BWL ist ... kotzlangweilig! Jetzt ehrlich, Cassy wäre nie auf die Idee gekommen, genau dieses Fach zu wählen – also von selbst. Glücklicherweise musste sie diese Entscheidung nicht allein treffen, ihre Eltern waren wie üblich zuverlässig und Henry ließ sich bei seinen Ratschlägen auch nicht lumpen. So mag sie es am liebsten. Das Kreuz der Menschheit überhaupt ist ja, dass man ständig irgendwelche Entscheidungen treffen muss. Blind – denn man weiß ja nie, was am Ende bei rauskommt. Entscheidet man sich nämlich falsch – was in den allermeisten Fällen passiert – sitzt man danach in der Scheiße und sagt sich, hättest du mal nicht ... Cassy hat bereits vor Jahren den für sich besten Weg gewählt: Solange sie es irgendwie vermeiden kann, lässt sie andere die Entscheidungen ihr Leben betreffend fällen – somit sind die zwangsläufig auch dran Schuld, wenn es schiefgeht. Und da die anderen Menschen in ihrer Nähe meistens viel erfahrener sind, als sie selbst, trifft das selten ein – Problem gelöst. Trotzdem: Mann sind die Vorlesungen langweilig ... Zwei Stunden lang lauscht sie dem monotonen Vortrag des Dozenten und kämpft gegen den unbedingten Drang einzuschlafen an. Die Schwäche vom Morgen ist ohne Vorwarnung zurück. Als er endlich seine Sachen zusammenpackt – nicht, ohne ihnen zuvor noch Berge von Heimarbeiten aufzubrummen – atmet sie auf. Keine ihrer Freundinnen nimmt an ihren Kursen teil, weshalb sie sich allein aus dem Gebäude und zur Cafeteria kämpfen muss. Das ist das Schlimmste daran – Cassy bewegt sich nicht gern schutzlos durch Hunderte von fremden Leibern, die sie anrempeln und ihr irgendwie permanent zu nahetreten, auch wenn sie eigentlich Luft ist. Als sie endlich die Mensa erreicht, ist sie einmal durchgeschwitzt, aber wenigstens hat sie überlebt. Der Stammtisch ist bereits voll besetzt – die üblichen Verdächtigen. Niemand bemerkt ihr Erscheinen – jedenfalls hat es den Anschein, den keiner sieht auf, als sie sich setzt. Das ist auch ganz gut so, Cassy mag es nicht, wenn sie im Mittelpunkt steht. Sie quetscht sich auf den einzig freien Stuhl und macht sich an die Vernichtung ihres Salates. Henry ist mal wieder am Dozieren. Gottseidank nicht BWL, sondern die allgemeine politische Lage. Vierzig Prozent der Anwesenden scheinen ihn nicht zu wahrzunehmen, zwanzig verdrehen entnervt die Augen, aber die übrigen vierzig verfolgen seine Ausführungen mit beinahe anbetungswürdigem Interesse. Elina, Klaas (Austauschstudent aus Germany), Sybill, Rita und Pia – in der Gesamtheit handelt es sich hierbei um die mit ihm befreundeten Mitglieder der Politgruppe, welcher Henry kurz nach Start seines Informatikstudiums beigetreten ist. Wenn es nach ihm geht, posaunt er den lieben langen Tag seine republikanischen Überzeugungen in den Orbit. Und hierbei hat er wirklich Potenzial, denn diejenigen, die es überhaupt interessiert, hängen förmlich an seinen Lippen. Wäre durchaus möglich, dass er irgendwann mal eine Laufbahn in dieser Richtung anstrebt, also, ein paar Anhänger sind ihm schon mal sicher und Cassy hat keine Zweifel daran, dass es mehr werden. Vielleicht wird er ja sogar mal Präsident? Cassidy interessiert sich nicht wirklich für Politik, und da die anderen, denen es ähnlich geht, jeweils in irgendein Gespräch versunken sind, sitzt sie eher unbeteiligt dabei. Während sie den faden Salat kaut, der in ihrem Mund immer mehr zu werden scheint, wobei sie sich fühlt wie eine Kuh auf der Weide, sieht sie sich in der riesigen Mensa um. Es ist so anders als in der Highschool, denn hier sind es nicht hunderte Schüler, sondern tausende Studenten und garantiert keine Kinder. Eher eine Ansammlung aus jeder Menge junger Erwachsender – manche der Männer und Frauen sind bereits Mitte zwanzig. Der Anblick ist so faszinierend, dass sie stets bestens unterhalten ist. Ihr Blick huscht von einem zum anderen, manchmal verweilt sie auf einem Exemplar und überlegt sich, was er wohl studieren mag und ob er dabei gut oder weniger erfolgreich ist. Sie betrachtet die Mädchen, die längst Frauen sind, registriert deren Schönheit – ehrlich, kaum eine ist wirklich hässlich und ist gleichzeitig daran erinnert, dass auch sie kein Kind mehr ist. Dann fällt ihr Blick aus dem großen Fenster, das nach Süden zeigt. Davor erstreckt sich das Footballfeld, auf dem die Mannschaft wie üblich trainiert. Doch der Trainer überragt alles. Wie heißt er gleich? Sie muss angestrengt überlegen, denn direkt hat sie mit dem Riesen nichts zu tun, was auch gut ist, er soll ein echtes Arschloch sein. Handerson – ja, so oder so ähnlich heißt er. Und er soll mit einer Dozentin liiert sein, auch wenn er sie ständig mit irgendwelchen Studentinnen betrügt. Das weiß jeder – der Buschfunk funktioniert bestens, auch wenn Cassy noch keine getroffen hat, die wirklich mit ihm in der Kiste war. Aber alle wollen ... Außer Cassy, sie kann an diesem total brutalen Typ überhaupt nichts finden. Henry ist so anders, so sanft, intelligent und schmal. Nicht schmächtig, eher ein wenig zart, was ihm mit der Nickelbrille und den sanften dunklen Augen dahinter ein sehr verletzliches und sensibles Aussehen verleiht. Außerdem ist er eine Seele von Mensch. Sie kann sich nicht vorstellen, dass er irgendwas Böses gegen irgendwen im Schilde führen könnte. Er ist ... »...sidy?« Sie zuckt zusammen, erwacht aus tiefsten Träumen und blinzelt einige Male, bevor sie schnell weiterkaut, weil der Salat droht, ihr aus dem Mund zu fallen. Dann erst geht ihr auf, dass alle am Tisch Versammelten grinsend zu ihr sehen. Unter anderem ist auch der Volltrottel vertreten, er muss sich, während sie sich in ihrer üblichen Trance befand, feindlich von hinten angeschlichen haben. Scheiße! ... Henry hat ihr wohl eine Frage gestellt. »Was?«, erkundigt sie sich eilig. Ihr Freund betrachtet sie etwas entnervt, bevor sich ein gutmütiges Lächeln auf seine Züge legt. »Warst du wieder in deinen Sphären?« »Äh ... scheint so.« Auch sie lächelt. »Na ja, dann für dich noch mal ganz langsam und zum Mitschreiben.Gabe muss aus seiner Bude raus. Hat einen extremen Wasserschaden fabriziert, weil der Trottel im Suff den Hahn nicht abgedreht hat. Alles muss komplett renoviert werden. Du hast doch nichts dagegen, wenn er für ein paar Nächte bei uns pennt?« Damit ist der Volltrottel gemeint, der sich gerade grinsend neben Henry setzt, wobei er den fast umreißt – den dafür erforderlichen Stuhl hat er sich einfach vom Nachbartisch geklaut. »Was geht?«, wird sie gefragt. Was für ein saudämlicher Spruch! Und vor allem total unpassend! »Also was ist jetzt?«, drängelt Henry und ruft damit in Erinnerung, dass noch eine Antwort im Raum steht. Eine Ablehnung käme für sie niemals infrage, auch wenn Cassy in diesem Fall nichts lieber täte. Doch im Grunde ist es doch längst beschlossene Sache, und dass Henry sie fragt, nur seine Demonstration, dass ihre Meinung theoretisch von Belang ist. Praktisch ist sie das nämlich ganz und gar nicht – von Cassy nicht nur geduldet, sondern forciert. Daher wartet Henry mit wachsendem Entnervtheitsgrad auf das obligatorische Nicken. Sie gibt es ihm, bekommt dafür ein gigantisches Strahlen von den zwei Männern ihr gegenüber und wendet hastig den Blick ab, um sich am Ende nicht doch noch zu verraten. In Wahrheit will sie diesen Kerl nicht in ihrem Appartement, verdammt, sie will ihn nicht mal in ihrer Nähe und erst recht nicht in ihrem Leben! Denn Cassy hasst diesen Mann, Jungen – irgendwas in der Mitte stellt er wohl dar. Ihr ist immer noch schleierhaft, weshalb Henry sich gerade diesen Gabe als besten Kumpel ausgesucht hat. Er hat nichts mit seinen sonstigen Freunden gemein, läuft intellektuell nicht nur auf Sparflamme, sondern Cassy bezweifelt ernsthaft, dass die jemals entzündet wurde. Er ist laut, vulgär, gewissenlos, macht ständig mit seiner Freundin Samira herum, egal, wo er sich nun gerade befindet, und wenn nicht, dann verarscht er Cassy. Gnadenlos! Und sie redet hier nicht von der ganz witzigen Tour, die zwar für den Betroffenen ärgerlich ist, aber wenigstens nicht so unsagbar verletzt. Nein, sie spricht von der herabwürdigenden, fiesen Art. Jeder Blick, den er für sie erübrigt, suggeriert ihr, was er in ihr sieht: einen Wurm, ein Tier der niederen Lebensart, nichts, was man respektieren müsste. Echt verwunderlich, dass er sich die Mühe gemacht hat, sie zu fragen und nicht gleich mit Sack und Pack vor ihrer Tür gestanden hat. Sie schätzt, Henry hat ihn gebeten, die Formen zu wahren. Dafür kann sie sich nur auch nichts kaufen, auf die Art von Alibiveranstaltung kann sie gern verzichten. Denn dieser Typ ist alles andere als witzig – in Cassys Augen ist er das gefährlichste Raubtier auf dem gesamten Campus – denn irgendwie scheint es ihm grauenvolle Befriedigung zu verschaffen, sie pausenlos zu beleidigen. Er ist unerträglich widerlich und auch sein gutes Aussehen kann daran nichts ändern. Cassy hat sowieso noch nie was auf Äußerlichkeiten gegeben – ist alles nur Schall und Rauch. Henry ist zwar nicht unbedingt schön, aber er besitzt Ausstrahlung, wohingegen dieser Gabe einfach nur eine ekelhafte, wenn auch ansehnliche Flachzange ist. Nur bemerkt das außer ihr anscheinend niemand, denn in den allermeisten Fällen wird er von der weiblichen Fraktion angegafft, und zwar auf die eindeutige Tour. Ausnahmen hierbei sind einmal Cassy und dann Elina, die ihn offensichtlich ebenso durchschaut hat. Und jetzt hat sie diesen Idioten auch noch in ihrem bisher so geordneten Appartement am Arsch. Scheiße! Eher um sich von dem sinkenden Gefühl in ihrer Magengegend abzulenken als aus irgendeinem anderen Grund sieht sie sich wieder im riesigen Raum um und bleibt ... ... natürlich genau dort hängen, wohin sie nicht blicken will. Eines der vielen Pärchen, die sich hier nach und nach zusammengefunden haben – mit ständig wechselnder Besetzung. Wie sie allein das hasst! Cassy findet, man sollte sich einmal im Leben für einen entscheiden und gut! Aber in diesem Teil der Welt ist man heute ein Paar, springt vergnügt in die Kiste und vögelt morgen mit einem anderen. Geht schneller als man bis zehn zählen kann. Die Abtreibungsrate soll übrigens riesig sein – sagen die Gerüchte. Sie selbst kennt kein Mädchen, das schon mal auf einer Stippvisite in Santa Fe war. Dort befindet sich die einzige Klinik, die einen Abbruch noch vornimmt. Und hoffentlich nicht mehr lange – Cassy hasst so was! Jedenfalls kleben die beiden aneinander, ihre Münder berühren sich nicht nur, sondern er scheint so eine Art Vampir, denn er saugt sie sichtlich aus, während seine Hände sich in ihrem vollen rötlich schimmernden (eindeutig gefärbten) Haar vergraben, als wolle er sie skalpieren. Also ein indianischer Blutsauger – super! Cassy hätte ja Angst oder Atemnot oder beides, aber sein weiblicher Gegenpart hat die schlanken Finger in seinem Nacken verschränkt und erwidert den Lippenangriff mit solcher Leidenschaft, dass Cassy vom bloßen Hinsehen rot wird.