Adalbert Wichert / Sprache und Medialität Fassung / Sept. 2007 Erscheint in: Taschenbuch des Deutschunterrichts (mit CD-Rom) (3 Bände) Volker Frederking / Hans Werner Huneke / Axel Krommer / Christel Meier (Hrsg.) 0 Medien im Deutschunterricht – ein Befund Während Sprachwissenschaft tendenziell Teilaspekte der Sprache isoliert, um sie wissenschaftlich untersuchen zu können, hat Sprachdidaktik stets das Ganze der Sprache im Auge zu behalten, da sie Sprachkompetenzen in jeder Hinsicht zu fördern lehrt. Und sie hat aus eben diesem Grund die Kontexte mit einzubeziehen, in denen Sprache wirkt und auf Sprache eingewirkt wird. Innerhalb des Unterrichtsfaches Deutsch hat sich das traditionelle Aufgabentandem „Sprache und Literatur“ seit den 90er Jahren aus dieser Einsicht heraus erweitert. Die Kultusministerkonferenz beauftragt 2003 in ihrer Formulierung der Bildungsstandards den Deutschunterricht, „Orientierungs- und Handlungswissen in Sprache, Literatur und Medien“ und entsprechende Verstehens- und Verständigungskompetenzen zur Verfügung zu stellen, damit sich die Schüler der „Bedeutung des Reichtums kultureller, sprachlicher, literarischer und medialer Vielfalt für die eigene Entwicklung“ bewusst werden.1 Neuere Schulbücher tragen diesem Anliegen schon vorher Rechnung: Der Cornelsen-Verlag etwa kündigt mit seinem Arbeitsbuch für den Deutschunterricht der Oberstufe, das gesamte Basiswissen für den Deutschunterricht in der gymnasialen Oberstufe in einem Band“ an: „Unverzichtbares Wissen zu literarischen Gattungen und Epochen sowie zu Sprache und Medien ist übersichtlich zusammengefasst und gewährleistet die eigenständige Arbeit.“2 Der Aufbau des vielversprechend von Software für die Schülerarbeit im Unterricht oder zu Hause angereicherten Lehrwerks aus einem Verlag, der als den Medien besonders aufgeschlossen gilt, zeigt dann aber, dass man von Gleichberechtigung oder Integration der drei Arbeitsfelder weit entfernt ist. Das Buch gliedert sich in die drei Kapitel Sprechen und Schreiben, Literatur und Medien, Sprachbetrachtung. Im ersten und dritten Kapitel kein einziger Medienbezug. Im mittleren Kapitel folgt nach „I: Autor, Werk und Leser“, „II: Die literarischen Gattungen“, „III: Epochen der deutschen Literatur“ als unverbundener Appendix „IV. Medien“ mit einigen medientheoretischen Texten, Texten zum Massenmedium Fernsehen und zu Filmanalysen. Im (ohne Verzeichnisse) 550 Seiten umfassenden Arbeitsbuch also 40 Seiten Medien, nur 6 davon („Verfilmung von Literatur“) integrieren Medien- und Literaturaspekte; Sprach- und Medienbegriff scheinen nichts miteinander zu tun zu haben. Im gleichen Verlag erschien 2007 „Deutschbuch. Sprach- und Lesebuch für Realschulen“ Im Band für die 10. Klassen beträgt der auf Medien bezogene Anteil immerhin 39 von 272 Seiten. Im Kapitel „Sprechen und Schreiben“ finden wir unter der Überschrift „In der Medienwelt – Stellung nehmen“ auf 22 Seiten Texte zur Rolle von Buch, Film, Fernsehen und Computerspielen in der Freizeit. Das Kapitel „Umgang mit Texten und Medien“ legitimiert seine Formulierung mit 2 Seiten über Kriegsfilme. Im Kapitel „Sprachbewusstsein entwickeln“ Fehlanzeige; im Kapitel „Arbeitstechniken und Methoden“ werden wir auf 7 Seiten im Teilkapitel „Den Computer nutzen“ mit einer Reihe von Screenshots zu Software-Möglichkeiten bei der Textauswertung (Erstellen von Mind-Maps, Spalten, Diagrammen, Formularen, Links) vertraut; im Kapitel „Orientierungswissen“ finden sich je eine Seite zu journalistischen Texten und Kameraeinstellungen im Film). Diese Beispiele sind durchaus exemplarisch.3 Zu beklagen ist seit den 90er Jahren nicht mehr das Negieren der technischen Medien; und natürlich erhalten Texte, Bücher, Bibliothek, Leseverhalten reichlich Raum. Was aber fehlt, ist ein stimmiges Medienkonzept, eine überlegte Begrifflichkeit. Willkürlich werden einzelne Dimensionen des Medienbegriffs4 isoliert: Wenn von Medien die Rede ist, dann werden Medien als technische (Massen-)Kommunikationsmittel abgegrenzt von persönlicher mündlicher und schriftlicher Kommunikation, aber auch von allem auf Papier Gedruckten. ´Medien´ meint fast ausschließlich Medienprodukte, also Filme, Rundfunk- und Fernsehsendungen, Computer- und Internetpräsentationen. Werden Medien thematisiert, so geht es häufig um Medieninstitutionen oder um Medientechnik. Um letztere geht es insbesondere dort, wo Medien als Hilfsmittel, Instrumente, Arbeitsmittel in den Unterricht einbezogen werden. Die auch in Bildungsplänen und als Sektionstitel bei Tagungen vielfach verwandten Kategorisierungen „Sprache, Literatur und Medien“, „Literatur und Medien“, „Texte und Medien“ sowie „Sprache und Medien“ legen nahe, Medien vor allem technisch zu verstehen als etwas, das neben der Sprache, neben der Literatur, ihnen gegenüber existiere. Das „und“ bedeutete dann allenfalls, dass Medien und Sprache, Medien und Sprachprodukte sich mehr oder weniger berühren, beeinflussen oder kontrastieren. Fast beiläufig und inhaltlich nicht weiter gefüllt erscheinen in den „Bildungsstandards für Deutsch“ des Bildungsplans 2004 Baden-Württemberg aber auch die Formulierungen „Sprache als Medium“ und „Sprache als gestaltbares Medium der Kommunikation“5 Hier wird eine für das Sprachverständnis bedeutsame Perspektive angesprochen, die lange Zeit weder von der Medienwissenschaft noch von der Sprachwissenschaft ausreichend bedacht wurde, die aber in unserer Mediengesellschaft sprachdidaktisch höchst relevant sein sollte. 1. Medialität Ludwig Jäger6 spricht in seinem „Plädoyer für das Medium Sprache“ von der „Sprachvergessenheit der Medientheorie“: Zurückzuführen sei sie auf einen Medienbegriff, der Medien vereinfachend mit Technologie gleichsetzt. Medien werden zum einen gefasst in einem Transport-Modell: Wie im Container, so die Vorstellung, würden in Medien mentale Konzepte/Begriffe, die auch ohne die Medien existieren, möglichst unbeschadet aufgenommen, gespeichert, transportiert und ausgeliefert (Claude E. Shannon und Warren Weaver). Nach Erhalt der Botschaft spielt der Containermetapher folgend das Medium keine weitere Rolle mehr. Zum anderen werden, ebenso technologisch gedacht, Medien als Werkzeuge oder Prothesen (Marshall McLuhan) begriffen, die die eingeschränkten Möglichkeiten des Menschen, Informationen zu bewahren oder weiterzugeben, erweitern, was ihre räumliche und zeitliche Entfernung, Übertragungsgeschwindigkeit, Informationsmenge, Datenzuverlässigkeit und Adressatenmenge angeht. Auch dieses Modell geht von medienindifferenten Inhalten aus, die vor den und ohne Medien vorhanden sind und von diesen nur vermittelt werden. Sowohl in der Container- wie in der Prothesenmetapher werden Medien gedeutet als technische Errungenschaften des Menschen, die aber - dem Wesen des Menschen an sich fremd - der genuinen menschlichen Ausdrucksweise, insbesondere auch der Sprache, kontrastiv gegenüberstehen. Jäger setzt der Vorstellung „‘Medien’ versus menschliche Kommunikation“7 die These der grundsätzlichen Medialität von Sprache entgegen. Medialität ist für ihn eine erkenntnis- und zeichentheoretische, „konstitutive Gattungseigenschaft des Menschen“8, die es ihm seit dem Auftreten des homo sapiens ermöglicht, Zeichensysteme zu entwickeln und zur Formulierung von Sinn nutzen, also sein Bewusstsein von der Welt und von sich selbst für sich und zur Kommunikation mit anderen zu formen. Die Menschheit habe sich eine Vielzahl solcher Zeichensysteme geschaffen. Jan Assmann zählt dazu die Sprache, aber auch „Riten und Tänze, Muster und Ornamente, Trachten und Tätowierungen, Essen und Trinken, Monumente, Bilder, Landschaften, Weg- und Grenzmarken“9 Anders als Assmann will aber Jäger sie alle „aus der für die Sphäre des Zeichenhaften insgesamt konstitutiven Logik des Sprachzeichens hergeleitet“ wissen. Sprache ist führ ihn „anthropologisches Rahmenmedium und […] metamediales Bezugssystem“.10 Insofern ist die Geschichte der technischen Medien nur ein Ausschnitt aus der Geschichte der Medialität, deren Grundstrukturen weit in die Frühgeschichte zurückreichen. Zu diesen Grundstrukturen gehört, dass die Geschichte der Medialität „immer auch eine Geschichte der je spezifischen Spannung [ist], in der die neuen Medientechnologien zu den jeweiligen zugrundeliegenden Sprachzeichensystemen stehen.“11 Dieses von einer technologischen Medientheorie missachtete Spannungsverhältnis wird auch von der Sprachwissenschaft missachtet, und zwar in umgekehrter Richtung. Jäger macht kognitivistische Sprachauffassungen für die„Medialitätsvergessenheit der Sprachtheorie“ verantwortlich. Ihre Wurzeln lägen im 17. und 18. Jahrhundert: Cartesianismus und Rationalismus behandelten die Sprache als mentales System, „das zu seiner Konstitution der leiblich zeichenhaften Prozessierung nicht bedürfte.“ 12 Sybille Krämer sieht die Fortsetzung dieser Haltung nicht nur in Saussures Unterscheidung des für die strukturalistische Neubegründung der Sprachwissenschaft primären Sprachsystems (langue) vom methodologisch dann hintangestellten Vollzug des Sprechens (parole) und in Chomskys Konzeption einer Tiefenstrukturgrammatik. Selbst die pragmatische Wende der Linguistik bleibt „in den Bahnen eines Zwei-Welten-Modells der Sprachlichkeit, das zwischen der Ebene einer enttemporalisierten und daher universalen Form der Sprache und Kommunikation (auch: System, Kompetenz, Regelwerk) und einer Ebene ihrer raum-zeitlich situierten, partikularen Verwendung unterscheidet.“13 Da für diese Ausrichtung der Sprachwissenschaft vor allem die erstere der beiden Ebenen von Interesse ist, kommen die Medien als bloße Realisationsphänomene kaum in den Blick. Krämer nennt eine Linguistik, die dies korrigieren könnte, „Medialitäts-Linguistik“14. Damit will sie ein Konzept von Sprache erfasst wissen, das „die medialen Bedingungen unserer Sprachlichkeit reflektiert“15, ihre stimmliche, gestische, schriftliche, technische Artikulation. Für die untrennbare Ganzheit des sprachlichen Ereignisses, d. h. die Einheit von Sprachhandlung, Sprachstruktur und Sprachmaterial, wählt sie den in neueren kulturanthropologischen Forschungen verwendeten Begriff „Performativität“, der rein semiotische Betrachtungen kultureller Prozesse korrigieren will und ihre Verkörperungen, ihre Präsentation, Inszenierung, Aufführung, Darstellung als unabdingbare Bedingungen von Sinn-Phänomenen“ ins Gesichtsfeld rückt. Mit „Performativität“ wird das Potenzial von Medien bezeichnet, nicht bloß Botschaften zu repräsentieren, sondern je spezifische Ausdrucksformen so bereitzustellen, dass sie die Botschaften qualitativ erst ermöglichen. Als Friedrich Nietzsche wegen zunehmender Kurzsichtigkeit zunehmend Mühe hatte mit dem Schreiben, setzte er Hoffnungen auf den Nutzen der damals für Taubstumme und Blinde entwickelten Schreibmaschine. Die ersten Texte auf seiner `Malling Hansen` sandte er seinem Freund Heinrich Köselitz. In seinem Antwortbrief zeigte er sich begeistert und neugierig: Nun möchte ich gern sehen, wie mit dem Schreibgerät manipuliert wird; ich denke mir, dass es viel Übung kostet, bis die Zeilen laufen. Vielleicht gewöhnen Sie sich mit diesem Instrument gar eine neue Ausdrucksweise an; mir wenigstens könnte es so ergehen: ich leugne nicht, dass meine ‘Gedanken’ in der Musik und Sprache oft von der Qualität der Feder und des Papiers abhängen.“ Nietzsche antwortete ihm, wieder in Maschinenschrift: „Sie haben Recht – unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.16 2. Medialität von Sprache und Schrift Die Medialitäts-Debatte unserer Kultur gründet in einer langen Tradition der Auseinandersetzung um die unterschiedlichen Potenziale von Sprache und Schrift. Als erster Meilenstein gilt Platons ‘Phaidros’-Dialog. Platons Dialoge sind Apologien des persönlichen Auge-in-Auge-Gesprächs als des primären Mediums der Erkenntnis. Im ‘Phaidros’ warnt Sokrates seinen Schüler Phaidros vor der Schrift, indem er ihm eine Geschichte aus dem alten Ägypten erzählt: König Thamus weist die vom Gott Theuth erfundene Schrift zurück, und zwar mit Argumenten, die bis heute grundlegend für die medientheoretische Debatte sind: Die Schrift verlagere das Wissen aus dem Gedächtnis in einen externen Speicher und führe zur „Vernachlässigung der Erinnernung“, so dass ihre Benutzer „ im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden.“ Sokrates ergänzt diese durch die Erzählung vermittelte Kritik durch ein weiteres medientheoretisch zentrales Argument: Das Geschriebene wirkt getrennt von seinem Autor, der weder die Möglichkeit hat, auf Verständnisprobleme einzugehen noch seinen Text und sich gegen Missbrauch zu verteidigen.17 Die drei großen abrahamitischen Religionen werten die Schrift dagegen – vor allem wegen ihrer Speicherqualitäten - positiv. Sie sehen in ihren ‘heiligen’ Schriften Thora, Altes und Neues Testament und Koran die Fixierung und Überlieferung der göttlichen Heilsbotschaft. Medialität der Schrift wurde insbesondere im Judentum und im Islam thematisiert: Die hebräische Sprachmetaphysik der Kabbala deutet die Form der einzelnen Buchstaben bzw. Buchstabenteile sowie ihre Kombinationen als geheimnisvolle Wiedergaben und Deutungen der Ordnung der Welt.18 Besonders ausgeprägt ist der Sinn für die Medialität von Sprache und Schrift im Islam. Der Koran gibt genaue Anweisungen zur Performanz seiner Verschriftlichung. Festgelegt wird er auf die arabische Sprache und auf die arabische Schrift als seine exklusiven Formen der Verkörperung. Kultiviert wird diese zudem in der Entwicklung der Kalligraphie zu einer heiligen Kunst. Und selbst das Schreibinstrument wird im Koran sakral bestimmt: das Schreibrohr (alQalam). In den Überlieferungen über Mohammed und seine Anweisungen (Hadith) wird folgende Erzählung des Propheten wiedergegeben: Das erste, was Gott erschuf, war ein qalam, und er sprach zu ihm: ‚Schreibe!’ Und er fragte: ‚Was soll ich schreiben?’ Und Gott sprach: ’Schreibe auf die Eigenschaften jeden Dinges, das erschaffen werden wird!’ Und der qalam schrieb alles auf, was war und wird sein in Ewigkeit. 19 Die europäische Aufklärung bringt – nach der Vorbereitung durch die Elite der societas litteraria des Humanismus - den kulturellen Durchbruch der Schriftlichkeit mit sich bzw. wird von diesem befördert. Die Briefkultur, die Verschriftlichung des gesamten zeitgenössischen Wissens in der französischen Enzyklopädie, die expansive Entwicklung auf dem Buch- und Zeitschriftenmarkt, das Fortschreiten der Alphabetisierung der Bevölkerung, die Leihbibliotheken – das alles bezeugt einen Höhepunkt in der Geschichte des Mediums Schrift. Und dennoch ist das Faszinosum der Aufklärung das Medium der natürlichen, gesprochenen Sprache. Sie zu ergründen, hieß für die Aufklärung das Menschliche des Menschen zu erfassen. Für den Aspekt der Medialität von Sprache ist unter den zahlreichen Sprachursprungtheorien der Zeit Rousseaus Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird (1762) besonders aufschlussreich: Rousseau spielt Oralität nicht kulturkritisch Literalität gegen aus, auch nicht im Sinne eines primären Zeichensystems (vgl. Saussure: „das letztere besteht nur zu dem Zweck, um das erstere darzustellen.“20), sondern benennt ihre je unterschiedlichen medialen Potenzen: Die Kunst des Schreibens hängt von der des Redens keineswegs ab. Sie hat mit Bedürfnissen ganz anderer Art zu tun. […] Die Schrift, die eigentlich die Sprache festhalten müsste, ist genau diejenige, die sie verändert. Zwar verändert sie nicht die Worte, aber den Sinn; sie ersetzt Ausdruck durch Genauigkeit. Wenn man spricht, äußert man seine Gefühle; wenn man schreibt, äußert man seine Ideen. Im weiteren Verlauf beschreibt er dann die Spezifika der beiden Medien: Beim Schreiben ist man gezwungen, alle Worte in der allgemeinen Bedeutung zu benutzen; der Sprechende hingegen variiert die Bedeutung durch Betonungen, er legt sie so fest, wie es ihm gefällt; weniger um Eindeutigkeit sich kümmernd, legt er mehr in die Kraft des Ausdrucks; es ist nicht möglich, dass eine geschriebene Sprache auf lange Zeit die Lebendigkeit derjenigen Sprache bewahrt, die nur gesprochen wird. Man schreibt Vokale und nicht die Wortklänge. Nun sind es in einer akzentuierten Sprache eben die Wortklänge, die Akzente und Modulationen verschiedenster Art, die die ganze Kraft der Sprache ausmachen; sie formen auch einen ganz gewöhnlichen Satz je nach Maßgabe des Platzes, an dem er steht. Die Mittel, die man benutzt, um das zu kompensieren, machen geschriebene Sprache weitschweifig und ausführlich, und wo man direkte Rede schriftlich wiedergibt, verliert das Wort alle Kraft.“ 21 Das klangliche Potenzial der Sprache interessiert die Aufklärung auf vielfältige Weise. Seit 1778 beschäftigte sich der Sekretär bei der ungarischen Hofkammer in Wien, Wolfgang von Kempelen (1734-1804) ) - berühmt geworden durch seinen Schachspielenden Automaten - mit Theorien der Akustik und mit der menschlichen Sprechorganen, um eine Sprechmaschine zu erzeugen: ein Mundstück oder Stimmrohr bildete die menschliche Stimmritze nach, ein Klappensystem regulierte den Windgang und seine Stärke, ein Blasebalg ersetzte die Lunge. In einem Buch hielt er seine Erkenntnisse und die Entwicklungsstufen seiner Maschine fest: die Vokale a, o, u seien leichter zu erzeugen als das e und gar das i; die Labiale leichter als Zisch- und Gaumenlaute. Besonders schwer sei das Verbinden der Laute zu Sprechsilben. Die Artikulation des Lateinischen und Italienischen gelinge besser als die des Deutschen. Berichten zufolge soll die Maschine, die über eine Tastatur bedient wurde, mit der Stimme eines etwa vierjährigen Kindes laut und deutlich gesprochen haben. Während Kempelen mit seiner Konstruktion die menschliche Sprache physikalisch und physiologisch verstehen wollte, versuchte Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) die psychologische Wirkung des Sprachklangs, den Einfluss des Sprachklangs auf den Hörer und damit auf den Sinn des Gesagten zu erfassen. Und er tat das mit einer Gründlichkeit und Radikalität, die ihn zum ersten deutschen Kultautor überhaupt machten. Mit ihm versuchten auch andere Lyriker des 18. Jahrhunderts, Klang und Rhythmus der deutschen Sprache in immer neuen Experimenten auszureizen.22 Die pragmatische Dimension, die Wirkkraft und Ausdrucksstärke der gesprochenen Sprache, war eines der Hauptanliegen von Lessings Dramen: Mit Nathan dem Weisen wird dem Publikum ein Meister der mündlichen Kommunikation vor Augen geführt, der die gestische (körperliche, durch Tonfall und andere körpersprachliche Mittel kommentierende) Kraft der Sprache zu nutzen versteht. Emilia Galottis Muter Claudia, obwohl nicht geübt in der höfischen Kunst rhetorischer Täuschung, weiß sich auf ihr natürliches Verständnis der Medialität von Sprache zu verlassen und überführt Marinelli hellhörig des Mordes an Graf Appiani: Claudia (bitter und langsam): Der Name Marinelli war das letzte Wort des sterbenden Grafen! - Verstehen Sie nun? - Ich verstand es erst auch nicht, obschon mit einem Tone gesprochen - mit einem Tone! - Ich höre ihn noch! Wo waren meine Sinne, dass sie diesen Ton nicht sogleich verstanden? Marinelli: Nun, gnädige Frau? - Ich war von jeher des Grafen Freund; sein vertrautester Freund. Also, wenn er mich noch im Sterben nannte Claudia: Mit dem Tone? Ich kann ihn nicht nachmachen; ich kann ihn nicht beschreiben: aber er enthielt alles! alles! - Was? Räuber wären es gewesen, die uns anfielen? - Mörder waren es; erkaufte Mörder! - Und Marinelli, Marinelli war das letzte Wort des sterbenden Grafen! Mit einem Tone! Marinelli: Mit einem Tone? Ist es erhört, auf einen Ton in einem Augenblicke des Schreckens vernommen, die Anklage eines rechtschaffenen Mannes zu gründen? Claudia: ha, könnt’ ich ihn nur vor Gerichte stellen, diesen Ton." (Emilia Galotti, III/8) Die Debatte des 20. Jahrhunderts wurde wesentlich von Walter J. Ong (1982) und Jacques Derrida (1967) – beide übrigens erst gegen Ende des Jahrhunderts breit rezipiert - geführt. Beide verbindet, dass sie Oralität und Literalität in ihrer Interdependenz bedenken. Ong sieht in der der Schriftkultur, der „Technologisierung des Wortes“, einen markanten Kulturfortschritt, der ihn aber nicht zum despektierlichen Rückblick auf schriftlose Kulturen führt: Ong bewertet Oralität als eine eigenwertige Möglichkeit kultureller Verständigung. „In all den wunderbaren Welten, die die Schrift uns öffnet, lebt […] das gesprochene Wort weiter.“ Unsere Schriftkultur, so Ong, ist folglich nur dem verständlich, der um die „Tiefe der Oralität“ weiß, „aus der die Schrift erstand und in der sie stets und unentrinnbar verwurzelt ist.“23 Die Beschäftigung mit oralen Kulturen ermöglicht demnach Einblicke in kulturell bewährte, aus der Sicht von Schriftkulturen alternative sprachliche Muster: etwa die Nutzung mnemotechnisch günstiger Strukturen der Wiederholung und Formelhaftigkeit, oder Strukturen emotional-teilnehmender und situativ bezogener bzw. gruppenbezogener Rede. In den neuen, auditiven und audiovisuellen Medien der Gegenwart mit ihrer Synthese von Rede und Schrift sieht Ong eine medial neue Qualität heraufziehen, die er „sekundäre Oralität“24 nennt. Genau umgekehrt verfährt Derrida. Er kehrt die bis dahin gültige Logik der Abhängigkeit der Schrift von der Oralität um: Das abendländische Denken habe die Schrift unberechtigterweise zu einer bloßen Hilfsform der gesprochenen Sprache degradiert. In den medialen Charakteristika der Schrift seien vielmehr generelle Eigenschaften der gesprochenen Sprache in besonders transparenter Weise sichtbar. All das, was Platon im Phaidros-Dialog als Nachteile der Schrift verstanden hat, kennzeichnet für Derrida die Sprache generell: die Entfremdung des Sprachprodukts gegenüber dem Autor, das vom Autor nicht kontrollierbare Weiterwirken und die vom Ursprungskontext unabhägige Interpretierbarkeit jeder Rede auch konträr zur Autorenabsicht. Die bei Platon dem persönlichen Gespräch zugestandene Präsenz und Authentizität ist in Derridas Sicht also Illusion. In eine andere Richtung führt der Medienphilosoph Vilém Flusser. Sein Text „Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft“ (1987) reflektiert Medialität von Schrift als Wechselwirkung zwischen ihrer Materialität, der Struktur ihres Codes und der Denkweise der Nutzer. Flusser begreift Schrift – darin Ong verwandt – als ein Medium, das durch seine lineare Zeichenanordnung der logischen und analytischen Rationalität und dem Geschichtsbewusstsein der europäischen Kultur strukturell entspricht. Die Schriftgeschichte selbst sieht er als Entwicklung von der langsamen, auf Dauerhaftigkeit ausgerichteten Inschrift zu einer immer schneller und zugleich flüchtiger werdenden Aufschrift und schließlich zur virtuellen und unkontrollierbaren digitalen Schrift. Er bezweifelt aber, ob sie überhaupt noch eine Zukunft habe: Es gibt mittlerweile Codes, die besser als die der Schriftzeichen Informationen übermitteln. Was bisher geschrieben wurde, kann besser auf Tonbänder, Schallplatten, Filme, Videobänder, Bildplatten oder Disketten übertragen werden. Und vieles, das bislang nicht geschrieben werden konnte, ist in diesen neuen Codes notierbar. […] Nur noch Historiker und andere Spezialisten werden in Zukunft Schreiben und Lesen lernen müssen.25 Flusser radikalisiert mit diesen Überlegungen nicht nur Ongs Vorstellung von einer, technisch funktionierenden neuen Oralität; er bezieht vor allem auch die zunehmend wichtige Rolle der Bilder mit ein: „Wir sind Zeugen einer Revolution, die auf die Vorherrschaft des Auges über das Ohr dringt.“26 3. Medialität von Schriftsprache und Bild Ein mediengeschichtlicher Kreis scheint sich von der frühen Bildkultur über die vor allem seit dem Buchdruck dominierende Schriftkultur zur Wiederkehr der Bilder im Zeitalter der „Bild(schirm)kultur“ zu schließen.27 Aus der These, dass sich unsere Kultur gegenwärtig von sprachlicher zu visueller Information, von Wort zu Bild, von Argumentation zu Videopräsentationen verlagere, leitet sich in den letzten Jahrzehnten das Bemühen ab, eine interdisziplinär forschende Bildwissenschaft zu entwickeln, die sich um einen modernen Bildbegriff sowie Konzepte für Bildtypologien und Bildfunktionen bemüht. Im Anschluss an Mitchell wird diese Entwicklung als „pictorial turn“28 oder „iconic turn“ (Gottfried Böhm) bezeichnet, in Kontrast zum „linguistic turn“, dem Schlagwort für die in den 60er Jahren eingeleitete Hinwendung verschiedenster Wissenschaftsdisziplinen zur Sprache. Konkurrenz zwischen den Basismedien Schriftsprache und Bild ist seit jeher Bestandteil der Kulturgeschichte. Heiligung der Sprache und Bildersturm waren nicht nur Praktiken von Religionskriegen, sondern bestimmen als Wertvorstellungen bis heute unser Bildungssystem, begleitet von kulturpessimistischen Klagen über neuen Analphabetismus und Bilderflut. Sinnvoller und interessanter als die Konfrontationen war stets die kontrastierende Reflexion der spezifischen medialen Potenziale sprachlicher und bildlicher Kommunikation. Nur ein paar Beispiele29: Johann Gottfried Herder stellt die für Semiotik, Sprach- und Bildwissenschaft zentrale Frage nach den unterschiedlichen Möglichkeiten des Menschen, das gedanklich Isolierte medial zu fixieren. Die Entscheidung für die Sprache als primäres Reflexionsinstrument, also für die akustische Fixierung („Merkwörter“) und gegen eine visuelle Fixierung, begründet er mit einem auch für die moderne Bildwissenschaft noch gültigen Argument: mit der geistig kaum zu verarbeitenden derartigen „unerschöpflich[en]“, „unermesslich[en] „Menge von Merkmalen, [so] dass die Seele unter der Mannigfaltigkeit erliegt“30, während das begrenzte lautliche Repertoire der Verarbeitungsfähigkeit des Menschen eher entspreche. Neben Herder befassen sich auch Lessing und Goethe mit der Frage nach den Möglichkeiten sprachlichen und bildlichen Ausdrucks, und zwar in der Auseinandersetzung mit der mythologischen Figur Laokoon, dessen Schlangenbiss-Tod zunächst bei Vergil in der Aeneis sprachlich und in der Spätantike dann bildlich, als Statue dargestellt wurde. Lessing räsoniert anhand dieser medial unterschiedlichen Laokoon-Darstellungen über die Ausdrucksmöglichkeiten von Sprache und Bild: Wenn es wahr ist, dass die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel oder Zeichen gebraucht als die Poesie, jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber articulirte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältniß zu dem Bezeichneten haben müssen: so können neben einander geordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Theile neben einander existiren, auf einander folgende Zeichen aber auch nur Gegenstände ausdrücken, die auch aufeinander oder deren Theile auf einander folgen. Gegenstände, die neben einander oder deren Theile nebeneinander existiren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die auf einander folgen und deren Theile auf einander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.31 Etwa um 1900 wird, nicht zuletzt beeinflusst durch den Siegeszug der Fotografie, die als von der Sprache nicht erreichbares neues Medium der Realitätsdarstellung angesehen wurde, eine Umwertung des Verhältnisses von Sprache und Bild spürbar. Berühmt geworden für die sprachskeptische Haltung, die für das 20. Jahrhundert prägend wurde, ist Hugo von Hofmannsthals „Ein Brief“: Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte "Geist", "Seele" oder "Körper" nur auszusprechen. (…) die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.32 Interessant wird Hofmannsthals Kritik der Sprache dadurch, dass er für seine künftigen Versuche der Welterfassung an die Stelle der Sprache das Bild setzt, und zwar das mental festgehaltene und später erinnerte Bild, das allein in der Lage sei, Erfahrungen und Einsichten auszudrücken: Eine Gießkanne, eine auf dem Feld verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.33 Der andere bedeutende Sprachkritiker der Zeit um 1900, Fritz Mauthner, geht in seinem Hauptwerk „Wesen der Sprache - Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Erster Band“ (1906) konkret auf die Fotografie ein. Im Kapitel Kap. IX, Denken und Wirklichkeit, stellt er die Fotografie zunächst in eine Reihe mit Sprache und Schrift: Die Lautsprache ist das Gedächtnis des menschlichen Tieres; die Schrift ist nicht nur die Dauerform der Gedächtniszeichen, die Schrift ist eine künstliche Verbesserung des Gedächtnisses, wie die Photographie eine Verbesserung des Sehorgans.34 Dann aber setzt er die Zuverlässigkeit der „mechanischen Photographie“ ab von der Unzuverlässigkeit der Sprache: Die Sprache kann niemals zur Photographie der Welt werden, weil das Gehirn des Menschen keine ehrliche Camera obscura ist, weil im Gehirn des Menschen Zwecke wohnen und die Sprache nach Nützlichkeitsgründen geformt haben. 35 Ein Jahrhundert später hat das Foto die ihm von Mauthner zugeschriebene Authentizität, Realitätsnähe und Glaubwürdigkeit eingebüßt. Wir wissen um die inszenierende Praxis subjektiver oder strategischer Bildauswahl, um die Entscheidung für Ausschnitt, Perspektive und Brennweite, um die eingreifende bis manipulative Praxis der Bildbearbeitung und die Einflüsse der Bildpräsentation. Inzwischen ist das Foto zum alten Medium geworden. Die neueren Medien Film und Videoclip, die mit immer höheren Schnittfrequenzen zu arbeiten, sowie die Bildmengen der Hypermediaund Internetangebote lassen dem Foto eine veränderte mediale Bedeutung zukommen: Der Schriftsteller Wilhelm Genazino hat sich vielfach von Fotos zum Schreiben animieren lassen, so auch in seinem Essay „Der gedehnte Blick“. Angesichts der von ihm als bedrohlich empfundenen Bild-Reizüberflutung der Film-, Fernseh- und Computerkultur erscheint ihm die Fotografie als Medium der Ruhe, Meditation und Reflexion – und als Modell für seine schriftstellerische Praxis. Die Fotografie ist ihm das ideale zeitgenössische Medium, um intensive, zeitlich gedehnte optische Wahrnehmung zu pflegen, das lange Hinschauen und verzögerte, aktive Deuten, das Auffinden und Erdenken von Verweisungszusammenhängen im Wahrgenommenen und zwischen Wahrgenommenem und eigener Erfahrung. Wir wissen, dass wir die Dinge mit Bedeutungen anschauen, an denen die Dinge schuldlos sind. Wir können nicht schauen ohne den Drang nach Bedeutung […] Der gedehnte Blick nimmt alles, was er sieht, sorgfältig auseinander und setzt es wieder neu zusammen. Denn alles, was wir über die Zeit anschauen, beginnt eines Tages in uns zu sprechen.36 Fotos anzuschauen und Texte zu lesen, sind für Genazino gleichermaßen „gedehnte“ Kommunikationsformen und damit Gegenmaßnahmen gegen die Reizüberflutungen moderner Massenmedien. 4. Intermedialität Die angeführten Beispiele zeigen, dass die Debatte um die Potenziale der einzelnen Medien je nach kultureller Situation und je nach Argumentationsrichtung unterschiedliche MedienKonstellationen thematisiert. Die jeweiligen, durch Kontrastierung charakterisierten Einzelmedien sind freilich Konstruktionen. Denn in Wirklichkeit ist bereits die gesprochene faceto-face-Sprache ein Medium, welches sprachliche Zeichen mit akustischen, optischen, haptischen Möglichkeiten verbindet. In diesem Sinn ist die gesprochene Sprache ein erstes ‘multimediales’ Medium37. Dass ferner mündliche und schriftliche Sprachprodukte vielfach miteinander verknüpft auftreten, ist beim Vorlesen, beim Schreiben und gleichzeitigen Mitlautieren, beim Sprechen an Hand von schriftlichen Notizen, beim Verhältnis von Dramentext und Theateraufführung, in Filmen mit Untertiteln und vielem mehr zu beobachten. Die gegenseitige strukturelle Durchdringung oraler und literaler Medienprodukte haben Koch und Oesterreicher mit den Begriffen mediale und konzeptionelle Mündlichkeit/Schriftlichkeit beschrieben. Zu einem weiteren Befund der Vernetzung der Sprache mit anderen Medien kommen wir, wenn wir das Räumliche der Schrift in den Blick nehmen. Geschriebene Sprache ist nicht nur als lineare, sequenziell gedachte Zeichenfolge wahrzunehmen, sondern immer auch als Schriftbild, das etwa durch Absatzbildung, kalligrafische, typografische und Seiten gestaltende Layoutentscheidungen die Rezeption steuert und wesentlich zur Sinnerzeugung beiträgt. Künstlerisch befassen sich damit etwa das barocke Figurengedicht, die visuelle konkrete Poesie und andere Formen des Lettrismus. Im Medienzeitalter kommt kaum mehr ein Bereich der Schriftpraxis ohne die Nutzung der piktoralen Möglichkeiten der Schrift aus. Medial gesehen ist es nur ein kleiner Schritt von der Schriftbildlichkeit zur Text-BildKombination. Im Bereich der Textwissenschaften befasste man sich zuerst (seit den 70er Jahren) in der Mediävistik mit diesem Thema: Sie konnte deutlich machen, dass die semiotische Praxis des Mittelalters unzureichend beschrieben ist mit dem soziologisch begründeten Gegensatz von Bilderbibeln für die Ungebildeten und Bibeltext für die Gebildeten. In den mittelalterlichen Schreibstuben, so der Kunst- und Literaturhistoriker Norbert H. Ott, wirkten Bild, Schrift und Zahl im Dienste der Interpretation der Welt in einem komplexen, nichtlinearen Darstellungsmodell zusammen. Bild-Text-Beziehungen waren in mittelalterlichen Handschriften der Normalfall von Textualität. Erst der Buchdruck habe dann diese Komplexität zunächst notgedrungen verdrängt zugunsten rein sprachlicher Darstellungen in monomedialen, linearen Texten.38 Die mediale Praxis der Gegenwart hat dieses Defizit korrigiert. Das digital herstellbare und übertragbare Bild und der digital herstellbare und übertragbare Text sind in den Printmedien, im hypermedialen Internet und im Handy wieder zu einer Einheit geworden. Der prototypische Text der Gegenwart hat sich also von der Reduktion der Texte auf die Schrift, wie sie der Buchdruck zunächst mit sich gebracht hatte, verabschiedet und besteht weitgehend aus Texten und Bildern, vor allem Fotos.39 Die Textlinguistik hat sich auf diese Tatsache eingestellt und sieht in einem erweiterten Textbegriff Texte aus Sprach- und Bildanteilen bestehen. Umgekehrt versucht die junge Bildwissenschaft das Bildverstehen analog zum Textlesen zu begreifen. Christian Doelker und Hartmut Stöckl haben Konzepte entwickelt zur Beschreibung von Bildern als Texten und verwenden dabei aus der Linguistik adaptierte Kategorien wie Bildgrammatik, Bildsemantik, Bildpragmatik und entsprechende linguistische Analyseverfahren. Doelker spricht sogar von ‘konsonantischen Bildern’, ‘Bild-Flexion’, ‘Bild-Tempus’40. Die Beziehungen von Sprach- und Bildanteilen eines Textes zu beschreiben, bereitet freilich trotz dieser terminologischen Brückenschläge große Schwierigkeiten; so vielfältig sind die Möglichkeiten der Vernetzung: Sprach- bzw. Bilddominanz41 in Texten, ihre jeweilige quantitative und qualitative Plazierung neben, zum oder im anderen Teilmedium, ihre jeweilige Funktion im Ganzen der Textintention oder bezogen auf ein Bild oder eine Sprachtextstelle (hinführen, pointieren, mediale Transformation durch Versprachlichung oder Visualisierung, dokumentieren, emotionalisieren, argumentieren, ergänzen, kontrastieren, dekorieren u.a.). Die Geschichte des kreativen und experimentellen Umgangs mit den Möglichkeiten, Sprachtext und Bild zu gegenseitigen Kotexten zu machen, ist vielfältig. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die literarische Modegattung des 16. und 17. Jahrhundert, das Emblem, spielt geistreich mit den so erzeugbaren Deutungsbezügen. René Magritte hat sich Zeit Lebens mit der Medialität des gemalten Bildes und mit der Beziehung zwischen pictoralen und verbalen Bildanteilen befasst. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit solchen Vernetzungen und damit sowohl die sprachwissenschaftliche als auch die deutschdidaktische Wahrnehmung der Komplexität von Medialität, das zeigt sehr gut Michael Staiger42, stehen erst am Anfang. Dem entsprechend wird auch noch gerungen um eine sinnvolle Terminologie. Ulrich Schmitz verwendet die Begriffe „Sehfläche“, „Lesebild“, „Text-Bild-Lektüre“43. Michael Giesecke44 nennt wegen des Miteinanders von erzählenden Bildern und erzählenden Texten die mittelalterlichen Handschriften „Hybridmedien“. Dieser Begriff wird zumeist aber als medientechnischer Begriff für das computergesteuerte45 Vernetzen verschiedener Medien oder für digitale Ableger von traditionellen Print- oder Funkmedien verwendet. Als verbraucht gilt im wissenschaftlichen Diskurs der vielfach vermarktete Begriff ‘Multimedia’. Sinnvoll erscheint dagegen Weidenmanns Aufspaltung dieses Begriffs in drei Dimensionen: das materiell bzw. technisch verstandene Medium, den medialen Code und die angesprochene Sinnesmodalität. Medienangebote können dann als mono- oder multimedial, -codal, -modal beschrieben werden.46 Für die Zusammenführung unterschiedlichster medialer Eigenschaften hat sich in der Medienwissenschaft weitgehend der Begriff ‘Intermedialität’ durchgesetzt. Er bezeichnet Beziehungen zwischen Medien oder Medienprodukten, und zwar ihren gleichzeitigen (Symmedialität47) oder zeitlich versetzten Gebrauch. Er bezeichnet aber auch innerhalb eines Mediums oder eines Medienproduktes die Kombination von verschiedene Sinne ansprechenden Medieneigenschaftenund damit die synästhetische oder ästhetisch kontrastierende Beziehung zwischen medialen Zeichensystemen und Ausdrucksformen. Produktiver und rezeptiver Sprachgebrauch und Sprachreflexion, das hatte die Linguistik der letzten Jahrzehnte nach ihrer pragmatischen Wende erkannt, lassen sich nicht allein im Blick auf das Sprachsystem erfassen. Sprachkompetenz erwerben heißt also, Sprache unter Beachtung ihrer Performanz, ihres Erscheinens und ihrer jeweiligen Funktion verstehen und anwenden lernen. Dazu gehört auch ihre Medialität, ihr spezifisches mediales Potenzial, ihre aktive intermediale Wirksamkeit und rezeptive Geprägtheit. Die Sprachdidaktik braucht in diesem Sinn eine Perspektivenöffnung hin zu einer Medienreflexion, die Medialitätsreflexion ist und zu einer Sprachkompetenz, die Sprache als Medium im Kontext anderer Medien zu verstehen und zu nutzen in die Lage setzt. Literatur: Assmann, Jan (1997): Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck Becker-Binder, Christa und Schurf, Bernd (2007): Deutschbuch. 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