nur gewesen wäre. Kannst du dich erinnern, dass du mich je in der Öffentlichkeit geküsst oder auch nur in den Arm genommen hast?“ Gernot fühlt sich von Ingrids Vorwürfen total überrumpelt und weiß auf die Schnelle nicht, was er ihr antworten oder entgegen halten soll. In diesem Moment tritt der Kellner an den Tisch und serviert das Essen. Mit einem kurzen Seitenblick auf Gernot stellt Ingrid fest, dass sie mit dem eben gesagten Gernot endlich zum Nachdenken gebracht hat. „Aber lassen wir diese alten Geschichten.“ Während des Essens sprechen die beiden kaum miteinander. Ingrid hat mittlerweile ein schlechtes Gewissen, weil sie Gernot eben so attackiert hat. Seither ist ihm deutlich anzusehen, dass sie ihn mit ihren Vorwürfen sehr verletzt hat. Als der Kellner den Tisch abgeräumt hat, sieht Ingrid Gernot nachdenklich an. Bisher hat er kein Wort gesagt. „Gernot ... glaubst du, dass Harry sich von mir getrennt hat, weil er mir die Last mit dem Gestüt und seiner pflegebedürftigen Schwester nicht aufbürden wollte.“ „Ich denke schon, dass dies ein Grund gewesen ist.“ „Und was noch?“ „Vielleicht hat er Angst vor seiner eigenen Courage bekommen.“ „Was meinst du damit?“ „Naja, erst wollte er sich seiner Schwester widersetzen und dich gegen ihren 14 Willen heiraten.“ „Wahrscheinlich hast du Recht.“ Gernot trinkt sein Glas aus und wendet sich wieder an Ingrid. „Wollen wir gehen?“ „Ja.“ Gernot bezahlt die Rechnung und sie verlassen das Restaurant. Einige Zeit schlendern sie schweigend nebeneinander her durch die Fußgängerzone. Ingrid beginnt schließlich zu sprechen. „Gernot, bist du mir böse?“ „Böse, nein warum?“ „Wegen dem, was ich vorhin gesagt habe.“ „Nein, deshalb bin ich dir nicht böse. Aber es gibt mir schon zu denken. Es ist das erste Mal, dass du mir so direkt gesagt hast, was ich damals falsch gemacht habe.“ „Gernot, wir haben beide viele Fehler gemacht.“ „Das mag schon sein, aber ich kann schon verstehen, dass ich dich mit meinem abweisenden Verhalten sehr verletzt habe.“ „Ich hab’ nie verstanden, warum du mehr oder weniger in zwei Welten lebst. Zum einen gibt es den Privatmann Gernot Simoni, der unglaublich liebevoll und zärtlich sein kann, und zum anderen den Professor Simoni. Mir scheint, als hättest du Angst, deinen Ruf als unfehlbaren Professor zu verlieren; ja keine Schwäche zeigen.“ „Aber jemandem, seine Liebe zu zeigen, ist doch ...“ „Man wirkt dadurch schwach, Gernot, wenn man seine Gefühle zeigt. Genau das hast du vermieden. Aber lass uns jetzt damit aufhören, dieses Gespräch führt doch zu nichts.“ Gernot bleibt abrupt stehen und hält Ingrid an der Hand fest. Überrascht dreht sich Ingrid zu Gernot um und sieht ihn fragend an. „Ich hab’ keine Angst meinen Ruf zu verlieren, wenn ich Gefühle zeige. Und ich hab’ auch keine Angst schwach zu wirken, wenn ich jemandem meine Gefühle zeige.“ „Ach das ist ja ganz was Neues. Komm lass uns jetzt weiter gehen.“ Ingrid will weiter gehen und zieht Gernot hinter sich her. Gernot lässt sich einige Schritte mitziehen, bleibt aber erneut stehen. Dieses Mal fasst er Ingrid aber um die Taille und zieht sie ganz nah zu sich; so nah, dass Ingrid seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren kann. „Gernot, was machst du?“ „Dir beweisen, dass ich kein Problem damit habe, dich in der Öffentlichkeit zu küssen.“ „Wie bi...“ Doch weiter kommt Ingrid nicht, denn Gernot verschließt ihr mit einem sanften Kuss die Lippen. Er zieht sie noch näher an sich, sodass er ihren Körper noch intensiver spüren kann. Zärtlich streichen seine Hände über Ingrids Rücken, während sein Kuss immer leidenschaftlicher wird. Ganz entgegen ihrem Willen erwidert Ingrid Gernots Kuss. Als sie sich von einander lösen, wagt Ingrid nicht zu 15 Gernot aufzusehen. Würden sie sich jetzt in die Augen sehen, wäre wohl alles gesagt. Doch Ingrid ruft sich selbst zur Ordnung: ‚Ingrid es war nur ein Beweis, dass Gernot auch anders kann. Der Kuss hat nichts zu bedeuten!’ Auch Gernot versucht auf ähnliche Weise zu sich zu kommen. Scherzhaft versuchen beide die Situation zu entschärfen, obwohl sie genau wissen, dass sich nun mit diesem Kuss endlich ihre Gefühle füreinander gezeigt haben. „Na, siehst du, ich kann auch anders.“ „Allerdings, so hab’ ich dich noch nie erlebt.“ „Kann ich dich noch von anderen Dingen überzeugen?“ „Ich denke, das reicht vorerst.“ „Na dann können wir ja weiter.“ „Ganz meine Rede.“ Mit etwas komischen Gefühlen setzen sie ihren Weg durch die Fußgängerzone fort. Gernot lässt sich ohne Widerstand von Ingrid in zahlreiche Geschäfte ziehen. Während ihrer Einkäufe vermeiden die beiden es gekonnt das Thema Gefühle anzuschneiden. Am späteren Nachmittag lassen sie sich erschöpft, mit zahlreichen Tüten bepackt, in einem Café nieder. Gernot lehnt sich total fertig in seinem Sessel zurück, verschränkt die Hände hinter dem Kopf und schließt die Augen. Ingrid sieht ihn lächelnd an. So, wie er jetzt vor ihr sitzt, nicht in steifem Hemd mit Krawatte, sondern in legerem Polo-Shirt, ist er ihr immer noch am liebsten. Wie die beiden jetzt miteinander umgehen, weit weg von jeder Hierarchie der Klinik, könnte man beinahe glauben, dass sie ein glückliches Paar sind. Dieses Bild bietet sich auch Günther Keller, der gerade das Rathaus verlässt und am Café, wo die beiden sitzen, vorbeigeht. Als er die beiden sieht, kommt er grinsend näher. „Hallo, ihr zwei.“ „Hallo, Günther.“ „Tag“ Gernot sieht Günther fragend an. „Günther, was grinst du so?“ „Habt ihr beiden mir vielleicht etwas verschwiegen?“ Gernot, in diesen Dingen immer etwas begriffsstutzig, sieht Günther nur verständnislos an, sodass Ingrid antwortet. „Ich glaub’ damit, was du von uns hören willst, können wir nicht dienen.“ „Schade, aber was nicht ist, kann ja noch werden.“ „Willst du dich nicht setzen?“ „Danke, aber ich hab noch einen Termin. Wir sehen uns.“ „Tschüss.“ So schnell, wie er gekommen ist, ist Günther auch schon wieder verschwunden. Gernot sieht Ingrid verwirrt an. „Kannst du mir erklären, was das eben war.“ Ingrid schüttelt lächelnd den Kopf. „Gernot, manchmal bist du wirklich schwer von Begriff. Günther wollte wissen, ob wir wieder zusammen sind.“ 16 „Wie bitte kommt er denn darauf.“ „Es hat ihm wohl genügt uns hier zu sehen. Stell dir vor, er hätte uns vorhin gesehen.“ „Dann hätten wir Probleme gehabt, seinen Verdacht zu widerlegen.“ „Allerdings.“ Die beiden lächeln sich vielsagend an und sehen sich tief in die Augen. Bevor sie unweigerlich wieder auf ihr voriges Gesprächsthema kommen, wird ihnen ihr Kaffee serviert. Zufrieden lehnt sich Gernot in seinem Sessel zurück und nimmt einen Schluck Kaffee und genießt die Sonne. Ingrid beobachtet ihn neugierig und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Für einen gemütlichen Tag siehst du aber ziemlich erschöpft aus.“ Ingrid legt Gernot ihre Hand auf den Unterarm. „Ich gebe es auch ehrlich zu, ich bin total kaputt. Unsere Einkaufstour war zuviel für mich. Wenn du mich in noch ein Geschäft gezerrt hättest, wäre ich wahrscheinlich zusammen gebrochen.“ „Na na, jetzt übertreib’ mal nicht.“ „Tu ich nicht, ich hab’ dir doch schon gesagt, dass es ein schwieriges Unterfangen ist, den Geschmack einer Frau zu treffen.“ „Immerhin waren wir deinetwegen in drei Geschäften.“ „Ja, aber nur, weil dir die Anzüge in den ersten beiden Geschäften nicht gefallen haben.“ „Ich hab’s dir ja nur gut gemeint. Die ersten beiden Anzüge waren nicht gerade vorteilhaft für dich.“ „Soll das heißen...?“ Gernot greift sich mit der Hand auf den Bauch, woraufhin Ingrid zustimmend nickt. „Glaub mir, ein paar neue Anzüge schaden dir nicht. Einige deiner alten machen keinen guten Eindruck mehr.“ Gernot setzt sich wieder auf und kommt somit näher zu Ingrid. „So, das ist dir also aufgefallen?“ „Natürlich. Es geht doch nicht, dass mein Chef mit zu engen Anzügen rum läuft.“ Während ihrer letzten Worte hat Gernot seine Hand auf Ingrids gelegt und streicht sanft mit den Fingern über ihre Haut. Gernot sieht sie mit wissendem Blick an. „Dein Chef?“ „Ja, mein Chef.“ Auch Ingrid legt jetzt ihre Hand auf Gernots. Wieder begegnen sich ihre Blicke. Wie es scheint hatte dieser gemeinsame Tag mit seinen Ereignissen eine große Wirkung auf die beiden. „Sollten wir uns nicht langsam auf den Weg machen?“ Gernot nickt, lässt Ingrid aber nicht aus den Augen. Auf dem Weg zurück zu Ingrids Wohnung unterhalten sie sich darüber, dass sie heute zum ersten Mal gemeinsam einkaufen gewesen sind. Diese Unterhaltung versetzt beide erneut in eine sehr nachdenkliche Stimmung. Dort angekommen stellt Gernot seine Einkaufstüten auf den Rücksitz seines Autos und dreht sich zu Ingrid um. Er schließt die Tür und 17 lehnt sich gegen das Auto. Ingrid sieht ihn fragend an. „Machst du noch einen Spaziergang mit mir?“ „Ja, sehr gern.“ Lange gehen sie wieder schweigend nebeneinander her, bis sie schließlich wieder an der Trauerweide ankommen. „Jetzt sind wir schon wieder hier.“ „Ja, irgendwie komisch.“ Gernot lehnt sich an den Baumstamm und sieht Ingrid nachdenklich an. „Ingrid, darf ich dich etwas fragen?“ „Sicher?“ „Warst du nach unserer Trennung auch hier?“ „Ja, sehr oft sogar.“ Ingrid stellt sich neben Gernot und lehnt sich ebenfalls gegen den Stamm. „Ich hatte immer den Eindruck, als würde dir unsere Trennung nichts ausmachen.“ „Wie kommst du denn darauf, Gernot?“ „Du hast immer so gefasst gewirkt.“ „Damals war es viel schlimmer als jetzt bei Harry.“ „Davon hab’ ich aber nichts gemerkt.“ „Das könnte ich auch über dich sagen. Du hast alles einfach so hingenommen.“ „Ich weiß ... dass ich nicht um deine Liebe gekämpft habe, war der größte Fehler meines Lebens und ich bereue es bis heute. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte ...“ „Kannst du aber nicht.“ „Es hat sehr wehgetan, als du dich von mir getrennt hast, besonders weil alles so plötzlich passiert ist. Ich hab’ erst gedacht, dass du das nicht ernst meinst. Dann hast du mir so die kalte Schulter gezeigt, dass ich mir sicher war, dass du mich nicht mehr liebst.“ „Ich hab’ dir vorhin schon gesagt, dass ich mich von dir getrennt habe, obwohl ich dich noch geliebt habe. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten, so neben dir her zu leben.“ „Ich hab’ dann genau so reagiert wie du, weil ich mir nicht die Blöße geben wollte, dass mich deine Entscheidung sehr verletzt hat.“ „Deshalb hattest du ja auch was mit anderen Frauen.“ „Ja, aber das hatte alles nichts zu bedeuten.“ „Trotzdem hat es wehgetan.“ „Denkst du, mir hat es nicht wehgetan, dich mit Harry zu sehen.“ „Das hab’ ich gesehen, als ich dir gesagt habe, dass er mir einen Heiratsantrag gemacht hat.“ Ingrid stößt sich vom Baum ab, kommt zu Gernot und bleibt ganz nah vor ihm stehen. Als sie jetzt hoch sieht, kann sie in seinen Augen lesen, dass er sie heute wahrscheinlich mehr liebt als je zuvor. Sanft streicht sie ihm mit der Hand über die Brust. Gernot legt seine Hand auf ihre und zieht sie mit der anderen näher an sich. Er will sie küssen, doch Ingrid weicht ihm aus und lehnt ihren Kopf an seine 18 Schulter. Gernots Hand wandert über Ingrids Rücken bis er sie in ihrem Nacken liegen lässt. „Gernot.“ „Hmm.“ „Versprichst du mir etwas?“ „Alles was du willst.“ Ingrid drückt sich ein Stück von Gernot weg. „Vergiss, was heute passiert ist, über was wir gesprochen haben und was sonst noch ...“ Gernot sieht Ingrid schockiert an. „Ingrid, das kannst du nicht von mir verlangen.“ „Doch Gernot, es ist besser für uns beide.“ „Aber ...“ Ingrid legt Gernot ihren Zeigefinger auf die Lippen. „Nicht, du hast es versprochen.“ Als sie ihren Finger wegnimmt, haucht sie ihm einen sanften Kuss auf die Lippen und geht dann davon. Gernot ist überrascht von Ingrids Reaktion, dass er wie angewurzelt stehen bleibt und Ingrid nachsieht. „Nein Ingrid, dieses Mal nicht. Ich kämpfe um deine Liebe.“ Am nächsten Morgen klingelt es schon recht zeitig an Ingrids Tür. Als sie aufmacht, glaubt sie ihren Augen nicht zu trauen. Gernot hält ihr eine Tüte entgegen. „Gernot.“ „Morgen, Ingrid“ „Was ist das?“ „Frische Brötchen.“ „Was machst du hier, vor allem um diese Zeit? Du kommst doch sonst auch nicht aus dem Bett.“ „Ich will mit dir frühstücken und für dich steh’ ich, wenn es sein muss, auch noch früher auf.“ „Na, dann komm erst mal rein.“ Während des Frühstücks will Gernot von Ingrid wissen, was sie heute vorhat. Da sie nichts geplant hat, überredet er sie mit ihm schwimmen zu gehen. Am späteren Vormittag fahren sie an einen nahe gelegenen See, wo sie gemeinsam den Tag genießen. Nach einem langen Aufenthalt im Wasser liegen sie anschließend nebeneinander auf der Liegewiese. „Worüber denkst du nach?“ „Nichts Besonderes.“ „Ingrid, ich sehe es dir an der Nasenspitze an ... du grübelst die ganze Zeit schon über etwas Bestimmtes nach.“ „So, sieht man mir das an?“ Ingrid dreht sich auf die Seite und sieht Gernot an. „Ja, ob du’s glaubst oder nicht, ich kenn dich mittlerweile ganz gut.“ 19 Auch Gernot, der bisher auf dem Rücken gelegen hat, dreht sich jetzt zu Ingrid. „So, so.“ „Ja, immerhin arbeiten wir seit über 35 Jahren zusammen. Und einige Jahre davon haben wir auch sehr glücklich miteinander verbracht.“ Jetzt liegen sich die beiden gegenüber und sehen sich tief in die Augen. Offensichtlich denken beide über Gernots letzten Satz nach. Nachdem Gernot diese Worte gesagt hat, überlegt er, ob es wohl richtig gewesen ist, dies zu sagen. Eigentlich hatte er sich vorgenommen einen Neuanfang zu wagen, ohne alte Geschichten aufzuwärmen. Eben solche Gedanken hat Ingrid, denn auch sie hat mittlerweile wieder die Hoffnung, wieder eine gemeinsame Zukunft mit Gernot zu haben. Ingrid zögert erst, doch dann legt sie vorsichtig ihre Hand auf die seine. Sie wagt es allerdings nicht in Gernots Augen zu sehen. Was sie dort sehen könnte, nämlich die Erwiderung ihrer Gefühle, wirkt auf Ingrid beängstigend. „Ja, wir hatten sehr schöne Zeiten.“ Gernot bemerkt Ingrids Unsicherheit und zieht seine Hand unter ihrer hervor und streicht nun seinerseits sanft mit seinen Fingern über Ingrids Unterarm. Überrascht durch diese plötzliche Geste Gernots blickt Ingrid hoch und sieht direkt in Gernots Augen; er hat sie die ganze Zeit über angesehen. Seine blauen Augen scheinen Ingrids Blick regelrecht festzuhalten. Um das entstandene Schweigen nicht unangenehm werden zu lassen, knüpft Gernot an ihr voriges Gespräch an, denn jetzt darüber zu sprechen, was eben passiert ist, scheint Gernot noch zu früh. „Also, worüber hast du nachgedacht?“ „Über die Klinik.“ „Die Klinik?“ „Ja, soll vorkommen.“ „Die Klinik fesselt also deine Gedanken, obwohl ein höchst attraktiver und interessanter Mann neben dir liegt.“ Ingrid gibt Gernot einen sanften Klaps auf die Schulter. „Eingebildet bist du überhaupt nicht, oder?“ „Nein, aber gibt es denn in der Klinik so etwas Interessantes?“ „Ich denke darüber nach, wie wir mit dem Engpass umgehen, den Dr. Brentano und Arzu verursacht haben.“ „Ach ja, unsere zwei kranken Turteltäubchen.“ „Sag’s ruhig, Gernot!“ „Was?“ „Was du dir eben gedacht hast.“ „Was hab’ ich denn gedacht?“ „Dass genau so etwas passiert, wenn man privates und dienstliches vermischt.“ „Woher weißt du das, das hab’ ich tatsächlich gedacht.“ „Tja, mein lieber Gernot, auch ich kenn’ dich besser, als du denkst.“ „Aber es stimmt doch, wenn Paare zusammen arbeiten, sind die beiden meist auch zur selben Zeit krank. Erinnerst du dich nicht, du hast mich damals auch 20 mit Grippe angesteckt.“ „Wie bitte, was hab’ ich ... ich glaub’, ich muss deinem Gedächtnis etwas auf die Sprünge helfen. Du warst schon vor mir sterbenskrank und hast mich dann angesteckt.“ Gernot sieht Ingrid erst ertappt und dann mit einem spitzbübischen Lächeln an. „Kann sein, dass ich da etwas durcheinander gebracht hab’.“ Ingrid erwidert sein Lächeln. „Ja, das denke ich auch.“ Gernot beugt sich etwas näher zu Ingrid und umfasst sanft ihre Taille, sodass Ingrid erst gar nicht weiß, wie ihr geschieht. „Wenn ich mich zurückerinnere: der Tag mit dir im Bett war aber sehr reizvoll.“ „Ja, das war er.“ Gernot senkt kurz seinen Blick und überlegt, ob er Ingrid trotz ihrer Abmachung auf ihren gestrigen Kuss ansprechen soll. „Ingrid, gestern, als wir uns ...“ Gernot kommt nicht dazu weiter zu sprechen, denn sein Handy klingelt in seiner Tasche. Resignierend lässt er den Kopf sinken, um gleich wieder aufzusehen und Ingrid entschuldigend anzublicken. Er dreht sich erst um, um sein Handy aus der Tasche zu holen, als Ingrid ihn aufmunternd anlächelt. Diese dreht sich gleich darauf auf den Rücken und sieht nachdenklich in den Himmel, während Gernot telefoniert. Wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, ist ihr dieser Anruf gerade recht gekommen. Gernots Berührungen eben haben sie etwas aus dem Konzept gebracht. In den letzten Tagen ist eine zärtliche Berührung öfters vorgekommen, doch die gerade eben unterschied sich doch deutlich von den vorangegangenen. So, wie er seinen Arm um ihre Taille geschlungen hat, hatte er wohl die Absicht, Ingrid an sich zu ziehen und zu küssen. Ingrids Gedanken kreisen jetzt darum, wie sie wohl auf Gernots Verhalten reagiert hätte. Schon einige Minuten zuvor, als sie sich so tief in die Augen gesehen haben, war sich Ingrid nicht sicher, ob sie Gernot widerstehen kann, sollte er einen Annäherungsversuch machen. Der Kuss vom Vortag war doch etwas anderes, oder? Ganz in Gedanken versunken bemerkt Ingrid nicht, dass Gernot schon lange aufgehört hat zu telefonieren. Er hat sich zur Seite gedreht und den Kopf in die Hand gestützt; so betrachtet er sie jetzt nachdenklich, bis er sie mit seiner sonoren Stimme ins Diesseits zurückholt. „Wo sind deine Gedanken jetzt schon wieder?“ „Bei dem, was du vorhin gesagt hast.“ „Was hab’ ich denn gesagt?“ „Dass ein höchst attraktiver und interessanter Mann neben mir liegt und ich an die Klinik denke.“ „Das war doch nur ein Scherz!“ Ingrid setzt sich auf, schlingt die Arme um ihre Beine und sieht auf den See hinaus. „Trotzdem hat es mir zu denken gegeben.“ „Warum?“ 21 „Erinnert irgendwie an früher.“ „Immer, wenn ich bei dir war, waren deine Gedanken ganz woanders, ... meist in der Klinik.“ „Ingrid, ich weiß ... ich hab’ dir mit meinem Verhalten sehr wehgetan.“ „Ja, das hast du.“ Gernot setzt sich auf, rutscht näher zu Ingrid und stützt seine Hand hinter ihrem Rücken auf. „Ingrid, mir tut das alles unendlich leid, ... wenn ich könnte, würde ich alles rückgängig machen.“ „Das ändert auch nichts daran, dass alles so wehgetan hat.“ „Ich will dir nicht mehr wehtun!“ Ingrid erwidert nichts auf Gernots Worte. „Ingrid ...“ „Und wie stellst du dir das vor, Gernot?“ „Wie ich mir das vorstelle?“ „Ja.“ Gernot rutscht noch näher zu Ingrid und streicht sanft mit den Fingern über ihre Schulter, die beinahe seine Brust berührt. Mit ebenso großer Zärtlichkeit berührt er mit seinem Fingerrücken Ingrids Wange und küsst ihren Nacken. Bei diesen Berührungen läuft Ingrid ein angenehmer Schauer über den Rücken. Nach einigem Zögern dreht sie sich aber doch zu Gernot. So, wie er sie jetzt ansieht, fesselt er ihren Blick richtiggehend. Ingrid fehlt die Kraft, ihren Blick von seinen blauen Augen zu lösen. Mit zitternder Stimme versucht sie, der verfänglichen Situation zu entgehen. „Gernot, sieh mich nicht so an.“ „Wie denn?“ „So ...“ Ingrid fehlen die Worte; sie weiß nicht, wie sie ihr Unbehagen formulieren soll. Gernot versucht es ihr zu erleichtern, indem er sie charmant anlächelt. „Gernot ... du hast mich schon immer vollkommen durcheinander gebracht, wenn du mich so angesehen hast.“ „Vielleicht ist es genau das, was ich mir wünsche.“ Während seiner Worte nähert sich Gernot immer mehr Ingrids Lippen, bis er sie hauchzart berührt, aber es nicht wagt sie intensiver zu küssen. Ingrid braucht einen Moment, um nach dieser Berührung ihre Gedanken zu ordnen. Etwas unsicher flüstert sie. „Was wünscht du dir denn?“ Ganz nah an ihren Lippen antwortet Gernot mit rauer Stimme, ohne seinen Blick von ihren Augen zu lösen. Er hebt seine Hand und fährt zärtlich mit den Fingern über Ingrids Wange und ihren Hals, wo er seine Hand liegen lässt und nur mit dem Daumen weiter Ingrids Haut streichelt. „Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass du dich irgendwann wieder in mich verliebst.“ Dieser Hoffnung verleiht Gernot mit einem weiteren zärtlichen Kuss Nachdruck. „Irgendwann?“ 22 „Ja, ich werde warten. Für mich wird es nie mehr eine andere Frau geben als dich. Wenn ich nicht mit dir glücklich werden kann, bleibe ich lieber für den Rest meines Lebens allein.“ Jetzt ist es Ingrid, die sanft über Gernots Gesicht streicht und sich seinen Lippen nähert. „Warum so lange warten?“ „Ich weiß doch nicht, ob ...“ „... ob ich in dich verliebt bin?“ Unsicher nickt Gernot bejahend. „Ich bin nicht in dich verliebt, Gernot ...“ Gernot senkt enttäuscht den Kopf. „... ich liebe dich.“ Gernot glaubt sich verhört zu haben, daher hebt er überrascht seinen Kopf und sieht Ingrid verwirrt an. An seiner in Falten gelegten Stirn erkennt Ingrid, dass sie ihn nun durcheinander gebracht hat. Sie lächelt ihn aufmunternd an und haucht ihm einen zarten Kuss auf die Lippen. „Was hast du eben gesagt?“ „Dass ich dich liebe.“ Ingrids Liebeserklärung ruft ein unbändiges Strahlen in Gernots Augen hervor. Ihre Worte versetzen Gernot in einen wahren Freudentaumel. Impulsiv legt er seine Arme um sie und zieht sie näher an sich. Sanft beginnt er Ingrid zu küssen, was sie sofort erwidert. Während seine Hände zärtlich über ihren Körper streicheln, wird sein Kuss immer verlangender. Nach einem langen, leidenschaftlichen Kuss lösen sich die beiden voneinander. Ingrid lehnt ihre Stirn an Gernots und streicht sanft mit der Hand über seine Brust. „Gernot, was machen wir hier eigentlich?“ Gernot legt eine Hand in Ingrids Nacken, wo er sie sanft streichelt und mit der anderen schiebt er ihr Kinn hoch, sodass er ihr in die Augen sehen kann. „Ich tu das, was mir seit drei Jahren fehlt. Was du machst, weiß ich nicht. Aber ich finde, du tust genau das Richtige.“ „Ach so, ..., dann sollten wir aber auf keinen Fall damit aufhören.“ „Ingrid, ich ...“ Ingrid schüttelt sacht den Kopf und legt ihren Zeigefinger auf Gernots Lippen. „Küss mich!“ Da sie ohnehin schon so viel geredet haben, zieht Ingrid Gernot jetzt in ihre Arme und küsst ihn zärtlich. Sanft aber bestimmt drückt Gernot Ingrid zurück auf den Boden. Während seine Lippen ihren Hals und ihr Dekolleté mit sanften Küssen bedecken, streicheln seine Hände zärtlich über ihren Körper. Nach einiger Zeit drückt Ingrid Gernot ein Stück von sich weg. „Gernot, was sollen denn die Leute denken!“ Gernot wirft einen prüfenden Blick in die nähere Umgebung. „Ach, die paar Leute, lass sie doch denken, was sie wollen; die sind doch nur neidisch. Oder soll ich damit warten, bis wir zu Hause sind?“ Ein spitzbübisches Lächeln zeigt sich auf Gernots Gesicht. Bevor Ingrid noch 23 irgendetwas erwidern kann, verschließt Gernot ihr die Lippen mit einem Kuss. Gernot und Ingrid versinken richtiggehend im Rausch ihrer Gefühle. Den jeweils anderen in diesem Moment nicht zu küssen, oder nicht zu berühren scheint geradezu undenkbar. Nach einer schier endlosen Zeit der gegenseitigen Zärtlichkeiten dreht sich Gernot auf den Rücken und zieht Ingrid noch näher zu sich. Ingrid lehnt ihren Kopf an Gernots Schulter und legt ihren Arm um ihn. Sanft streicht Gernot mit den Fingern über Ingrids Arm, der auf seiner Brust liegt. Er wünscht sich nichts mehr, als dass er diesen Augenblick für immer festhalten könnte. Ohne viele Worte liegen sie eng aneinander gekuschelt und genießen ihre neu gewonnene Nähe. Während Gernot durch das eben geschehene immer ruhiger und zufriedener wird und schließlich sogar einschläft, kreisen Ingrids Gedanken in ihrem Kopf. Obwohl sie sich in Gernots Armen sehr wohl fühlt, wächst in ihr der Wunsch etwas allein zu sein. Vorsichtig windet sie sich schließlich aus Gernots Armen, um ihn nicht aufzuwecken und sucht leise ihre Sachen zusammen. Nach wenigen Minuten ist sie, von Gernot unbemerkt, vom Seeufer verschwunden. Einige Zeit später wacht Gernot auf und greift suchend neben sich. Überrascht durch Ingrids Abwesenheit setzt sich Gernot auf und blickt sich suchend um, doch weit und breit ist nichts von ihr zu sehen. Erst jetzt bemerkt Gernot, dass Ingrids Sachen auch verschwunden sind. Nur ein Gedanke schießt Gernot in diesem Moment durch den Kopf: Bereut Ingrid etwa, was zwischen ihnen passiert ist? Auch er packt jetzt seine Sachen zusammen und überlegt, ob er nicht bei Ingrid vorbei fahren soll. Doch diesen Gedanken verwirft er gleich wieder. Er will Ingrid auf gar keinen Fall zu irgendetwas drängen; ganz im Gegenteil, denn im Grunde kann er sie schon verstehen, nachdem, was alles in letzter Zeit passiert ist. Daher beschließt Gernot nach Hause zu fahren. Ingrid würde sich bestimmt melden, wenn ihr danach ist. Zu Hause angekommen verräumt Gernot seine Badesachen und macht sich etwas zu essen. Nach dem Essen setzt er sich mit einem Glas Rotwein auf die Terrasse und genießt die letzten Sonnenstrahlen. Wieder schweifen seine Gedanken zu Ingrid ab: wo sie jetzt wohl ist, was sie gerade macht, ob sie auch an ihn denkt. Wie gerne würde er sie jetzt in seine Armen nehmen und den Sonnenuntergang mit ihr gemeinsam erleben. Sehnsüchtig schließt Gernot die Augen und hofft, dass er bald von Ingrid hören wird. Gernot ist so in Gedanken versunken, dass er nicht bemerkt, dass jemand die Terrasse betritt: es ist Ingrid. Leise kommt sie näher und bleibt hinter Gernot stehen. Um Gernot aus seinen Gedanken zu holen, legt ihm Ingrid ihre Hände auf die Schultern. Sofort strafft sich Gernots Oberkörper, denn er weiß, wessen Hände ihn gerade berührt haben. Ingrid schiebt ihre Hände unter Gernots, an den obersten Knöpfen geöffnetes, Hemd und streicht sanft über seine Brust. Gernot ergreift mit beiden Händen Ingrids Unterarme und hält sie fest auf seiner Brust; woraufhin Ingrid ihn zärtlich auf die Schläfe küsst. Gernot dreht den Kopf zu Ingrid und lehnt seine Stirn an ihre Wange. „Hallo, mein Schatz.“ „Schön, dass du endlich da bist.“ 24 Ingrid richtet sich auf und will sich auf einen Stuhl setzen, doch Gernot hält sie fest. Überrascht sieht Ingrid ihn an. „Gernot, ich würde mich gern hinsetzen.“ Spitzbübisch grinst Gernot Ingrid an. „Ich weiß, aber der Stuhl ist so weit weg.“ Wissend, was jetzt kommt, lächelt Ingrid Gernot an. Sogleich zieht Gernot Ingrid auf seinen Schoß und schlingt die Arme um sie. Ingrid sieht tief in Gernots blaue Augen, während sie sanft mit der Hand über seine Wange streicht. „Tut mir leid, dass ich vorhin verschwunden bin, ohne etwas zu sagen, aber ...“ „Du wolltest etwas allein sein?“ Ingrid nickt etwas überrascht, denn von Gernot ist sie es nicht gewohnt, dass er weiß, was in ihr vorgeht. „Das hab’ ich mir schon gedacht. Aber trotzdem ...“ Gernot zögert, doch Ingrid sieht ihn aufmunternd an, sodass er gleich weiter spricht. „... trotzdem hatte ich Angst, dass du es dir vielleicht doch anders überlegst und nicht wieder mit ...“ „mit dir zusammen sein will.“ „Ja.“ Ingrid lehnt ihre Stirn an Gernots und streicht sanft mit ihren Fingern über seinen Hals. „Ach Gernot, denk’ nie wieder so etwas. Ich wünsche mir nichts mehr, als mit dir zusammen zu sein.“ Gernot sieht Ingrid freudestrahlend an. „Es ist schön so etwas zu hören.“ „Wenn du willst, sag ich dir das ab jetzt täglich.“ Zur Bestätigung ihrer Worte gibt sie Gernot einen zärtlichen Kuss, woraufhin Gernot sie noch näher zu sich zieht und sie leidenschaftlich küsst. Nach einem langen Kuss sieht Ingrid Gernot nachdenklich an. „Was ist denn los mein Schatz?“ „Ich hab’ dir heute Nachmittag nicht die Wahrheit gesagt.“ „Was meinst du?“ „Ich hab’ dir doch gesagt, dass ich nicht in dich verliebt bin, weil ...“ „weil du mich liebst, ja.“ „Ja genau, ich spüre jetzt aber, dass es nicht stimmt.“ Gernot sieht Ingrid schockiert an. Was will sie ihm bloß sagen? „Jetzt schau doch nicht so. Was ich damit sagen will ist, dass ich im Moment sehr verliebt in dich bin. Es kommt mir so vor, als wäre ich frisch verliebt. Meine Gefühle dir gegenüber haben sich im Vergleich zu früher sehr verändert. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich dich in letzten Tagen von einer ganz anderen Seite kennen gelernt habe.“ „Ingrid, für das, was du gerade gesagt hast, liebe ich dich noch ein bisschen mehr, wenn das überhaupt noch möglich ist.“ Gernots und Ingrids Liebesgeständnis folgen wieder ein langer zärtlicher Kuss und 25 etliche Streicheleinheiten. Wenig später schielt Ingrid auf Gernots Weinglas. „Sag mal, bekomme ich auch ein Glas Wein?“ „Sehr gern, auch wenn ich dich nur ungern loslasse. Ich hole uns eine neue Flasche aus dem Keller.“ Gernot verschwindet sogleich im Haus und kehrt nach einigen Minuten mit einer Flasche Wein zurück. Er setzt sich neben Ingrid, die sich inzwischen ein Glas geholt hat und macht sich daran, die Flasche zu öffnen; den Korkenzieher betätigt er allerdings etwas zu kraftvoll, sodass ein gehöriger Spritzer auf seinem Hemd landet. Ingrid kann sich ein Lachen nicht verkneifen. „Du bis heute aber stürmisch!“ Gernot stellt die Flasche beiseite und tritt näher zu Ingrid. Er zieht sie aus ihrem Stuhl hoch und schlingt die Arme um sie. „So, bin ich das?“ „Ich hab’ schon den Eindruck, dass ...“ Weiter kommt Ingrid nicht, denn Gernot verschließt ihr mit einem zärtlichen Kuss den Mund. Ingrid drückt Gernot jedoch schnell wieder von sich weg. „Gernot, zieh dein Hemd aus.“ Gernot sieht Ingrid überrascht an. „Da sagst du ich bin stürmisch. Was bist du dann?“ Ingrid zieht empört eine Augenbraue nach oben und sieht Gernot streng an. „Vergiss deine amourösen Gedanken. Du sollst dein Hemd ausziehen, damit ich den Fleck rauswachen kann, sonst ...“ Gernot streicht sanft mit der Hand über Ingrids Rücken. „Schade“, grinst Gernot spitzbübisch. „Also, was ist jetzt. Die Rotweinflecken!“ „Du bist mal wieder eisern!“ Gefügig beginnt Gernot sein Hemd aufzuknöpfen. „So bin ich eben.“ Ingrid greift nach Gernots Hemd und haucht ihm noch einen sanften Kuss auf den Mund, bevor sie damit im Haus verschwindet. Sie ist gerade dabei den Rotweinfleck zu entfernen, als Gernot ebenfalls die Küche betritt. Langsam kommt er näher und betrachtet Ingrid mit liebevollem Blick. Schließlich tritt er hinter sie und umfasst ihre Taille mit den Händen. Er beugt sich vor und küsst sanft ihren Hals. „Ingrid.“ „Hmm.“ Ingrid dreht sich in Gernots Armen um und sieht in seine unglaublich blauen Augen. Gernot zieht sie noch näher zu sich und beugt sich noch weiter vor und küsst wieder zärtlich Ingrids Hals. Betört schließt Ingrid die Augen und genießt Gernots Zärtlichkeiten. Er verharrt an Ingrids Ohr und flüstert mit erotischer Stimme. „Ich glaub’, du hast auch einen Fleck auf deiner Bluse.“ Etwas verwirrt sieht Ingrid zu Gernot auf und im nächsten Moment auf ihre Bluse. „Hab’ ich gar nicht.“ „Doch bestimmt.“ 26 Zur Bekräftigung küsst Gernot Ingrid zärtlich auf den Mund, während seine Finger vorsichtig ihre Bluse aufknöpfen und diese über ihre Schulter schiebt. Erneut wandern seine Lippen Ingrids Hals und ihre Schulter entlang. Ingrid legt ihre Arme um Gernot und streichelt sanft über seinen Nacken. Ingrids Berührungen rufen in Gernot ein Glücksgefühl hervor, welches er seit Jahren nicht mehr verspürt hat. Impulsiv hebt Gernot Ingrid auf seine Arme und verschwindet wenig später mit ihr in seinem Schlafzimmer. Nach einer leidenschaftlichen Nacht voller Liebe und Zärtlichkeit, erwacht Gernot und dreht sich sehnsüchtig zu Ingrid um. Jetzt erst bemerkt er, dass Ingrid wach neben ihm liegt. Vorsichtig rutscht er näher zu ihr und legt seinen Arm sie. „Schade, du bist schon wach.“ „Warum schade?“ „Ich hätte dich nur zu gern wach geküsst. Aber du hättest mich auch aufwecken können.“ Ingrid dreht sich jetzt zu Gernot und streicht sanft mit den Fingern über seine Wange. „Ich wollte ein bisschen nachdenken.“ „Nachdenken, worüber?“ „Über uns.“ Gernot erwidert vorerst nichts, sondern versucht nur in Ingrids Augen zu lesen. „Wovor hast du Angst?“ Ingrid senkt ertappt ihren Blick. „Davor, dass die Klinik wieder alles kaputt macht.“ Gernot schiebt seine Hand unter Ingrids Kinn und hebt ihren Kopf, sodass er ihr in die Augen sehen kann. „Ingrid, nichts und niemand wird sich mehr zwischen uns drängen, das verspreche ich dir. Ich werde dafür sorgen, dass du glücklich bist, hörst du.“ „Du bist wunderbar, weißt du das.“ „Ich weiß nur, dass ich dich liebe.“ „Ich liebe dich auch.“ Dieser Liebeserklärung folgt ein langer leidenschaftlicher Kuss und ein Morgen voller Zärtlichkeit, nachdem sich beide so lange nicht in den Armen halten durften. Beflügelt durch ihre neu aufkeimenden Gefühle hält sie in der Folge nichts mehr davon ab, ihre Gefühle füreinander nicht mehr vor anderen zu verbergen. Daher dauert es auch nicht lange, bis in der Klinik diese Neuigkeit die Runde gemacht hat. Einige Tage später gehen Gernot und Ingrid abends miteinander spazieren. Gernot hat seinen Arm um sie gelegt und ganz nah an sich gezogen. Lange Zeit gehen sie schweigend nebeneinander her. Immer wieder wirft Gernot Ingrid einen neugierigen Blick zu, doch dieser bemerkt davon nichts, da sie vollkommen in Gedanken versunken ist. Erst durch Gernots Stimme wird sie aus diesen gerissen. „Was macht dich so nachdenklich?“ Überrascht sieht Ingrid zu Gernot auf. „Wie?“ „Ich hab’ gefragt, was dich so nachdenklich mach.“ 27 „Wie kommst du darauf?“ Gernot bleibt stehen, hält Ingrids Hand fest und wartet, bis sie sich zu ihm dreht. „Wie ich darauf komme? Na ja, ich hab’ dich jetzt die ganze Zeit im Arm gehalten, du hast mich nicht eines Blickes gewürdigt, du hast kein Wort gesprochen und du hattest so einen gewissen Gesichtsausdruck, den du nur hast, wenn du über etwas nachdenkst. ... Daraus hab’ ich geschlossen, dass du mit deinen Gedanken nicht bei mir bist.“ Bei Gernots gespielt gekränktem Gesichtsausdruck kann sich Ingrid ein Lächeln nicht verkneifen. Schnell beugt sie sich etwas vor und haucht ihm einen sanften Kuss auf die Lippen. „Du hast Recht, aber auch nicht.“ Gernot legt augenblicklich die Stirn in Falten. „Das musst du mir erklären.“ „Du hast gesagt, ich war mit meinen Gedanken nicht bei dir. Das stimmt nicht, ich hab’ an dich gedacht.“ „Warum hast du dann so traurig geschaut?“ „Mir sind die letzten Tage immer wieder in den Sinn gekommen.“ Nach Ingrids Worten fühlt sich Gernot plötzlich gar nicht mehr so wohl in seiner Haut. Ihn beschleicht ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, dass Ingrid wieder an ihrer Beziehung zweifeln könnte. „Die letzten Tage waren doch sehr schön.“ „Schon, sehr schön sogar, aber ...“ „Aber?“ „Ich frage mich ... Gernot, wolltest du ... ich meine, hattest du von Anfang an die Absicht, dass wir beide ...“ Gernot sieht Ingrid kopfschüttelnd an. Er kann kaum glauben, was sie soeben gesagt hat. Es tut ihm weh, dass Ingrid so an seiner Ehrlichkeit zweifelt. „Weißt du Gernot, dieser Gedanken kommt mir immer wieder.“ „Ingrid, als ich vor ein paar Tagen abends zu dir gekommen bin, was das aus Sorge. Ich hab’ so lange Zeit mit angesehen, dass es dir nicht gut geht. Die Angst, dass du mein Verhalten missverstehen könntest war sehr groß. In den letzten Tagen wollte ich nichts anderes erreichen, als dass es dir wieder besser geht. Mein Eindruck war der, dass dein Wohlbefinden sich in den letzten Tagen verändert hat. Ebenso ist es auch mir ergangen. Schon nach kurzer Zeit hatte ich das Gefühl, dass ich mich viel wohler fühle, wenn ich mit dir zusammen bin.“ Ingrid hat Gernot bisher aufmerksam zugehört. Doch jetzt tritt sie noch näher zu ihm und will ihn, gerührt durch seine Worte, unterbrechen. Gernot lässt sich jedoch nicht davon abbringen, Ingrid noch mehr zu sagen. Er greift nach ihrer Hand und zieht sie zu einer nahen Bank. Nachdem sie sich beide gesetzt haben, hält Gernot Ingrids Hand auch weiterhin fest. „Ingrid, ich hatte nie die Absicht, dich zu irgendetwas zu drängen.“ „Das hab’ ich doch gar nicht gesagt.“ „Ich weiß, aber ich will dieses Thema nicht einfach so im Raum stehen lassen.“ 28 „Aber ...“ „Ingrid, in der Zeit nach unserer Trennung hab’ ich immer nach einem Weg gesucht, um dir zu zeigen, was ich für dich empfinde. Ich hab’ nämlich nie aufgehört dich zu lieben.“ „Warum hast du nie etwas gesagt ... Gernot, mir ist es doch nicht anders ergangen.“ „Ich hätte mir nichts mehr gewünscht, aber ... ich habs einfach nicht geschafft. Du weißt ja, wie schwer es mir fällt ...“ „Über deine Gefühle zu sprechen, ich weiß.“ Traurig sieht Ingrid auf ihre Hände, doch Gernot schiebt sanft ihr Kinn nach oben und gibt ihr einen sanften Kuss. „Ich weiß Ingrid, ... aber jetzt ist alles anders.“ „Du glaubst, es wird sich etwas ändern?“ „Natürlich. Ingrid, ich hab’ dir meine Gefühle erst verschwiegen, weil ich dir neuerliche Schmerzen ersparen wolle, dann hab’ ich nichts mehr gesagt, weil dieser Harry in dein Leben getreten ist. Du hast mir gesagt, dass du ihn liebst und dass du seinetwegen die Klinik verlassen willst, und ... und dass er dir einen Heiratsantrag gemacht hat; das hat mir, wie du sicher gemerkt hast, ziemlich den Boden unter den Füßen weg gezogen. Und dann, als ihr euch getrennt habt, wollte ich auch nichts sagen; es hätte ja so ausgesehen, als würde ich die Situation ausnützen. Aus diesem Grund bin ich auch deutlich auf Distanz zu dir gegangen.“ Jetzt ist es Gernot, der Ingrids Blick ausweicht, doch Ingrid hebt ihre Hand und streicht sanft über seine Wange. „Ach Gernot, warum machen wir es uns nur immer so schwer.“ Gernot legt seine Arme um Ingrid und zieht sie näher an sich. „Diese Zeiten sind vorbei ... für immer. Wir werden immer offen und ehrlich zueinander sein und nicht wieder dieselben Fehler machen wie früher. Und das aller wichtigste: ich lass dich nie wieder los!“ „Versprichst du mir das?“ „Ich verspreche dir noch viel, viel mehr.“ „Ach so?“ „Ja, aber du musst mir aber auch was versprechen.“ „Was denn?“ „Dass du mir nie wieder davon laufen wirst.“ „Versprochen, das werde ich nicht.“ Wie zur Besiegelung des Versprechens küsst Ingrid Gernot. Gernot sieht Ingrid jedoch ernst an. „Das genügt mir aber nicht.“ „Was meinst du?“ „Ein einfaches Versprechen genügt mir nicht. Ich will ein Eheversprechen.“ Ingrid drückt Gernot überrascht ein Stück von sich weg. „Wie bitte?“ Gernot setzt sein charmantestes Lächeln auf und kramt in der Tasche seines Jacketts. Er zieht ein kleines schwarzes Kästchen hervor, öffnet es und nimmt 29 einen wunderscherschönen, mit Diamanten besetzten, Ring heraus. „Du hast schon richtig verstanden. Ingrid, willst du meine Frau werden?“ Während seiner letzten Worte streift Gernot Ingrid den Ring auf die Hand. Ingrid sieht erst auf den Ring und dann zu Gernot, der sie erwartungsvoll ansieht. Er kann Tränen in ihren Augen schimmern sehen. „Ja, Gernot, ich will deine Frau werden.“ Glücklich über Ingrids Antwort zieht er sie in seine Arme und küsst sie zärtlich. Sanft streicht er mit den Händen über Ingrids Rücken und hält sie fest an sich gedrückt. Noch lange Zeit sitzen sie auf dieser Bank und genießen ihre wieder gewonnene und soeben auf Ewigkeit besiegelte Nähe, bis sie schließlich zusammen nach Hause und somit einer gemeinsamen Zukunft entgegen gehen. 30