Kapitel 7

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Der Lehmofen
Erinnerungen eines kleines Mädchens aus der Kleinstadt Czernowitz
von
Elite Olshtain
Aus dem Englischen übersetzt
von
Ingrid Velleine
Prof. Elite Olshtain
5, Ha Lamed Hey St.
Jerusalem 93661, Israel
e-mail: [email protected]
fax: 972-2-5636840
Copyright 2008 – Washington D.C. – Copyright Office
1
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Der Lehmofen
1.
Leben in der Idylle
2.
Die Russen kommen!
3.
Die Rumänen sind wieder da und die Nazis sind mit dabei!
4.
Baba - Das Leben bei meiner Großmutter
5.
Bei Tante Rosa
6.
Der gelbe Davidstern
7.
Wir sind wieder daheim, in unserer Wohnung
8.
Die Russen sind wieder da!
9.
Frieda
10.
Willy
11.
Die große Enttäuschung meines Vaters
12.
Ich lerne, mit Gleichaltrigen zu spielen
13.
Abschied von Czernowitz
14.
Können wir wieder eine Familie werden?
15.
Erster Schultag
16.
Leben unter den Kommunisten
17.
Lange Reise in ein neues Land
18.
Neuer Anfang
19.
Ich werde eine Sabra
Epilog – Besuch in Czernowitz, 60 Jahre später (2006)
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Vorwort
Jahrelang habe ich meine Kindheitsgeschichte nicht erzählen wollen. Ich
hatte den Holokaust überlebt, wie viele andere, und meine Geschichte
war nicht der Rede wert. Ich hatte die Kriegszeit heile überstanden, und,
wie durch ein Wunder hatte meine Familie es ebenfalls überstanden. Was
sollte es da schon zu erzählen geben? Es war eine einfache Geschichte
des Überlebens in harten Zeiten; ich habe weder dem Tod ins Gesicht
blicken müssen, noch habe ich jemals mit eigenen Augen erlebt, wie
andere Menschen umgebracht wurden; ich habe immer nur davon gehört.
Wie hätte ich meine persönliche Geschichte mit den Schauergeschichten
vergleichen können, von denen Überlebende im Laufe der fünfzig Jahre
nach Kriegsende berichteten?
Allein der Gedanke an eine Erwähnung dessen, daß ich selber eine
Holokaustüberlebende war, erzeugte in mir Schuldgefühle; niemand
sollte etwas davon wissen. Ich versuchte sogar vorzugeben, eine Sabra (in
Israel geboren) zu sein und daß ich eine ganz normale Kindheit gehabt
hätte, wie alle anderen Kinder in meiner Klasse oder in meiner
Umgebung. Ich hätte alles vergessen wollen, aber trotzdem erinnerte ich
mich. Ich hatte sehr deutliche Bilder aller erlebten Ereignisse vor Augen.
Einige sagten mir, daß Kinder unter vier Jahren keine Erinnerungen
haben können. Ich hörte hin, wußte jedoch innnerlich, daß ich
Erinnerungen aus der Zeit hatte, als ich zwei oder zweieinhalb Jahre alt
war. Es waren zwar nur Bilder aus der Perspektive eines Kleinkindes,
aber diese Bilder waren deutlich und lebhaft, und niemand anders hätte
etwas von deren Existenz wissen können.
Eines Tages sah ich den Film "Hope and Glory – der Krieg der Kinder"1,
und kam daraufhin zu dem Schluß, daß sogar eine Lebensgeschichte ohne
ausgesprochen tragischen Vorkommnissen von Bedeutung sein kann,
wenn sie aus dem Standpunkt eines Kindes erzählt wird. Nun kam ich auf
den Gedanken, vielleicht doch eine Geschichte zu erzählen zu haben.
Doch solange meine Mutter und mein Vater noch am Leben waren,
konnte ich sie nicht erzählen. Es hätte meinen Eltern einen zu großen
Schmerz bereitet und es wäre mir nicht möglich gewesen, die volle
Wahrheit darzustellen. Die Beziehung zu meinen Eltern war immer
belastet; es war mein Gefühl, daß sie das Buch, daß ich schreiben wollte,
nicht ertragen hätten.
"Hope and Glory – der Krieg der Kinder", ein Spielfilm des britischen Regisseurs John Boorman
(1987), der über den Bombenangriff Londons in 1939 aus der Sicht eines Kindes berichtet.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Dabei hatte ich auch das Bedürfnis, einige Erforschungen durchzuführen
und herauszufinden, ob die Dinge, an die ich mich erinnerte, in irgend
einem Bezug zu den allgemeinen geschichtlichen Ereignissen standen.
Orly, die jüngste meiner drei Töchter, widmete sich der Aufgabe, die
Ereignisse, auf die dieses Buches sich bezieht, zu erforschen. Wir waren
immer wieder verblüfft festzustellen, wie genau die
Kindheitserinnerungen den historischen Ereignissen entsprachen. Hier
also die Geschichte – so wie ich mich daran erinnere: die Ereignisse des
2. Weltkriegs aus der Sicht eines kleinen Mädchens.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 1
Ein idyllisches Leben
Ich wurde am 26. März 1938 in der reizenden Stadt Czernowitz geboren.
Der Frühling gab bereits seine ersten Anzeichen, die Straßen waren mit
Schneeschlamm bedeckt. In der Wohnung meiner Eltern, auf der zweiten
Etage eines modernen Wohngebäudes auf der Franzensgasse, war es
angenehm warm. In dem großen braunen Lehmofen brannte ein helles
Feuer.
Am 26. März, zu früher Morgenstunde, erblickte ich mit Dr. Segals Hilfe
das Licht der Welt, nachdem er den vorigen Abend mit seiner Frau und
meinen Eltern beim Kartenspielen, den hochgeschätzten Fluden2
genießend, den meine Großmutter zu backen pflegte, verbracht hatte. Die
Segals waren jüdische Nachbarn meiner Eltern, die eine Etage über uns
wohnten. Beide Ehepaare, so wie die meisten Bewohner unseres
Gebäudes, gehörten der czernowitzer Mittelschicht an. Es waren junge
Leute, die es zu einem bequemen Leben gebracht hatten und Pläne für die
Zukunft hatten.
Wie üblich bezog sich das Gespräch an diesem Abend vor allem auf die
beunruhigende Lage in der Welt. Meine Mutter Frieda, die Realistin der
abendlichen Gesellschaft, war der Meinung, daß es für Juden keinen
besseren Ort in der Welt gäbe als Czernowitz. Trotz der rumänischen
Randalierer, die die Straßen nachts unsicher machten, und trotz des
zunehmenden Antisemitismus, war das Leben dort schön. Innerlich hatte
meine Mutter bereits den Plan geschmiedet, nach Amerika auszuwandern,
falls die Lage sich verschlimmern sollte.
Mein Vater, kurz Willy genannt (Wilhelm), war der Idealist in der
Gruppe. Der Besuch seines Schwagers Tarzan (Srul), der Bruder meiner
Mutter, der vor nicht langer Zeit in Czernowitz gewesen war, hatte ihn
stark beeinflußt. Tarzan (Srul - Jiddisch für den männlichen Vornamen
"Israel") lebte damals in einem Kibbuz in Palästina; er hatte nun ein Jahr
als "Schaliach" (zionistischer Delegierter) aus Palästina in Czernowitz
verbracht. Alle nannten ihn Tarzan, wegen seiner Ähnlichkeit mit dem
Filmschauspieler, der in den damaligen Filmen die Rolle des Tarzans
spielte3. Er war ein echter Sozialist, mit außergewöhnlichem Charm und
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Osteuropäischer Schichtkuchen mit Obst und Nüssen.
Johnny Weismueller (1904-1984), in Österreich geboren. In 1924 und 1928 gewann er als
Schwimmsportler der USA mehrere olympische Medaillen. 1929 wurde er Filmschauspieler in
Hollywood und ist bis heute der berühmteste Tarzandarsteller.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Begeisterung. Die drei Brüder meines Vaters und auch Srul, der älteste
Bruder meiner Mutter, waren alle vor zehn Jahren als ergebene
Mitglieder der "Schomer Hatzair"-Bewegung4 ausgewandert. In Palästina
hatten sie sich bei der Gründung und dem Aufbau von neuen KibbutzSiedlungen (sozialistische Agrarkommunen) beteiligt.
Mein Vater war der einzige in seiner Familie, der in Czernowitz
zurückgeblieben war. Er war dort geblieben, um das Familiengeschäft für
Marmorsteine weiterzuführen, so wie er es seinem Vater auf dessen
Sterbebett versprochen hatte. Es war ein Geschäft, daß von Generation zu
Generation weitergereicht worden war und nun war Willy dafür
zuständig.
So sprach mein Vater, auf seiner gelassenen Art, von Palästina und von
der Gelegenheit, eine neue und gerechte Gesellschaft im Land der Väter
aufzubauen. Seine Worte klangen romantisch und es lagen Welten
zwischen ihnen und den Grausamkeiten, die Hitler an den Juden in
Deutschland und Österreich verübte. Es dauerte nicht lange, bis meine
Mutter alle daran erinnerte, daß Palästina ein Land der Mühsal und der
Öde sei. Die Juden dort waren arm, sie mußten mühselige Körperarbeit
leisten und sich den Rücken zerschinden, und dies alles für einen Traum,
der vielleicht niemals Wirklichkeit werden würde. Auch sie erwähnte
ihren Bruder, stellte ihn aber als einen vielversprechenden jungen Mann
dar, der alle guten Dinge in seinem Leben aufgegeben hatte: die
Gelegenheit auf ein Medizinstudium in Wien, die Heirat mit einer
wohlhabenden Frau und auch darauf, ein führendes Mitglied der
jüdischen Gemeinde in Czernowitz zu werden. Und das alles wozu? Für
Malaria und ein kärgliches Leben in einem Kollektiv in einem
Wüstenland, mit einer wortkargen und zurückhaltenden Frau, die bei
Weitem nicht das Niveau besaß, daß ihrem großartigen Bruder gebührte.
Das Ehepaar hatte zwar einen hübschen Sohn, der aber kein Wort
Deutsch sprach: was für eine Ausbildung könne dieser Junge später
erhalten? Für sie stand fest, daß, falls sie Czernowitz verlassen müßten,
nur eine Auswanderung nach Amerika in Frage käme. Dort könnten sie
eine neue Existenz in der freien Welt aufbauen.
Dr. Segal war der Pessimist der Gruppe. Er hatte nicht vor, Czernowitz zu
verlassen, obwohl er sich durchaus gut vorstellen konnte, wie Hitler, dem
Wahn verfallen, die Welt erobere und den Juden das Leben sogar hier in
der Bukowina, der Provinz Czernowitzs, in der sie bisher ein relativ
sorgenfreies Leben genossen hatten, unerträglich mache. Es hatte sich
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6
"Schomer Hatzair", wörtlich "der junge Wächter", war eine jüdisch-sozialistische Jugendbewegung.
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
herausgestellt, daß der rumänische König Carol mit den Deutschen auf
sehr gutem Fuße stand. So sah die Zukunft nach Dr. Segals Meinung sehr
ungewiß aus.
Frau Segal war eine stille Frau, die wenig sprach. Da sie aus einer armen
Familie kam, fühlte sich vom Schicksal gesegnet, da sie das Glück gehabt
hatte, einen erfolgreichen Frauenarzt zu heiraten und in einer Wohnung in
der Stadtmitte zu leben, die mit Strom, fließendem Wasser und allen
Bequemlichkeiten der damaligen Zeit ausgestattet war. Dann und wann
sprach sie halb flüsternd zu sich selbst: "Letzten endes haben wir doch
ein bequemes Leben hier. Ich möchte das alles nicht aufgeben. Hitler
wird nicht ewig an der Macht bleiben; außerdem befindet er sich doch
weit weg von uns. Czernowitz war schon immer eine jüdische Stadt.
Könnt ihr euch diese Stadt ohne Juden vorstellen? Hier müssen wir
bleiben und das Beste daraus machen." So endete in dieser Nacht das
Gespräch damit, daß alle lächelten und sich wünschten, daß auch sie so
optimistisch sein könnten.
Meine Eltern heirateten 1935 in Czernowitz. Meine Mutter kam aus einer
einfachen und armen Familie, die Furmans, die im ärmsten Teil der Stadt
lebte. Mein Vater kam aus einer Familie aus dem oberen Mittelstand, die
ein wohletabliertes Geschäft in der Stadtmitte, auf der "Russischen
Gasse", besaß. Sein Vater war Inhaber einer Marmor-Werkstatt, die
bereits vor dem ersten Weltkrieg, zur Zeit des österreichisch-ungarischen
Kaiserreiches, einen gewissen Erfolg genoß; das Geschäft blühte auch
nach dem 1. Weltkrieg weiterhin, dank der Aufträge, die von der
rumänischen Stadtverwaltung kamen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts
hatte die Firma einen Auftrag zum Aufbau der Fassade des neuen
Theatergebäudes erhalten, der sich später als sehr bedeutend erwies, da
das Theatergebäude mit der Zeit als ein Juwel der Architektur dieser
Gegend betrachtet wurde. Von da an genossen die Zellers den Ruf einer
der feinsten Marmor-Werkstätte der Stadt, den nur eine einzige andere
Firma mit ihr teilte, nämlich die Marmor-Werkstatt Moskaliuk.
Kurz nachdem meine Eltern geheiratet hatten, im Frühling 1936, erlag
mein Großvater Simcha einem Herzinfarkt. Auf seinem Sterbebett ließ er
meinen Vater schwören, Czernowitz nicht zu verlassen und das
Familienunternehmen zu übernehmen: "Wir haben bewiesen, daß unsere
jüdische Handwerkkunst genauso gut ist, wie die der berühmten
Moskaliuks. Sorge dafür, daß diese Tradition weiterhin aufrechterhalten
bleibt".
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Sarah, die Mutter meines Vaters, verließ kurz nach dem Tod ihres
Mannes das Land und zog nach Palästina zu ihren drei Söhnen. Obwohl
sie immer eine sehr fromme Frau gewesen war, trat sie einem sekulären
Kibbutz aus der Schomer Hatza'ir-Bewegung bei, in dem keine religiöse
Traditionen eingehalten wurden. Anfangs war sie sehr bestürzt und
betroffen von dieser Tatsache; nachdem sie jedoch einen Rabbi in der
Nachbarstadt aufgesucht hatte, gründete sie eine koschere Abteilung in
der großen Kibbutzküche, in der sie für sich und für die älteren
Kibbutzmitglieder kochte. So sprach sich bald herum, daß die erste
koschere Abteilung in einer Kibbutzküche entstanden war.
Nun war mein Vater der einziger Nachkomme der Zeller Familie in
Czernowitz und führte ein sehr erfolgreiches Marmorgeschäft. Zum
größten Teil bestand seine Arbeit darin, Grabsteine aus Granit für den
jüdischen Friedhof herzustellen. Er sah sein Werk als eine besondere
jüdische Kunst, die ihm von seinen Vorfahren überliefert worden war. Er
war sehr erfahren und verstand es, sowohl auf Deutsch, als auch auf
Hebräisch, wunderschöne Buchstaben in den Stein einzugravieren.
Granit-Grabsteine, die in seiner Werkstatt angefertigt worden waren,
galten als einmaliges Werk und als Kunststück. Er war sehr stolz auf sein
Werk und pflegte meistens seinen Namen, 'Wilhelm Zeller', am unteren
Ende des Grabsteins als Signatur einzugravieren.
Beide meiner Eltern waren in ihrer Jugend Mitglieder der SchomerHatsa'ir-Bewegung5 gewesen. Oft begegneten sie sich zum Anlaß
zionistischer Reden, die im jüdischen Kulturzentrum, einem gewaltigen
Gebäude in der Nähe des Theaters, gehalten wurden. Dort hatten sie sich
die Reden von Persönlichkeiten wie Ussishkin6, Sokolov7 und Jabotinsky8
angehört. Sie beherrschten beide recht gut die hebräische Sprache,
obwohl sie keine ergebenen Zionisten waren; wichtiger waren ihnen ihre
zukünftige Karriere und ihr Wohlergehen. Mein Vater hatte während des
Jahres 1929-1930 kurz in Wien studiert. Meine Mutter hatte ein
Lehrerzertifikat von dem berühmten "Safa Ivrit" Lehrerseminar in
Czernowitz erhalten. Kurz nachdem sie geheiratet hatten, erwarben meine
Eltern die Wohnung auf den Franzensgasse, in einem erst vor kurzem
angefertigtem Bauhaus-Gebäude. Danach stieg meine Mutter als volle
5
Die Schomer-Hatza'ir-Bewegung war eine jüdisch-sekuläre europäische Jugendbewegung, die sich
rasch zu einer zionistischen Bewegung entwickelte und zur Auswanderung nach Palästina aufrief.
6
Avraham Menachem Mendel Ussishkin (1863-1941), prominenter zionistischer Anführer, setzte sich
aktiv für die Gründung von Agrarsiedlungen, Erziehungs- und Kulturanstalten in Palästina ein.
7
Nahum Sokolow (1859-1936), in Wyszegrad (Rußland, heute Wyszogrod, Polen), als Sohn einer
Rabbinerfamilie geboren, war von 1931 bis 1934 Präsident des jüdischen Kongresses.
8
Ze'ev Jabotinsky (1880-1940), in Odessa (Rußland) geboren. Nach den Progromen in Kishinew
(1903) trat er der zionistischen Bewegung zu und befürwortete jüdische Selbstverteidigung. 1923
gründete er seine eigene Partei, die rechte revisionistische Zionistische Allianz.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
und aktive Partnerin in die Marmorfirma meines Vaters ein. Sie hatte ein
natürliches Talent für Geschäfte und lernte schnell, die Kontakte mit allen
wichtigen Stadtverwaltungsposten und den Baufirmen zu pflegen; das
Geschäft blühte auf.
Als die Zeit der Niederkunft näher kam, stellte meine Mutter, wie viele
andere jüdischen Frauen aus der Mittelschicht es taten, ein deutsches
Kindermädchen ein, daß mich betreuen sollte. Sie hatte nicht vor, das
Haus zu hüten und wollte nach wie vor ihrer Arbeit im Familiengeschäft
nachgehen. Nach mehreren Bewerbungsgesprächen fand sie das perfekte
Kindermädchen, eine junge Frau namens Erika, die ein makelloses
Deutsch sprach und immer ein Dirndlkleid trug.
Die Wohnung in der Franzensgasse war nicht sehr geräumig, aber sie war
bequem. Es gab ein großes Wohnzimmer mit drei großen Fenstern zur
Straße hinaus. Es war mit modernen und bequemen Möbeln eingerichtet;
meine Eltern besaßen sogar ein Radio und ein großes Klavier. Das
Schlafzimmer war das zweitgrößte Zimmer, mit einem Balkon zum
Hinterhof. Beide Zimmer waren mit großen Lehmöfen ausgestattet, die
im Winter große Mengen von Brennholz verbrauchten.
In der Küche stand ein riesiger Küchenherd und ein großer Eßtisch für die
ganze Familie. Aus der Küche führte eine Tür in ein Zimmer, das für das
Kindermädchen oder die Hausmagd bestimmt war, und eine weitere Tür
führte in einen Abstellraum. Doch das allerwichtigste in der Wohnung
war die separate Toilette mit fließendem Wasser, wie in jedem modernen
Gebäude. Wer in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts eine solche
Wohnung in der Stadtmitte besaß, war vermögend, und meine Mutter war
sehr stolz darauf.
Am Morgen meiner Geburt wurde meine Großmutter Sabine, die Mutter
meiner Mutter, zur Hilfe gerufen. Sie war eine sehr weise und erfahrene
Frau, und sie übernahm sofort die Leitung der Dinge. Erika, das
Kindermädchen, würde in einigen Tagen ihre Arbeit aufnehmen und bis
dahin sollte alles in Stand gebracht werden, damit sie sich in ihrem
kleinen Zimmer wohl fühle; ich sollte die komplette Ausstattung
bekommen, die damals für Säuglinge erhältlich war. Meine Großmutter
Sabine – von vielen Sima genannt – und mein Vater sorgten für alles,
während meine Mutter die ganze Woche lang das Bett hütete, sich
ausruhte und sich dem Stillen widmete. Nach Dr. Segal hätte sie
mindestens zehn Tage im Bett bleiben sollen, aber nach einer Woche gab
er meiner Mutter nach, da sie sich schon erholt hatte und wieder bei
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
vollen Kräften war; sie wollte ihre üblichen Beschäftigungen wieder
aufnehmen.
Meine Großmutter war aufgeregt und freute sich sehr über meine
Ankunft; sie tanzte unentwegt, während sie mich in ihren Armen hielt.
"Dieses kleine Mädchen wird ein gutes Leben haben. Sie ist von Anfang
an in bequemen Verhältnissen geboren, nicht so wie ihre Mutter, die ein
Jahr vor dem großen Krieg geboren wurde. Sie wird nie einen Krieg
erleben müssen wie den, den wir erlebt haben." Sie ahnte nicht, was auf
uns zukam.
Erika war eine sehr anständige junge Frau, äußerst höflich, von penibler
Sauberkeit und mit einer strengen deutschen Erziehung. Jeden Morgen
badete sie mich mit großer Sorgfalt, kleidete mich mit den allerschönsten
Babykleidern und legte mich in den Kinderwagen, um mich zu meiner
Mutter ins Geschäft zu bringen; dort stillte meine Mutter mich, danach
kehrte sie zu ihrer Arbeit zurück. Zweimal am Tag ging Erika den Weg
hin und her mit mir im Kinderwagen. Glücklicherweise waren die ersten
Monate meines Lebens im Frühling und im Sommer, eine wunderbare
Zeit für Spaziergänge auf den Straßen von Czernowitz.
Erika war auf den ersten Blick von mir hingerissen gewesen und
behandelte mich wie eine kleine Königin. "Sieht die Kleine nicht wie ein
Fürstenkind aus?" pflegte sie Freunde und Nachbarn zu fragen. "Sie wird
sicher mal eine sehr vornehme Dame werden!". Zu dieser Zeit war es
Erikas Lebensziel, mich als hochprivilegiertes kleines Mädchen
großzuziehen.
Aus Deutschland kamen weiterhin böse Nachrichten, eine nach der
Anderen. Im April 1938 wurden die letzten Firmen, die noch in jüdischen
Händen waren, geschlossen und sämtliche jüdische Geschäfte an
Deutsche überführt. Im Juli wurde jüdischen Ärzten das Berufsverbot
ausgeteilt und jüdische Schüler wurden aus den Schulen ausgewiesen.
Juden durften keine deutschen Namen tragen und mußten einen
vorgeschriebenen Mittelnamen hinzufügen: Israel für das männliche,
Sarah fürdas weibliche Geschlecht. Zu Jom Kippur in 1938 sprach der
berühmte Rabbiner Leo Baeck9 aus Berlin vor seiner Gemeinde: "Vor
Gott beugen wir uns, aber vor den Menschen bleiben wir mit erhobenem
Haupt stehen." Die Juden in Czernowitz, jedoch, führten ihr
gewöhnliches Leben weiter, in der Hoffnung daß dieser Albtraum bald zu
9
Leo Baeck (1873–1956) war ein Rabbiner und jüdischer Gelehrter; 1933 gründete er als letzter hoher
Repräsentant des Judentums in Deutschland die "Reichsvertretung der Deutschen Juden" in Berlin, ein
Dachverband der jüdischen Organisationen und israelitischen Landesverbände.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Ende sei – es mußte so sein, das deutsche Volk würde diese Lage doch
nicht länger gewähren lassen...
Dabei schien aber kein Mensch den Greueltaten ein Ende setzen zu
wollen, als ob die Welt sich damit abgefunden hatte, das Naziregime als
notwendiges Übel zu akzeptieren; da die meisten der Leute der Meinung
waren, daß die Juden durchaus einige Einschränkungen verdient hatten,
versuchte niemand, die Deutschen zu behindern. Dann, im November
1938, kam die schreckliche Kristallnacht, gerade zu der Zeit, wo ich
meine ersten Laute von mir gab, auf allen Vieren durch die große
Wohnung sauste und jeden mit einem fröhlichem Lächeln anstrahlte.
Alle waren von der Kristallnacht erschüttert. Auch Erika hörte davon. Bis
dahin war sie immer sehr stolz darauf gewesen, bei einem jüdischen
Ehepaar in der czernowitzer Stadmitte angestellt zu sein; nun wurde sie
auf einmal etwas argwöhnisch. Sie ging ihrer Arbeit weiterhin mit
Gründlichkeit und Anstand nach und mochte mich nach wie vor, aber es
schwebte nun ein leichtes Unbehagen in der Luft.
Nach der Kristallnacht wurde meine Mutter rastlos. Einmal in der Woche
fuhr sie nun den ganzen Tag durch kleine Dörfer und Gemeinden in der
Umgebung von Czernowitz und kaufte dort Blusen, Nachthemden und
Tischdecken mit rumänischer Stickerei, die sie in sorgfältig verpackten
kleinen Päckchen an die Schwester meines Vaters nach Los Angeles
verschickte. Woche für Woche brachte sie die Päckchen zur Post. Abends
sagte sie dann zu meinem Vater: "Mach dir keine Sorgen, bald werden
wir bei deiner Schwester in Amerika viel Geld haben. Sie ist eine
gescheite Frau, sie wird die Stickereien für gutes Geld verkaufen. Ich
habe gehört, daß die Leute in Amerika Handgemachtes sehr schätzen.
Irgendwann wird sie uns ein Affidavit zuschicken können, dann verlassen
wir diesen Ort für immer und bauen uns ein neues Leben in Amerika
auf." Mein Vater hörte zu, ohne etwas dazu zu sagen. Er dachte immer
nur an das Versprechen, daß er seinem Vater gegeben hatte, Czernowitz
niemals zu verlassen.
Meine Eltern liebten es, die Tagesereignisse kurz vor dem Einschlafen zu
besprechen; jede Nacht gab ihnen der Gedanke an eine baldige Ausreise
nach Amerika den Mut, weiter zu machen und ihr bequemes Leben in
Czernowitz aufrecht zuerhalten.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 2
Die Russen kommen!
Am 28. Juni 1940, an einem schönen Sommermorgen - ich war etwas
über zwei Jahre alt - wachte ich in meinem Bettchen im Wohzimmer auf
und wunderte mich darüber, daß rundum alles ganz still war. Das
Sonnenlicht erfüllte das ganze Wohnzimmer und alles sah so seltsam klar
und deutlich aus, doch gab es kein einziges Geräusch zu hören. Auf der
Straße war alles ruhig, das Haus war still. Wo war Erika? Auf einmal war
sie aus meinem Leben verschwunden. Ich saß auf meinem Bettchen und
horchte in die Stille.
Plötzlich traten beide meine Eltern ins Wohnzimmer herein. Sie hatten
beide ein breites Lächeln auf dem Gesicht und wirkten fröhlich. Mein
Vater nahm mich aus dem Gitterbett heraus und brachte mich in die
Küche. Er hatte das Frühstück für mich vorbereitet. Was ging hier vor?
Wie kam es, daß meine Eltern beide zu Hause waren und Zeit für mich
hatten?
Nach dem Frühstück setzten sie sich im Wohnzimmer an den kleinen
Tisch mit einigen Zetteln und Büchern und begannen, in einer fremden
Sprache zu singen. Ich wollte mitsingen, also brachten sie mir einige der
fremdartigen Wörter bei, die so anders klangen als die deutschen Wörter,
die ich kannte: "Maguchaya, Kipuchaya….”. Wir saßen alle drei
beieinander und sangen fröhlich Lieder auf Russisch.
Im Juni 1940, ein außergwöhnlich heißer Sommer in Czernowitz, kamen
die Russen an die Macht. Dies war die Folge des berüchtigten MolotovRibbentropp-Abkommens, nach dem Rußland und Deutschland sich über
die Zweiteilung Polens geeinigt hatten; demnach erhielt Rußland auch
die Macht über die Bukowina und Bessarabien. So wurde Czernowitz zu
einem wichtigen Zentrum der russischen Besatzung.
Die Juden, die unter der antisemitischen rumänischen Regierungen
gelitten hatten, hofften, daß die Russen ihnen besser gesonnen waren. Die
ersten Tage liefen friedlich ab; die Leute blieben zu Hause und warteten
ab, um zu sehen, was nun geschehen würde.
Zu Hause waren wir nun eine dreiköpfige Familie: mein Vater, meine
Mutter und ich. Erika, mein treues Kindermädchen, hatte uns einige
Wochen zuvor verlassen. Sie kam eines Tages zu meinen Eltern und gab
vor, sofort die Stadt verlassen zu müssen, um eine alte Tante zu
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
verpflegen, die im Sterben lag. Sie verschwand, ohne jegliche Spuren zu
hinterlassen und ließ nie wieder von sich hören. Für meine Mutter
bedeutete dies, daß sie nicht mehr so regelmäßig zur Arbeit gehen könnte,
wie sie es sich gewünscht hätte, aber meine Großmutter Sabine würde
einspringen und helfen.
Als die Russen in Czernowitz einmarschierten, war alles friedlich und
gelassen, oder so kam es mir, aus der Sicht einer Zweijährigen, jedenfalls
vor. Meine Eltern blieben nun zu Hause und gingen nicht mehr ins
Geschäft. Ihr Konkurrent, der berühmte Moscaliuk, war inzwischen
verschwunden und sein Geschäft sah verlassen aus. In der
kommunistischen Welt war es keine gute Sache, ein erfolgreiches
Geschäft zu besitzen; also hatten meine Eltern ihr Geschäft geschlossen,
das Schild mit dem Namen "Zeller" abgenommen und begnügten sich
damit, das Leben mit mir zu Hause zu genießen. Der Gedanke, daß wir
nun zur UdSSR gehörten, hatte die sozialistischen Ideale, die beiden
meiner Eltern aus der Zeit im Schomer-Hatzair wohl vertraut waren, und
an die mein Vater sogar wirklich glaubte, in ihnen wieder aufgelebt. Sie
beschlossen sofort, Russisch zu lernen. Mein Vater ging für einige
Stunden aus dem Haus und kehrte mit einem ganzen Stapel von Büchern
auf Russisch zurück, mitsamt Lehrmaterial.
Täglich saßen wir stundenlang am Wohnzimmertisch, übten Sätze auf
Russisch und sangen viele russische Lieder. Auch ich lernte, einige
Lieder mit meiner Kindesstimme zu singen und lernte die Sprache; bis
heute noch kann ich mich an einige Wörter erinnern. Mein Vater hatte
eine hübsche Stimme und er brachte mir bei, die russischen Vokabeln
nachzusprechen.
Äußerlich schien das Leben ruhig und friedlich abzulaufen, doch unter
den Juden gab es zwei Gruppen, denen es äußerst schlecht ging: die
Kommunisten, die erst gemeint hatten, daß nun gute Zeiten für sie
gekommen waren, jedoch bald als "gefährliche Elemente" nach Sibirien
deportiert wurden, und die Bürgerschicht, die als reich und dekadent galt.
Welcher der beiden Gruppen gehörten meine Eltern an? Mein Vater
glaubte an die kommunistisch-sozialistischen Ideale und wünschte, an
dem neuen System teilzunehmen. Während seiner Studienjahre in Wien
war er in der sozialistischen Bewegung aktiv gewesen. Meine Mutter, die
Pragmatikerin, war der Meinung, daß wir unseren Lebensunterhalt
irgendwie verdienen und in der neuen Gesellschaft annehmbar sein
mußten. Sie sollte bald eine geniale Idee haben.
13
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Sobald die Russen in Czernowitz einmarschiert waren, wurden sämtliche
öffentliche Zeichen des rumänischen Staates durch kommunistische
Symbole ersetzt. Auf dem Ringplatz wurde ein Riesenbild Stalins
aufgestellt. Eine Säule mit dem russischen Sternzeichen am oberen Ende
wurde gebaut und überall erschienen nun Porträtbilder von Lenin, Stalin,
Marx und Engels. Meine Eltern betrachteten widerwillig die hastig
gemalten Figuren, die allgemein zu sehen waren, und mein Vater begann,
einige davon abzuzeichnen. Er machte hervorragende
Bleistiftzeichnungen; er hatte schon immer gezeichnet, sowohl für seine
Marmorfassaden-Entwürfe, als auch in seiner Freizeit.
Meine Mutter begab sich zu den Behörden und schlug ihnen vor, meinen
Vater als "chudoznik" (Kunstmaler) einzustellen, um Portraitbilder der
großen Anführer, wie Lenin, Stalin und andere, zu malen. Sie hatte eine
Mappe mit einigen seiner Zeichnungen mitgebracht und die Leute waren
sehr beeindruckt. "Gut," sagten sie, "wir werden ihn für uns arbeiten
lassen; wir werden ihm Farben und Papier geben, so viel er braucht." Nun
war mein Vater bei den Russen eingestellt und für uns schien soweit alles
gut zu gehen.
Auf der Arbeit lernte mein Vater andere Leute kennen und bald fanden
sie heraus, daß er russische Lieder recht schön singen konnte. Man lud
ihn zu den Feiern der wichtigen Anführer ein. Fast ein ganzes Jahr lang
sah das Leben für uns gut aus, bis auf die Tatsache, daß meine Mutter nun
viel Zeit mit mir zu Hause verbringen mußte, was sie etwas unglücklich
machte. Aber in den gegebenen Umständen hatten wir keinen Grund zur
Klage.
Die Nachrichten über den Krieg in Europa waren äußerst schlecht. Den
Russen wurde klar, daß sie sich auf den Krieg vorbereiten und ein
kampftüchtiges Heer aufstellen mußten.
Sämtliche junge Männer in Czernowitz wurden nach und nach in die Rote
Armee rekrutiert. Sogar Dr. Segal, der in einem Krankenhaus arbeitete,
wurde einbezogen und mein Vater ebenfalls. Sie fanden sich alle im
Übungslager in Rosch10 wieder, ein großes Areal mit Wäldern und
offenen Feldern. Der czernowitzer "jüdische Trupp" war wohlbekannt, da
viele unter den Soldaten ehemalige Mitglieder der Jugendbewegungen
waren, die in der Maccabia aktiv gewesen waren. Sie waren jung, kräftig
und sie unterstüzten sich gegenseitig. Mein Vater, Tata, wie ich ihn
damals nannte, war von allen beliebt: seine Russischkenntnisse waren
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Rosch, eine Vorstadt Czernowitzs, auch Czernowitz-Rosch benannt.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
zwar begrenzt, aber er wußte viele wunderschöne Lieder auf Russisch zu
singen und seine klare Tenorenstimme rührte manchen bis zu den Tränen.
Am meisten wurde er aber für seine körperliche Kraft geschätzt. Obwohl
er kein großgewachsener Mensch war, war er außergewöhnlich stark.
Meine Mutter hatte sich in ihn verliebt, als sie ihn beim Athletikertraining
im Maccabiclub in Czernowitz zugesehen hatte. Auch viele der
russischen Soldaten, die ohne tägliche Ration Alkohol nicht auskommen
konnten, mochten ihn sehr: mein Vater pflegte nämlich, als ehemaliges
Mitglid des Schomer Hatzair, keinen Alkohol zu trinken und er war
immer bereit, seine Wodkaration einem ukrainischen oder russischen
Freund abzutreten.
Einmal in der Woche besuchten meine Mutter und ich meinen Vater. Wir
gingen zu Fuß nach Rosch hinunter, am Schillerpark entlang. Jedesmal
erwartete uns Tata am unteren Ende des Hangs mit ausgestreckten
Armen, um mich aufzunehmen. Ich rannte den ganzen Hügel hinunter,
um seine Umarmung entgegen zu nehmen. Er freute sich immer so sehr,
mich zu sehen! Meiner Mutter sagte er auf Deutsch: "Sie ist ja dermaßen
gewachsen, sie ist so hübsch, sie redet so schön!".
Immer hatte mein Vater ein kleines Geschenk für mich dabei, meistens
einen geschnitzten Stein in Form eines Tieres, oder einer Puppe. Er ging
mit mir mir in den Wald spazieren, warf mich hoch und spielte mit mir
während des ganzen Besuches. Wir setzten uns unter die Apfelbäume und
verzehrten Butterbrote, die wir von zu Hause mitgebracht hatten, und
vom Baum gepflückte Äpfel. Oft erzählte er mir auch eine Geschichte
und brachte mir neue russische Lieder bei. Manchmal war meine Mutter
etwas verärgert darüber, daß er ihr nicht mehr Zuwendung gab. Sie hätte
so gerne die Lage, die Schwierigkeiten, die Sorgen über die Zukunft mit
ihm besprochen; er aber sagte immer wieder nur: "Frieda, wir wissen
nicht, was morgen auf uns zukommt, laß uns den heutigen Tag genießen".
Nach jedem Besuch in Rosch kehrten wir leicht traurig nach Hause. Ich
war traurig, weil ich mich nicht von Tata verabschieden wollte; meine
Mutter war traurig, weil sie ihre Sorgen nicht mit meinem Vater teilen
konnte. Manchmal gingen wir direkt nach Hause in die Franzensgasse,
wo jetzt nur noch wir beide wohnten. Die Wohnung wirkte jetzt völlig
leer und wir benutzten nicht mehr das Schlafzimmer. Stattdessen
schliefen wir beide zusammen im Wohnzimmer neben dem Radio.
Andere Male gingen wir zu meiner Großmutter, wo wir immer leckeres
Essen serviert bekamen. Damals war mir nicht bewußt, daß es eigentlich
eine sehr ärmliche Kost war, wie süßes Bohnenpüree als Brotaufstrich auf
einer Scheibe Graubrot. Für meinen Geschmack war es köstlich.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Ich liebte es, meine Großmutter zu besuchen. Meistens schlief mein
Großvater in seinem großen Bett und beachtete uns kaum. Meine Mutter
und meine Großmutter hatten immer viel zu besprechen und ich durfte
währenddessen auf dem riesengroßen Hof spielen, wo Hühner und Gänse
frei herumliefen. Dort gab es auch Kinder, die keine Juden waren; sie
liefen barfuß und spielten mit großen Rädern, die sie vor sich hin
schoben. Sie waren laut und sprachen eine fremde Sprache, die ich zu
Hause nie gehört hatte: es war Rumänisch. Aber es machte Spaß, ihnen
beim Spielen zuzuschauen.
Meine Großmutter - ich nannte sie Baba - hatte ein winziges Häuschen
mit zwei Zimmern, daß Teil einer Reihe von Kleinhäusern war, die um
einen großen Hof angelegt waren. Diese Häuserreihe lag am Stadtrand,
oberhalb eines breiten und grünen Tals, das von den Zügen durchquert
wurde. Die Bewohner gingen mehrmals am Tag an den Nachbarhäusern
vorbei, so daß jeder genau wußte, was bei jedem vorging. Für mich war
es ein Paradies – so lebendig und ganz anders, als unsere saubere und
anständige Wohnung in der Stadt. Die Leute teilten sich alle eine Latrine
im Offenen, die aus zwei in der Erde gegrabenen Löchern bestand und
mit einem Holzhäuschen überbaut war. Ich hatte es nicht nötig, dorthin zu
gehen, da es bei meiner Großmutter im Hause ein Töpfchen für mich gab.
Während unserer Besuche bei Baba saß meine Mutter stundenlang mit ihr
am Küchentisch und die Beiden unterhielten sich mit gedeckter Stimme.
Jedesmal wenn wir dorthin gingen, brachte meine Mutter ein Paket von
zu Hause mit und Baba steckte es in einen ihrer kleinen Schränke. Nach
und nach füllten sich die leeren Schränke mit den Sachen, die wir aus
unserer Wohnung mitgebracht hatten: Bettwäsche, Tischdecken,
Silberbesteck, teure Kleider, Pelze, usw. Ich wußte nicht, warum meine
Mutter dies tat, aber ich freute mich immer, dorthin zu gehen und liebte
es, bei meiner Großmutter zu bleiben, während meine Mutter einige
Geschäfte erledigte.
Die Tage verstrichen langsam, die Gesichter der Erwachsenen wurden
immer trauriger, während sie sich die Nachrichten im Radio anhörten und
sich anschließend gegenseitig mitteilten, was sie dort erfahren hatten. Ich,
dagegen, genoß meine Bewegungsfreiheit bei Baba und genoß unsere
Besuche in Rosch.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 3
Die Rumänen sind wieder da und die Nazis sind mit dabei!
Eine Reihe von schreckenerregenden Explosionen und ein großer Lärm
riß meine Mutter und mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Alle paar
Sekunden hörte man ein Pfeifen oder eine Explosion, dann ging das Licht
in der Wohnung aus. Wir hatten einige Kerzen, die meine Mutter mit
zitternder Hand anzündete, während ich ganz stille hielt und es nicht
einmal wagte, Atemgeräusche von mir zu geben. Ich war nun schon drei
Jahre alt und ich verstand sehr wohl, daß etwas Schlimmes vorging.
Plötzlich klopfte jemand laut an der Eingangstür. Unsere Nachbarin, Frau
Segal, stand zitternd vor uns, mit Tränen im Gesicht: "Die Deutschen sind
in Russland einmarchiert. Unsere Männer werden umkommen. Was
sollen wir tun?" Inzwischen kam ein anderer Nachbar die Treppe
heruntergelaufen und sagte: "Sperren Sie jetzt Ihre Wohnung ab und laßt
uns alle so schnell wie möglich über die Straße in den Schutzkeller
rennen! Die Bomben fallen überall...".
Meine Mutter sagte kein Wort. Sie nahm mich auf den Arm, schloß die
Wohnung ab und wir eilten die Treppe hinunter. Wir liefen über die
Straße, immer weiter rennend, und sahen viele andere Menschen, die in
die gleiche Richtung rannten. Es war ein frischer, nicht wirklich kalter
Junimorgen; deswegen hatte meine Mutter weder Pullover, noch Decken
mitgenommen, aber die Anderen trugen ganze Bündel davon mit. Ich
dachte mir: "Warum haben alle so sehr Angst? Was sind Bomben? Ich
muß unbedingt sehen, was eine Bombe ist!". Ich blickte aufwärts in den
Himmel, konnte aber nur flackernde Lichter und Baumäste wahrnehmen,
die auf uns hinunterfielen. Jahrelang habe ich in der Vorstellung gelebt,
daß eine Bombe ein großer Baum ist, der aus dem Himmel auf die
Menschen hinunterfällt.
Es war die letzte Woche im Juni des Jahres 1941, als die Deutschen in die
Sowjetunion einmarschierten; die Russen mußten aus Czernowitz fliehen.
Die russischen Heereseinheiten, die in Rosch stationiert waren, mitsamt
meinem Vater, Dr. Segal und vielen anderen jungen czernowitzer Juden,
wurden über Nacht evakuiert. Das rumänische und das deutsche Heer
übernahmen die Macht über die Bukowina, und damit auch über
Czernowitz. Während der Machtübernahme gab es einige Tage lang
Bombenangriffe, doch die Machtübernahme war rasch und erschreckend.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Nachdem die Lage sich etwas beruhigt hatte, begaben meine Mutter und
ich nach Rosch, um zu versuchen, herauszufinden, was mit meinem Vater
geschehen war; die Russen jedoch waren fort und nun waren dort
rumänische Soldaten stationiert. Die roten Fahnen waren durch
rumänische und deutsche Fahnen ersetzt worden. Es gab dort niemanden,
den man ansprechen konnte und so waren wir auf Gerüchte angewiesen.
Meine Mutter fragte jeden, den sie kannte, doch konnte sie nichts
herausfinden.
Im Laufe des kommenden Monates pendelten wir zwischen unserer
Wohnung und Babas Haus hin und her. Ich verbrachte mehr und mehr
Zeit bei ihr, während meine Mutter versuchte, Auskunft über meinen
Vater zu erhalten. Schließlich kam eines Tages ein jüdischer Soldat, der
der Evakuierung nach Rußland entgangen war, und berichtete der
jüdischen Gemeinde, daß alle Juden, die von der roten Armee rekrutiert
worden waren, sich in einem Zug befunden hatten, der einen schweren
Bombenangriff der Deutschen erlitten hatte und daß alle Männer dabei
umgekommen seien. Er sagte, er sei der einzige Überlebende aus dem
"jüdischen Regiment". Meine Mutter kam zurück zu Baba mit der
Nachricht, sagte aber sofort: "Ich glaube es nicht, daß Willy tot ist. Ich
bin sicher, daß er irgendwie entkommen ist und wir müssen einen Weg
finden, mit ihm Kontakt aufzunehmen".
Zu dieser Zeit hatte die jüdische Gemeinde in Czernowitz bereits viele
ihrer Mitglieder verloren. Mindesten 10.000 Juden waren durch die
Sowjets nach Sibirien deportiert worden. Andere waren umgebracht
worden oder waren geflüchtet. Einige Tausend junge Leute waren in die
Rote Armee zwangsrekrutiert worden. In den ersten Tagen nach ihrer
Invasion im Juni 1941 ermordeten die Rumänen und die Nazis ungefähr
1000 Juden. Ukrainische Randalierer trieben sich in der Stadt herum und
bestahlen und plünderten zahlreiche jüdische Geschäfte und Wohnungen.
Die Juden bemühten sich, zu Hause zu bleiben und sich so still wie
möglich zu verhalten.
Ich blieb gerne bei meiner Großmutter; dort verbrachte ich die meiste
Zeit des Tages auf dem großen Hof, wo ich mit den anderen Kindern
spielte. Meine Baba hatte immer etwas Leckeres für mich zu essen da,
obwohl damals schon vielen jüdische Familien an Nahrungsmangel litten.
Sie hatte viele Freunde unter den ukrainischen Dorfbewohnern, sie zu ihr
nach Hause kamen und ihr etwas Butter, Käse und Brot verkauften, so
daß wir recht gut zurecht kamen.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Gegen Ende des Sommers wohnten meine Mutter und ich bereits ganz bei
meiner Großmutter und wir besuchten nicht einmal mehr unsere
Wohnung. Später erfuhr ich, daß die Wohnung von dem rumänischen
Heer beschlagnahmt worden war. Dann, eines morgens, am 11. Oktober,
kamen Juden in großen Scharen in den großen Hof hinter dem Haus
meiner Großmutter hineingeströmt – Frauen, Männer, Kinder und Greise.
Das Wohnviertel am Stadtrand wurde nun zum jüdischen Getto.
Am frühen Morgen dieses Oktobertages wurden die Vorstehende der
jüdischen Gemeinde in das Büro des rumänischen Militärgouvernörs der
Stadt, General Vasily Ionescu, vorgeladen. Dort gab der Gouvernör
Anweisungen, ein Getto im nördlichen, niederen Teil der Stadt zu
gründen, wo bereits an die 10.000 Juden (und auch viele Nicht-Juden) aus
besonders niedrigen Verhältnissen lebten. Sämtliche Bewohner
Czernowitz jüdischer Konfession wurden aufgefordert, sich sofort dorthin
zu begeben, mit nur den wenigen Habseligkeiten, die sie selber tragen
konnten. Ab Tagesende um 18:00 Uhr würde jeder Jude, der sich
außerhalb des Gettos befände, auf der Stelle hingerichtet werden.
Während des ganzen Tages schlossen sich 40.000 Juden aus der ganzen
Stadt den 10.000 an, die sich bereits dort befanden. Um punkt 18:00 Uhr
umzingelten die rumänischen Soldaten das Getto, bauten einen
provisorischen Holzzaun um das ganze Getto auf und fügten einen
Stachelzaun oben hinzu. Bewaffnete Wachsoldaten wurden vor den
Gettoeingang aufgestellt.
Babas Häuschen wurde zu einem Zufluchtsort für viele Frauen. Einige
unter ihnen waren Verwandte, Kusinen und Tanten, während Andere
einfach nur Nachbarinnen oder Fremde waren. Neben dem großen Bett
standen weitere Betten und Matrazen und das ganze Haus erschien mir
wie ein einziger großer Teppich von Frauen. Mein Großvater Lejzer den ich Djadja nannte - wurde gebeten, mit den anderen Männern im
Schuppen zu schlafen.
Die Frauen waren hübsch gekleidet in das Getto gekommen, mit Koffern
und Taschen in den Händen. Ihre Gesichter sahen traurig aus und sie
sprachen kaum. Einige der Kusinen meiner Mutter, an die ich mich noch
erinnern konnte und die früher sonst immer so nett zu mir gewesen
waren, nahmen mich jetzt gar nicht wahr. Genau genommen achtete kein
Mensch auf mich, außer meiner Großmutter. Nicht einmal meine Mutter
kümmerte sich um mich. So kam es, daß niemand mir Vorschriften
machte. Ich genoß es, unghindert herumzurennen, zu spielen, zu singen,
an dem Gettozaun zu stehen und die rumänischen Soldaten beim Marsch
zwischen den Spalten des Holzzaunes zu beobachten. Bald lernte ich
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
einige ihrer Lieder und stand dort, mit den Soldaten mitsingend. Einige
von ihnen wurden auf mich aufmerksam und lächelten mir zu. Ich liebte
es, unter den anderen Kindern dort zu stehen und mich so aufzuspielen,
als ob ich ein Anführer sei, da ich ja ihre Lieder kannte. Von Zeit zu Zeit
bemerkte mich meine Großmutter und zerrte mich vom Zaun weg:
"Verstehst du denn nicht, wie gefährlich das ist? Die Soldaten dürfen
dich nicht sehen! Es ist nicht erlaubt, neben dem Zaun zu stehen." Ich
schaute dann auf sie auf und sagte: "Aber Baba, die sind doch so nett und
sie lächeln mich an." Baba schaute mich jedes mal händeringend an, dann
säufzte sie tief: "Oj wej!" und ließ mich wieder gehen.
Während des Tages, wenn die meisten der Frauen sich nach draußen
begeben hatten, um etwas frische Luft zu atmen, pflegte ich von einer
Matratze zur Anderen herum zu hüpfen. In meiner Wahrnehmung war die
schlechte Lage durch die Verhaltensweise der Erwachsenen bedingt; ich
wünschte nichts Anderes, als die Freude am Zusammensein zu genießen,
sowie die wundersame Tatsache, daß all diese Leute nun in Babas
winzigem Häuschen übernachteten, daß sich gestreckt und dermaßen
verändert hatte. Ich empfand Mitleid für viele dieser eleganten Damen,
die jetzt völlig grau, mitgenommen und erschrocken aussahen. Sie hatten
das Meiste ihrer schönen Kleider gegen Nahrungsmittel verkauft und
wirkten jetzt schäbbig und ungepflegt. Ich hätte gerne mit ihnen geredet,
um sie zum Lachen zu bringen und zu erheitern, aber wenn ich mich einer
von ihnen annäherte und ihr trauriges und verschlossenes Gesicht
erblickte, konnte ich kein Wort hervorbringen.
Außer den rumänischen und deutschen Soldaten, die auf den Straßen
Parade hielten, sahen wir auch zahlreiche Juden, mit Bündeln und
Koffern in der Hand, die stumm in Richtung des Bahnhofs, der sich ganz
in der Nähe des Gettos befand, schritten. Sie liefen mit hängendem
Haupt, ohne um sich herum zu schauen und fröstelten in der kühlen
Oktoberluft. Ihr Anblick machte mir Angst und ich lief gewöhnlich zu
Baba und sagte ihr: "Wir werden immer hier in deinem Häuschen
bleiben, nicht war?". Sie pflegte mich zu umarmen und zu hätscheln,
ohne dabei ein Wort zu sagen.
Täglich sammelten Menschenscharen ihre Habseligkeiten zusammen,
verließen das Getto und begaben sich zum Bahnhof. Sie trugen alle einen
gelben Davidstern auf ihren Kleidern. Oft sah ich, wie meine Großmutter
solche Davidsterne nähte und sie an die Leute verteilte. Sie schnitt
jedesmal zwei Dreiecke aus Karton, bedeckte jedes Dreieck mit gelbem
Stoff und nähte die zwei Stücke zusammen. Es lagen immer einige Stück
dieses gelben Stoffes herum, doch sie erlaubte mir nicht, es anzurühren.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Einige der älteren Männer begannen, Sterne aus Holzstücken
herzustellen, die sie dann mit gelber Farbe bemalten. Manche erlaubten
mir, die Holzstücke zu bemalen und ich war froh, mit den älteren
Männern zusammen zu arbeiten.
Eines Morgens sah ich meine Mutter einen gelben Davidstern tragen. Sie
wirkte ernstvoll und blickte mich nicht an. Sie und Baba sahen beide so
aus, als ob sie die ganze Nacht hindurch nicht geschlafen hätten. Meine
Mutter trug ihren warmen Mantel, der innen mit Pelz gefüttert war und
von außen her sehr schlicht aussah. Sie trug einen warmen Hut auf dem
Kopf und hatte einen Schal um den Hut und ihre Schultern gewickelt. Sie
trug braune Stiefel mit schweren Sohlen, die alt aussahen, und
Wollhandschuhe. Sie hatte einen kleinen Koffer und einen Rucksack mit
Kleidern, die sie auf einen großen offenen Wagen legte, der an einem
Pferd gespannt war und auf dem Hof stand. Viele andere Leute legten ihr
Gepäck auf den Wagen. Alle waren sehr schweigsam. Sie blickten
einander besorgt an und sprachen kein Wort. Dann stieg meine Mutter auf
den Wagen und setzte sich auf das Gepäck, und einige andere Frauen
taten das Gleiche. Der Kutscher trieb das Pferd an und der Wagen kam
langsam in Bewegung. Ich stand daneben, meine Mutter anblickend und
eine Erklärung abwartend. Meine Mutter wandte sich zu mir und sagte
mit einem großen Lächeln: "Littika, ich verreise für kurze Zeit, um
deinen Vater zu treffen. Ich werde bald zurück sein. Bleib bei Baba und
sei schön brav". Sie stieg weder aus dem Wagen, noch umarmte sie mich.
Sie winkte mir einfach zu und ich winkte zurück. Baba und folgten mit
den Augen dem Wagen nach, der das Getto verließ und in der Ferne
verschwand. Baba wandte sich zu mir und sagte: "Laß uns reingehen; wir
machen uns eine Tasse Tee mit etwas Marmeladenbrot." Ich folgte ihr
schweigend.
All die Juden, die sich an diesem Tag zum Bahnhof begaben, wurden
nach Transnistrien geschickt. Transnistrien war der Name, den die
Rumänen einer Gegend um Moghilev herum, in der Ukraine, gegeben
hatten, eine Gegend, die zwischen dem Dniester-Fluß im Westen, dem
Bug-Fluß im Osten und dem Schwarzen Meer im Süden entlangstreckte.
Dort gabe es zahlreiche kleine Dörfer, von ukrainischen Bauern, darunter
auch eine beträchtliche Menge von jüdischen Familien, bewohnt; vor dem
Krieg lebten dort 300.000 Juden; nach dem Krieg überlebten nur
485 – alle Anderen waren im Krieg ermordet worden. Die Juden aus
Czernowitz und aus der ganzen Bukowina – und später auch aus
Bessarabien und aus Moldawien – wurden nach Transnistrien deportiert,
wo sie zu schwerer Körperarbeit für die örtlichen Gemeinden gezwungen
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
wurden. Die Deportationen fanden zwischen Herbst 1941 und Herbst
1942 statt. Die Rumänen schoben die Juden ohne jegliche vorausgehende
Planung ab; die Leute mußten in Zeiten von Hunger und Unterkunftsnot,
dem kalten Wetter ausgesetzt, für sich selbst sorgen. Viele verhungerten,
starben an Typhus oder an den Verhältnissen in den Arbeitslagern. Meine
Mutter wurde in einem der ersten Tranporte nach Transnistrien deportiert
Nachdem meine Mutter uns verlassen hatte, wurde das Getto immer
kleiner. Manche gingen zu Fuß, mit Taschen in den Händen, zum
Bahnhof, von wo aus die Aussiedlung organisiert wurde. Andere
erhielten eine Genehmigung, nach Hause zurückzukehren. Der
Bürgermeister von Czernowitz, Dr. Popovici, hatte es nämlich
fertiggebracht, die Rumänen dazu zu überreden, 20.000 Juden zu
erlauben, in der Stadt zu bleiben und nicht ausgesiedelt zu werden. Es
waren Leute,die für die Kriegsleistung erforderlich waren, wie Ärzte,
Elektriker und weitere wichtige Fachleute. Einige Personen über sechzig
und schwangere Frauen durften ebenfalls bleiben.
Unter den Leuten, die eine Bleibegenehmigung erhalten hatten, befand
sich auch mein Onkel Jossel. Er war Elektriker und arbeitete für die
Stadtverwaltung. In der Familie galt er zwar als das am wenigsten
begabte Kind meiner Baba – Srul, alias Tarzan, der älteste Sohn, der in
Palästina lebte, hatte in Wien Medizin studiert und war der Star der
Familie; meine Mutter galt als hochintelligente Tochter und mein Onkel
Bjumin (Benjamin), den ich nie kennen gelernt hatte, galt als der
Fleißigste von allen. Jossel, dagegen, war ein schweigsamer Mensch, der
immerfort lächelte und seinem Vater, Lejser, ähnlich war, mehr als alle
anderen Geschwister. Er besaß nicht viel mehr als eine
Grundschulausbildung und ich habe ihn nie lesen oder schreiben gesehen.
Baba, meine Großmutter, dagegen, war eine echte Autodidaktin: obwohl
sie schon in der 2. Klasse die Schule verlassen hatte, konnte sie fließend
Deutsch und Jiddisch lesen. Ich sah sie oft die Zeitung, ein Buch oder
sogar ein Gebetsbuch auf Hebräisch lesen. Sie hatte alles Mögliche getan,
um ihren Kindern die beste Erziehung zu verschaffen; doch Jossel hatte
große Schwierigkeiten auf der Schule, war aber technisch sehr begabt. So
erlernte er seinen Beruf als Jüngling. Er wurde zu einem hervorragenden
Elektriker und erhielt eine Stelle beim czernowitzer Bürgeramt.
Auch Rose Holzhaker, die Schwester meiner Großmutter, und ihre
Familie, erhielten eine Bleibegenehmigung, was für uns ein gewisser
Trost war. Sie galten als eine wohlhabende Familie aus der Stadtmitte.
Natan Holzaker, Roses Ehemann, war ebenfalls Elektriker, der zusammen
mit Jossel arbeitete. Zwei der drei Söhne von Rose und Natan, namens
Turi und Herbert, lebten bei ihren Eltern zu Hause.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Nachdem all die fremden Menschen das Getto verlassen hatten, blieben
meine Großeltern in ihrem kleinen Haus. Jossel hatte eine
Bleibegenehmigung für seine Eltern - meine Großeltern - ergattern
können, und sie waren momentan in Sicherheit. Er war nun der einzige
Sohn, der noch in Czernowitz war und es gelang ihm, seine Eltern vor der
schrecklichen Aussiedlung zu schützen.
Jossel besuchte seine Eltern jeden Tag; dabei spielte er mit mir, erzählte
mir Geschichten und Witze. Er brachte mir auch immer ein paar
Süßigkeiten mit, oder sogar ein Stück Kuchen, was für mich die Freude
des Tages bedeutete. Dann sagte er eines Tages zu Baba: "Vielleicht
sollte ich Littika zu mir nach Hause nehmen. Sie ist ja sowieso als meine
Tochter angemeldet. Bei uns zu Hause ist es warm und wir haben ein
Badezimmer mit fließendem warmen Wasser. Bald wird der Winter noch
viel kälter werden. Für die Kleine wird es einfacher und besser sein, und
auch dir wird es das Leben erleichtern." Ich nahm eine Träne im
Augenwinkel meiner Großmutter wahr, doch nach einigen Minuten gab
sie ihre Zustimmung und packte meine wenigen Habseligkeiten ein: ein
paar Kleider, aus denen ich schon fast völlig herausgewachsen war, zwei
paar Schuhe, ein paar Wollpullover und einen warmen Mantel. Ich ging
auf sie zu, umarmte sie und saß eine Weile auf ihrem Schoß. Ich flüsterte
ihr zu: "Wan wird meine Mammi zurück kommen?". Sie gab mir keine
direkte Antwort und sagte nur: "Deine Mutter wird dich von Jossels
Wohnung abholen." Das klang für mich sehr vielversprechend und ich
war bereit, mich auf den Weg zu machen.
Ich ging erfreut mit Jossel weg. Ich liebte meinen Onkel und ich wußte,
daß ich mich immer auf ihn verlassen konnte. Als wir bei ihm zu Hause,
eine große und gut geheizte Wohnung in der Stadtmitte, ankamen, stand
das Wohnzimmer voll mit Leuten. Es befanden sich dort meine Tante
Regine, die nun Jossels Ehefrau war - seine Kusine und die meiner
Mutter (ihr Vater war einer der zahlreichen Brüder meines Großvaters
Lejser). Die beiden Vetter hatten mit dem Zuspruch der ganzen Familie
geheiratet, da beide bereits fünfundzwanzig Jahre alt waren und noch
keinen Partner gefunden hatten, wobei sie gute Freunde zu sein schienen,
obwohl nicht wirklich ineinander verliebt. In dem großräumigen
Wohnzimmer erkannte ich Reginas beide Schwestern wieder: Nora, die
noch älter als Regina, aber unverheiratet, war und Mina, die jüngste und
die hübscheste der drei Schwestern. Außerdem saßen dort auch noch drei
junge Männer auf dem Sofa, äußerst entspannt und gesellig.
Nachdem Jossel die Tür mit zwei Schlüsseln aufgeschlossen hatte,
machte jemand uns von innen die Tür auf; wir traten in die Wohnung
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
hinein und alle grüßten uns; Regina wirkte überrascht und sagte: "Oh, die
Kleine bleibt jetzt bei uns. Ihre Mutter würde sich sicher sehr freuen.
Endlich können wir einmal etwas für sie tun." Ihre Worte klangen
wohlwollend, doch als ich ihr Gesicht erblickte, nahm ich einen
merkwürdigen Ausdruck wahr. Ich sagte mir in meinem Inneren, daß ich
mir ihre Worte merken und bei Gelegenheit Baba fragen müßte, warum
Reginas Gesichtsausdruck dermaßen unfreundlich wirkte.
Jossel führte mich an den Tisch und gab mir etwas zu essen. Er legte
meine Sachen ab und bereite mir ein Bett in dem gleichen Zimmer vor, in
dem Mina und Nora schliefen. Kein Mensch außer ihm schien sich
Gedanken um mich zu machen, aber ich war zufrieden, weil das Haus
voller Gelächter und Gespräche war, ganz anders als in dem stillen Haus
meiner Großmutter. Regina, Nora und Mina, die Kusinen meiner Mutter,
kannte ich aus Familientreffen und aus dem Getto. Sie hatten nie
besonders viel Interesse für mich gehabt, so daß ich meinem Onkel Jossel
zugetan war.
Am nächsten Morgen wachte ich auf und sah meine beiden Tanten Nora
und Mina in ihren Betten schlafen. Leise zog ich mein Kleid und meine
Schuhe an und ging ins Wohnzimmer. Ich war damals noch nicht im
Stande, meine Schnürsenkel zu zuschnüren und ließ sie lose hängen. Die
drei Männer vom vorigen Abend saßen nun am Eßtisch, tranken Tee und
unterhielten sich untereinander in einer fremden Sprache. Später erfuhr
ich, daß sie Polnisch sprachen. Es waren Juden, die aus de warschauer
Getto geflüchtet waren und die über Czernowitz auf dem Weg nach
Palästina waren. Die jüdische Gemeinde in Czernowitz half ihnen dabei,
wobei sie ein großes Risiko einging, da ertappte Flüchtlinge auf der Stelle
umgebracht wurden und die Familien, die ihnen Unterschlupf gewährt
hatten, wurden bestraft oder deportiert.
Ich wußte nicht, wer diese Menschen waren und warum sie sich bei
meinem Onkel aufhielten. Ich suchte nach Jossel, aber er war bereits zur
Arbeit gegangen. Nach einer Weile sprach mich einer der Männer in
einem Deutsch an, das eher wie Jiddisch klang: "Wie ist dein Name,
schejne Mejdale11?" Ich sagte, ich heiße Littika und daß ich dreieinhalb
Jahre alt sei. Der Mann griff mich auf, setzte mich auf seinen Schoß und
sagte: "Ich habe eine Schwester, die etwas älter ist als du. Ich hab ihr
beigebracht, ihre Schnürsenkel zu zubinden. Soll ich es dir auch
beibrigen?" Ich war sehr erfreut darüber, weil ich schon so oft versucht
hatte, meine Schuhe selber zu zuschnüren. Dann fügte er noch hinzu:
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"Schönes Mädchen" auf Jiddisch.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
"Meine Schwester kann auch bis zehn zählen; kannst du bis zehn
zählen?" Dann begann er mit mir zu zählen und wir hatten große Spaß.
Wir zählten natürlich auf Deutsch, wobei seine Aussprache etwas
komisch klang. Ich mußte besonders lachen, wenn er "finf" sagte.
Schließlich kam Regina ins Wohnzimmer hinein und sagte: "Oh, du bist
ja schon auf! Hast du Hunger? Was gibt dir deine Mutter denn
gewöhnlich morgens zu essen? Du weißt, wir haben jetzt schwierige
Zeiten und wir haben nur Schwarzbrot und Marmelade, das ist es, was ich
dir geben werde." Ich sagte nichts, da mir nicht klar war, was für eine
Antwort sie von mir erwartete. Ich blieb still; dann fingen die jungen
Männer an, mir Fragen zu stellen und Witze zu erzählen, und ich freute
mich über ihre Gesellschaft.
Plötzlich klingelte es an der Tür; ich war fest davon überzeugt, daß es
meine Mutter war. Ich rannte zur Tür und versuchte, sie zu öffnen, was
mir natürlich nicht geling. Ehe ich es versehen konnte, stand Regina über
mir und schlug mich vor dem Kopf und ins Gesicht, während sie mich ins
Wohnzimmer zerrte. "Du sollst nie, aber niemals an die Tür gehen,
verstanden?" Ich weinte bitterlich und rannte auf mein Bett zu. Meine
zwei Tanten waren sogleich aus ihren Betten gesprungen, als sie die
Türklingel gehört hatten und standen dort, kreidebleich und erschrocken,
in ihren Nachthemden. Die drei Männer, indessen, waren verschwunden;
mir fiel nur auf, daß dort, wo sich vorhin noch eine Tür zu einem
weiteren geräumigen Zimmer befunden hatte, nun eine Holzwand und ein
großer Schrank standen. Schließlich öffnete Regina die Eingangstür einen
kleinen Spalt, um zu sehen, um wen es sich handelte: es war ein Nachbar,
der nur kurz etwas sagte und wieder fort ging.
Regina zerrte mich zurück ins Wohnzimmer und sprach mich laut an:
"Du darfst auf keinen Fall an die Tür gehen. Ist dir das klar? Niemand
darf in dieses Haus hinein und du darfst mit niemandem reden, egal
worüber. Verstehst du das? Du hast jetzt ein paar Schläge von mir
bekommen, weil ich so wütend auf dich war; aber wenn du mir nicht
gehorchst, werde ich dir eine noch viel größere Tracht Prügel verpassen."
Ich konnte gar nicht mehr aufhören, zu schluchzen. Bis dahin hatte mich
noch nie jemand geschlagen oder so angesprochen, wie Regina es getan
hatte. Die drei Männer waren aus ihrem Versteck zurückgekehrt und
saßen im Wohnzimmer. Ich jedoch kehrte zu meinem Bett zurück und
spielte eine ganze Weile alleine. Nachdem meine Augen endlich wieder
trocken geworden waren und sich mein Atem beruhigt hatte, betrat ich
das Wohnzimmer und kündigte allen an: "Meine Mutter wird mich
abholen und ich warte auf sie." Alle blickten mich lächelnd an und ich
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
hörte, wie Regina einem der Männer zuflüsterte: "Ihre Mutter ist in
Transnistrien."
Am Abend kam endlich mein Onkel Jossel nach Hause. Für mich war es,
als ob mein Retter endlich angekommen sei. Er hatte mir ein großes
Stück Pekannuß-Kuchen mitgebracht, das köstlich schmeckte. Eigentlich
hatte ich keinen dermaßen großen Appetit, aber ich aß das ganze Stück
auf, weil ich meinem Onkel eine Freude machen wollte. Bevor er mich
ins Bett brachte, fragte ich ihn: "Wann glaubst du, daß meine Mutter
mich abholen kommt?" Er blickte mich an und sagte: "Warum, hast du es
nicht gut bei uns?"; ich sagte nur: "Ich vermisse meine Mutter" und
schlief ein.
Es verstrichen einige Tage; ich verbrachte weiterhin die meiste Zeit
zusammen mit den polnischen Flüchtligen. Dann kam eines Tages meine
Großmutter, um mich zu besuchen. Ich war so glücklich! Ich umarmte sie
in einem fort und klammerte mich an sie. Schließlich sagte sie: "Du sollst
schön brav sein und auf deine Tanten hören. Dieses Haus ist gut für dich,
hier hast du alles, was du brauchst."; ich aber wollte nur wissen, wann
meine Mutter mich abholen und nach Hause nehmen würde.
Eines Tages beschloß meine Tante Nora, daß ich schmutzig sei und eine
gründliche Wäsche nötig habe. "Schmutzig" war das Wort, das sie
benutzte und ich war zutiefst gekränkt, weil ich verstand, daß es etwas
schlechtes bedeutete. Sie streifte meine Kleider ab, steckte mich in eine
große, mit Wasser gefüllte Wanne und begann, an mir herum zu rubbeln.
Das Wasser war kalt, sie tat mir weh und ich fing an zu weinen. Sie geriet
außer sich vor Wut und befahl mir, sofort mit dem Weinen aufzuhören,
sonst würde sie mich ordentlich prügeln und dann hätte ich einen guten
Grund, zu weinen. Sie trocknete mich mit einem rauhen Badetuch ab und
sagte: "Jetzt wollen wir uns mal um dein verfilztes Haar kümmern." Sie
brachte einen kleinen Eimer Wasser und stellte sich hinter mir; sie
klemmte meinen Körper zwischen ihre beiden kräftigen Beine und
drückte mir den Kopf in den Eimer; dabei biegte sie mich um und
scheuerte meinen Kopf mit voller Wucht. Ich erstarrte völlig, mein
Körper war von der Kälte und von ihrem Griff wie versteinert; ich hielt
meinen Atem an. Schließlich endete die Qual. Sie half mir in saubere
Kleider hinein und bürstete mein Haar mit einer großen Bürste, mit
heftigen Bewegungen; danach führte sie mich voller Stolz ins
Wohnzimmer und sagte: "Jetzt haben wir ein sauberes Mädchen hier. Es
mußte sich ja mal jemand um sie kümmern"; sie setzte mich auf eins der
Sofas, neben einem der drei Polen. Ich konnte ihm ansehen, daß ich ihm
leid tat. Er nahm mich in die Arme, setzte mich auf seinen Schoß und
sagte zu mir: "Weißt du was, hübsches Mädel, ich hab ein Geschenk für
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
dich." Er holte eine Kästchen hervor, in dem ein paar kleine Ohrringe
lagen, die mit drei winzigen blauen Steinen versetzt waren. "Das wird dir
Glück bringen." Mit sanften Bewegungen steckte er mir die Ohrringe in
die Ohrlöcher – bei uns war es Tradition, kleinen Mädchen kurz nach der
Geburt Löcher in die Ohren zu stechen – und ich war wieder glücklich.
Ich habe diese reizenden Ohrringe lange Zeit nicht abgenommen, bis im
Alter von sechs Jahren, als mir einer von ihnen verloren ging.
Als ich eines Morgens aufwachte, hatten die drei Männer das Haus
verlassen und es saßen nun zwei andere Männer dort. Sie wirkten traurig,
verängstigt und nahmen mich nicht einmal wahr. Nach Ende der
täglichen Sperrstunden - Juden durften sich nur für einige Stunden am
Tag auf den Straßen Czernowitzs bewegen -, kam meine Großmutter zu
Besuch. Dieses Mal weinte ich bitterlich und bat sie, mich wieder
mitzunehmen: "Ich möchte nicht bei meinen Tanten hier leben. Ich
möchte mit dir und mit Großvater zusammen sein". Sie erklärte mir, daß
ihr Haus im Winter kalt sei und daß ich mich sehr langweilen werde, in
der Gesellschaft zwei alter Menschen, die nichts haben und bei denen das
Essen nicht besonders gut ist. "Wer wird dir abends leckeren Kuchen
mitbringen? Und wer wird den ganzen Tag mit dir spielen?" Ich weinte
und schluchzte immer fort weiter und sagte: "Das macht mir nichts aus,
ich möchte bei dir sein." Baba konnte es nicht ertragen, mich in diesem
Zustand zu sehen und schließlich nahm sie mich mit in ihr Haus. Den
ganzen Weg entlang versuchte sie mir klar zu machen, welch ein Glück
ich habe, daß Onkel Jossel und Tante Regina für mich wie Eltern waren.
Ich hörte nur zu und sagte nichts.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 4
Das Leben bei Baba
Das Leben in dem kleinen Haus meiner Großeltern im Getto, das
inzwischen menschenleer geworden war, war ruhig und ohne besondere
Eeignisse. Es war ein kalter und bitterer Winter und wir verließen nur
selten das Haus. Die meiste Zeit hockte ich neben dem Heizofen, in
Decken zusammengerollt. Draußen stapelte sich der Schnee bis zur Tür
hinauf, die Fensterscheiben waren morgens zugefroren und sahen wie
schillernde Kristalle in verschlungenen Formen und wie aus Eis
geschnitzte Figuren aus. Stundenlang betrachtete ich diese Formen und
malte mir dabei Menschen, Tiere und Bäume aus. Kleider, die nach der
Wäsche draußen zum trocknen aufgehängt worden waren, wurden über
Nacht zu Eiszapfen und mußten erst neben dem Ofen wieder aufgetaut
werden. Ich hörte die Leute sagen, daß dies der kälteste Winter sei, den
sie je erlebt hatten.
Von Zeit zu Zeit verließ meine Großmutter das Haus während der
Stunden, in denen es keine Ausgangssperre gab, um ein paar Einkäufe zu
machen, oder ihre Schwester Rosa oder ihren Sohn Jossel zu besuchen.
Es kam nie jemand uns besuchen; ich wollte immer mit ihr gehen und
nicht alleine mit meinem Großvater bleiben, aber es war zu kalt; meine
guten Schuhe waren mir allmählig zu klein geworden und mein
Wintermantel war nun zu kurz; so blieb mir nichts anderes übrig, als zu
Hause zu bleiben.
Ein oder zwei mal in der Woche pflegte Maria, die früher, als die Zeiten
noch besser waren, einmal bei meiner Großmutter als Magd gearbeitet
hatte, uns einen Besuch abzustatten. Sie brachte jedesmal etwas Arbeit
für meine Großmutter mit, die sie von verschiedenen Leuten
aufgesammelt hatte, wie alte, flickbedürftige Kleidung, Sachen, die aus
Altstoff geschneidert werden sollten oder Kleider, die gekürzt oder
verlängert werden mußten. In Gegenbezahlung für die kostbare
Handarbeit meiner Großmutter brachte Maria uns meistens Schwarzbrot
und frische Butter mit, manchmal auch etwas Marmelade. Wir aßen
täglich Mamaliga (die rumänische Bezeichnung für Mais-Polenta), und
zwar morgens, mittags und abends: morgens kalte Mamaliga-Scheiben
mit Marmelade, mittags heiße Mamaliga mit etwas Butter und abends
nochmals etwas Mamaliga. Manchmal kochte meine Großmutter
Kartoffeln, das schmeckte köstlich.
28
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Wenn Maria uns das Schwarzbrot brachte, war es ein wahrer Schmaus.
Dann schnitt Baba jedesmal eine gute dicke Scheibe für mich ab, bestrich
sie reichlich mit Butter, teilte die Scheibe in ganz kleine Vierecke auf und
garnierte jedes Viereck mit einem kleinen Knoblauchwürfel. Das eignete
sich besonders gut für die tägliche Jause, unseren Nachmittagstee. Es gab
zwar weder Zucker, noch Kuchen, Kaffee oder Tee, doch Baba bestand
darauf, jeden Tag eine Jause aus dem vor zu bereiten, was gerade
erhältlich war. Für jedes Brotviereck, das mit Butter und Knoblauch
garniert war, nahm ich mir jedesmal viel Zeit, den Geschmack genießend;
ich war sehr bemüht, mich noch Tage später an deren Geschmack zu
erinnern, wenn wir überhaupt kein Brot mehr hatten. Die Jause war auch
die Tageszeit, zu der Baba mir eine meiner Lieblingsgeschichten erzählte:
deutsche Märchen, wie Rotkäppchen, Schneewittchen oder Aschenputtel
– meine Lieblingsgeschichten – oder Geschichten aus der Bibel, wie
Joseph und der bunte Leibrock, die Geschichten von Jakob, Rachel und
Lea, von David und Goliath, oder von dem heldenhaften Samson. Baba
war eine hervorragende Geschichtenerzählerin und verstand es, alles
immer interessant und geheimnisvoll wirken zu lassen.
Baba war einmal eine hübsche junge Frau gewesen, bevor sie heiratete.
Sie war die älteste von drei Schwestern der Familie Rosenbaum, die in
einem Vorort Czernowitzs wohnte; alle drei waren sie kräftig, intelligent
und selbstständig. Zu Hause wurde Deutsch gesprochen und alle Töchter,
außer meiner Großmutter Sabine, hatten studiert und gut geheiratet. Tante
Sofie war die mittlere Schwester und sie war die intelligenteste. Sie
erhielt ihre Matura und brachte es zu einem Hochschulabschluß; sie
beherrschte Deutsch, Rumänisch und Französisch und wurde von allen
geschätzt und geliebt. Sie hatte einen wohlhabenden Mann geheiratet und
das Ehepaar war der Stolz der ganzen Familie. Von jeher war es der
Traum meiner Mutter gewesen, so wie Tante Sofie zu werden. Leider
erkrankte Tante Sofie an Krebs und starb kurz vor meiner Geburt.
Tante Rosa, die jüngste der drei Schwestern, war die klügste; sie war für
ihre Selbstsucht und ihre Rücksichtslosigkeit berüchtigt. Sie hatte einen
schweigsamen und zurückhaltenden Elektriker geheiratet, der, wie mein
Onkel Jossel, bei der Stadtbehörde angestellt war. Tante Rosa führte ein
Elektrogeschäft und verdiente gut. Ihre Familie war allgemein
wohlhabend und besaß ein großes, drei Etagen Gebäude in der Stadtmitte.
Baba Sabine, ihrerseits, hatte nur eine sehr geringe Schulerziehung
erhalten, da sie, als sie im zweiten Schuljahr war, eines Tages beschloß
hatte, mit Freunden an den Pruth-Fluß zu gehen, statt zur Schule. Am
nächsten Tag wurde sie in der Schule gescholten und nach Hause
geschickt; danach schämte sie sich zu sehr, um in die Schule
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
zurückzukehren. Ihre Mutter war zwar der Meinung, daß eine
Schulausbildung sogar für Mädchen wichtig sei, aber da Sabine bereits
Deutsch lesen und schreiben konnte und auch gute Grundkenntnisse im
Rechnen besaß, war die Mutter der Meinung, daß die Tochter zu Hause
bleiben könne, um ihr bei der Pflege der jüngeren Kinder und bei den
vielen Arbeiten auf dem Bauernhof behilflich zu sein. Besonders wichtig
war ihre Hilfe bei der Betreuung des kleinen Bruders, Hermann. Sabine
gab jedoch nie das Lernen auf: sie war eine Autodidaktin. Sie besserte
ihre Deutschkenntnisse auf, las Bücher und studierte Rumänisch und
Ukrainisch. Sie bat auch ihren Vater, ihr die hebräischen Buchstaben
beizubringen, damit sie auf Jiddisch lesen und schreiben könne und sie
las zahlreiche Bücher der damaligen jiddischen Autoren.
Sabine war die stille und ergebene Schwester, die von morgens bis
abends auf dem elterlichen Bauernhof und im Haus arbeitete, während
ihre Schwestern sich die meiste Zeit in der Stadt aufhielten. So war es
selbstverständlich, daß ihre beiden jüngeren Schwestern vor ihr
heirateten. Bald wurde sie als "alte Jungfer" angesehen. Dann, eines
Tages, machte ein ausgesprochen ansehnlicher junger Soldat in ihrem
Dorf halt und bat um Hilfe wegen seines Pferdes. Er war Kavallerist bei
der Österreichischen Armee und hieß Lieser Furman. Er hatte wenig
Bildung und konnte eigentlich kaum lesen, aber er sprach sehr nett mit
Sabines Eltern und machte den Eindruck, ein guter Jude zu sein. Er hatte
Sabine bei den Haushaltsarbeiten beobachtet und sich in sie verliebt. Bald
darauf heirateten sie und Sabines Eltern waren froh, ihre älteste Tochter
nun endlich fortzuschicken, damit sie sich eine eigene Existenz aufbaue.
Es war eine recht unglückliche Ehe. Doch solange Lieser einen Sold von
dem österreichischen Heer erhielt, waren sie im Stande, ihre vier Kinder,
Bjumin, Srul, Jossel und Frieda, in einem gewissen Wohlstand
großzuziehen. Auf diese Weise überstanden sie den Großen Krieg - den
1. Weltkrieg -, doch danach stellte das österreichische Heer den guten
Sold ein und Lieser wurde zum Pferdehändler. Er war kein besonders
fleißiger Mensch; er verdiente kaum etwas und war nicht im Stande, für
den Unterhalt seiner Familie zu sorgen. Die Last der Existenzabsicherung
fiel auf Sabine ab; sie war intelligent und tüchtig und fand immer einen
Weg, hier und da etwas Geld zu verdienen: sie kaufte, verkaufte und
handelte mit allerlei Waren, sie schneiderte und flickte und nahm viele
verschiedene Arbeiten an, die es ihr ermöglichten, ihre vier Kinder
großzuziehen. Sie brachte es sogar fertig, allen Kindern eine gute
Ausbildung zu ermöglichen, mit allen damals erforderlichen
Grundkenntnissen. Doch jederman wußte, daß die Furmans eigentlich
sehr arme Leute waren. Bjumin, der sich für Landwirtschaft interessierte,
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
kaufte sich einen eigenen Bauernhof in einem der Dörfer in der
Umgebung von Czernowitz und gründete dort seine Familie. Srul war ein
hervorragender Schüler auf der Schule und Sabine hatte jahrelang jeden
Pfennig, den sie beiseite legen konnte, gespart und schickte ihn später
nach Wien, damit er dort Medizin studiere. Er brach jedoch sein Studium
ab und verließ das Land, um nach Palästina auszuwandern und dort einen
Kibbuz zu gründen. Er hatte sich von den zionistischen Anführern
anfeuern lassen, die in Wien vor jüdischen Studenten ihre Reden hielten;
er fühlte sich eher dazu berufen, in Palästina ein Landwirt zu werden,
zum Wohl der zionistischen Sache, als Arzt zu werden und in Europa zu
bleiben. Jossel wurde ein fachmännisch ausgebildeter Elektriker und
Frieda schloß ihr Studium am "Safa Ivrija" ab, einem MädchenLehrerseminar für Hebräisch. Meine Großmutter Sabine konnte auf ihre
Familie stolz sein.
Nun, nach der Machtübernahme der Nazis, waren ihre Kinder an sehr
verschiedenen Orten zerstreut, wie in vielen anderen Familien in
Czernowitz: Bjumin und Frieda befanden sich beide in Transnistrien; Srul
lebte in Palästina und nur Jossel war in der Stadt zurückgeblieben, so daß
sie ihn von Zeit zu Zeit sehen konnte.
Meine Großeltern waren die einzige jüdische Familie, die noch im
Gettoviertel, eines der ärmlichsten Viertel der Stadt, lebte. Die
anderen Familien, die dort gelebt hatten, waren zum größten Teil nach
Transnistrien deportiert worden.
Ich, meinerseits, empfand es als ein Glück, bei meinen Großeltern zu
sein, ganz besonders bei meiner Baba, die ich innig liebte. Da ich kein
richtiges Spielzeug zum spielen hatte, pflegte meine Großmutter für mich
Puppen und Stofftiere aus Lumpen und Stoffresten aus alten Kleidern
herzustellen. Sie brachte mir deutsche Kinderlieder und einige kurze
Kinderreime bei. Mein Großvater, dagegen, verbrachte die meiste Zeit
des Tages im Schlaf oder verrichtete verschiedene Arbeiten um das Haus
herum. Er sprach nur selten mit mir und wenn er mich anblickte, hatte ich
dabei immer das Gefühl, als ob er sagen wollte: "Wer ist denn dieses
kleine Mädchen? Was hat es hier zu suchen? Warum ist es nicht bei
seinen Eltern?". Es betrübte mich nicht weiter, da ich glücklich war, bei
meiner Baba zu leben; ich vermisste jedoch meine Eltern, besonders
meine Mutter. "Wann kommt meine Mutter zurück?" fragte ich immer
wieder meine Großmutter. "Und warum ist sie weggegangen, ohne sich
zu verabschieden?". Meine Großmutter erklärte mir, daß meine Mutter
keine andere Wahl gehabt hatte und daß sie sich nicht verabschiedet
hatte, weil sie mich nicht traurig machen wollte. "Ich weiß, daß sie jede
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Minute an dich denkt und ich weiß, daß sie eines Tages zu dir
zurückkehren wird. Wir müssen durchhalten, gesund bleiben und diesen
Tag abwarten." Ich hörte ihr zu und hatte das Gefühl, daß sie recht hatte.
Oft habe ich mir vorgenommen, so weise und so stark wie meine Baba zu
sein.
Während der kalten Nächte dieses Winters schlief ich in der Mitte des
großen Bettes, mit meiner Großmutter zur einen Seite und meinem
Großvater zur anderen. Das hielt mich warm und zufrieden. Wir gingen
alle drei kurz nach Anbruch der Dunkelheit ins Bett und wachten bei
Tagesanbruch auf. Und doch, trotz aller Armut um mir herum und trotz
der Trennung von meinen Eltern, war ich ganz und gar nicht unglücklich,
ganz im Gegenteil. Dann, eines Nachts, wachte ich auf und stellte fest,
daß mir sehr kalt war. Ich war ganz alleine in dem großen Bett. Ich hörte
ein furchtbares Geschrei und merkwürdige, laute Stimmen. Ich richtete
mich auf, um zu sehen, was vorging und spürte, wie mein Körper vor
Schrecken erstarrte. Meine Großmutter stand in ihrem dünnen
Nachthemd vor einem der Fenster. Die Glasscheibe war zerschmettert;
Baba kramte die Sachen meiner Mutter aus ihrem Schrank heraus und
reichte sie jemandem in die Arme, der durch das Fenster hineinragte. Ich
sah das Silber der Kerzenständer im Dunkeln glitzern und die
wunderschönen bestickten Tischdecken. Jedesmal wenn sie zögerte,
drang ein langes Rohr durch das Fenster hinein, von eine fremden Hand
hineingeschoben, das Baba einen Hieb erteilte. Dabei stoß sie jedesmal
einen Schmerzschrei aus und reichte noch mehr Sachen hinaus. Meine
Augen suchten nach meinem Großvater, den ich andauernd "Gewalt,
gewalt!"12 schreien hörte. Er stand vor der Tür, stapelte verschiedene
Möbelstücke aufeinander und versuchte, den Hieben von außen
standzuhalten. Es war ein schrecklicher Anblick, und ich konnte nichts
machen!
Ich riß die große Daunendecke über meinen Kopf und blieb im Bett
liegen, ohne mich zu rühren. Mir war klar, daß ich stillehalten mußte,
damit niemand auf mich aufmerksam würde. Das Geschrei ging noch
lange Zeit weiter; dann kam plötzlich eine aufbrüllende Stimme vom
Gipfel des Hügels: "Hört sofort auf, oder ich rufe die Polizei!". Die Täter
rissen alles an sich, was meine Großmutter ihnen durch das Fenster
gereicht hatte und machten sich davon. Danach wurde es sehr ruhig und
ich konnte die Schluchzer meiner Großmutter und das kindliche Weinen
meines Großvaters hören. Langsam ließ ich die Decke hinuntergleiten
und kroch aus dem Bett hinaus, um einen Überblick zu erhalten. Baba saß
12
Auf Jiddisch soviel wie: "O je, o je!".
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
auf dem Boden, mitten in einem Haufen von Glasscherben und
schluchzte so tief, daß ihr ganzer Körper bebte. Mein Großvater saß auf
einem Stuhl, mit einer großen Heugabel in der Hand und weinte leise, mit
tiefen und gedämpften Seufzern. Ein kalter Wind wehte durch das
eingeschlagene Fenster; ich war besorgt und erschrocken, weil sie mich
beide gar nicht wahrzunehmen schienen.
Alle drei blieben wir eine ganze Weile so sitzen und ich war zu sehr
beängstigt, um irgend etwas zu sagen. Auf einmal richtete meine
Großmutter sich auf und blickte mich an, als ob sie mich zum ersten mal
wahrnehmen würde. Sie ging auf mich zu, umarmte mich und sagte:
"Mein Schatz, mein Ojtzer13! Wir müssen dich retten. Du sollst leben und
geborgen sein." In Momenten der Aufregung ging meine Großmutter von
einer Sprache zur anderen über. Dabei machten mir ihre Worte erst recht
Angst, weil ich nicht so recht verstand, was sie meinte.
Im Nu waren wir alle Drei angezogen und auf dem Bett lagen zwei kleine
Kleiderbündel. Der graue Wintermorgen war gerade angebrochen, als
jemand an der Tür klopfte. Wir erschraken alle drei zutiefst und unser
Herz pochte heftig auf. Es stellte sich heraus, daß es Maria war, die heute
ungewöhnlich früh ankam. "Was ist denn hier passiert?" fragte sie
staunend. Meine Großmutter erklärte ihr, daß rumänische Rabauken uns
überfallen und unsere ganze Habe weggenommen hatten. Erst zeigte sie
ihr die leeren Schränke, dann die blauen Flecken, die die Hiebe an
verschiedenen Stellen ihres Körpers hinterlassen hatten. Maria stand
händeringend da. "Ivan, unser Nachbar, der oben auf dem Hügel wohnt,
hat uns gerettet. Er hat die Rabauken angeschrien und verjagt."
Schließlich sagte Baba, daß sie Maria die Schlüssel des kleinen Hauses
geben wolle, da wir dabei waren, das Haus zu verlassen, um bei
Verwandten in der Stadt unterzukommen.
Nachdem Maria das Haus verlassen hatte, sagte Baba zu Großvater: "Ich
habe ein starkes Gefühl, daß Maria die Rabauken zu uns geschickt hat,
um uns Angst zu machen und uns zu berauben. Wahrscheinlich hätten sie
uns nicht umgebracht, aber Gottseidank ist Ivan ein gutmütiger Mensch
und hat eine kräftige Stimme. Kein einziger von unseren Nachbarn, die
wesentlich näher wohnen, hat auch nur einen Ton von sich gegeben oder
etwas unternommen. Es ist ohne Zweifel Ivans Stimme zu verdanken, daß
sie davongelaufen sind."
13
"Ojzer": Jiddisch für "Schatz".
33
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Draußen war es noch ziemlich dunkel und sehr kühl, doch sagte Baba,
daß sie sich sofort mit mir auf den Weg machen müsse, ohne das Ende
der Ausgangssperre abzuwarten, wenn die Juden sich nach draußen
begeben durften. Großvater würde später nachkommen. "Wo gehen wir
hin?" fragte ich besorgt, befürchtend, daß wir wieder zu Jossel und
Regina gehen würden. "Wir gehen zu Tante Rosa. Ich hoffe, daß sie uns
ein kleines Zimmer in ihrem großen Haus freimachen kann. Wir haben
keine andere Wahl." Ich kannte Tante Rosa nicht, wußte aber, daß sie
Babas jüngste Schwester war und das klang schon mal gut.
Lautlos verließen wir das Haus und den Hof. Baba führte mich durch
Nebenstraßen, auf denen zu dieser frühen Tagesstunde kein einziger
Mensch weit und breit zu sehen war. Sobald wir Schritte oder
Pferdetraben hörten, versteckten wir uns schnell in einem Durchgang
oder auf einem Hof. Deutsche und rumänische Soldaten patrouillierten
durch die Straßen und sorgten dafür, daß kein einziger Jude die
Ausgangssperre überschritt. Auf diese Weise kamen wir langsam und
qualvoll voran; Baba hinkte, weil sie auf einen Glassplitter getreten und
ihr Knöchel angeschwollen war; ich hinkte, weil meine Schuhe zu klein
waren und meine Zehen schmerzten. Schließlich erreichten wir Tante
Rosas Haus. Es war ein großes dreistöckiges Gebäude, an einer der
schönsten Straßen Czernowitzs gelegen.
Obwohl wir zwei Stunden lang gegangen waren, war es noch frühe
Morgenstunde und die Ausgangssperre war noch nicht beendet. Wir
stiegen die Treppen auf zur ersten Etage, auf der Tante Rosa mit ihrer
Familie wohnte, und klopften an der Tür. Es dauerte ein paar Minuten,
bis schließlich jemand die Tür öffnete. Tante Rosa stand im Türrahmen,
in Nachthemd und Morgenrock. Sie schien äußerst überrascht, uns zu
sehen und zögerte einen Augenblick, doch dann ließ sie uns in ihr
Wohnzimmer hinein. Es war ein großes Zimmer mit einem
wunderschönen Kronleuchter in der Mitte und einem großen Eßtisch mit
Stühlen darunter. Bald war die ganze Familie im Wohnzimmer
angesammelt: Onkel Nathan, Tury, 19, und Herbert, 17 Jahre alt. Baba
erzählte ihre Geschichte und zeigte ihnen die blauschwarzen Flecken, von
denen ihr ganzer Körper übersäht war. Ich fand es etwas verwunderlich,
daß sie sich nicht schämte, ihre Bluse und ihren Rock hoch zu heben und
die blauen Flecken zur Schau zu geben, aber scheinbar war sie viel zu
aufgeregt, um auf irgend eine meiner Fragen einzugehen. Alle hörten ihr
zutiefst erschüttert zu, doch ging keiner auf sie zu, um sie etwa zu
umarmen oder zu trösten. Schließlich sagte Tante Rosa: "Wie du weist,
leben Nathan und ich jetzt hier mit unseren beiden Söhnen, Tury und
Herbert. Wir haben nicht viel Platz, aber Tury könnte zu Herbert ins
34
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Zimmer ziehen und ihr könntet vorerst in Turys Zimmer wohnen." Baba
zog ihren linken Schuh aus, ihr Fuß sah schlecht aus, er war ganz rot
angelaufen und angeschwollen. Tury und Herbert eilten in das Zimmer
und bereiteten das Bett für Baba zu. Danach legte sie sich hin und schloß
die Augen. Ich stand dort herum und wartete ab, daß jemand auf mich
aufmerksam würde. Tury kam als erster auf mich zu; er half mir aus
meinem Mantel und aus den nassen Schuhen heraus; dann setzte er mich
auf einen Stuhl in der Küche und bereitete mir ein Spiegelei zu, mit etwas
Brot und Butter. Ich hatte seit Langem keine Eier mehr gegessen und
genoss jeden einzelnen Bissen von dem Brot, daß ich in das Eigelb
tunkte. Danach kehrte ich zu Baba zurück und setzte mich neben sie auf
das Bett. "Jetzt erzähle ich dir Geschichten und du kannst dich ausruhen",
sagte ich zu ihr. Gegen Mittag kam mein Großvater an und wir richteten
uns alle drei in Turys Zimmer ein, das angenehm und schön warm war
und ein Fenster mit Ausblick zur Straße hatte. Ich hatte das Gefühl, daß
ich mich dort glücklich und wohl fühlen würde. Über Tante Rosa machte
ich mir keine Illusionen, doch hatte ich das Gefühl, daß Tury und Herbert
mich mochten.Ich wußte schon, daß die beiden bald meine besten
Freunde sein würden.
Meine Großeltern kehrten nie wieder in ihr kleines Haus zurück und wir
hörten nie wieder etwas von Maria. Dieses Kapitel in unserem Leben war
nun zu ende.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 5
Das Leben bei Tante Rosa
Die Nacht nach unserer Ankunft bei Tante Rosa war schlaflos. Wir lagen
alle drei in einem Bett, das wesentlich kleiner war als das Bett, daß wir in
dem kleinen Hause gehabt hatten. Baba stöhnte die ganze Nacht hindurch
– sie erlitt fürchterliche Schmerzen und konnte nicht schlafen. Mein
Großvater saß den größten Teil der Nacht auf einem Stuhl; hier und da
nickte er ein, dann fuhr er plötzlich aus seinem Schlaf auf, tief stöhnend.
Wir ließen die Stromlampe die ganze Nacht brennen, weil wir, nach so
langer Zeit mit einer Gaslampe in dem kleinen Haus, es genossen, endlich
wieder Stromlicht zu haben. Ich konnte nicht schlafen, weil ich mir
Sorgen um meine Baba machte und dachte, beten zu müssen. Ich hatte
Leute zu Gott beten gehört, wußte aber nicht, wie es gemacht wird. Es
war ende Februar 1937 und ich war fast 4 Jahre alt, und ich wußte nicht,
wie man zu Gott betet.
Am nächsten Morgen kam Tante Rosa herein, um nachzusehen, wie es
ihrer Schwester ging. Sie rührte Babas Stirn an und ließ einen Schrei aus:
"Mein Gott, du glühst ja! Du hast sehr hohes Fieber, wir müssen sofort
Dr. Pistiner rufen". Gegen Mittag kam der nette jüdische Arzt an. Er war
ein lächelnder Mann mit einem gestutzten weißen Bart. Er brachte
Medikamente für Baba mit und untersuchte ihr verletztes Bein.
Schließlich bat er Tante Rosa, eine große Schüssel warmes Wasser zu
bringen und gab Baba darin ein Fußbad. Er verordnete eine tägliche
Wiederholung des Fußbads und er würde in einige Tagen nochmals
vorbeikommen, um den Stand der Dinge festzustellen. Zu Baba sagte er,
während er mit dem Blick über das Zimmer streifte: "In diesen schlechten
Zeiten sollten Sie froh sein, so ein hübsches Zimmer zu haben, in dem sie
sich ausruhen können, und eine Schwester, die Sie verpflegen kann.
Versuchen Sie doch, zu schlafen, zu essen und Ihr Bein zu schonen, bis
der Glassplitter herauskommt." Dan blickte er zu mir und sagte lächelnd:
"Kleines Mädchen, kannst du tanzen und singen? Sie zu, daß du deine
Großmuter bei guter Laune hälst, damit es ihr bald wieder besser geht."
Als der Arzt uns verließ, fühlte ich mich sehr erfreut; ich umarmte Baba
und sagte zu ihr: "Meine Gebete sind erhört worden und du wirst wieder
gesund werden. Tante Rosa betrachtete mich und sagte, mit einem
traurigen Gesichtsausdruck: "Gerade erst vier Jahre alt und redet schon
wie eine Erwachsene. So ein vorkluges Kind, wie schrecklich!". Tante
Rosas Worte "sie redet ja wie eine alte mojd" hallten in meinem Kopf
wider. Mir war klar, daß sie mich nicht mochte.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Den ganzen Tag lang bemühte ich mich, für meine Baba zu tanzen und zu
singen und ihr all die Geschichten zu erzählen, an die ich mich erinnern
konnte. Schließlich blickte mein Großvater mich verärget an und sagte:
"Jetzt sei doch mal ruhig, du machst so viel Lärm, daß nicht schlafen
kann.". Also ging ich ans Fenster und saß dort lange Zeit, die Leute
betrachtend, die sich mit raschen Schritten in der Kälte bewegten.
Sämtliche Häuser auf der gegenüberliegende Straßenseite waren mit
Schnee bedeckt und sahen wie Märchenschlösser aus. Ich war nur etwas
traurig; ich dachte mir, daß wenn meine Mutter da gewesen wäre, sie sich
um Baba und um mich gekümmert hätte und daß wir dann alle glücklich
hätten sein könnten.
Den ganzen Tag wartete ich auf Turys und Herberts Heimkehr. Als sie
endlich ankamen, merkte ich, daß Herbert unruhig war. Er erzählte allen,
daß er hoffte, daß seine Freundin Sylvia in dieser Nacht vorbei kommen
würde, obwohl es sehr gefährlich sei, nachts auf der Straße zu gehen.
Tury war wieder derjenige, der zu mir nett war. Er stellte Käse,
Geschnetzeltes und frisches Brot auf den Tisch und die ganze Familie
setzte sich um den Tisch, um zu essen. Meine Großeltern nahmen an
diesem Festessen nicht Teil. Während des Tages hatten sie etwas Suppe
zu sich genommen und blieben die meiste Zeit in ihrem Zimmer; ich,
dagegen, hatte das Gefühl, zur Familie zu gehören, weil Tury mir zu
essen gab, mit mir redete, mir lustige Kinderreime auf Deutsch rezitierte
und mich allgemein sehr heiter stimmte. Plötzlich hörte man ein lautes
und ungeduldiges Pochen an der Tür und Sylvia trat weinend und
schluchzend in die Wohnung. Sie war von ihrem Haus aus zu Tante Rosa
zu Fuß gegangen, als sie auf einmal gemerkt hatte, daß zwei rumänische
Soldaten ihr folgten. Sie waren betrunken und warfen ihr obszöne
Bemerkungen zu; sie rannte so schnell sie konnte und es gelang ihr,
davon zu kommen.
Herbert nahm sie bei der Hand und saß lange mit ihr auf dem Sofa im
Wohnzimmer. Tury merkte, daß ich gar keine Lust hatte, schlafen zu
gehen. Also nahm er mich mit auf sein Zimmer, rückte zwei Stühle
aneinander und bereitete mir ein kleines Bett vor, auf dem ich schlafen
konnte. Dann sagte er: „Mach dir keine Sorgen um Baba, sie hat ein paar
Tabletten genommen und sie wird jetzt gut schlafen; du kannst diese
Nacht bei uns bleiben, so lange, wie du willst.“ Ich hatte gut gegessen,
das lebendige Tischgespräch, bei dem Stromlicht, das in der ganzen
Wohnung brannte, genossen und war zufrieden. In jener Nacht schlief ich
besonders gut.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Während der darauffolgenden Tage und Nächte ging es ähnlich so weiter.
Baba war noch immer bettlägerig und konnte nicht gehen. Mein
Großvater schlummerte auf seinem Stuhl, während die Anderen ihrer
Arbeit, Erledigungen oder was auch immer außerhalb des Hauses
erledigten. Onkel Nathan, Tante Rosas Ehemann, begab sich jeden
Morgen zur Arbeit auf der Elektrofabrik. Tury und Herbert gingen zur
Zwangsarbeit in einem Lager in der Nähe von Czernowitz. Sie verließen
jeden Tag früh morgens das Haus und kamen spät abends zurück. Der
Arzt kam wieder und versuchte, Babas Knöchel zu drücken, um den
Glassplitter herauszupressen, doch ohne Erfolg. Weitere Tage
verstrichen; nun wurde Baba allmählig sehr ungeduldig und sagte immer
wieder: “Ich kann doch nicht die ganze Zeit im Bett bleiben und verpflegt
werden. Ich muss aufstehen und irgend etwas tun, aber ich kann nicht auf
meinem Fuss auftreten”.
Mein Geburtstag verstrich, ohne daß jemand sich daran erinnerte, außer
Tury, der mir eine Puppe schenkte. Diese Puppe wurde meine beste
Freundin, und ich erzählte ihr alles. Ich saß studenlang vor dem Fenster,
während ich mich mit ihr unterhielt und die Menschen auf der Strasse
beobachtete. Ich wartete jedesmal ungeduldig auf den Abend, wenn Tury
und Herbert zurück nach Hause kamen, etwas Leckeres zu essen
mitbrachten und aufregende Geschichten erzählten. Manchmal kam mein
Onkel Jossel für einen kurzen Besuch vorbei und brachte der Familie
etwas zu essen. Jedesmal hatte er ein Stück Kuchen für mich dabei.
Eines Abends, während wir mal wieder sitzend Turys und Herberts
Heimkehr abwarteten, schrie Baba fröhlich auf, nachdem sie wie immer
nach dem Fussbad ihren Fuss gequetscht hatte: “Das Glas ist raus, das
Glas ist raus!”; sie hielt dabei den Glassplitter in der Hand, der etwa so
gross wie eine Olive war. Alle eilten herbei zu ihrem Bett und freuten
sich. “In ein paar Tagen”, sagte Tante Rosa, “kannst du wieder auf
eigenen Füssen stehen, dann sollten wir beide Pläne machen; aber erst
wollen wir gemeinsam den Seder feiern”.
Am nächsten Tag sah Baba so glücklich aus wie schon lange nicht mehr.
Mit viel Geduld versuchte sie, mein verfilztes Haar durchzukämmen. Sie
sprach wieder mit mir, so wie sie es früher in ihrem kleinen Haus zu tun
pflegte. Dies schien mir der richtige Moment zu sein, um ihr ein paar
Fragen über unsere Familie zu stellen, die mich beschäftigten: warum
waren einige der Frauen in der Familie so streng und böse mit mir – ich
dachte dabei an Tante Regina, Tante Nora und an Tante Rosa. Baba
betrachtete mich lange, dann stoß sie einen Seufzer aus und sagte:
"Littika, du bist erst vier Jahre alt und noch ein kleines Kind, aber ich
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
glaube, ich muß dir ein paar Sachen erklären. Frieda, deine Mutter, ist
immer schön und klug gewesen. In Allem, was sie unternahm, war sie
erstklassig: sie war eine sehr gute Schülerin, in Deutsch und Geschichte
hat sie Preise erhalten; sie beherrschte gut Rumänisch und sie lernte
Französisch und Hebräisch. Von allen Nichten und Neffen hat Tante
Sofie sie immer bevorzugt; von ihren häufigen Reisen nach Wien brachte
sie ihr immer hübsche Kleider mit. Frieda ging als einziges Mädchen der
ganzen Familie zum Schomer Hatsair; Srul stellte sie den vornehmsten
Jungen und Mädchen der Stadt vor. Obwohl deine Mutter aus einer sehr
armen Familie kam, verkehrte sie immer mit den Reichen und
Einflußgebenden. Dann lernte sie Willy kennen, eine sehr gute Partie, den
sie heiratete und dadurch stieg ihr sozialer Rang. Schau dir Nora an, sie
ist schon über dreißig und hat noch nie einen Freund gehabt; Regina
heiratete schließlich den Jossel, ihr Vetter, der nicht gerade der
erfolgreichste Mensch in der Familie ist. Und Mina wünscht sich
sehnlichst, einen Mann zu finden; deswegen verbringt sie ihre ganze Zeit
in Unterhaltungen mit den Polen in Reginas und Jossels Wohnung, in
ihren schönsten Kleidern und mit ihrem besten Schminkzeug. Dies sind
drei Vetter deiner Mutter, die sie seit ihrer Kindheit hoch beneidet haben.
Dann sehen sie dich und werden daran erinnert, daß du Friedas Tochter
bist, also werden sie dich nicht besonders gerne haben". Ich mußte sofort
an Aschenputtel und an ihre unbarmherzigen Schwestern denken; mir
schien, daß ich verstehen konnte, was meine Großmutter mir gesagt hatte.
Baba versuchte mir zu erklären, daß wir nicht ewig bei Tante Rosa
bleiben könnten. "Sie ist zwar meine Schwester, aber sie hat mich immer
wie der arme Teil der Familie behandelt. In ihren Augen bin ich sowohl
in meiner Ehe, als auch in meinem persönlichen Leben, erfolglos
gewesen. Ihrer Meinung nach habe ich das alles mir selbst zu
verschulden. Sie wußte es besser und hat es zu etwas Besserem gebracht.
Nun sind wir hier und verzehren ihr Essen, schlafen in ihren Betten und
dann muß sie mich auch noch verpflegen, da ich mit diesem verletzten
Fuß hilflos bin. Das mag sie ganz und gar nicht und sie kann es kaum
noch abwarten, bis wir eine andere Lösung finden".
Das Wort "Lösung" verstand ich nicht, aber ich wußte, daß Baba sicher
ein Lösung finden würde. Dabei dachte ich mir auch, daß meine
wunderbare Baba, die klug, schön, lieb und weise war, von allen geliebt
werden sollte. Wie konnte ihre Schwester nur so gemein zu ihr sein?
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Die Woche darauf war voller Aufregungen. Irgendwie brachte Rosa es
fertig, irgendwo Mazen für den Seder zu kaufen; sie ergatterte sogar ein
Stück Fisch. Am Seder-Abend versammelte sich die ganze Familie um
den großen Tisch im Wohnzimmer. Onkel Nathan und mein Großvater
saßen jeder auf einem großen Kissen, daß auf deren Stuhl gestopft
worden war, je an einem Ende des Tisches. Auf dem Tisch lag ein großes,
weißes, wunderschönes Tischtuch und alles sah sehr feierlich aus. Ich saß
zwischen Tury und Herbert und wir teilten uns ein Haggadah-Buch zu
dritt. Tury zeigte mir die Illustrationen und gab mir Erklärungen zur
Geschichte. Er sagte mir, die Haggadah sei ein schönes Buch; er befahl
mir, dieses Buch für mich zu behalten und darin herumzublättern,
wannimmer ich mich traurig fühlte. So wurde mir das Haggadah-Buch
viele Jahre lang ein guter Freund.
Baba begann nach und nach wieder zu gehen; bald war sie wieder ganz
bei Kräften und hatte ihr alte gute Laune zurückgewonnen. Ich nahm mir
vor, immer sehr vorsichtig mit zerbrochenem Glas umzugehen, weil es so
schlimme Folgen haben kann. Bis heute werde ich sehr unruhig, wenn
irgend etwas imHause zerbricht.
Nun verließ Baba täglich das Haus, während der freien Stunden, und
suchte anch Möglichkeiten, etwas Geld zu verdienen. Dabei trug sie
immer ihren gelben Davidstern auf ihrem Mantel. Ich, dagegen, mußte zu
Hause bleiben, da ich weder Schuhe, noch warme Kleidung besaß. Der
Frühling ließ auf sich warten und obwohl der Schnee zum Teil schon
verschmolzen war, war es draußen immer noch sehr kalt.
Eines Tages saß ich am Fenster, wie immer mit meiner Puppe auf dem
Arm. Ich betrachtete die großen Bäume draußen, die jetzt voller neuer
grellgrüner Blätter waren. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite
konnte ich einen herrlichen Fliederstrauch sehen, der ganz mit lila Farbe
geschmückt war. Wie sehr sehnte ich mich danach, dieses Lila zu
betasten und zu riechen! Der Flieder war in voller Blüte, aber ich konnte
nicht das Haus verlassen. Ich konnte die Schmetterlinge in der Sonne
tanzen sehen und alles sah so schön und fröhlich aus. Meine Großmutter
buk Brötchen in der Küche – dies war jetzt ihre neueste Beschäftigung -,
während mein Großvater, wie immer, schlief. Ich war mir selbst
überlassen in meiner Betrachtung dieser wunderschönen Welt dort
draußen, die ich nicht anfassen konnte. Ich fühlte mich wie in einem
Käfig eingesperrt – ein Glaskäfig, aus kaltem Glas, auf dessen
Außenwand dieses trügerische Bild angeheftet war. Waren die
Schmetterlinge echt? War es draußen warm oder kalt? Werde ich jemals
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
diese grünen Blätter draußen berühren und den blühenden Fliederstrauch
riechen können?
Am Abend wartete ich wie immer auf Herbert und Tury. Aber dieses Mal
kamen sie besonders schlecht gelaunt nach Hause und sprachen kaum ein
Wort mit mir. Ich spürte, daß ich mich still halten und mich unbemerkbar
machen mußte. Tante Rosa weinte und lief aufgeregt hin und her in dem
Wohnzimmer. Baba saß auf einem Stuhl in einer Ecke und preßte ihre
Hand fest auf ihrem Mund. Es ging etwas sehr Böses vor. Ich saß einfach
da und beobachtete die Erwachsenen. Schließlich ergriff Tante Rosa das
Wort und sagte: "Tury und Herbert, ihr müßt schlafen gehen, weil ihr
morgen aufstehen und zur Arbeit gehen müßt, wie immer. Während des
Tages werde ich eure Sachen einpacken und wir werden alle bereit sein".
Am nächsten Tag wollte kein Mensch mit mit reden, alle sagten nur:
"Bleib still, du bist ein kleines Mädchen und du sollst nicht so viele
Fragen stellen!". Baba kehrte von ihrer Verkaufstour heim, auf der sie
ihre Brötchen absetzte und diesmal hatte sie mir ein paar Schuhe
mitgebracht. Sie erzählte mir, daß sich in einem der Häuser, in dem sie
Brötchen verkaufte, ein kleines Mädchen befand, daß etwas größer war
als ich; sie hatte die Dame des Hauses gefragt, ob sie etwa alte Schuhe
hätte, die ihrer jungen Tochter schon zu klein seien. Ich probierte sie aus
und fand, dass sie mir paßten. Ich war so glücklich, daß ich mit meinen
neuen Schuhen durch das ganze Haus tanzte, doch sehr bald wurde ich in
eine Ecke geschickt, mit der Anweisung, stille zu halten. Tante Rosa war
den ganzen Tag damit beschäftigt, zu packen, zu nähen und Plätzchen zu
backen. Als Tury und Herbert heimkehrten, wechselten sie schnell ihre
Kleider, aßen eine Kleinigkeit in der Küche und schienen nun für ein
geheimes Erlebnis bereit zu sein. Jetzt erklärte mir Baba, daß die beiden
auf dem Weg nach Palästina waren, aber dass niemand es erfahren dürfe.
"Es ist ein großes Geheimnis!" sagte sie mir. Spät in der Nacht, als Tury
und Herbert bereit waren, sich auf den Weg zu machen, waren Tante
Rosa und Baba auch bereit, um sie zu begleiten. "Ich möchte auch
mitkommen, ich möchte Tury und Herbert auch begleiten!" schrie ich
weinend; Baba sagte schnell, daß, da ich nun Schuhe hätte, ich
mitkommen dürfe. Wir gingen leise aus dem Haus und liefen schweigend
durch die dunklen Straßen bis zum Bahnhof. Der Zug war startbereit, auf
dem Weg zur Meereshafen, wo Tury und Herbert auf ein Schiff nach
Palästina steigen sollten. Wir verabschiedeten uns sehr leise von ihnen.
Dicke Tränen liefen über Tante Rosas Gesicht, aber sie sagte kein Wort.
Tury und Herbert befanden sich schon längst auf dem Zug, aber der Zug
bewegte sich lange Zeit nicht, obwohl sämtliche Fenster und Türen des
Zuges geschlossen waren, wobei das Aufheulen des Lokomotivmotors
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
den Eindruck erweckte, daß der Zug jeden Moment losfahren würde. Es
verstrichen endlos lange Minuten und der Zug bewegte sich immer noch
nicht. Tante Rosa begann zu schluchzen und plötzlich heulte eine
Alarmsirene auf. Wir verdrückten uns alle drei in eine Ecke. Alles blieb
still und man hörte aus der Ferne Artilleriegeräusche. Tante Rosa sagte:
"Oh mein Gott, sie werden den Zug bombardieren und meine beiden
Jungen werden umkommen!". Aber plötzlich ging der Zug langsam in
Bewegung, gab einen lauten und schrillen Pfiff von sich und innerhalb
weniger Minuten war er verschwunden. Wir atmeten alle erleichtert auf
und machten uns auf den Weg nach Hause im Dunkeln der Nacht. Erst
später verstand ich, daß Tury und Herbert auf illegalen Wegen nach
Palästina reisten. Sie hatten sich Dokumente verschafft, die ihnen
erlaubten, sich innerhalb Rumäniens zu bewegen und sich dann auf ein
Schiff nach Palästina zu begeben, um sich meinem Onkel Srul auf seinem
Kibbuz anzuschließen. Diese Nacht würde ich niemals vergessen.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 6
Der gelbe Davidstern
Tante Rosas Haus war jetzt still und leer. Alle waren traurig und ich
vermisste Tury und Herbert. Die Nazis und die rumänische Armee
bedrängten die Juden, noch mehr Transporte nach Transnistrien zu
schicken. Jedesmal wenn von diesen Tranporten die Rede war, sagte
Tante Rosa: "Gott sei Dank sind meine Jungen weggegangen, bevor man
sie festgenommen hätte". Eines Tages kamen einige Polizisten zu uns
nach Hause, um nach Tury und Herbert zu fragen. Als sie ihnen sagte,
daß sie nicht wüßte, wo die beiden seien, brüllten sie Tante Rosa an und
schlugen auf sie ein. Daraufhin öffnete sie eine Kommode, nahm etwas
Geld aus der Schublade und legte es auf den Tisch. Die Polizisten
steckten das Geld ein und verließen das Haus, ohne ein Wort zu sagen.
Einige Wochen später erhielten wir eine Postkate aus Palästina. Srul
kündigte an, daß die "Lieferung erledigt" sei und auf diese Weise
erfuhren wir, daß Tury und Herbert dort gut angekommen waren.
Wir lebten immer noch zu dritt in demselben Zimmer; Baba wurde von
Tag zu Tag unruhiger und sagte, daß wir unbedingt eine andere Lösung
finden müßten. Sie kaufte Mehl und Hefe auf dem Markt und buk jeden
Tag Brötchen, die sie dann von Haus zu Haus und Tür zu Tür verkaufte.
Eines Sommertages sagte ich ihr, daß ich mitkomme, da ich nicht mehr
zu Hause bleiben wollte. Nach vielem Weinen und langem Hinundher
sagte sie schließlich: "Gut, du darfst mit mir kommen, aber ich warne
dich, du wirst unterwegs müde werden und ich werde dann keine Zeit
haben, um mich aufzuhalten. Ich muß unbedingt alle Brötchen vor der
Ausgehsperre verkauft haben!". Ich war glücklich und zog eines meiner
Frühlingskleider an, daß Baba mit einem angenähten Stoffstreifen für
mich verlängert hatte. Ich zog meine neuen Schuhe an und wir machten
uns auf den Weg, um die Brötchen zu verkaufen. Als wir auf der Straße
standen, fiel Baba plötzlich ein, daß ich keinen gelben Davidstern trug.
Sie sagte daraufhin: "Bleib etwas hinter mir, so daß die Polizisten nicht
merken werden, daß wir zusammen gehören". Ich blickte sie an und
fühlte mich zutiefst beleidigt. Wie konnte meine Baba so tun, als ob wir
nicht zusammen gehören? Ich sagte nichts, warf ihr aber einen
anklagenden Blick zu. Schließlich kamen wir an der Straße an, auf der die
reichen Leute wohnten; dort klopfte sie an jede Tür an und bot ihre
Brötchen an. Ich stand hinter ihr und beobachtete die wohlhabenden
Damen, die nicht besonders nett zu Baba waren. Bald wurde ich sehr
müde und flehte sie an, mir zu erlauben, mich nur für einen kleinen
Moment auf den Bordstein setzen zu dürfen. "Ich habe dir doch gesagt,
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
daß ich meine Brötchen ausverkaufen muß und daß ich mich jetzt nicht
aufhalten kann. Du mußt dich jetzt bemühen, trotz Müdigkeit
weiterzugehen". Schließlich verkaufte sie ihre letzten Brötchen, so daß
wir noch etwas Zeit hatten, auf den Markt zu gehen, um dort etwas Mehl
und ein Stück Brot zu ergattern. Wir waren beide guter Laune, so daß wir
die Angelegenheit mit dem Davidstern völlig vergaßen. Sie nahm mich
an der Hand und wir liefen durch die engen Durchgänge auf dem Markt.
Es war ein warmer Tag und die Sonne blendete mich. Pltötzlich hörte ich
eine laute Stimme, die meine Großmutter ansprach und als ich aufblickte,
sah ich einen großen Polizisten mit einem langen Schnurrbat, der sie
anzischte: "Na, wo ist denn der gelbe Davidstern der Kleinen?". Meine
Großmutter fing an zu zittern und versuchte zu erklären, daß der
Davidstern unterwegs abgefallen war. Er fing an, sie anzubrüllen: "Ich
kann euch für so etwas nach Transnistrien ausweisen lassen!". Meine
Großmutter nahm sofort das ganze Geld, das sie an diesem Tag von dem
Verkauf der Brötchen verdient hatte, und drückte es dem Polizisten in die
Hand. Er steckte das Geld schnell ein und sagte: "Geh nach Hause, Weib,
und mach dir neue gelbe Davidsterne. Nächstes mal wirst du nicht so
leicht davonkommen".
Wir liefen beide so schnell wir konnten, um uns von dem Markt zu
entfernen und kehrten über Hinterstraßen zu Tante Rosas Haus zurück.
Baba sagte kein Wort, aber ich hatte dabei ein elendes Gefühl. Mir war
klar, daß ich ihr den Tag verdorben hatte – erst war ich ihr ein Hindernis
beim Vermarkten ihrer Brötchen gewesen und dann mußte sie auch noch
den ganzen Ertrag an den Polizisten abgeben. Wäre ich zu Hause
geblieben, dann wäre nichts von dem vorgekommen. Danach ging ich nie
wieder mit ihr auf ihre Brötchen-Runde.
Als wir zu Hause ankamen, griff Baba sofort nach einem Stück Pappe
und schnitt mehrere Dreiecke heraus. Dann nahm sie ein Stück gelben
Stoff und zeigte mir, wie man es aufnäht und daraus einen Davidstern
herstellt. "Von nun an werden wir immer einen zusätzlichen Davidstern
in der Tasche tragen, damit das, was uns heute passiert ist, nie wieder
vorkommt", sagte sie.
Einige Wochen später kam Tante Rosa auf eine Idee. Auf der Dachetage
ihres Hauses gab es eine kleine Wohnung. Sie mußte aufgeräumt und
gesäubert werden, und man müßte einige fehlende Möbelstücke
einrichten, doch könnten wir dort einziehen und bis zum Ende des
Krieges verbleiben. Auch an eine kleine Einkommensquelle für unsere
Familie hatte sie gedacht: wir könnten eines der Zimmer an einen älteren
Herrn vermieten; er würde uns für Kost und Logis bezahlen und Baba
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
könnte für ihn kochen und putzen. Ein kleiner Teil des Ertrags würde an
Tante Rosa abgehen; der Rest würde uns erlauben, diese harten Zeiten zu
überleben. Also zogen wir nochmals um und es begann eine neue Zeit.
Baba war mit diesem Arrangement zufrieden und flüsterte mir zu: "Srul
hilft Tante Rosas Söhnen in Palästina und sie hilft uns hier".
Die Dachwohnung war recht bequem. Es gab dort zwei kleine
Schlafzimmer und einen relativ großen Wohnraum mit Flur und
Kochecke und ein kleines Badezimmer. Sobald wir eingezogen waren,
zog ein mürrischer älterer Herr zu uns, der das Zimmer mit dem Fenster
zur Hauptstraße übernahm. Er hieß Herr Katz und war ein frommer
Mann. Er blieb fast immer in seinem Zimmer, den ganzen Tag lesend und
betend. Dreimal am Tag brachte meine Großmutter ihm etwas zu essen.
Von Zeit zu Zeit kam er aus seinem Zimmer heraus, damit meine
Großmutter dort putzen konnte.
Herr Katz sah immer gereizt und wütend aus. Mich sprach er nie an, es
sei denn, um mich zu schelten und mir Vorwürfe zu machen, daß ich zu
viel Lärm mache und er sich deswegen nicht konzentrieren könne.
Meiner Großmutter gegenüber war er weder besonders nett, noch höflich,
aber sie schien sich nichts daraus zu machen. Eines Tages saß ich an dem
Tisch, während meine Großmutter für ihn Essen vorbereitete und sich um
seine Hemden kümmerte; da fragte ich sie: "Warum müssen wir mit
diesem Herrn Katz leben, der doch immer so unfreundlich ist?". Sie
schaute mich mit einem etwas traurigen Blick an und sagte: "Eigentlich
ist er ein guter Mensch; er hat seine Familie verloren und ist jetzt ganz
alleine. Wir kümmern uns um ihn und er bezahlt uns eine sehr anständige
Miete; so können wir Essen kaufen und in dieser Wohnung bleiben. Dies
ist der Grund, warum wir sehr nett zu ihm sein müssen. Wenn er aus
seinem Zimmer herauskommt, solltest du in unser Schlafzimmer gehen
und ruhig bleiben. Und wenn du hier im Wohnzimmer spielst, vergiß
nicht, daß er dich durch die Tür hören kann". "Aber ich möchte singen
und tanzen, wie immer!" protestierte ich. "Dann sing halt flüsternd und
tanz auf den Zenspitzen, damit er dich nicht hören kann!" erwiderte sie.
So lebten wir mehr als eineinhalb Jahre lang. Grundsätzlich hatten wir es
recht gemütlich und es gab immer etwas zu essen. Meine Großmutter
kochte ihr bestes Essen für Herrn Katz und für uns kochte sie meistens
Mamaliga. Anfangs liebte ich Mamaliga, besonders, wenn sie frisch
gekocht war und wir Butter hatten, die wir darüber zergehen lassen
konnten. Aber nach einiger Zeit begann ich es zu hassen. Wir aßen davon
morgens, mittags und abends. Meistens in kalten Scheiben mit etwas
Marmelade. Ich konnte den Anblick davon nicht mehr ertragen.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Im Laufe dieser eineinhalb Jahre wurde ich langsam ein blasses und
dürres kleines Mädchen, das fast sechs Jahre alt war. Ich verließ nur
selten das Haus und traf nie gleichaltrige Kinder. Ich saß immer bei
meiner Großmutter, die mir viele Reime und Lieder auf Deutsch
beibrachte. Ich konnte zählen und kannte das Alphabet auf Deutsch und
auf Jiddisch. Meine einzige Puppe entwickelte sich so langsam zu einer
scheußlichen Vogelscheuche; oft bemalte ich mir ein Gesicht aufs Knie
und wickelte einen Kopftuch drumherum, damit es wie eine Puppe
aussah.
Da ich nun schon etwas älter war, erzählte mir meine Großmutter etwas
mehr über meine Eltern. Sie erklärte mir, daß wir nicht wußten, ob mein
Vater noch am Leben war oder nicht, da wir seit Kriegsbeginn keine
Nachricht von ihm erhalten hatten. Meine Mutter befand sich in einem
Lager namens "Transnistrien" und auch von ihr hatten wir keinerlei
Nachricht. Dann und wann kam ein Nachbar oder ein Bekannter vorbei
und berichtete meiner Großmutter daß "dieser oder jener verschollen war,
nachdem man ihn über den Bug genommen hatte". Ich versuchte mir
auszumahlen, was dieser Satz bedeutete. Ich dachte, der Bug sei eine
Brücke und daß einige Leute zur anderen Seite der Brücke gebracht
worden waren und dort verloren gegangen waren. Erst Jahre später erfuhr
ich, daß der Bug ein Fluß ist, der nördlich von Transnistrien liegt, wo
Hunderte von Juden umgebracht wurden, indem man sie über eine
Felsenklippe hinunterwarf.
Eines Tages fragte ich meine Großmutter: "Baba, werden sie meine
Mamma über der Bug nehmen?". Sie blickte mich erschrocken an und
sagte schnell, daß sie sicher sei, daß Frieda, meine Mutter, in Sicherheit
war und daß wir bald von ihr hören würden. Dann kam eines Tages eine
Postkarte an und meine Baba war so glücklich, daß sie vor lauter Freude
gleichzeitig weinte und lachte. "Deine Mutter ist am Leben, es geht ihr
gut" sagte wie immer wieder, während sie die Postkarte unter das Licht
hielt und versuchte, zu lesen, aber es war unmöglich. Ich konnte damals
noch nicht lesen, aber ich konnte erkennen, daß oben am Anfang und
unten am Ende jeweils eine kurze Zeile geschrieben stand; alle übrigen
langen Zeilen waren mit schwarzer Tinte durchgestrichen worden. "Deine
Mutter hat "liebe Familie" geschrieben und unten mit "eure Frieda"
unterschrieben; der Rest ist unleserlich, weil der Zensor es
durchgestrichen hat, aber das macht nichts. Wir wissen, daß sie lebt und
bald ist der Krieg zuende und sie wird zu dir zurückkehren". Ich war
glücklich, aber gleichzeitig auch traurig. Ich konnte nicht so lange auf
meine Mutter warten. Ich wünschte mir so sehr, daß sie jetzt sofort nach
Hause käme.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Eines Tages heulten die Alarmsirenen lauter als gewöhnlich auf. Wir
konnten Flugzeuge im Himmel und Explosionen in der Ferne hören. Es
war ende Dezember 1943. Tante Rosa kam herauf zu unserer Wohnung,
was sie sonst nie tat, und sagte uns, daß wir uns alle in den Schutzkeller
in dem gegenüberliegenden Haus begeben mußten, da es in unserem
Haus keinen Schutzkeller gab. Alle sahen erfreut aus: "Die Deutschen
ziehen zurück, sie sind dabei, den Krieg zu verlieren und sie greifen die
Stadt mit Bomben an im Laufe ihres Rückzuges". Wir gingen alle in den
Schutzkeller, mehr lächelnd als fürchtend, weil dies das Zeichen des
Kriegendes war. Nur Herr Katz wollte nicht in den Schutzkeller gehen:
"Ich werde in meinem Zimmer bleiben, egal was mir passiert", sagte er.
Wir saßen in dem Schutzkeller und hörten schreckliche Geräusche.
Niemand schlief. Die Frauen hatten etwas Essen mitgebracht; sie
unterhielten sich und erzählten sich Geshichten, und alle schienen sich
über die Explosionen, die wir hörten, zu freuen. Tante Rosa sagte: Ich
hoffe, daß es nicht unser Gebäude treffen wird, mit Herrn Katz darin".
Mir kam es lustig vor: ich malte mir aus, wie das Gebäude über unsere
Köpfe zerfällt und der mürrische Herr Katz in der Luft herumfliegt.
Nachdem Baba mehrere Tage mehrmals in unsere Wohnung auf und ab
ging, um dem Herrn Katz sein Essen zu bringen, während wir im
Schutzkeller blieben, fingen die Leute an zu sagen, daß man die
Deutschen durch die Stadt laufen sehen könne: "Sie sehen schlecht aus
und krank. Einige der Offiziere haben kein Auto mehr und sitzen auf
Karren, die von Pferden gezogen werden. Sie sehen aus wie eine besiegte
Armee, von der nichts übriggeblieben ist".
Schließlich gewöhnten sich alle an das Getöse der Alarmsirenen und der
Bombenangriffe und wir beschlossen alle, wieder in unsere Wohnung
zurückzukehren. Das neue Jahr hatte begonnen, ohne daß wir es gemerkt
hatten. Es war nun Januar des Jahres 1944. Dann sagte Baba eines Tages:
"Der Krieg ist fast zu Ende und wir müssen sicherstellen, daß wir die
Wohnung deiner Eltern auf der Franzensgasse zurückbekommen".
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 7
Zurück in unserer Wohnung
Eines Abends im Januar 1944 gingen Baba und ich zur Wohnung auf der
Franzensgasse. Draußen war es dunkel und kalt und wir liefen eines
raschen Schrittes. Baba war still und sprach während dieser ganzen Zeit
kein einziges Wort zu mir. Ich hatte keine Ahnung, wo wir hingingen,
aber ich spürte, daß es um eine sehr wichtige Angelegenheit ging, da sie
mich mit sorgfältig angezogen hatte, mein Haar gekämmt hatte und mir
Schleifen um die Zöpfe gebunden hatte. Ich war fast sechs Jahre alt und
erlebte zum erstenmal das Gefühl, hübsch angezogen zu sein.
Anfangs erkannte ich die Straße nicht wieder, aber als wir anfingen, die
Treppen hochzusteigen, begann mein Herz, ganz wild zu klopfen. Dies
war die Wohnung meiner Eltern. Wir erreichten die Tür auf der zweiten
Etage und lauschten schweigend. Es schien alles sehr ruhig zu sein. Dann
klopfte meine Großmutter einige Male an die Tür. Die Tür öffnete sich
und ein junger deutscher Soldat stand dort und blickte uns an. Baba sagte:
"Ich möchte gern mit dem Offizier sprechen". Selbstverständlich sprach
sie in perfektem Deutsch. Der Soldat bat uns hinein. Als wir durch den
Flur liefen, bemerkte ich dort eine merkwürdige und fremd anmutende
Hutablage. Auf einmal füllten sich meine Nasenlöcher von dem Geruch
in Butter gebratener Eier. Welch herrlicher Duft! Ich fühlte mich wie
berauscht davon.
Die Tür zum Wohnzimmer stand offen, aber drinnen war es dunkel und
als ich hineinschaute, sah ich, daß das Zimmer völlig leer stand. Dann
blickte ich auf in die belichtete Küche und sah dort den Soldaten von
vorhin, der vor unserem großen Herd stand und Eier in einer Pfanne
bratete. Auf dem Küchentisch lagen ein Teller und Besteck. Während wir
dort standen, trat auf einmal der deutsche Offizier aus dem Schlafzimmer
meiner Elten heraus. Er war großgewachsen und sehr gutaussehend, aber
er hatte einen sehr ernsten Gesichtsausdruck. Er schaute uns an und
lächelte nicht. Meine Großmutter sagte schnell auf Deutsch: "Dieses
kleine Mädchen wurde hier, in dieser Wohnung geboren. Die Wohnung
gehört ihren Eltern und wir möchten gerne hierhin zurückziehen, wenn
sie weggehen". Der Offizier betrachtete uns lange ohne irgendetwas zu
sagen. Erst dachte ich, er hätte die Worte meiner Großmutter nicht
verstanden. Dann antwortete er sehr laut: "Alte Frau, nehmen Sie das
Kind und machen Sie sich aus dem Staub. NOCH kann ich sie nach
Transnistrien ausweisen". Meine Baba lächelte höflich und wir brachen
sofort auf. Ich versuchte noch weiter, den Geruch der Rühreier
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
einzuatmen. Bis heute noch, nach sechzig Jahren, kann ich diesen Geruch
nachvollziehen. Es bringt mir immer gute Laune und stimmt mich froh
und optimistisch.
Wir gingen rasch zu Tante Rosas Haus zurück. Baba sagte: "Das war sehr
gut, was wir da gerade gemacht haben. Er kann uns gar nicht nach
Transnistrien ausweisen, der Krieg ist ja bald zu ende. In ein paar Tagen
müssen wir zurückkehren und sicherstellen, daß niemand anders vor uns
in die Wohnung einzieht. Sie gehört deinen Eltern und sie sollen sie
wiederbekommen, wenn sie zurückkehren. Gott sei Dank wissen wir, daß
deine Mutter lebt."
Ich hörte ihr zu, dabei mußte ich aber immer wieder an diese bedrohliche
Hutablage und an den herrlichen Geruch der Rühreier denken. Bis heute
überkommt mich flüchtig dieses Suchtgefühl, wenn ich Rühreier
zubereite. Aber jedesmal wenn ich eine Hutablage sehe, höre ich wieder
die Stimme dieses deutschen Offiziers, der uns herausjagte. Ich habe nie
eine Hutablage in meinem Haus haben wollen, obwohl die meisten
meiner Freunde eine solche Hutablage in ihrem Haus hatten.
Schließlich verschwanden die Deutschen mit ihren Wagen und wurden
durch die Russen ersetzt, mit deren verkommenen Wagen. Die
Bombenangriffe gingen immer weiter und jemand sagte dazu: "Die
Deutschen haben auf dem Weg nach draussen Bomben auf uns geworfen,
und die Russen werfen auf uns Bomben auf dem Weg nach drinnen".
Sobald Baba davon gehört hatte, packte sie ein paar Sachen ein, packte
mich an der Hand und so marschierten wir auf die Franzensgasse zu. Die
Wohnung stand leer und die Hutablage war verschwunden. Mit
Ausnhame einiger kleinen Möbelstücke war die Wohnung ganz und gar
leer geräumt worden. Doch innerhalb weniger Tage hatten wir bereits ein
Bett auf dem wir schlafen konnten – ein großes Doppelbett für uns drei,
im Schlafzimmer - sowie einen Tisch mit einigen Stühlen im
Wohnzimmer. Mein Großvater zog zu uns ein und wir waren alle
glücklich. Die Bombenangriffe gingen dabei immer noch weiter und
nachts durfteb wir kein Licht in der Wohnung anzünden.
Während des Tages hielten Baba und ich uns draußen auf, ohne uns an
die Ausgehsperre zu halten. Der Krieg war zwar noch nicht zu Ende, aber
es schwebte bereits ein Gefühl von Freiheit in der Luft. Mir scheint, dass
die meisten der Juden, die noch in Czernowitz geblieben waren, nun ihren
gelben Davidstern abnahmen, und auch wir taten es. Wenn wir uns in der
Wohnung aufhielten, rannte ich hin und her, von einem Zimmer zum
anderen. Die Lehmöfen brannten frühmorgens und abends. Mein
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Großvater brachte das Holz ins Haus und zündete die Öfen täglich an. Ich
liebte es, mit dem Rücken an dem großen Ofen angelehnt im
Wohnzimmer zu sitzen und zu spüren, wie die Wärme meinen ganzen
Körper durchdringte. Aber am allerliebsten saß ich im Toilettenraum. Es
war ein kleiner Raum, den ich ganz für mich hatte. Auf der Toilette bei
angeknipstem Licht zu sitzen, war für mich ein wundervolles Erlebnis.
Ich träumte von einigen der Geschichten, die ich kannte und ich unterhielt
mich mit Phantasiespielen. Die Wände des kleinen Raumes waren weiß
angestrichen und sauber; in meiner Phantasie füllte ich diese Wände mit
Märchenbildern und Tieren. Es war so schön, alleine für sich zu sein und
nicht gescholten zu werden.
Die Nachbarn im Gebäude waren alle neu hinzu gezogen. Ich hörte Baba
sagen, daß Dr. Segal beim Kampf in der Roten Armee umgekommen und
Frau Segal in Transnistrien an Thyphus gestorben sei. Die Familie, die
neben uns auf der gleichen Etage wohnten, waren wohlhabende Juden,
die Freunde in der russischen Armee hatten; sie nahmen laufend Gäste in
ihrer Wohnung auf und waren ausgesprochen laut. Die Familie hatte eine
kleine Tochter namens Karin, die ungefähr so alt war wie ich. Sie lud
mich ein, mit ihr zu spielen. Während Baba sich regelmäßig auf die
Suche nach neuen Sachen zur Ausstattung unserer Wohnung begab, blieb
ich derweilen bei Karin. Sie hatte ein eigenes Zimmer, mit einer großen
Vielfalt von Kleidern,Spielzeugen, Bildern und Büchern. Ich hatte bis
dahin noch nie mit einem Mädchen gespielt und tat immer genau das, was
sie mir vorschrieb. Ich konnte ihr ansehen, daß es ihr Spaß machte, mich
herumzukommandieren, aber ich konnte nicht umhin und hing an ihren
Fersen wie ein Schatten. Karin war der erste Mensch, der mir jemals ein
Stück Schokolade angeboten hat und mir war klar, daß ich nett zu ihr sein
mußte.
Eines Nachmittags, anfang Februar 1944, als ich mich bei Karin und ihrer
Familie befand und meine Großeltern außer Hause waren, kam ein
Nachbar herangestürzt und rief aufgeregt: "Littika, Littika, komm und
schau, wer da gerade angekommen ist!". Mein Herz pochte auf wie ein
Hammer und meine Füße wurden auf einmal ganz schwach. Langsamen
Schrittes begab ich mich auf das Treppenhaus hinaus. Eine hübsche Frau
mit schwarzem Haar und einem schweren Mantel stand dort und
beobachte mich. Ich wußte, es war meine Mutter, aber ich konnte nichts
fühlen. Sie nahm mich in ihre Arme und betrachtete mich. Die Nachbarn
um uns herum riefen mir zu: "Das ist deine Mutter, du sollst sie küssen,
du sollst sie umarmen!". Aber ich war wie versteinert und völlig
sprachlos. Dann sagte meine Mutter: "Laßt sie doch in Ruhe, sie muß sich
erst wieder an mich gewöhnen". Zum Glück wurden wir durch meine
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Großmutter "erlöst", die gerade die Treppe hinauf rannte. Meine Mutter
setzte mich ab und die beiden Frauen umarmten sich lange, wobei meine
Großmutter schluchzte. Wir traten in unsere Wohnung hinein und schon
heulten die Sirenen wieder auf. "Was macht ihr, wenn die
Bombenangriffe anfangen?" fragte meine Mutter. "Nicht viel, wir sitzen
einfach hier im Dunkeln" antwortete meine Großmutter.
In dieser Nacht saßen Baba und ihre Tochter Frieda stundenlang am
Küchentisch und redeten unentwegt. Ich saß mit dabei, mit dem Kopf auf
Babas Schoß gelehnt. Ich verstand nicht alles, was sie sagten oder
meinten, aber ich hörte Baba sagen: "Was konnte ich da machen? Ich
mußte ihnen alles weggeben, sonst hätten sie uns umgebracht. Nichts ist
übriggeblieben, ich hatte kein Geld, um dem Kind Essen oder Kleider zu
kaufen". Ich hatte das Gefühl, daß meine Mutter Baba einen
mißbilligenden Blick zuwarf, als ob sie ihr etwas vorwerfen würde. Ich
war dabei unglücklich, ohne zu wissen warum. Dann nahm meine Mutter
irgendwann Geld aus ihrer Tasche heraus und legte es auf den Tisch.
Kurz vor Tagesanbruch steckte meine Mutter etwas Nahrung in ihren
Rucksack; dann gab sie mir einen raschen Kuss und ging davon. Ich
sollte sie ein ganzes Jahr lang nicht wiedersehen.
Ich hatte schon so lange auf meine Mutter gewartet - zweieinhalb Jahre.
Diese ganze Zeit hatte ich sie mir immer auf einem Stapel Koffern auf
dem Karren sitzend, der sie mir weggenommen hatte, vorgestellt. Wie
konnte sie mich nochmals verlassen? Bedeutete ich ihr überhaupt etwas?
Vermisste sie mich denn überhaupt nicht? Wollte sie mich jetzt nicht an
ihrer Seite haben? Ich umarmte Baba mit all meiner Kraft. Das Leben
ging so weiter wie vorher und bald hörte ich auf, an meine Mutter zu
denken.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 8
Die Russen sind wieder da
Die Bombenangriffe waren nun vorbei und die Russen füllten unsere
Stadt. Wir waren von den Deutschen befreit, und doch schienen die Leute
unglücklich. Alle erinnerten sich noch an die Russen von der ersten
Besetzung unserer Stadt und sie trauten ihnen nicht. Baba und ich gingen
oft aus. Die Straßen waren dreckig und rochen nach Sauerkraut
("Kapusta") und Hering. Diese Gerüche waren mir verhaßt.
Die Strassenbahn war wieder in Verkehr; oft stiegen wir in die
Strassenbahn ein zum Spaß, doch war das größte Erlebnism das wir
dabei erlebten, der Anblick eines russischen Soldaten, der sich in einer
Ecke des Wagens übergab, weil er zuviel Alkohol getrunken hatte. Viele
junge Frauen in unserem Gebäude und in der Nachbarschaft klagten
darüber, daß diese Soldaten sie drangsalierten.
Abgemergelte und verhungert aussehende Juden kehrten nach und nach
in die Stadt zurück, aus Transnistrien; Baba erwartete die Rückkehr ihres
Sohnes Bjumin. Sie hatte von jemandem gehört, daß er lebte und die
Jahre in einem Zwangsarbeitlager verbracht hatte. Aber dann erhielten
wir die schreckliche Nachricht: auf dem Weg vom Lager nach Hause
hatte Bjumin irgendwo Halt gemacht, um Wasser aus einem Brunnen zu
trinken; dort überfiel ihn ein rumänischer Soldat von hinten und schlug
ihn mit großer Wucht auf den Rücken mit einer großen Flasche. Bjumins
Lungen kollabierten und wenige Stunden später starb er.
Tagelang weinte Baba ununtrebrochen. Sie blieb im Bett oder saß auf
einem Stuhl im Wohnzimmer; sie kochte nicht mehr und ging auch nicht
mehr aus. Sie wirkte völlig "zusammengebrochen" und ich wußte nicht,
wie ich ihr helfen konnte. Ich setzte mich neben sie und streichelte ihr
den Arm und das Gesicht. Mein Großvater saß auf seinem Stuhl und
schluchzte. Ich hatte ihn noch nie in einem solchem Zustand gesehen und
er tat mir schrecklich leid. Ich dachte mmer wieder an meine Mutter.
Warum war sie nicht bei uns? Warum mußte sie wieder weggehen? Eines
Morgens stand Baba auf und sagte: "Mein Gott, wieviel Leid kann ein
Mensch ertragen? Haben wir nicht schon genug gelitten? Aber das Leben
muß weiter gehen, ich muß dich versorgen und dir Essen vorbereiten"
sagte sie, mich mit einem sorgevollen Blick betrachtend. Sie zog sich an
und ging aus dem Haus, um Einkäufe zu machen. An diesem Tag aßen
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
wir eine ordentliche Mahlzeit und obwohl Baba noch immer sehr traurig
war, schien es, dass alles wieder beim Alten sei.
Ich hatte es inzwischen aufgegeben, Baba über meine Mutter auszufragen
und warum sie wieder weggegangen war. Meine Großmutter hatte mir
erklärt, daß Frieda wieder weggehen mußte, um wichtige Leute zu
treffen, daß es wegen des Krieges nun eine neue Grenze gäbe, sie nun in
Rumänien war, während wir uns in Rußland befanden, und daß es eine
Weile dauern würde, bis wir zu ihr ziehen könnten, dorthin wo sie sich
nun befand. Baba sagte: "Wir wollen nicht wirklich in Rußland bleiben
und wir wollen ihr so bald wie möglich nachfolgen". Ich konnte nicht
verstehen warum, nachdem wir uns so sehr darüber gefreut hatten, wieder
in der Wohnung auf der Franzensgasse zu sein, wir wieder wegziehen
sollten.
Wir erhielten von Frieda mehrere Postkarten, aus einer Stadt namens
Bukarest. Es ginge ihr gut und sie warte darauf, daß wir uns ihr
anschließen. Ich dachte nicht mehr an sie, aber ich glaube, daß ich es ihr
nie wirklich verziehen habe, daß sie mich ein zweitesmal verlassen hatte.
Jahre später, im Sommer 2002, saß ich in unserer Wohnung in Jerusalem
und schaute mir ein Fernsehprogramm an. Es wurde eine afrikanische
Frau aus Angola gezeigt, die ihren Sohn vier Jahre lang nicht gesehen
hatte, nachdem sie ihn im Laufe der Unruhen und der Kämpfe aus den
Augen verloren hatte. Auf einmal wurde ihr angekündigt, daß ihr Sohn
gefunden worden sei. Er war zwölf Jahre alt, gesund und in guter
Verfassung. Man gab ihr ein Bild von ihm. Die Frau fing an zu tanzen, zu
lachen und zu weinen. Sie war außer sich vor Freude. Ich saß dort in
meinem Wohnzimmer und hatte Tränen in den Augen. Ich war 64 Jahre
alt und bereits Großmutter; dieses Fernsehprogramm brachte mich zurück
zu meiner Begegnung mit meiner Mutter, als sie aus Transnistrien
zurückkehrte, und erweckte in mir einen dumpfen Schmerz in der Brust.
Die Fragen brannten immer noch in meinem Kopf: "Warum schien sie
sich nicht zu freuen, als sie mich sah? Stand ich ihr im Wege? War ich
nur eine zusätzliche Last für sie? Wie konnte sie mich so gleichgültig
betrachten, nachdem sie mich drei Jahre lang nicht gesehen hatte? Wie
konnte sie mich nochmals verlassen?".
Nun da die Russen in der Stadt waren, durften wir uns überall frei
bewegen. Ich lief mit Baba zum Ringplatz und dort erblickten wir einen
großen goldenen Stern auf dem Gipfel einer riesengroßen Säule. Und ein
Riesenporträt von Stalin gab es dort auch. Überall befanden sich
zahlreiche lauthalsige russische Soldaten, aber wir fürchteten uns nicht
vor ihnen und wir mußten nicht mehr den gelben Davistern tragen.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Baba war auf eine Idee gekommen, von der sie mir nichts erzählte. Sie
begab sich zu den russischen Behörden, gab den Namen meines Vaters
an, sowie weitere Angaben, und bat sie, nachzuforschen, was ihm
zugestoßen sei. Sie wartete auf eine Antwort ohne sich dabei etwas
anmerken zu lassen. Sie hoffte auf seine Rückkehr und wußte, daß wir
von der russischen Armee Unterhaltsgelder für mich erhalten würden, so
daß wir alle damit versorgt wären. In der Zwischenzeit suchte sie
weiterhin nach allerlei Arbeitsgelegenheiten, um unsere Existenz
abzusichern. Sie backte und setzte einen Teil ihrer Produkte ab, sie nähte
und flickte Kleider; oft krämpelte sie Herrenkragen um und erzeugte den
Anschein eines neuen Kragens. Sie strickte auch, aber nur für
Familienangehörigen. Sie nahm alte Pullover auseinander und ich half ihr
beim Wickeln des Wollgarns, indem ich die Arme zu ihr hinstreckte,
während sie das Garn um meine Hande aufspulte. Ich liebte es in diesen
Momenten in ihrer Gegenwart zu sein.
Nahrungsmittel waren jetzt viel leichter erhältlich als vorher, doch war
Fleisch sehr teuer. Es hieß, daß wenn man Fleisch kaufe, es meistens
Pferdefleisch sei, das wie Rindfleisch aussah14. So kam Baba auf eine
neue Einkommensquelle: sie hatte einen Bauern gefunden, der größere
Mengen Rindfleisch in die Stadt lieferte, das sie dann den Nachbarn in
unserer Küche verkaufte.
Eines Tage hatten wir eine halbe Kuh auf unserem Küchentisch liegen;
die Leute strömten ein und aus und kauften je ein Kilo oder ein halbes
Kilo Fleisch. Baba schnitt das Fleisch ab und legte den Preis fest,
während mein Großvater es auf einer Waage abwog, wobei auf der einen
Seite der Waage, Steine, und die Fleischstücke auf der anderen Seite
lagen. Da viele Leute hinein und heraus kamen, war ich für die Tür
zuständig. Ich öffnete die Tür und sagte auf Deutsch: "Bitte gehen Sie in
die Küche". Irgendeinmal kam es vor, daß ich die Tür öffnete und ich
einen sehr hübschen russischen Soldaten vor mir stehen sah, der einen
schweren Mantel trug; er hielt an und blickte mich an. Er hatte ein breites
Lächeln auf seinem Gesicht und auch seine blauen Augen lächelten. Er
sprach mich an: "Littika, bist du es? Ist das meine kleine Tochter?". Ich
blieb eine Weile still, dann stürzte ich mich in die Küche zu meiner Baba
und rief laut: "Es ist Tata, Tata ist wieder zu Hause, Tata ist wieder zu
Hause!". Langsam schritt er durch den Flur, leicht hinkend.
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Pferdefleisch, im Gegensatz zu Rindfleisch, ist für Juden unkoscher. Die meisten Juden hätten das
Fleisch nicht gekauft, falls sie wüssten, dass es eigentlich Pferdefleisch sei.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 9
Frieda
Frieda, meine Mutter, war schon immer eine sehr einfallsreicher und
kluge Frau gewesen. In unserer Familie hieß es, daß Frieda wie eine
Katze war, die "immer auf ihren Füßen landet". An diesem grauen
Oktobermorgen, da sie auf dem mit Säcken und Koffern beladenen
Karren saß, war sie auf dem Weg nach Transnistrien, in einem der ersten
Ausweisungstransporte, wie so viele andere Juden aus dem Getto.
Eine Reihe von Karren bewegten sich mühselig auf den holprigen
Straßen, auf den Bahnof zu. Einige Leute liefen nebenher mit ihren
kleinen Taschen auf dem Rücken oder in der Hand. Alle waren still und
gingen mit vor lauter Angst und Sorge gekrümmten Rücken. Frieda, die
jung und bei guter Gesundheit war und sich gut auf dieses Schicksal
vorbereitet hatte, war tief in Gedanken versunken,ohne aber verzweifelt
zu sein. Sie hatte Vertrauen in ihre Fähigkeit, das Beste aus der Lage zu
machen und sie gute glaubte auch, daß sie gute Chancen hatte, meinem
Vater zu begegnen.
In der Nacht vor der Deportation hatte mein Großvater ihr seine alten
Soldatenstiefel gegeben, die ihr genau paßten und in denen ihre Füße
warm und bequem lagen. Erst hatte er sorgfältig einen kleinen Schlitz in
die Sole aufgeschnitten; Baba brachte ein paar amerikanische
Dollarnoten, die sie in die Sole steckten, dann richtete er die Öffnung so
her, daß niemand sie erkennen könnte und der Hohlraum damit
abgesichert war. Danach verbrachte Baba den größten Teil der Nacht
damit, russische Rubel in das Futter des Wintermantels einzunähen. Sie
hatte ihre Arbeit dermaßen gut verrichtet, daß es unmöglich zu erkennen
war, daß etwas in dem Mantel versteckt war. Sie verpackte auch etwas
Brot und Käse und füllte eine Thermosflasche mit heißem Tee. All dies
nahm Frieda mit und fühlte sich für die Reise gewappnet.
Als sie sich dem Bahnhof annäherten, kamen immer mehr Menschen in
Scharen zusammen, ganze Familien, die sich einander festhielten und
bemüht waren, einander in dem immer größer werdenden
Menschengewühl nicht aus den Augen zu verlieren. Das schöne
Bahnhofsgebäude, nach klassischer österreichischer Tradition gebaut, war
noch immer dasselbe, aber anstatt ein Ort zu sein, an dem sich die Leute
mit Verwandten und Freunden treffen, der Ausgangspunkt zu neuen
Gegenden und aufregenden Erlebnissen, war er nun ein Ort der Angst,
der Unsicherheit und der Verzweiflung. Es war all denjenigen, die den
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
gelben Davidstern auf ihren Mänteln trugen, klar, daß sie einer
Katastrophe entgegengingen, wenn sie auch noch nicht wußten, was es
wirklich bedeutete.
Frieda erkannte in der Menge ihren Onkel, Herman Rosenbaum, Babas
jüngsten Bruder, seine Frau Kutza und deren Sohn Freddy, der ungefähr
achtzehn Jahre alt war. Sie waren ihr immer sympathisch gewesen. Kutza
war eine der belehrtesten Frauen in der Familie; sie hatte ihre Matura in
Wien erhalten und später Pharmakologie studiert. Frieda packte ihre
Sachen aus dem Karren und schloß sich ihnen rennend an. Sie freuten
sich, Frieda zu sehen und alle vier beschlossen sie, zusammenzubleiben.
Während Frieda und die Rosenbaums sich umarmten, brüllten
rumänische und deutsche Soldaten und zerrten die Leute in den Zug.
Frieda warf einen Blick auf den Zug und konnte ihren Augen nicht
glauben: es wurde von ihnen verlangt, in leere Viehwagons zu steigen.
Ehe sie sich umblicken konnte wurde sie auf den Wagon emporgehoben
und sie mußte sich bemühen, dabei ihren Koffer und ihren Rucksack an
sich zu klammern und Onkel Herman und seine Familie wiederzufinden.
Schließlich gelang es ihr, innerhalb des Wagens zu ihnen zu stoßen; dort
standen sie, sich an der Wagonwand festhaltend, an der sich ein enger
Schlitz mit etwas Luft und Licht befand. Nachdem die große, schwere
Wagontür zugesperrt worden war, wurde ihnen erst richtig bewußt, was
für ein Glück sie hatten, sich neben der einzigen Luftquelle zu befinden.
In den ersten paar Stunden standen oder saßen die Menschen eng
beieinander. Kinder und alte Leute hatten es besonders schwer. Viele der
Kinder weinten, die alten Leute jammerten oder schluchzten. Es war
schwierig, klare Gedanken zu behalten. Die Leute packten das
Reiseproviant heraus, das sie mitgebracht hatten. Sie aßen schweigend,
jeder für sich. Da dachte Frieda sich: "Wie klug es war, Littika bei meiner
Mutter zu lassen, sie wird sich um sie kümmern – was hätte ich mit ihr
hier gemacht?" Nach einer Weile spitzte sich die Lage zu, weil alle auf
die Toilette mußten. Es gab ein paar Töpfe, die vom Einen zum Anderen
weitergereicht wurden, in denen jeder seine Bedürfnisse herrichtete; dann
wurde der Inhalt durch eine kleine Öffnung in der Tür ausgeschüttet.
Trotzdem wurde der Gestank nach und nach unerträglich und es wurde
immer schwieriger, zu atmen. Frieda preßte sich an die Wagenwand und
an die kleine Luftöffnung heran. Sie konzentrierte ihre Gedanken nur auf
Eines: "Ich muß diese schreckliche Situation überleben, um jeden Preis".
Nach vielen Reisestunden – niemand wußte genau, wieviel – blieb der
Zug stehen und alle mußten unter dem Gebrüll der rumänischen und der
deutschen Soldaten aussteigen. Draußen war es kalt und finster. Keiner
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
wußte, wo sie sich befanden, sie wußten nur, daß sie irgendwo in der
Ukraine waren.
Es sprach sich herum, daß sie sich in Ataki befanden, in der Nähe des
Flusses Dniester. Plötzlich wurden sie bei lautem Gebrüll durch die
deutschen Soldaten aufgefordert, in Richtung des Flusses zu gehen. Die
große Menschenmenge begann sich langsam in tiefem Matsch in
Bewegung zu setzen, als es gerade anfing zu regnen. Die alten Leute
waren nicht in der Lage, ihr Gepäck selber zu tragen und die Kinder
hatten nicht die erforderliche Kraft, sich in dem dicken Morrast zu
bewegen. Zahlreiche Menschen fielen einfach um und konnten sich nicht
mehr aufrichten. Frieda trug ihren Rucksack auf dem Rücken und ihren
Koffer in der Hand, in dem sich viele Kleider meines Vaters befanden.
Sie ging so rasch wie sie nur konnte, um diese Qual so schnell wie
möglich hinter sich zu haben. Die Rosenbaums hielten sich so nah an sie,
wie sie konnten. Als sie den Fluß erreicht hatten, wurden die Leute nach
und nach in kleine Boote gehievt, um nach Moghilev, auf dem anderen
Flußufer, zu kommen. Die Rosenbaums waren in ein Boot gestiegen und
riefen Frieda zu, zu ihnen einzusteigen. Sie brachte es nicht fertig, ihre
Balance mit dem großen Koffer in der Hand zu behalten und so bat sie
einen der deutschen Soldaten, ihr mit ihrem Koffer zu helfen. Er blickte
sie eine Weile mit einem bösartigen Grinsen an, dann riß er ihr den
Koffer weg und warf ihn auf den Boden, während er sie voran schubste.
All ihr geliebtes Eigen lag nun auf dem Schlamm zerstreut. Dies war für
sie ein ernüchterndes Erlebnis. Sie begab sich schnell auf das Boot und
beobachtete etwas später, wie einige ukrainische Kinder sich auf ihre
zerstreuten Sachen stürzten. Ihre Ernüchterung wurde in eine
Entscheidung umgesetzt: "Diese Menschen haben vor, uns umzubringen.
Ich muß gut auf mich aufpassen. Ich muß überleben und alles tun, was
ich kann". Später bemerkte sie zu diesem Vorfall: "Dies war der
Augenblick, in dem ich aufgehört habe, naiv zu sein und von da an habe
ich mich auf keinen Menschen mehr verlassen. Mein ganzes Leben habe
ich ...., ich schulde niemandem etwas". Dies waren Worte, die sie sich
selbst und Anderen immer wieder sagte.
Als das Boot in Moghilev ankam, fing es an zu schneien und es war
eiskalt. Frieda hatte ihren langen Schal, den Baba für sie gestrickt hatte,
fest um ihren Körper gewickelt. Ihre Stiefel waren lebensrettend, da sie
innen warm gefüttert waren, und sie waren ausreichend dick, um dem
Schlamm und dem Wasser standzuhalten. Als sie aus dem Boot
ausstiegen, hörten sie wieder das Gebrüll der deutschen und der
rumänischen Soldaten; sie wurden wie Tiere auf das Flußufer gepfercht.
Gleichzeitig hörte man rundum Leute schluchzen und leise weinen.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Einige waren in den Dniester gefallen und ertranken noch ehe sie in
Moghilev ankamen; andere hatten es aufgegeben und blieben im
Schlamm liegen, wo sie dann von den Soldaten zu Tode geschlagen
wurden. Auch hier waren es die Alten und die Kinder, die als erste mit
ihrem Leben zahlten.
Onkel Herman hatte sich mit einigen wichtigen jüdischen
Persönlichkeiten unterhalten und von ihnen erfahren, daß man Moghilev
am besten sofort verlassen solle. Um den heruntergekommenen und
völlig erschöpft aussehenden Juden herum, die gerade aus den Booten
gestiegen waren, hatte sich ein Ring von kleinen Kutschen, Pferdekarren
und ukrainischen Fahrern gebildet. Dort standen sie, grinzend und
abwartend. Onkel Herman ging auf einen von ihnen zu und bat ihn, sie
nach Murafa zu bringen, ein Dorf von dem er gehört hatte, daß es schön
sei, und nicht zu nah an Moghilev gelegen. Die Rosenbaums hatten
russische Rubeln dabei und sie zahlten auf der Stelle; nun stiegen die Drei
mit Frieda auf den Wagen. Sie saßen sehr eng an einander, aber sie
konnten noch zwei Personen mitnehmen; sie sahen ein Ehepaar, daß sie
kannten und luden es ein, mit einzusteigen. Alle sechs saßen sie auf dem
offenen Wagen, der mit alten Decken bedeckt war, während es den
ganzen Weg lang bis nach Murafa auf sie schneite. Doch war Schnee
besser als Regen, weil er sie nicht durchnäßte. Während der Reise hielten
alle still, außer das bei einigen von ihnen der Magen zu knurren anfing –
sie hatten nichts gegessen, seitdem sie aus dem Zug gestiegen waren und
sie hatten keine Nahrung mehr übrig. Die Reise dauerte fast die ganze
Nacht und sie erreichten Murafa am frühen Morgen. Als der Wagen
mitten in dem kleinen Dorf anhielt, unweit einer hübschen katholischen
Kirche, kamen weitere Wagen nach, mit noch mehr Leuten. Alle stiegen
aus und fingen an, auf und ab zu springen, um Füße und Beine
aufzuwärmen und um sich wieder lebendig zu fühlen. Sie wußten, daß sie
Glückspilze waren, da Murafa als das Sauberste und das Beste unter den
Gettos in Transnistrien galt.
Während sie in der Kälte standen, kamen einige rumänische Soldaten an,
die sie aufforderten, sich einen Ort zur Übernachtung zu finden und sich
am nächsten Morgen zur Arbeit zu melden. Frieda wurde auf eine
ukrainische Frau aufmerksam, die sich in ihrer Nähre befand. Sie hatte
ein großes Lächeln auf ihrem Gesicht und hielt in ihren Armen ein breites
Faß mit heißer Suppe. Die Leute kamen auf die Frau zu und für ein paar
Kopeken verkauften sie ihnen eine Tasse Suppe. Auch die Rosenbaums
nahen etwas Suppe zu sich; dann flüsterte Frieda der Frau etwas ins Ohr
in ihrem gebrochenen Ukrainisch,worauf die Ukrainierin mit einem
Lächeln und einem Nicken erwiderte. Alle vier, Onkel Herman, seine
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Frau Kutza, Freddy und Frieda, warteten, bis die Frau ihre Suppe
ausverkauft hatte, danach folgten sie ihr. Sie führte sie in ihr Haus; dort
bat sie ihnen einen kleinen Raum an, der mit einigen auf dem Boden
liegenden Matratzen ausgestattet war. Das Zimmer hatte zwei Fenster,
wovon das Eine zerbrochen war und durch das ein eiskalter Wind zog. Es
gab eine Toilette auf dem Hof, nicht sehr weit weg. Nachdem sie mit der
Besitzerin einen Preis für die wöchentliche Miete ausghandelt hatten,
begannen sie, sich einzurichten. Onkel Herman benutzte den Deckel einer
der Koffer, um das zerbrochene Fenster zuzustopfen. Alle waren
erschöpft, doch freuten sie sich darüber, daß sie nun im Liegen schlafen
konnten. Sie waren sich alle dessen bewußt, daß sie viel Glück in der Not
hatten. Es war ihnen auch klar, daß jeder Pfennig in ihren
Überlebensanstrengungen zählte. Meine Mutter zog ihre Stiefel aus und
legte sie unter ihren Kopf; sie dachte sich, daß sie solange wie möglich
warten würde, ehe sie von dem Geld, das darin steckte, Gebrauch machen
würde. Aber sie nahm ein paar Rubel aus dem Mantelfutter heraus für die
nächsten paar Tage.
Dies war die erste Nacht in Murafa, irgendwann ende Oktober 1941.
Frieda verbrachte fast zweieinhalb Jahre in Murafa. Sie wohnte fast ein
ganzes Jahr lang mit den Rosenbaums in diesem kleinen Zimmer. Die
Hausbesitzerin war eine einsame Frau, dessen Eheman und Söhne im
Krieg waren; sie lebte von dem Einkommen der Miete.
Am Morgen nach der Ankunft in Murafa wurden alle Juden auf dem
kleinen Platz in der Dorfmitte aufgerufen; von dort wurden sie auf
verschiedene schwere Arbeiten geschickt. Die deportierten Juden standen
zusammengedrängt auf dem Platz, während ortsansässige Ukrainer, die
Arbeitskräfte brauchten, sie bemusterten. Unter ihnen befand sich auch
der Direktor des kleinen Krankenhauses in Murafa, daß nun für die
medizinische Versorgung des rumänischen und des deutschen Heeres
zuständig war. Er wurde auf Frieda innerhalb der Menschenmenge
aufmerksam – sie war eine hübsche Frau, die jung und gesund aussah und
eine gewisse Art von Selbstsicherheit ausstrahlte. Er näherte sich ihr an
und sprach sie erst auf Rumänisch und dann auf Deutsch an. Sobald er
erkannt hatte, daß sie deutschsprachig war, lächelte er und sagte ihr: "Mir
scheint, ich habe etwas Arbeit für Sie im Krankenhaus". Auf diese Weise
hatte Frieda das Glück, an eine Arbeit zu kommen, bei der sie sich in
einem Raum aufhielt, vor der Kälte geschützt, und wo sie sogar eine
Mahlzeit erhielt und sich nach der Arbeit waschen konnte. Anfangs
wurde sie gebeten, den Fußboden zu wischen und die Waschräume zu
putzen. Dies war eine harte Arbeit für die junge Frau, aber sie war kräftig
und gesund, und sie war flink bei der Arbeit. Bald schlug die Chefärztin,
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
eine Ukrainerin, vor, daß Frieda ihr Büro und ihren Arbeitsareal in Stand
halten solle; so entstand eine gewisse freundschaftliche Beziehung
zwischen den beiden. Frieda kam sich recht privilegiert vor.
In den späten Abendstunden, wenn Frieda zu den Rosenbaums
zurückkehrte, brachte sie immer etwas zu essen mit – ezwas Brot oder ein
paar Kartoffeln. Die meisten Leute in Murafa leideten an Hunger. Die
typische Mahlzeit bestand aus Kartoffelschalen, die zu Suppe gekocht
worden waren. Besonders im Winter gab es kein Gemüse und keine
Molkereiprodukte. Nur Leute mit guten Beziehungen und etwas Geld
konnten hier und da Eier erhalten und manchmal auch etwas Butter. Bald
besaß Frieda zahlreiche Beziehungen. Über den ukrainischen Arzt lernte
sie den Kommandanten des Gettos in Murafa kennen. Er war ein
Deutscher und mochte Frieda beim ersten Blick. Er hatte immer einen
Witz oder eine Geschichte für sie parat, wenn er sich ins Krankenhaus
begab. Einmal sagte er ihr: "Wenn Sie jemals Hilfe brauchen oder in Not
sind, kommen Sie zu mir ins Büro, ich werde meinen Soldaten
Anweisungen geben, Sie hereinzulassen".
Bald hatte Frieda heraus gefunden, wo man Kleider, Nahrungsmittel,
Möbel und Sonstiges erhalten konnte.Die meisten der jungen Männer
wurden in Zwangsarbeitlager geschickt, von denen sie nie wieder
zurückkehrten. Die Familien, die junge Söhne hatte, lebten in ständiger
Angst, daß die Söhne ihnen weggenommen würden. Viele wendeten sich
an Frieda, da es sich inzwischen herumgesprochen hatte, daß sie
Beziehungen zum Kommandanten hatte. Sie steckten ihr Uhren,
Armbänder, Goldmünzen und Diamanten in die Hand, um sie dem
Kommandanten zu geben und um sicherzustellen, daß ihr Sohn nicht
weggenommen würde. Sie pflegte, sich ins Büro des Kommandanten zu
begeben, sich ihm gegenüber zu setzen und ihm die Wertsachen
vorzulegen. Dann erwähnte sie den Namen des jungen Mannes und
verließ den Raum. Meistens gelang es ihr, diese jungen Männer, für die
sie den Familienschmuck und deren Gold abgegeben hatte, zu retten. Es
war ein wahres Wunder, wie die armen Leute es fertiggebracht hatten,
Wertsachen in ihren Kleidern, Korsetten, Mänteln, Schuhen, Töpfen und
Pfannen zu verbergen.
Eines Tages hatte Frieda eine aufregende Begegnung mit Tanja, die
Ärztin, bei der sie im Krankenhaus arbeitete. Tanja rief sie in ihr
Arbeitszimmer hinein und erzählte ihr unter dem Siegel des
Geheimnisses, daß sie bald heiraten würde, aber leider kein
Hochzeitskleid habe. Friedas Augen funkelten auf – dies war nun die
Gelegenheit, ihrer Vorgesetzten behilflich zu sein. Frieda fand eine
Ukrainerin, die weißen Leinenstoff vorrätig hatte und eine andere Frau,
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
die Schneiderin war. Innerhalb einer Woche erhielt die Ärztin ein
wunderschönes Hochzeitskleid und diese Gefälligkeit blieb ihr immer in
Erinnerung. Nun hatte Frieda eine Freundin unter den Leitern des Lagers.
Viele der Juden himmelten Frieda an, wegen ihrer Geschicklichkeit und
wegen ihrer ungewöhnlichen Fähigkeiten; andere wiedrum haßten sie.
Die Mitglieder verschiedener Gremien, die für die Judenangelegenheiten
gegründet worden waren, die örtlichen Anführer der
Religionsgemeinschaften und Andere spürten, daß Frieda ihnen immer
mehr im Weg stand. Die Glaubensanführer erwarteten, daß die Leute sich
in ihrer Not an sie wendeten. Sie sprachen gegen diese einzelnen
Arrangements und privaten Abmachungen, in denen Frieda sich
auszeichnete. Gewöhnlich ignorierte sie sie und wenn sie mit dem Thema
konfrontiert wurde, sagte sie immer: "Laßt sie ihr Bestes für die
Gemeinschaft tun – ich verlasse mich nur auf mich selbst. Also habe ich
meine eigenen Beziehungen und meine eigene Art und Weise, die Dinge
zu erledigen".
Eines Tages kam Frau Druckman, eine ehemalige Nachbarin meiner
Großeltern, zu ihr. Ihr Sohn war 30 Jahre alt und bisher hatte er in einer
kleinen Schuhfabrik vor Ort gearbeitet. Nun war die Rede davon, daß sie
ihn auf ein Zwangslager schicken wollten. Ob Frieda ihn retten könne?
Frau Druckman drückte ihr ein wunderschönes Goldarmband in die
Hand. Frieda begab sich nochmals zum Kommandanten. Diesmal war er
aufgebracht. Er behauptete, diese Leute seien als Arbeitskraft für den
Krieg erforderlich und daß sie ihre Aufgabe erfüllen sollten. Wie
gewöhnlich legte sie ihm das Armband auf den Tisch und sprach ruhigen
Tones den Namen aus. Dann verließ sie den Raum. Sie war unsicher, ob
sie dieses mal Erfolg haben würde. Sie begab sich schnurstraks zu den
Druckmans. Sie teilte ihnen mit, daß sie nicht sicher sie, den
Kommandanten überzeugt zu haben. Daraufhin brachen sie in heftiges
Weinen aus und waren sehr bedrückt, doch waren ihr sowohl die Eltern,
als auch der junge Poldy Druckman höchst dankbar. Sie baten Frieda,
diese Nacht bei ihnen zu verbringen und mit ihnen zu sammen auf den
nächsten Morgen zu warten.
Poldy und Frieda saßen die ganze Naht durch und unterhielten sich.
Frieda erzählte von Willy, der wahrscheinlich tot war, und von ihrer
kleinen Tochter, die sie in Czernowitz zurück gelassen hatte. Zwischen
den beiden entstand ein besonderes Verständnis füreinander und
Verbundenheit. Bei Morgenanbruch hielt Poldy ihre Hand und streichelte
sie sanft. Plötzlich hörten sie das Gebrüll der Soldaten, die gerade eine
andere Gruppe von jungen Männern abschleppte, um sie ins Zwangslager
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
auf der anderen Seite des Bugs zu schicken. Frieda und Poldy saßen
umschlungen, mit den Augen auf die Tür gerichtet und erwarteten das
Klopfen an der Tür, aber es kam nie dazu. Es war ich also nochmals
gelungen, einen jungen Mann zu retten. Nachdem sich alles wieder
beruhigt hatte, umarmten und küssten sich die Friedmans und Frieda, und
sie waren die glücklichsten Menschen auf der Welt. In Anerkennung und
aus Dankbarkeit bot Frau Druckman Frieda an, zu ihnen einzuziehen. Die
Bedingungen dort waren etwas besser als bei den Rosenbaums und
letzten Endes nahm sie das großherzige Angebot an.
Während der nächsten anderthalb Jahre wohnte Frieda bei der Familie
Druckman. Aus der Annäherung, der Angst und den jungen Herzen
entstand sehr bald eine Liebesgeschichte. Frieda und Poldy wurden zu
einem Liebespaar, und ihre Liebe bereitete ihnen viel Trost in
schwierigen Zeiten. Beide arbeiteten mit großem Fleiß und nährten sich
von den mageren Mahlzeiten, die die Familie zuammenbringen konnte;
aber die Tatsache, daß dauernd die Gefahr über ihnen schwebte, über den
Bug geschickt zu werden oder an einer der vor Ort grassierenden
Krankheiten zu sterben, und daß sie einander hatten, das alles, gab ihnen
Hoffnung für die Zukunft.
Frieda und Poldy wußten, daß sie Glück hatten, sich in Murafa zu
befinden. An anderen Orten in Transnistrien ging es viel schlimmer zu. In
Murafa, wie auch in den anderen Orten, starben zahlreiche Menschen vor
Hunger und vor Kälte, und viele wurden über den Bug geschickt. Doch
waren die Sanitäts- und allgemeinen Grundlagen dort besser als in all den
anderen Orten; dort verbreiteten sich das Typhusfieber und die typhoide
Edpidemie nicht so schnell, wie in den anderen Orten. Die meisten der
Überlebenden hatten eine feste Arbeiststelle, auf die sie sich täglich
begaben; obwohl sie nicht entlohnt wurden, erhielten sie eine Bleibe für
ihre Arbeit. Nahrungsmittel, obwohl nur wenig vorhanden war, waren bei
den ukrainischen Bauern erhältlich, für Geld oder im Tauschhandel; viele
der Juden hatten etwas Geld und Wertsachen mitgebracht. Frieda gab fast
sämtliche Rubel aus,die in ihrem Mantel eingenäht waren, aber die
Dollarnoten in ihren Stiefeln behielt sie bis zum Ende.
Die Zeit verstrich und Nachrichten von der Front erreichten die kleinen
Gettos in Transnistrien. Die deutsche Niederlage in Stalingrad gab allen
erneut Hoffnung. Die Deustchen jedoch brachten Juden immer weiter um,
in dem sie sie über den Bug warfen, in Zwangsarbeitlager schickten oder
einfach diejenigen erschossen, die sich nicht an die Anordnungen hielten.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Poldy hatte zwei gute Freunde, die unbedingt versuchen wollten, aus
Transnistrien zu flüchten. Sie hatten das Gefühl, daß es sie ihr Leben
kosten könne, wenn sie dort bis zum Ende blieben; im Winter, wenn die
Deutschen selber zu abgeschwächt und unglücklich, und die Rumänen
ihrereseits zu faul waren, um genau aufzupassen, wollten sie den Versuch
machen, auszubrechen. Der Plan war, daß alle Vier, Poldy, seine beiden
Freunde und Frieda, sich zusammen auf die Flucht begeben sollten.
Frieda war die einzige Frau in der kleinen Gruppe, aber alle schätzten
ihre Fähigkeiten und ihre praktische Denkweise und hatte das Gefühl, daß
sie für die Gruppe ein Trumpf sei.
Während die Deutschen und die rumänischen Soldaten Silvester im
trinken feierten, machten sich die Vier anfang Januar 1944 auf den Weg.
Zu diesem Anlaß hatte Frieda die Dollarnoten aus ihrem Stiefel
herausgenommen und wechselte den größten Teil davon in Rubel ein. Es
war ein kleiner Schatz, der für einige Zeit halten würde. Mit kleinen
Rucksäcken auf ihren Schultern gingen die Vier erst zu Fuß los, dann mit
einem Pferdekarren und schließlich auf einem Lastwagen, auf dem Weg
nach Czernowitz, das zu dieser Zeit gerade schwere Bombenangriffe von
den Deutschen, die auf dem Rückzug, und von den Russen, die auf dem
Einzug waren, erlitt. Sie bezahlten jedesmal für ihre Mitreise und wurden
von niemandem mit Fragen belästigt. Die Bauern wußten sehr wohl, daß
Deutschland dabei war, den Krieg zu verlieren, und selbst wenn sie
erraten hätten, daß diese Leute Juden waren, die auf der Flucht aus einem
Lager in Transnistrien waren, war das Geld das Einzige, was sie
interessierte.
Als die Vier an einem kalten Januar Nachmittag in Czernowitz ankamen,
beschlossen sie, daß jeder diejenigen seiner Familienangehörigen, die in
der Stadt geblieben waren, aufsuchen würde und versuchen sollte, dort
die Nacht zu verbringen. Abgemacht war, daß sie sich am nächsten
Morgen treffen und zusammen nach Süden weitergehen, in Richtung
Bukarest. Dies ist der Grund, warum Frieda nur diese eine Nacht mit
Baba und mir verbrachte, etwas Geld hinterließ und am nächsten Morgen
wieder aufbrach. Sie hatte einen Liebhaber, sie hatte einen engen
Freundeskreis, der Krieg war bald zu ende und sie hoffte, sich eine neue
Existenz aufzubauen. Sie war davon überzeugt, daß mein Vater im Krieg
gefallen war. Und wo kam ich vor, in diesen Plänen? Wahrscheinlich
wußte sie nicht, wie sie mich einbringen sollte und es schien ihr das Beste
zu sein, mich bei Baba zu lassen, die sich so gut um mich gekümmert
hatte und die nun in Sicherheit in der alten Wohnung auf der
Franzensgasse war.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapite 10
Willy
Mein Vater, Willy, wurde im März 1941 von der Roten Armee
einbezogen. Er wurde zu Militärübungen in ein großes Militärlager am
Rande von Rosch geschickt, wo meine Mutter Frieda und ich ihn jeden
Sonntag besuchten. Beide freuten wir uns jedesmal auf diese Besuche; oft
brachten wir ihm etwas leckeres zu essen mit und manchmal gab meine
Mutter ihm auch einige Bücher zum lesen. Er hatte schon immer gerne
Bücher gelesen und Geschichten erzählt. Der lange Weg von unserer
Wohnung aus nach Rosch war angenehm, da wir jedesmal im
Schillerpark Halt machten, wo ich etws Zeit hatte, um herumzulaufen und
zu spielen. Am Sonntag den 22. Juni sollten wir wie immer meinen Vater
besuchen kommen, aber die Geschichte bereitete uns eine große
Überraschung vor.
Am Samstag, den 21. Juni 1941, spielten die ukrainischen und die
jüdischen Soldaten Fußball, mit den üblichen Zankereien und
Wettrennen. Es war ein sonniger Nachmittag und alle befanden sich
draußen auf dem Feld. Willy stand wie immer in der Mitte. Inzwischen
hatten alle Soldaten herausgefunden, daß er besonders stark und bei
kräftiger Gesundheit war. Als geübter Turner machte er regelmäßig seine
Übungen auf den Stangen. Plötzlich kehrten sich die üblichen Hänseleien
der Ukrainier um in einen regelrechten Angriff gegen die Juden.
Antisemitische Hetzparolen wurden herumgeworfen und die Spannung
stieg an. Einer der Ukrainer ging auf den jüdischen "Anführer" zu und
sagte: "Ihr Juden, ihr redet viel, aber eigentlich seid ihr doch nur
Feiglinge. Laßt uns doch sehen, ob einer von euch dazu fähig ist, Sascha,
unseren starken Mann, zu fassen. Wetten, daß ihr niemanden habt, der
sich mit ihm messen kann".
Sascha war 1,80 m. groß, ein Schwergewicht mit aufbrausendem
Charakter. Die Juden blickten ihn an und baten um etwas Zeit, um sich
untereinander zu beraten. Sie entfernten sich, stellten sich im Kreis, auf
Deutsch flüsternd und berichteten einander über ihre Besorgnis. "Was
machen wir jetzt? Wenn wir uns jetzt nicht auf die Konfrontierung mit
Sascha einlassen, werden sie nie Ruhe geben. Wer kann ihm
standhalten?" Dann rief einer der Männer laut: "Willy, du bist zwar sehr
viel kleiner als Sascha, aber du bist der Stärkste von uns allen; was sagst
du dazu?". Willy blickte ihm mit einem großen Lächeln entgegen.
"Natürlich, es wird genauso wie bei David und Goliath aussehen, und das
Ende der Geschichte kennst du ja". Willy schaute blickte etwas bedrückt
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
nach Sascha, aber er wußte, daß er seine Freunde jetzt nicht im Stich
lassen konnte. Ihre Ehre lag jetzt in seinen Händen.
Sobald Willy sich bereit erklärt hatte, sich auf den Kampf einzulassen,
begannen die Soldaten zu jubeln und alle rannten sie auf das offene
Trainiergelände. Sie stellten sich in einen breiten Zirkel auf und machten
Sascha und Willy in der Mitte Platz. Willy und Sascha begannen,
miteinander zu kämpfen. Sascha war zwar stark, aber Willy war sehr
flink und verstand es, den heftigen Hieben auszuweichen. Die Ukrainer
riefen ihrem Held Unterstützungsrufe zu, während die Juden ruhig
blieben, ohne wirklich daran zu glauben. Nach einer Weile begannen sie
jedoch "Willy, Willy" zu brüllen. Dies gab meinem Vater einen neuen
Anstoß von Energie und plötzlich packte er Sascha im Zangengriff mitten
im Körper und hob ihn in die Luft. Sascha schrie auf und fiel besiegt zu
Boden, aber diesmal wich Willy nicht schnell genug aus und der große
Ukrainer landete auf seinem linken Bein. Die ganze Ansammlung der
Soldaten brüllte wild "Willy, Willy" und Sascha entfernte sich mismutig.
Als die jüdischen jungen Männer auf ihn zukamen, um ihn abzuholen und
um im ihre Freude zu bekunden, wurde ihnen auf einmal bewußt, daß er
unter fürchterlichen Schmerzen litt. Sein Fuß war am Knöchel gebrochen.
Willz wurde ins Lazarett gebracht und sein Bein wurde mit einer Schiene
stillgelegt. Der Arzt sollte am nächsten Morgen kommen und dann
entscheiden, was gemacht werden sollte. In der Zwischenzeit brachten sie
ihm eine Flasche Wodka, um die Schmerzen zu stillen und seine Laune
aufzubessern. Obwohl er bis dahin nie starken Alkohol getrunken hatte,
nahm er ein ganzes Glas zu sich und fühlte sich danach gleich besser. All
seine jüdischen Freunde saßen um ihm herum und strahlten vor Freude.
Es war so herrlich, daß er diese bösen ukrainischen Schweine besiegt
hatte. Und für eine kurze Weile war Willy der Held seiner Heereseinheit.
Als es Nacht wurde und er von dem Wodka betäubt war, gelang es Willy,
trotz Schmerzen etwas Schlaf zu finden. Gegen 5 Uhr morgens brach
plötzlich die Hölle aus. Die ganze Gegend stand unter Bombenangriff
und die Geschosse flogen durch die Gegend. Das ganze russische
Militärlager geriet in Panik. Bald wurden Anweisungen ausgeteilt und
man beschloss, das Lager sofort völlig zu evakuieren. Sämtliche
Soldaten, die jüdische Truppe aus Czernowitz inbegriffen, wurden in den
Zug gesetzt und weit weg ins Landinnere nach Rußland geschickt. Alle außer Willy, der mit dem Feldlazarett in ein Militärkrankenhaus in die
Stadt Gorky geschickt wurde, weit entfernt von der rasch
voranschreitenden Front.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Die Artillerie und die Bombenangriffe wurden immer heftiger; bei
Tagesanbruch wurde der Zug mit den jüdischen Soldaten getroffen und
restlos zerstört. Sämtliche Passagiere kamen um, unter ihnen auch die
jüdischen jungen Männer aus Czernowitz. Nur einem einzigen jüdischen
Mann gelang es, zu überleben; er kam in die Stadt zurück und teilte allen
mit, daß die jüdische Truppe verschollen war; dabei wußte niemand, daß
Willy nicht in diesen Zug mit eingestiegen war.
Was an diesem Sonntag den 22. Juni passiert war, war der Anfang der
"Aktion Barbarossa", der deutsche Kodename für den Einmarsch in die
Sowjetunion. Der Angriff der Deutschen überraschte die russische
Armee. Die Geschwindigkeit und die Gewalt des Angriffs zerstörten die
Abwehrpläne der Russen ganz und gar. Ein schneller Rückzug war
unumgänglich.
Willy kam in ein großes Militärlager in der Nähe der Stadt Gorky. Es lag
weit weg von der Front und die Soldaten trainierten dort und bereiteten
sich auf einen brutalen Krieg gegen das voranschreitende deutsche Heer
vor. Er wurde ins Militärkrankenhaus eingeliefert, daß wesentlich besser
ausgestattet war als das, was es in Rosch gab. Sein Bein wurde eingegipst
und man gab ihm ein paar Holzkrücken. Er ahnte nicht, was mit seinen
Freunden geschehen war. Um ihm herum sprachen alle ausschließlich
Russisch. Obwohl seine Russischkenntnisse rudimentär waren, entdeckte
er bald die russische Bibliothek im Lager; auf diese Weise begann er, auf
Russisch zu lesen - erst Magazine, dann Bücher. Nach und nach
erweiterten sich seine Russischkentnisse und er gewann neue Freunde
unter den Leuten, die ins Lazarett hinzukamen. Er hatte keine Nahricht
von seiner Familie. Er schickte zwar mehrere Briefe an Frieda, aber sie
kamen nie an und bald gab er jede Hoffnung auf. Nach dem, was er
erfahren hatte, stand für ihn klar, daß die Deutschen alles, was sie nur
konnten, verbrannten und sämtliche Juden auf ihrem Weg umbrachten.
Daher dachte er, daß seine Familie keine Überlebenschancen hätte.
Das Lazarett wurde von einer Ärztin geleitet, eine strenge Frau, die sich
ganz auf ihre Arbeit konzentrierte. Doch bald fing sie an, sich für den
hübschen jungen Mann zu interessieren, der mit der russischen Sprache
ringte. Ihr fiel auf, daß er lateinische Vokabeln mit großer Leichtigkeit
ablesen konnte; noch ehe sein Bein wieder heilte, bat sie ihn, für sie im
Lazarett zu arbeiten. So wurde Willy zum Feldscher15 ernannt. Er schrieb
die Namen der verschiedenen Medikamente ab und führte täglich Buch
über die eintreffenden und herausgegebenen Arzneimittel. Er hatte eine
15
Handwerksarzt beim Heer oder ungelernter Azt.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
schöne Handschrift und seine Chefin war sehr zufrieden mit ihm. Sie
begann, ihn zu mögen und vertraute ihm die ganze Ausstattung und die
Arzneimittel im Lazarett an. Gegen ende Oktober 1941 war sein Bein
geheilt, aber er hinkte immer noch und brauchte einen Gehstock, um sich
zu bewegen. Er arbeitete weiterhin im Lazarett. Dies waren Willys
schönste Monate im Heer. Er mußte sich nicht, wie die anderen Soldaten,
stundenlang draußen in der bitteren Kälte aufhalten und hatte viel Zeit
zum Lesen. Das Essen im Lazarett war besser als das, was das
gewöhnliche Heer erhielt und meistens durfte er die Nacht durchschlafen.
Willys russische Freunde fanden ihn sehr sympathisch. Gewöhnlich
überließ er ihnen seine Portion Wodka und in manchen Fällen, wenn
jemand einen ganz besonderen Drang nach Alkohol empfand, erlaubte er
demjenigen, sich etwas Alkohol aus der Lazarettapotheke zu Gemüte zu
führen. Bald hatte er bereits viele russische Lieder gelernt und jeden
Abend baten ihn seine Kumpel, halb nüchtern, halb besoffen, für sie zu
singen. Monate verstrichen, die Kriegsfront lag immer noch weit weg.
Was war wohl aus Czernowitz geworden? Was war aus seiner Frau und
seiner Tochter geworden, die er dort hinterlassen hatte und zu denen er
jetzt keinerlei Kontakt hatte? Er wußte überhaupt nichts, außer, daß die
Kämpfe in der Ukraine sehr heftig gewesen waren. Alle wußten jedoch,
daß das deutsche Heer jetzt im russischen Winter festhing und nicht in
der Lage war, plangemäß voranzuschreiten.
Die enormen Verluste des deutschen Heeres und die Schwierigkeiten in
Rußland, seit der Aktion Barbarossa, hatten Hitler trotzallem nicht von
seinen Plänen abgebracht. Bei Anbruch des Frühlings im Jahre 1942
wurde klar, daß die Deutschen ihren Blitzkrieg wieder aufnehmen
würden. Willy wurde klar, daß er nicht ewig im Lazarett bleiben könnte;
da er noch jung und gesund war, würde man ihn bald wieder an die Front
schicken. Im Mai 1942 wurde er einer Artillerieeinheit zugeteilt und er
begann ein intensives Training. Die schönen Tage waren nun vorbei.
In der Artillerieeinheit war das Training hart. Die Soldaten wurden jeden
Morgen um 4 Uhr aufgeweckt. Man verteilte ihnen je eine große Schüssel
heißer Suppe mit Speck, dann wurden sie zum Trainieren bis zum
Sonnenuntergang herausgeschickt. Anfangs konnte Willy am frühen
Morgen diese dicke Suppe nicht anrühren, aber dann stellte er sehr
schnell fest, daß es den ganzen Tag nichts anderes zu Essen gab und so
lernte er bald, diese Morgensuppe zu "genießen".
Im Juni 1942 traten die Deutschen eine neue Offensive an und gingen
rasch auf Stalingrad zu. Es wurden Einheiten aus dem Militärlager bei
Gorki als Stützkräfte für das russische Heer zur Abwehr Stalingrads
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
geschickt. Im Oktober 1942 wurde Willys Artilleriebattalion in Richtung
Stalingrad abkommandiert. Anfangs hielt seine Einheit sich in einer
kleinen Baracke auf, etwas abseits von der Front, wobei Russen und
Deutsche in direkter Nähe gegeneinander kämpften. Die Wochen
verstrichen und es wurde immer kälter. Die Soldaten saßen dich
aneinander gedrängt in der Baracke; abends tranken sie ihre Ration
Wodka und sangen dabei Lieder. Dann endlich, im Dezember, wurden sie
näher an Stalingrads Vororte geschickt. Die Kämpfe waren heftig und sie
konnten mit eigenen Augen sehen, wie die Stadt zu einem
Trümmerhaufen geworden war.
Die russischen Soldaten verschanzten sich in tiefen Gräben, die die ganze
Stadt umringten, und legten Baumäste zur Vertarnung über den Graben.
Der Schnee hatte alles überdeckt und hielt sie irgendwie warm innerhalb
ihrer in der Erde gegrabenen Löchern. Während sie dort saßen, sich beim
Artilleriekampf gegen die Deutschen ablösend, konnten sie sogar die
deutsche Soldaten hören, die sich in ihren Gräben oder in den
Einhöhlungen unter zerfallenen Häusern befanden. Oft riefen die
Deutschen den russischen Soldaten auf Deutsch über Lautsprecher zu:
"Ihr tapferen russische Soldaten, Deutschland ist nicht euer Feind! Ergebt
euch und wir werden dafür sorgen, daß ihr ein viel besseres Leben führen
könnt als unter eurer Bolschevikenregierung". Willys Kumpanen baten
ihn jedesmal, die deutschen Parolen für sie zu übersetzen, dann brüllten
sie den Deutschen entgegen: "Wir werden uns niemals ergeben! Wir
werden euch einer nach dem anderen umbringen!". Manchmal ließen die
Deutschen Musik mit deutschen Liedern spielen und Willy hörte mit
Freude hin und summte leise mit.
Täglich kamen immer mehr Russen und Deutsche unter den Bomben, den
Splittern und durch Scharfschützen beider Seiten um. Aber die wirklichen
Feinde der deutschen Soldaten waren die Läuse und die extreme Kälte.
Sie waren nicht an dermaßen rauhe Umstände gewohnt und viele unter
ihnen brachen einfach zusammen. Eines Tages hörte Willy, daß die
Deutschen ihren Posten in seiner Nähe verlaßen hatten. Er wartete ab, bis
alle ganz still wurde, steckte seinen Helm auf die Spitze seines Gewehrs
auf, als ob er auf seinem Posten Wache halten würde und kroch auf allen
Vieren zu dem verlassenen deutschen Posten über. In der Tat fand er dort,
so wie er es gehofft hatte, eine Felddusche und ein paar deutsche
Zeitungen. Er fand sogar ein Badetuch, etwas Seife und saubere
Unterhosen. Welch eine Freude! Nun konnte er endlich mal wieder
duschen, nach all diesen Wochen in denselben Kleidern. Er nahm sich
viel Zeit und genoß das fließende Wasser, das Gefühl der Freiheit und der
Sauberkeit. Er vergaß ganz und gar das unaufhörliche Geschiesse und die
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Bombardierung rund um ihn herum; nachdem er sich wieder angezogen
hatte, erfrischt und sauber, setzte er sich hin, um ein paar Zeitungen, die
dort herumlagen, zu lesen. Es bereitete ihm eine große Freude, die
deutschen Worte zu lesen. Es erinnerte ihn an alte Tage, die er fast schon
vergessen hatte. Schließlich raffte er sich zusammen, die
Annehmlichkeiten des deutschen Postens aufgebend und kroch vorsichtig
zu seinem Posten zurück. Er inspizierte seinem Helm, der immer noch
dort war, wo er ihn gelassen hatte, aber mit einm Loch in der Mitte des
Helms. "Nochmal knapp davongekommen!" dachte er für sich.
Mehrere Tage später erhielt Willys Einheit die Erlaubnis, sich in ihre
Baracke zurückzuziehen, außer Reichweite der Front, um sich für ein
paar Tage auszuruhen. Sie stießen auf einen fürchterlichen und massiven
Artilleriebeschuß von Seiten der Deutschen und die Barracke erlitt einen
Volltreffer. Nachdem sich alles beruhigt hatte, waren einige der Soldaten
tot, einige waren verwundet und Willy war genau in der gleichen
sitzenden Position geblieben. Plötzlich durchlief ihn ein heftiger Schmerz
genau an der Stelle, an der er sich das Bein in dem Kampf gegen Sascha,
den großen Ukrainer, gebrochen hatte. Er betrachtete sein Bein in dem
dicken Winterstiefel und konnte nichts sehen. Er machte einen Versuch,
sein Bein zu heben, wobei er durch den unerträglichen Schmerz in
Ohnmacht fiel.
Als Willy aus seiner Ohnmacht wieder aufwachte, lag er in einem
Krankenwagen, der ihn schnellstens in ein Feldlazarett beförderte. Die
Schmerzen im Bein waren heftig. Er blickte auf sein Bein hinunter und
stellte fest, daß sein Stiefel und die Socke entfernt worden waren. Sein
Bein war angeschwollen und er nahm auf jeder Seite seines Knöchels
eine kleine Wunde wahr, beide in perfekter Symmetrie zueinander. Der
Sanitäter, der neben ihm saß, lächelte: "Ja, ist das nicht komisch? Der
Splitter ist zu einer Seite eingedrungen und zur anderen wieder
herausgekommen".
Im Krankenhaus herrschten arge Zustände. Hunderte von Betten standen
eng aneinander aufgereiht, von stöhnenden Soldaten besetzt, die von
einigen wenigen Krankenschwestern verpflegt wurden. Willy wurde ins
Operationssaal-Areal gebracht. Er wurde von zwei Chirurgen untersucht.
Sie waren flink und trafen rasche Entscheidungen. Sie waren sich darüber
einig, daß Willy sofort operiert werden müsse; dabei sagte der Ältere:
"Wir müssen ihn amputieren", worauf der jüngere Chirurg wiederholt
betonte: "Er ist noch so jung, versuchen wir es doch, sein Bein zu retten".
Während diese Sätze in seinen Ohren widerhallten, verfiel Willy der
Narkose-Gasmaske. Einige Stunden später wachte er mit dem
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
panikerregenden Gedanken auf: "Mein Bein ist weg!" Er streckte die
Hand in Richtung seines verletzten Beines und spürte den kalten Gips. Er
beruhigte sich – ein Gips bedeutete ja, daß das Bein gerettet worden war.
Die Genesung war langsam, aber im Vergleich zu all den schrecklichen
Verletzungen, die er um ihn herum wahrnahm, war Willy sich dessen
bewußt, daß er sehr viel Glück gehabt hatte. Bald fing er an, sich auf
Krücken herumzubewegen; er erzählte den Soldaten schöne Geschichten
und sang mit ihnen Lieder. Das Wichtigste für ihn war, daß er nicht mehr
nach Stalingrad zurückkehren müßte. Für ihn war der Krieg zu ende.
Im Februar 1943, zwei Monate nachdem Willy verwundet worden war,
gelang es den Russen, Stalingrad zu befreien. Willy ging nun mit einem
Spazierstock und fühlte sich wieder in gutem Zustand. Der Offizier, der
für die Entlassung der verwundeten Soldaten aus dem Krankenhaus
zuständig war, lud ihn zu einem Gespräch vor. Er sagte: " Soldat, du hast
deine Aufgabe erfüllt, nun wollen wir dich entlassen. Was möchtest du
machen?"
Willy mußte bei dieser Äußerung lächeln. Er wußte sehr wohl, daß
Veteranen, oder wer auch sonst immer, in der Sowjetunion weder frei
herumreisen, noch das machen konnten, was sie wollten. Man mußte sich
mit dem zufrieden geben, was einem angeboten wurde, sonst lief man die
Gefahr, in Schwierigkeiten zu geraten. Außerdem ging der Krieg an der
ganzen Westfront entlang noch immer weiter. Trotz allem beschloß er,
den Offizier um einen persönlichen Gefallen zu bitten.
Willy hatte von der neuen Untergrundbahn gehört, die in Moskau gebaut
wurde; er bat darum, dorthin geschickt zu werden, wo er seine
Fachkenntnisse in Marmorverarbeitung anwenden könne. Der Offizier
lächelte und gab ihm einen Zettel und Anweisungen, mit dem Zug in ein
kleines Dorf nach Osten zu fahren. Willys Bitte war scheinbar nicht
beachtet worden. Er hatte nun keine andere Wahl, als den Anweisungen
zu folgen.
Er kam in den ersten Stunden des Nachmittags in diesem Dorf an und
begab sich sofort zu dem zuständigen "Nachalnik"-Offizier. Der Mann
bemusterte ihn und seine Papiere und befahl ihm, sich hinzusetzen und zu
warten. Bald kehrte er zurück, in der Gesellschaft einer älteren, streng
aussehenden Dame. Die Frau streckte ihm die Hand zu und stellte sich
vor: "Ich bin die Direktorin der örtlichen Oberschule", sagte sie; dann
fügte sie hinzu: "Und wir brauchen Lehrer. Was können Sie
unterrichten?" Willy überlegte eine Weile, dann sagte er: "Vielleicht
Zeichnen?" Die Frau lächelte wieder und sagte: "Gut, aber Sie sprechen
auch Deutsch und wir wollen, daß sie unseren Jungen Deutsch
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
beibringen". Danach erklärte sie ihm, daß das Dorf sich in einer sehr
schwierigen Lage befände, da es keine Männer gab, um die Arbeit auf
den Feldern und in den Werkstätten zu verrichten. Die Frauen taten ihr
Bestes, die Arbeit zu erledigen, aber es fehlte an Nahrungsmitteln und
Geld. Sein Gehalt könne nicht in bar ausgezahlt werden, aber man würde
ihm Holz zum Heitzen geben. Das Holz könne er zur Zahlung von
Zimmermiete und Versorgung in einem örtlichen Haushalt benutzen.
Gerade als sie dabei war, ihm zu zeigen, wo er sich seine Ladung Holz
holen sollte, kam eine lächelnde, kleinwüchsige junge Frau auf ihn zu:
"Ich habe ein hübsches Zimmer für Sie und ich kann für Sie kochen". Sie
hatte ein freundliches Lächeln und ihre braunen Augen funkelten, und so
ging Willy hinter ihr her. Sie stellte sich als Natascha vor.
Natascha führte Willy in ihr kleines Haus. Es war ein Bauernhaus, von
einem Hof umringt, mit ein paar Hühnern, die frei herumliefen. Drinnen
gab es ein geräumiges Wohnzimmer und eine Küche mit einem Ofen, in
den Natascha die Holzstücke, die Willy mitgebracht hatte, sofort
hineinwarf. Der Raum wurde warm und gemütlich. Natascha zündete ein
paar Kerzen und eine Öllampe an. In dem Haus gab es weder ein
Badezimmer, noch eine Toilette, aber draußen auf dem Hinterhof gab es
ein kleines Toilettenhaus. Die Frau kochte Willy etwas Suppe und schnitt
eine dicke Scheibe von dem schweren Schwarzbrot für ihn ab. Sie setzte
sich hin und schaute ihm beim Essen zu. Er fragte, ob sonst noch jemand
in dem Hause lebe; sie erklärte ihm, daß ihr Mann in den Kämpfen um
Stalingrad umgekommen war, daß sie keine Kinder hatten und sie alleine
in dem Haus lebte.
Natascha zeigte Willy sein Zimmer, das mit einem bequemen Bett mit
einem Schlafanzug, der ihrem Mann gehört hatte, ausgestattet war. Es
gab einen kleinen Schrank, in dem er seine Sachen aufbewahren könne.
Er blickte sie an und sagte: "Das ist wirklich sehr schön; ich glaube, ich
werde es hier sehr bequem haben. Aber da ist etwas, das ich unbedingt
nötig habe: ein heißes Bad". Sie lächelte verlegen und lief nach draußen,
dann kehrte sie zurück mit einem großen Holzbottich, in dem man
bequem sitzen konnte. Sie holte Wasser von dem Brunnen, füllte es in
mehrere große Töpfe, die sie auf den Herd stellte. Im Nu war der Bottich
mit heißem Seifenwasser aufgefüllt, mit einigen daneben gelegten
Badetüchern. Natascha kündigte Willy an, daß er nun sein heißes Bad
haben könne und daß sie sich solange in ihrem Zimmer aufhalten würde.
Willy zog seine schwere Uniform aus und setzte sich ins heiße Wasser.
Welch eine Genuß! Er entspannte sich und genoß die Wärme, die durch
seinen ganzen Körper strömte. Nachdem er sein Bad beendet hatte, zog er
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
den Schlafanzug an und kroch in sein Bett hinein. Er fühlte sich wie ein
neuer Mensch. Die einfachen Dinge des Lebens konnten so herrlich sein.
Er wollte überhaupt nicht mehr an den Krieg denken. Er schlief lächend
ein.
Einige Stunden später wachte Willy plötzlich auf. Natascha, in dünnem
Nachtkleid, war zu ihm ins Bett gekrochen und lag kauernd neben ihm.
Es war lange her, seitdem er mit einer Frau zusammengewesen war. Er
hatte fast vergessen, wie es sich anfühlt. "Hier wird das Leben schön
sein" flüsterte er zu sich auf Deustch.
Die Tage verstrichen angenehm. Morgens unterrichtete Willy Deutsch
und Zeichnen. Es machte ihm wenig Spaß. Seine Schüler waren
eingebildet und lernten nicht von sich aus. Während des Unterrichts
mußte er für Beschäftigung sorgen und ihr Interesse erwecken, da sie
keinen Spaß am Studieren hatten. Jeden Morgen brachten sie ihm die
letzten Nachrichten zu den foranschreitenden Krieg. Die Russen drängten
die Deutschen immer wieder in den Rückzug. Viele seiner Schüler
spielten mit dem Gedanken, bald zur Armee zu gehen.
Nach dem Unterricht machte er lange Spaziergänge in den Wäldern in der
Umgebung des Dorfes. Sein Fuß tat noch immer weh, aber es wurde
immer besser. Abends verbrachte er die Zeit mit Natascha. Sie wollte ihm
gefällig sein und machte alles für ihn. Sie war eine gute Köchin und ein
warmherziger und liebevoller Mensch. Er war glücklich und dachte sich,
daß er vielleicht länger in diesem kleinen Dorf bleiben würde. Er war sich
ziemlich sicher, daß seine Familie in Czernowitz umgekommen war und
daß es ihn daher nicht dorthin drängte.
Ein ganzes Jahr verstrich. Die russische Armee hatte die Überhand an
sämtlichen Fronten. Mehr und mehr Städte wurden befreit; im April 1944
hörte Willy, daß Czernowitz und die Bukowina befreit worden waren und
die Nord-Bukowina an die Sowjetunion zurückgegeben worden war. Ob
er sich die Mühe machen sollte, eine Genehmigung zu beantragen,
dorthin zu reisen und seiner Geburtsstadt einen Besuch abzustatten? Nach
dem, was er aus den Nachrichen entnommen hatte, war er sicher, daß
seine Familie umgekommen war. Er sah keinen Grund, Natascha und sein
bequemes Leben aufzugeben.
Dann, eines Tages, gegen Ende des Sommers 1944, kam ein Bote der
Roten Armee und bat darum, mit Willy zu sprechen. Sie saßen im
Wohnzimmer und Natascha servierte ihnen heißen Tee aus dem Samovar.
Der Bote schaute umher und seufzte tief: "Ich sehe, Sie führen hier ein
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
bequemes Leben als Paar. Nun ja, es tut mir leid, aber ich habe schlechte
Nachrichten für Sie. Hier ist ein Brief von Ihrer Familie aus Czernowtzy
(Russisch für Czernowitz)". Nataschas Hände begannen zu zittern und sie
war nicht mehr im Stande, ihre Tasse Tee in der Hand zu halten. Willy
nahm den Brief gelassen entgegen und las ihn durch, ohne ein Wort zu
sagen. Es war der Brief meiner Baba, in dem sie ihm mitteilte, daß ich am
Leben war und daß es mir gut ging, daß ich mit ihr und Großvater in
unserer Wohnung auf der Franzensgasse lebte, und das meine Mutter das
Konzentrationslager überlebt hatte und nach Bukarest geflüchtet war.
Sein Herz sprang auf – sie hatten überlebt, seine Frau und sein Kind
lebten, aber an getrennten Orten. Konnte er jetzt zurückkehren und seine
Familie wieder zusammenbringen? Konnte er Natascha verlassen und
sein jetztiges Leben vergessen?
Willy blieb eine Weile ganz still, dann blickte er auf auf Natascha und
sagte: "Nun, meine Familie hat den Krieg überlebt. Ich muß mit meiner
Familie reden". Der Militärbote verließ das Haus, nachdem er Natascha
einen mitfühlenden Blick zugeworfen hatte. Sobald er weggegangen war,
rannte Natascha zu Willy in Tränen. Er versuchte, sie zu besänftigen und
sagte: "Ich werde nicht sofort losgehen, aber ich denke, ich muß dorthin
und sie sehen, vielleicht in ein paar Wochen". Dies war typisch für Willy:
"Schwere Entscheidungen muß man nicht sofort treffen, man kann es
langsam auf einen zukommen lassen!"
Eines Tages im Oktober 1944 stand Willy am Eingang der Wohnung auf
der Franzensgasse, seine kleine Tochter betrachtend.
.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 11
Die große Enttäuschung meines Vaters
Die ersten paar Tage nach der Rückkehr meines Vaters waren
schmerzvoll. Er schaute mich betroffen an und gab seiner großen
Enttäuschung Ausdruck: "Wo ist das süße kleine Mädchen, daß ich hier
hinterlassen habe, als ich zur Armee gegangen bin? Sie war so
aufgeweckt, fröhlich und voller Leben". Dann schaute er Baba an und
sagte: "Ich kann es kaum glauben, daß dieses blasse, traurig blickende
und dürre Mädchen Littika ist". Er betastete meine dünnen Zöpfe mit
einem Ausdruck, der mir wie Ekel vorkam. Er betrachtete meine Kleider
und sagte, daß wir unbedingt neue, für eine Sechsjährige passende
Kleider kaufen müssten.
Schließlich, nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, begann er,
seine Geschichten über den Krieg und seine Verwundungen zu erzählen.
Alle staunten, als sie hörten, wie er zweimal genau an der gleichen Stelle
an seinem linken Knöchel verletzt wurde. Viele Menschen suchten ihn
auf und behandelten ihn wie einen Held. Ich bemühte mich dabei, diese
Ereignisse zu genießen, aber die meiste Zeit fürchtete ich mich, irgend
etwas zu sagen, daß ihn noch mehr enttäuschen könnte, also blieb ich
still.
Der Winter war kalt; endlich erhielt ich warme Kleider, die Baba und
mein Vater für mich gekauft hatten. Nun konnte ich das Haus verlassen,
um mit meinem Vater spazieren zu gehen; einmal nahm er mich sogar ins
Kino. Es war das erste mal, daß ich einen Film sah und ich war sehr
aufgeregt, fühlte mich aber noch immer verlegen und benommen in der
Anwesenheit meines Vaters. Ich wußte nicht, was er von mir erwartete
und wie ich mich verhalten sollte, und schämte mich zu sehr, um ihm zu
sagen, wie es mir erging. Ich konnte ihm nicht einmal mitteilen, daß ich
Hunger hatte oder daß mir kalt war. Ich saß einfach neben ihm un hörte
zu, wenn er zu mir sprach. Dann geschah etwas ganz schlimmes: gerade
als der Film begann und ich von dem Film hingerissen war (er war in
russischer Sprache, die ich nicht verstehen konnte, doch konnte ich den
Bildern entnehmen, worum es ging), mußte ich plötzlich ganz dringend
auf die Toilette gehen. Es war mir ganz und gar unmöglich, irgend etwas
davon meinem Vater mitzuteilen; also hielt ich meinen Atem an und
versuchte, mich zurückzuhalten. Ich spürte, daß ich bald platzen würde
und ehe ich mir dessen bewußt wurde, spürte ich auf einmal den warmen
Urin an meinen Beinen und auf den Sitz hiunter laufen. Es war sehr
dunkel im Kino und man hörte nur den Film. Niemand sah oder hörte,
74
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
was mir passiert war, und mein Vater, der neben mir saß, schon gar nicht.
Ich änderte leicht meine Haltung und entspannte mich. Welch eine
Erleichterung! Ich war entsetzt bei dem Gedanken, daß er es herausfinden
könnte, aber gleichzeitig fühlte ich mich wohl. Bald schlug das
Wärmegefühl in eiserne Kälte um. Mir frierte an den Beinen und mein
Rock wurde ganz steif, aber ich ignorierte es. Der Film war lang und ich
gewöhnte mich nach und nach daran, etwas naß zu sein. Als der Film zu
ende war, standen wir auf, um aufzubrechen. Ich zog meinen langen
Mantel an, der alles verbarg. Mein Vater sagte nichts und ich auch nicht.
Wir gingen auf die Straße hinaus. Nun fror ich wieder. Wir stiegen in die
Straßenbahn und fuhren nach Hause. Als ich in die Wohnung eintrat, lief
ich zu Baba und erzählte ihr, was passiert war. Ich erfuhr niemals, ob
mein Vater etwas von meiner schrecklichen Qual gemerkt hatte.
Eines Tages erhielt meine Vater einen Brief mit einer Vielzahl von
Briefmarken auf dem Umschlag. Er öffnete schnell den Brief und las ihn
mehrmals durch. Dann rief er Baba und bat sie, sich hinzusetzen. Ich saß
still in meiner Ecke, in der ich es mir angewöhnt hatte, mir die Zeit zu
vertreiben, wenn ich meinem Vater nicht im Wege stehen wollte. Leise
begann er Baba mit tiefer Stimme von Natascha zu erzählen. Ich bemühte
mich, zu verstehen, was er sagte. Wer war Natascha? Weshalb war sie
wichtig? Warum wirkte Baba dermaßen aufgebracht und warum steckte
sie ihre Hand auf den Mund, mit solch einem schmerzvollen Ausdruck?
Als er seine Geschichte beendet hatte, sagte er plötzlich betont lauter:
"Also, Natascha kommt morgen an und sie wird hier ein paar Tage mit
mir verbringen. Ich bitte dich und Lejser (mein Großvater) mit Littika ins
Wohnzimmer zu ziehen, und mir und Natascha das Schlafzimmer zu
überlassen". Baba war dermaßen entsetzt, daß sie kein Wort sagte. Dann
zog Willy seinen Mantel an und verließ das Haus.
Baba hatte sich nicht von dem Sofa gerührt, auf dem sie gesessen hatte.
Ich stand auf und schmiegte mih an sie. Sie umarmte mich und seufzte:
"Mein Schatz, wir haben einige Schwierigkeiten, die wir gemeinsam
lösen müssen". Dann stand sie auf und wurde erst richtig wütend: "Wie
wagt er es, darum zu bitten, daß ich ihm das Schlafzimmer überlasse,
damit er dort mit seiner Russin schlafen kann? Dies ist doch auch Friedas
Wohnung. Wie kann ich so etwas geschehen lassen?" Sie ringte mit den
Händen und ging auf und ab. Dann rief sie meinen Großvater aus dem
Schlafzimmer heraus und berichtete ihm die ganze Geschichte. Er saß
dort und sagte kein Wort. Sie schloß das Gespräch ab, indem sie sagte:
"Schaut was der Krieg uns allen angetan hat. Die Leute sind verrückt!"
Daraufhin trat sie ins Schlafzimmer und begann, die Bettücher
abzunehmen. Ich lief ihr hinter her, um ihr dabei zu helfen.
75
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Ich wußte nicht, was ich zu all dem sagen sollte, und so verstummte ich
noch mehr. Am nächsten Morgen kam Natascha an. Sobald sie Willy
geküßt und umarmt hatte, kam sie auf mich zu und umarmte mich
ebenfalls. Sie holte ein kleines Päckchen heraus und sagte mir auf
Russisch, das es für mich war und daß ich es öffnen sollte. Drinnen lag
eine Halskette mit feinen roten Perlen. Sie steckte mir die Kette um den
Hals und ich fühlte mich glücklich. Dies was das erste richtige Geschenk,
daß ich bekam, seitdem man mir die Türkisstein-Ohrringe gegeben hatte,
die ich immer noch trug. Natascha sah so lieb und nett aus und ich
mochte sie. Baba sprach ein paar freundliche Worte zu ihrem Gast,
brachte Tee und Kekse, die sie gebacken hatte. Dann trat mein Vater mit
Natascha in das Schlafzimmer und drei Tage lang hielten sie sich die
meiste Zeit dort auf. Am Morgen des vierten Tages kamen sie beide
heraus und ich konnte an Nataschas Gesicht erkennen, daß sie geweint
hatte. Sie kam zu mir, umarmte mich wieder und sagte etwas auf
Russisch, daß ich nicht verstand und sie verließ zusammen mit meinem
Vater das Haus. Eine Stunde später kam Willy zurück und kündigte Baba
an: "Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen, Natascha ist weg und
wird nie wieder zurückkommen!" Ich glaube, daß meine Großmutter mit
dieser Nachricht sehr zufrieden war, aber ich war etwas traurig.
Einige Tage nach Nataschas Abreise kündigte meine Vater an, daß wir
bei Tante Regina zum Mittagessen eingeladen waren. Ich wollte
eigentlich nicht hingehen, aber mein Vater bat Baba, mich schön
anzuziehen und mir die Haare schön zu kämmen; dann gingen wir
gemeinsam den ganzen Weg zu Reginas und Jossels Wohnung. Jossel
war auf der Arbeit und wir saßen zu Tisch mit Regina, Nora, Mina und
einem Vetter, einen älteren Herrn, den ich nicht kannte. Mina, die jüngste
der drei Schwestern, trug ein hübsches dunkelblaues Kleid, mit einer
langen Perlenkette um den Hals geschlungen, in einem Knoten
zusammengebunden, der auf ihrer Brust lag. Ihr Haar war elegant in
einem Knoten auf ihrem Kopf gewickelt. Sie trug Lippenstift und sah
wunderschön aus. Ich konnte mich an sie erinnern, aus der Zeit, als ich
dort mit ihnen in der Wohnung gelebt hatte und konnte es nicht fassen,
daß dies der gleiche Mensch wie damals war. Sie wirkte nun freundlich
und fröhlich; die meiste Zeit redete und kicherte sie. Nach dem
Mittagessen ging sie auf Willy zu und umschlang lachend sein Genick
von hinten. Was führte sie im Schilde? Sogar zu mir war sie nett. Ich
blickte meinen Vater an. Er schien sehr zufrieden mit sich selbst zu sein.
Dann baten ihn alle, ein paar Lieder zu singen. Mein Vater richtete sich
auf und begann zu singen; erst ein paar deutsche Lieder, dann ein Lied
auf Italienisch und schließlich ein paar Lieder auf Russisch. Er hatte eine
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
angenehme Tenorstimme und alle klatschen ihm Beifall. Ich war sehr
stolz auf meinen Vater, obwohl ich die meiste Zeit während unseres
Besuches ein Gefühl des Unwohlseins empfunden hatte. Regina hatte
kein einziges Wort zu mir gesprochen, und auch Nora nicht. Waren sie
mir immer noch böse, weil ich zur Tür gelaufen war, um dort auf meine
Mutter zu warten, als ich bei ihnen gelebt hatte?
Schließlich ging der Besuch auf sein Ende zu. Bevor wir weggingen,
umarmte Mina meinen Vater und gab ihm einen großen Kuß. Als wir auf
die Straße hinausgingen, sagte Willy: "Wir sind nicht weit weg vom
Volksgarten; das Wetter ist gerade schön, laß uns doch dort etwas
spazieren gehen". Ich freute mich sehr darüber, daß er mit mir spazieren
gehen wollte und lächelte fröhlich.
Als wir unseren Spaziergang auf abgelegenen Wegen des Parks antraten,
sagte er plötzlich: "Littika, kannst du dich an den Film erinnern, den wir
zusammen gesehen haben?" Mein Herz erstarrte – hatte er etwa meinen
Vorfall wahrgenommen? Wollte er mir jetzt Schelte geben? Aber
stattdessen lächelte er und sagte: "Kannst du dich erinnern? Die Frau des
Piloten, in dem Film, die darauf wartete, daß er aus dem Krieg
zurückkehrt? Er hatte beide Beide verloren, doch ist sie ihm treu
geblieben und war so glücklich ihn wiederzusehen, als er zu ihr
zurückkehrte. Aber bei deine Mutter, Frieda, ist da ganz anders. Ich bin in
den Krieg gezogen, bin verwundet worden und sie hat überhaupt nicht auf
mich gewartet. Ganz im Gegenteil, sie hat einen Liebhaber, mit dem sie
jetzt in Bukarest lebt. Das ist keine Benehmen für eine anständige
Ehefrau, und wir werden sie nicht mehr "Mamma" nennen. Von nun an
ist sie nur noch Frieda". Ich war zutiefst erschrocken und spürte meine
Wangen brennen. Ich wußte nichts dazu zu sagen, aber mir war klar, daß
ich niemals meine Mutter Frieda nennen würde. Für mich war sie für
immer meine "Mamma".
Wir kamen abends zu Hause an. Baba erwartete mich. Großvater und sie
hatten wieder das Schlafzimmer bezogen. Sie nahm mich mit ins Bett und
wollte alles von mir höhren und erfahren, was bei Regina geschehen war.
Nachdem ich es ihr erzählt hatte, seufzte sie: "Siehst du, Littika, Mina
war schon immer auf deine Mutter neidisch und jetzt möchte Frieda
deinen Vater wegschnappen. Deswegen hat sie sich heute so aufgeführt.
Aber wir dürfen das nicht geschehen lassen. Dein Vater muß zu Frieda
zurückkehren und ihr drei sollt wieder eine Familie werden". Ich hörte ihr
zu und beschloß, ihr nichts von dem zu erzählen, was Willy mir in dem
Volksgarten gesagt hatte. Ich hatte mir eigentlich fest versprochen,
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
niemanden irgend etwas davon zu sagen. Ich wußte, daß meine Baba
recht hatte und das die Dinge sich irgendwie regeln würden.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 12
Ich lerne, mit Gleichaltrigen zu spielen
Ich war es gewöhnt, mich immer in der Gesellschaft von Erwachsenen zu
befinden. Die einzigen Spiele, die ich kannte, waren Spiele, die ich mit
Erwachsenen spielen konnte, so wie Domino oder einfache Kartenspiele.
Diese waren in jedem Haushalt erhältlich, auch wenn es überhaupt kein
Spielzeug gab; oft freuten sich die Erwachsenen, mit mir zu spielen.
Gewöhnlich ließen die Erwachsenen mich gewinnen und redeten mir gut
zu, es gab keinen wirklichen Wettstreit.
Kinder meines Alters machten mir etwas Angst. Karin, meine Nachbarin,
wirkte so selbstsicher und stark; ich gehorchte imme wieder ihren
Befehlen, ohne ein Wort zu sagen. Mir war bewußt, daß dieses Verhalten
ihr gegenüber nicht das ideale war, aber ich konnte nicht anders handeln.
Trotz allem war ich gerne in ihrer Gesellschaft und spielte gerne mit ihren
Spielzeugen. Es war für mich eine neue Welt und ich war neugierig.
Eines Tages folgte ich ihr auf den Hinterhof unseres Gebäudes. Es
spielten dort andere Kinder – mit Steinen, mit Rädern und weiteren
zerbrochenen oder gebrauchten Geräten. Ich war wie immer auf Karins
Fersen. Ich konnte sehen, daß sie einem älteren Jungen etwas ins Ohr
flüsterte, mich anschauend und lachend. Ich merkte, daß sie sich über
mich lustig machten, aber ich beschloß, es zu ignorieren. Dann, als wir
gerade einem Kätzchen hinterherliefen, schubste der Junge mich und ich
fiel auf Glasscherben, die mir Knie und beide Hände verletzten. Das Blut
strömte aus allen Schnittwunden und ich lief weinend und schluchzend
die Treppen hinauf zu meiner Großmutter. Ein paar Tage lang vermied
ich die Kinder aus unserem Gebäude und verbrachte die meiste Zeit bei
Baba, aber in meine Seele wollte ich wieder draußen sein mit den
Anderen. Mein Vater blickte mich an und lachte: "Du bist wie ein
verwundeter Soldat, der aus dem Krieg zurückgekehrt ist".
Ungef'ähr ein Monat nach der Heimkehr meines Vaters zogen Karin und
ihre Familie weg. Nun verbrachte ich wieder sehr viel Zeit mit meiner
Großmutter. Ich begleitete sie auf Tagesausflüge in verschiedene Teile
unserer kleinen Stadt. Eines Tages entdeckten wir eine große Karikatur
auf einer Wand. Sie stellte Hitler da, dessen Kopf unter einer Axt lag, mit
einem großen Fragezeichen um ihn herum. Ich fragte Baba, was mit
dieser Zeichnung gemeint war und sie erklärte mir, daß alle glaubten, daß
Hitler gestorben sei, aber daß niemand seine Leiche gefunden habe, so
daß man sich der Sache nicht ganz sicher sei. Ich dachte mir: "Er ist
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
sicher tot. Gott könnte ihn doch nicht am Leben lassen, nach all dem
Leid, das er in dieser Welt verursacht hat".
Eines Morgens weckte meine Großmutter mich früher auf als gewöhnlich
und sagte: "Heute kommst du in den Kindergarten. Ich habe dir ein paar
neue Kleider gekauft und ich werde dich dorthin bringen". Ich war
erschrocken und besorgt, aber gleichzeitig freute ich mich auch. Ich
wußte, daß Kinder meines Alters gewöhnlich zur Schule oder in den
Kindergaren gingen. Ich freute mich darauf, wie alle anderen zu sein. Wir
kamen an einem alten Gebäude an, mit einem großen Hof und hohen
Bäumen. Neben jedem Baum standen ein Holztisch und mehrere Stühle.
Auf dem Hof rannte Jungen herum, die auf Russisch schrien. Ich erkannte
die Sprache, aber ich kannte nur wenige Worte auf Russisch. Ich
klammerte mich an meine Großmutter fest. Wir traten in das Gebäude
hinein und eine große Russim lächelte uns an. Sie stellte sich mit dem
Namen Katja vor und sofort zog sie mir eine kleine weiße Schürze an.
Meine Großmutter gab mir einen schnellen Kuß und machte sich davon.
Katja sprach mich auf Russisch an, aber ich verstand nicht, was sie sagte.
Sie zeigte mit dem Finger auf ein paar Spielzeugen in einer Ecke und ich
begann, alleine zu spielen. Nach einer Weile setzte sich ein Mädchen mit
einer tropfenden Nase neben mich und wir spielten ohne zu sprechen.
Dann sprach sie mich von Zeit zu Zeit auf Russisch an, aber ich zuckte
nur mit den Schultern und spielte weiter. Ich konnte nicht verstehen, wie
man do unbekümmert mit einer ständig laufenden Nase weiterspielen
konnte. Ich nahm mein Taschentuch heraus und wischte mir die Nase.
Dann gingen wir alle hinaus auf den Hof und setzten uns an die Tische.
Jeder von uns erhielt ein Glass Milch und ein Stück Schwarzbrot. Einige
der Jungen balgten sich miteinander. Einige rannten neben den Mädchen
her, zogen ihnen an den Zöpfen oder schnappten ihnen das Brot weg.
Katja war zu beschäftigt, um alle in ihrem Blickfeld zu haben. Irgendwie
ergab es sich, daß sie mich anblickten und mich dann in Ruhe ließen.
Wahrscheinlich wirkte ich schmächtig, armselig und dumm, da ich den
ganzen Tag kein Wort von mir gab. Ich merkte aber, daß die Mädchen,
die sich über die Jungen ärgerten, sie zurück anschrien und sagten: "Ja
razkažu tebja"; bald fand ich heraus, was es bedeutete: "Ich werde dich
verpetzen". Ich bemühte mich, mir diesen Satz zu merken, für den Fall,
daß ich ihn mal brauchen würde. Wir aßen gemeinsam zu Mittag, dann
spielten wir noch eine Weile und schließlich kam Baba, um mich
abzuholen. Der Kindergarten lag nicht weit von unserer Wohnung und
wir liefen schweigend.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Eine ganze Woche lang ging ich in den Kindergarten. Von Tag zu Tag
wurde es unerträglicher. Die Junge begannen, mich zu hänseln und zu
schlagen. Ich widerholte immer wieder den Satz: "Ja razkažu tebja", aber
mit wenig Erfolg. Ich konnte immer noch nicht verstehen, was die
Mädchen mir sagten; einige der älteren Mädchen versuchten, mich vor
den Jungen in Schutz zu nehmen, aber auch sie kommandierten mich
herum und zwangen mich, Spiele mitzumachen, die ich nicht ausstehen
konnte. Es strömte ein unangenehmer Geruch von ihnen aus, sie sahen
schmutzig aus und ich wollte die ganze Zeit nur noch weinen, aber ich
beschloß, meine Schwäche nicht preiszugeben. Katja sprach mich fast
nicht an, da sie inzwischen festgestellt hatte, daß ich sie sowieso nichts
verstehe. Meine Lage sah ziemlich aussichtslos aus. Dann, als Baba mich
eines Morgens gerade vorbereitete, um mich in den Kindergarten zu
bringen, begann ich zu weinen; ich erzählte ihr, wie unglücklich ich dort
sei und daß ich nicht mehr dahingehen wollte. Sie hörte mir aufmerksam
zu un nach einer Weile sagte sie: "Weißt du was? Du must nicht mehr
dahingehen. Du kannst mit mir zu Hause bleiben". Ich saß auf meinem
Bett und fühlte mich plötzlich sehr traurig. Eine große Leere öffnete sich
in meinem Bauch. "Warum bringt Baba mich nicht in den Kindergarten?
Ich weiß, daß ich gehen sollte, aber ich habe nicht die Kraft, mich selbst
dazu zu zwingen. Sie sollte mich zwingen! Sie war doch für mich
zuständig. Mein Vater hatte gesagt, es sei ihm egal, ob ich in den
Kindergarten gehe oder zu Hause bleibe, also würde er mir nicht
behilflich sein. Der einzige Mensch, der mir helfen konnte, war Baba.
Aber wenn sie, vor lauter Warmherzigkeit und Fürsorge, beschloß,
meiner kindlichen Rebellion nachzugeben, was sollte dann aus mir
weden?"
Ich blieb lange auf dem Bett sitzen, leise schluchzend. Ich fürchtete, daß
ich niemals zur Schule gehen und nie lesen lernen würde. Dann traf ich
einen Entschluß und versprach mir selbst: "Ich werde stark sein und
meine eigenen Entscheidungen treffen. Ich werde nie etwas auf halbem
Weg aufgeben. Ich muß lernen, mich dazu zu zwingen, das zu tun, was
ich machen soll". Ich beschloß, mich am nächsten Tag dazu zu zwingen,
in den Kindergarten zu gehen und meine Baba zu bitten, auf meine
Klagen keine Rücksicht zu nehmen. Etwas später, am gleichen Tag,
wurde mein Gesicht ganz rot und aufgeschwollen. Bald hatte ich ganz
viele Bläschen um den Mund herum. Meine Großmutter war zutiefst
besorgt und rief den Arzt. Er untersuchte mich und sagte: "Ich meine zu
wissen, was es ist, abe dieshier ist ein besonders arger Fall. Sie wird für
einige Zeit das Bett hüten müssen und ein Salbe um den Mnd herum
auftragen müssen. Die Blasen werden noch etwas wachsen und es wird
noch schlimmer aussehen, ehe sich ihr Zustand verbessert". Letzten endes
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
verbrachte ich eine sehr lange Zeit im Bett. Der Arzt kam alle paar Tage
vorbei und trug mir andere Medikamente aufs Gesicht auf. Ich mußte sehr
leiden. Aber schließlich wurde ich wieder gesund und ich ging nie wieder
in den Kindergarten.
Nun verbrachte ich wieder sehr viel Zeit in Gesellschaft der Erwachsenen
meiner Familie. Ich liebte es, allein auf dem Hof zu spielen; ich suchte
Zigarettenstümmel für meinen Großvater. Er pflegte sie dann
aufzuschneiden und den Tabak in eine kleine Dose zu füllen. Manchmal
griff er nach einem dünnen Stück Papier, von der Größe einer Zigarette,
stopfte es mit etwas Tabak aus seiner Dose voll und rollte sich eine
Zigarette, die er dann rauchte. Wenn er gut gelaunt war, erlaubte er mir,
ihm eine Zigarette zu rollen.
Meine Russischkenntnisse bestanden weiterhin aus diesem einen Satz,
von dem ich im Kindergarten Gebrauch gemacht hatte; mein Entschluß
jedoch, in Zukunft für mich selbst zu entscheiden, wurde zu einer
persönlichen Entscheidung für den Rest meines Lebens.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 13
Wir verlassen Czernowitz
Eines Tages nahm Baba mich auf ihren Schoß und sagte: "Littika, es ist
an der Zeit, daß du und dein Vater euch nach Bukarest begebt und euch
mit deiner Mutter vereinigt. Ihr drei müßt wieder eine Familie werden.
Und du, Littika, du mußt deinen Eltern helfen, sich wieder zu vereinigen
und wieder gemeinsam leben zu wollen. Du bist ihnen sehr wichtig!" Ich
hörte aufmerksam zu. Es kam mir vor, als ob Baba mir soeben einen
große Sack auf die Schultern gelegt hatte. Mir war nicht klar, was ich
machen sollte, aber ich konnte mich an den Spaziergang im Park mit
meinem Vater erinnernn und ich freute mich sehr darüber, daß er bereit
war, dorthin zu reisen und meiner Mutter zu begegnen.
Plötzlich begriff ich, daß ich meine Großmutter verlassen müßte, ohne zu
wissen, wann ich sie wiedersehen würde. Das machte mir Sorgen und
große Angst, aber ich beschloß, nichts zu sagen, um Baba nicht noch
mehr Sorgen zu verursachen. Mir war klar, daß dies der rechte Weg sei
und daß ich mein Bestes dazu beitragen sollte, Babas Anweisungen zu
befolgen. Ich preßte ihre Schultern und steckte meinen Kopf in ihre
Brust, während mir die Tränen geräuschlos an den Wangen
hinunterglitten.
Es war einem Veteranen der Roten Armee nicht erlaubt, die Sowjetunion
zu verlassen und sich in ein anderes Land wie Rumänien zu begeben.
Also hatte Baba gefälschte Dokumente und Pässe für meinen Vater, für
mich und für zwei andere junge Frauen (angeblich die Schwestern meines
Vaters) besorgt. Schließlich trafen wir uns mit zwei fremden Frauen, die
zusammen mit uns, mit Hilfe der gemeinsamen Dokumente, auf die Reise
gehen sollten. Wir mußten uns alle unsere neuen Namen und unsere
neuen Familienbeziehungen merken. Es war sehr merkwürdig; mein
Vater erklärte mir, daß wir nichts gemeinsam mit diesen beiden Frauen
hatten, aber das wir gezwungenermaßen zusammen mit ihnen mit den
gemeinsamen Dokumenten reisen mußten, aber nur bis über die Grenze
nach Rumänien.
Der Tag unserer Abreise kam. Baba und mein Großvater umarmten und
küßten mich. Baba sagte mir, als ob sie meine Gedanken gelesen hätte:
"Mach dir keine Sorgen, Littika, wir kommen euch bald nach". Ein
kleiner Pferdewagen mit einem kleinwüchsigen Pferd erwartete uns an
der Straßenecke, unweit von uns. Mein Vater trug einen großen
Kartoffelsack, vollgestopft mit Kleidern, und einen kleinen Koffer. Der
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Wagen nahm uns alle mit – die beiden Frauen, meinen Vater und mich,
bis an die Grenze eines Städtchens namens Siret. Es war früher
Nachmittag und alle hofften wir, bis vor Anbruch der Nacht über die
Grenze gekommen zu sein. Es schwebte Spannung in der Luft und eine
große Stille herrschte in unserem kleinen Wagen. Niemand sprach ein
Wort und es kümmerte sich niemand um mich. Ich fühlte mich etwas
einsam, aber ich war gleichzeitig auch sehr aufgeregt. Dies war meine
erste Reise außerhalb Czernowitzs. Mir war nicht klar, daß wir uns in ein
anderes Land begaben, mit einer anderen Sprache und einer anderen
Kultur. Es war anfang Juni des Jahres 1945 und der Krieg war nun
endlich auch in Deutschland zu ende. Alle hofften auf ein besseres Leben
und auf einen neuen Anfang.
Als wir endlich an dei Grenze angelangt waren, sahen wir eine große
Menge von Wagen Schlange stehen. "Die Grenze war mehrere Tage
gechlossen und Sie werden hier warten müssen" sagte uns ein Polizist.
Sie können alle in dem Schulgebäude dort drüben die Nacht verbringen.
Wir nahmen alle unser Gepäck heraus und gingen hinüber zu dem
Schulgebäude. Drinnen gab es eine riesige Halle, in der jede Familie sich
eine Ecke aussuchte, in der sie aneinandergedrückt schlafen konnten. Die
beiden Frauen verschwanden in der Menge. Mein Vater und ich fanden
einen Fleck zwischen zwei anderen Familien; er legte seinen Mantel auf
den Boden, sowie den Kleidersack und sagte mir: "Hier werden wir heute
Nacht schlafen". Er gab mir ein Stück hausgebackenes Brot, daß Baba
uns mitgegeben hatte, und entfernte sich. Es kam mir so vor, als ob viele
Stunden verstrichen, bis ich ihn wiedersah. In der Zwischenzeit unterhielt
ich mich etwas mit den Leuten zu unserer Rechten; sie hatten eine
Tochter, die etwas jünger war als ich, und wir begannen zusammen mit
einigen Drahtstücken zu spielen. Die Leute gaben mir auch ein
hartgekochtes Ei und ein Stück Kuchen zu essen. Zu unserer linken saß
ein älteres Ehepaar, daß sehr ruhig und traurig wirkte. Später erfuhr ich,
daß die Frau Thea hieß und daß ihre Tochter in Transnistrien gestorben
war.
Spät am Abend, als die meisten Leute schon am schlafen waren, kam
mein Vater zurück und legte sich neben mich. Er fragte mich, ob ich
Hunger habe; ich erzählte ihm ,daß die Nachbarn mir etwas zu essen
gegeben hatten; er lächelte und sagte: "Gute Nacht". Am nächsten
Morgen wachten wir alle früh auf, packten unsere Sachen zusammen und
warteten darauf, unsere Reise weiterzuführen. Schließlich öffnete ein
Polizist die Tür, trat hinein und kündigte an: "Die Grenze wird noch für
ein paar Tage geschlossen bleiben". Ein lautes Murmeln ging durch die
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Menge. Dann sagte er noch: "Ihr könnt hier bleiben und in dieser Halle
übernachten, oder ihr könnt Zimmer bei den Dorfbewohnern finden".
Mein Vater und ich, sowie unsere Scheinfamilie, beschlossen, zwei
Zimmer bei einem Bauern zu mieten; dort verweilten wir eine ganze
Woche, bis man uns erlaubte, weiter zu reisen. An dem Tag, an dem die
Grenze geöffnet wurde, sah es so aus, daß Hunderte von Menschen auf
den Grenzposten zumarschierten, sowie einige Pferdewagen. "Unsere
Familie", Thea und ihr Mann, und noch ein paar andere Frauen, die ich
nicht kannte, wir teilten uns alle eine Pferdewagen. All unser Gepäck war
auf dem Wagen geladen, während wir zu Fuß nebenher gingen. Plötzlich
zog Thea mich zur Seite und sprach zu mir, als ob ich ein Erwachsener
sei: "Du weißt, daß sie uns an der Grenze alle den Leib nach Geld und
Wertsachen abtasten werden, da wir nichts mitnehmen dürfen. Aber du
bist ein Kind, und dich werden sie nicht durchsuchen. Also werde ich
mein Geld in deinen Kleidern verstecken". Dabei steckte sie mir ein
Bündel Geldnoten unter die Bluse. Da ich einen Trainingsanzug mit
einem Gummizug unten dran trug, blieb das Bündel überhalb des
Gummizuges stecken. Auf einmal kamen all die anderen Frauen zu mir
und sagten: "Wir möchten auch, daß du unser Geld aufbewahrst". Ehe ich
es versehen konnte, war ich mit lauter kleinen Geldbündeln, in der Hose
und im Hemd, vollgestopft; ich war zu schüchtern, um irgend etwas zu
sagen. Wobei ich tief in meinem Inneren auch meine Freude daran hatte,
daß alle auf einmal so nett zu mir waren. Mein Vater schien von all
diesen Geschäften nichts weiter bemerkt zu haben und ich erzählte ihm
nichst davon.
Als wir uns der Grenze annäherten, wurden sämtliche Männer zur einen
Seite gebeten und die Frauen zur anderen. Thea sagte mir: "Stell dich
krank und bleib auf dem Wagen sitzen". Aber eine Polizistin kam heran
und bat mich, mich den Frauen anzuschließen. Ich schritt neben diesen
fremden Frauen und mein Gesicht war brennend heiß. Ich sagte zu mir
selbst: "Ich werde versuchen, langsam an dem Grenzposten
vorbeizugehen, ohne die Polizistin anzublicken". Falls sie mich
festnehmen und ausziehen, werde ich so tun, als ob ich weine und
behaupten, daß ich nicht weiß, wem dieses Geld gehört". Obwohl ich
Angst hatte und besorgt war, fühlte ich mich wichtig. Ich hatte eine
Aufgabe auszuführen und Leute waren auf mich angewiesen – nur mein
Vater nicht; es tat mir Leid, daß er nichts von dieser Aufgabe wußte, aber
ich wollte es ihm nicht mitteilen. Als ich ihm Jahre später diese
Geschichte erzählte, konnte er es nicht fassen.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Als wir uns dem Grenzposten annäherten, erblickte ich Thea, die
splitternackt entblößt wurde. Sie war ganz bleich und zitterte am ganzen
Leib; ich dachte, daß sie jeden Augenblick zusammenbrechen
würde.Dann gingen einige weitere Frauen durch die Kontrolle. Ich
betrachtete ihre Gesichter, wobei meine eigene Angst immer mehr
zunahm. Als ich mich der Polizistin, die die Frauen durchsuchte,
annäherte, schritt ich langsam hinter ihnen her und plötzlich befand ich
mich auf der anderen Seite. Niemand hatte mich angehalten, niemand
hatte nach mir geschaut. Ich hatte die Grenze überschritten!
Die Frauen wurden alle in Richtung einer großen Halle geschickt, wo die
Familien wieder zusammenkamen und jeder seine persönlichen Sachen
zurück erhielt. Bald kamen die verschiedenen Frauen zu mir und jede
griff nach ihrem kleinen Geldbündel. Einige umarmten mich und sagten:
"Braves Mädchen!". Innerhalb einiger Minuten war ich wieder mit
meinem Vater zusammen und der Apltraum war vorbei.
Mein Vater trug den Kartoffelsack, als er plötzlich darauf aufmerksam
wurde, daß einige Rubelnoten herausragten. Er lachte auf: "Deine Baba
hat das Geld nicht allzu sorgfältig eingenäht, aber wir sind über die
Grenze gekommen und niemand hat es gemerkt. Jetzt sind wir frei und
wir brauchen keine Scheinfamilie mehr. Laß uns gehen und zusehen, wie
wir nach Bukarest kommen".
Schließlich landeten wir auf einem offenen Lastwagen, der auf dem Weg
nach Bukarest war. Wir waren Teil einer großen Gesellschaft von Leuten,
mit denen wir eine ganze Woche lang zusammensaßen. Der Lastwagen
machte unterwegs mehrmals Halt und wir übernachteten in
Schulgebäuden und anderen öffentlichen Gebäuden. Eine Woche später
kamen wir in Bukarest an, wo Frieda uns bei den Spazirers, Vetter meiner
Mutter, erwartete.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 14
Ob wir wieder eine Familie werden können?
Ich war sehr aufgeregt und gespannt auf das Wiedersehen mit meiner
Mutter. Als bei der Familie Spazirer die Tür aufging, sah ich einen Raum,
der mit Leuten gefüllt war, die mir unbekannt waren. Meine Mutter kam
zur Tür und begrüßte uns. Sie war nach schöner, als ich in Erinnerung
hatte. Sie betrachtete mich und meinen Vater einen langen Moment, dann
sagte sie: "Kommt herein, alle warten auf euch". Es gab weder
Umarmungen, noch Küsse, nur Blicke und angedeutete Lächeln. Ich hatte
keine Ahnung, was meine Eltern füreinander empfanden; ich konnte von
ihrer Verhaltensweise nichts entnehmen. Was mich anging, hatte ich das
Gefühl, im Moment nicht besonders wichtig zu sein; also hielt ich mich
still und freute mich darüber, daß alle Leute hier Deutsch sprachen. Die
anderen Leute im Raum waren wesentlich aufgeregter als wir drei.
Irgendjemand hob ein kleines Glas Wein und sagte: "Es ist unglaublich,
euch alle drei bei uns zu sehen. Willy, wir hatten gedacht, daß du im
Krieg umgekommen warst, und eine ganze Zeit lang dachten wir, daß du,
Frieda, in Transnistrien gestorben warst, und von dir, Littika, wußten wir
überhaupt nichts. Und hier seid ihr nun wieder alle zusammen". Alle
tranken und aßen; einige Leute kamen zu mir, umarmten mich und gaben
mir Verschiedenes zu essen. Ich konnte nicht wirklich essen oder über
irgendetwas nachdenken. Ich dachte nur an Baba; was würde sie wollen,
daß ich mache? Wie sollte ich mich verhalten?
Am Abend verabschiedeten sich alle Gäste. Tante Malli führte mich in
ein winziges Zimmer, das mit einem Bett und einem Stuhl ausgestattet
war und sagte, daß ich hier schlafen könnte. Es war das erste mal in
meinem Leben, daß ich alleine in einem Zimmer schlief. Meinen Eltern
sagte sie, daß, da sie in Ruhe mieinander reden mußten, sie ihnen das
Zimmer neben dem Meinen zur Verfügung stellte. Ich erhielt einen
Schlafanzug und das Licht in meinem Zimmerchen wurde ausgemacht.
Ich lag ruhig in meinem Bett, dann hörte ich meine Eltern im anderen
Zimmer reden. Leise schlich ich mich an die Zimmertür heran und steckte
mein Ohr ans Schlüsselloch. Nun konnte ich sie deutlich hören. Ich
verbrachte Stunden in dieser Haltung, bis die ersten Anzeichen des
Morgengrauens durch die Fensterläden meines Zimmerchens
durchlugten. Meine Eltern redeten ununterbrochen. Sie erzählten einander
über die Jahre, die sie voneinander getrennt verbracht hatten. Auf diese
Weise erfuhr ich alles, was mit ihnen in dieser Zeit geschehen war.
Schließlich hörte ich meinen Vater sagen: "Nun ja, wir haben beide viel
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
durchgemacht. Ich glaube, wir haben beide viel Glück gehabt, am Leben
geblieben zu sein, und daß wir noch jung und genügend bei Kräften sind,
um von Neuem anzufangen. Wir sollten zum Wohl unseres Kindes
wieder eine Familie werden". Meinte er etwa mich damit? War ich ein
genügend guter Grund dafür, daß wir von neuem ein Familie werden? Wo
war meine Baba, sie hätte ich fragen können, was das alles zu bedeuten
hatte.
Erschöpft schliefen wir alle für ein paar Stunden ein – ich in meinem
Zimmerchen und meine Eltern in dem Zimmer nebenan. Dann wachte ich
mit großem Hunger auf und begab mich ins Wohnzimmer. Meine Eltern
lächelten beide, umarmten und küßten mich unter den Augen der
Spazirers. Dann sagten sie feierlich: "Wir haben beschlossen, zu
versuchen, wieder als Familie zusammenzuleben. Wir werden uns
bemühen müssen, uns wieder aneinander zu gewöhnen". Sie erklärten,
daß sie sich auf die Suche nach einer Bleibe für die Familie und nach
einem Ort, wo mein Vater eine Werkstatt für Grabsteine in Bukarest
(meine Mutter hatte bereits nach einem passenden Ort gesucht). Bis dahin
könnten wir uns noch für ein paar Tage bei den Spazierers aufhalten.
Nach dem Früstück wirkten meine Eltern glücklich und erfrischt. Sie
nahmen von mir Abschied und machten sich auf den Weg.
Tante Malli umarmte mich und sagte:"Du bist sehr ruhig, Littika, aber
heute solltest du dich freuen. Nun hast du wieder eine Familie, deine
Eltern haben den Krieg überlebt und sind jetzt wieder zusammen". Ich
verstand, was sie meinte, aber ich fühlte mich verwirrt. Dann rief sie
ihren Sohn Freddie, einen netten Jungen meines Alters. Ich war dermaßen
wegen meiner Eltern angespannt gewesen, als mein Vater und ich am
Abend davor angekommen waren, daß ich ihn kaum wahrgenommen
hatte. Er sprach mit mir auf Deutsch und zeigte mir Spielzeuge und
Bücher in seinem Zimmer. Es war schön, mit jemandem meines Alters zu
spielen. Ich begann, mich wohler zu fühlen, obwohl ich meine Baba sehr
vemißte. Ich hätte ihr alles erzählen wollen, wie ich es immer zu tun
pflegte.
Jeden Tag kamen meine Eltern spät nach Hause zurück und erzählten den
Spazirers von den Ereignissen des Tages. Sie fragten mich, wie ich den
Tag verbracht hatte, aber kümmerten sich ansonsten nur wenig um mich.
Dann, eines Tages, kehrten sie von ihrer täglichen Suche mit guten
Nachrichten zurück: "Wir haben einen geeigneten Raum gefunden für
eine kleine Werkstatt neben dem jüdischen Friedhof gefunden – am
Stadtrand. Wir haben auch die Gelegenheit, ein Zimmer für uns drei auf
einem großen Anwesen zu mieten, das ungefähr in vierzig Minuten
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Entfernung zu Fuß von der Werkstatt liegt. Wir können morgen dort
einziehen". Auf diese Weise nahm unser Willkommensbesuch bei den
Spazirers sein Ende und so begann ein neues Kapitel in unserem Leben.
Ich hatte dabei das Gefühl, daß dies ein guter Anfang war.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 15
Der erste Schultag
Zu früher Morgenstunde kamen wir an dem Buduj-Anwesen an, weit weg
von der Stadtmitte. Meine Mutter erklärte mir, daß dies eine adelige
rumänische Familie sei, daß wir uns so gut wie möglich benehmen und so
weit wie möglich unter uns bleiben sollten. Wir würden nur ein einziges
Zimmer zum schlafen haben und wir würden deren Küche benutzen, um
einfache Mahlzeiten für uns selbst zuzubereiten. Sie hatten einen großen
Bauernhof mit Schweinen und Hühnern, sowie einen großen Obstgarten,
mit allerlei Obstbäumen. Dies könnte für uns alle ein Paradies sein, aber
ganz besonders für mich.
Es war ein angenehmer Sommertag. Frau Buduj, eine kleine Frau mit
sehr strengen Gesicht, nahm uns auf und zeigte uns unser Zimmer. Sie
sagte, daß sie uns in einem Monat oder zwei ein zweites kleines Zimmer
anbieten könnten, so daß ich dann mein eigenes Zimmer hätte. Bis dahin
müßten wir zusammen in einem Zimmer schlafen – meine Eltern in
einem Doppelbett und ich auf einer kleinen Matratze am Boden. Sobald
wir unsere Sachen in dem kleinen Zimmer abgelegt hatten, bat ich meine
Eltern um Erlaubnis, nach draußen zu gehen und mich umzublicken. Ich
hatte etwas Rumänisch von meinem Vetter Freddie gelernt und hatte das
Gefühl, alleine zurechtkommen zu können. Ich hatte auch gemerkt, daß
Frau Buduj eine sehr wohlerzogene Dame war und daß sie etwas Deutsch
konnte.
Frau Buduj war aus Rußland, wo sie einer Adelsfamilie angehörte, nach
Rumänien gekommen. Sie und ihr Sohn mußten nach der Sowjetischen
Revolution fliehen. Sie fanden in Rumänien Unterschlupf, wo sie Herrn
Buduj, Sohn einer rumänischen Adelsfamilie, kennenlernte. Nach dem
Krieg wurde die Lage auch für sie schwierig, daher mußten sie eines ihrer
Zimmer vermieten, um auf diese Weise an etwas Geld zu kommen. Aber
Nahrung gab es auf dem Bauernhof in reichlichen Mengen. Frau Buduj
nahm mich unter ihren Schutz und beschloß, mir beizubringen, wie man
sich ordentlich benimmt. Ich war sehr lerneifrig.
Vor dem Haus stand ein riesengroßer Nußbaum mit einem Tisch rund um
den Stamm. Im Sommer pflegten die Budujs dort ihr Mittagsessen zu
nehmen. Wenn ihr Sohn und ihre Schwiegertochter zu Besuch da waren,
servierte sie ihnen besondere Gerichte unter dem Baum. Ich saß gerne in
einer gewissen Entfernung, mich mit mir selbst beschäftigend und die
Budujs beobachtend. Ich kam mir vor wie im Kino. Ich sah, wie Frau
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Buduj ihren Tisch zu decken pflegte, mit Tellern, Servietten und
Tafelsilber. Einmal sagte sie mir, daß jeder wissen sollte, wie man einen
Tisch ordentlich deckt, und daß sie es mir beibringen würde, wenn ich es
wollte. Ich war fasziniert; bei Baba zu Hause hatten wir nie darauf
geachtet, den Tisch in einer solchen Weise zu decken. Ich mußte sehr
staunen, als ich einmal Juri ein Stück Wassermelone mit Gabel und
Messer essen sah. Ich nahm mir vor, selber zu lernen, auf dieser Weise zu
essen.
Ich verbrachte meine Tage damit, im Obstgarten herumzustreunen, die
Hühner und die Schweine füttern zu lernen und die Budujs zu
beobachten. Ich wollte alles von ihnen lernen. Meine Eltern kamen spät
in der Nacht nach Hause, nach einem langen Tag harter Arbeit; sie
brachten etwas Salami und Brot mit nach Hause und wir aßen in unserem
Zimmer, während die glühende Gaslampe den Tisch beleuchtete. Obwohl
das Anwesen der Budujs sehr groß war und die Familie reich zu sein
schien, hatten sie weder Strom, noch fließendes Wasser in ihrem Haus,
doch gab es in ihrem Wohnzimmer einen Telefonapparat, der nie
klingelte. Die Toilette war ein abscheuliches Plumpsklo auf dem Hof, daß
einen dermaßen unerträglichen Gestank verbreitete, daß ich immer mit
einem Taschentuch auf Nase und Mund gedrückt dorthin ging. Ich konnte
nicht verstehen, wie so reiche Leute so leben konnten, aber bald
gewöhnte ich mich daran. Samstags durften wir die Küche für unser
wöchentliches Bad benutzen. Dies bedeutete, einen großen Bottich mit
warmen Wasser aufzufüllen, in dem wir dann unser Bad nahmen. Meine
Mutter wusch mich in dieser Art kleinen Badewanne und so hatten wir
die Gelegenheit, etwas Zeit zusammen zu verbringen. Während sie mir
mein wöchentliches Bad gab, unterhielt sich meine Mutter mit mir, sang
mir Lieder vor, was mich sehr glücklich machte. Nach dem Bad saubere
Kleider anzuziehen, war das herrlichste Gefühl in der Welt. Nachdem wir
alle gebadet hatten, pflegten wir in unserem Zimmer zu sitzen; meine
Mutter und mein Vater sangen deutsche und russische Lieder und
erzählten Geschichten.
Nachts stiegen meine Eltern in ihr Bett und ich legte mich auf meine
kleine Matratze. Oft konnte ich nicht einschlafen; dabei hörte ich sie
zueinander flüstern: "Och, sie ist sicher schon eingeschlafen" und ich tat
so, als ob ich schlafe würde. Ich konnte sie hören, wie sie leise kicherten,
flüsterten, wie ihr Atem schneller wurde und das Bett dabei knarrte. Ich
wußte nicht, was dort vorging, und ich beschloß, daß sie wohl Spaß
miteinander hatten, da sie, wenn es zu ende war, sich viele nette Wörter
sagten und sich viel küßten. Daraus schloß daß, wasimmer dort vorging,
es etwas Gutes sein mußte. Ich schlief dann glücklich ein.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Die Sommertage bei den Badujs verstrichen langsam. Ich spielte mit
Elena, der Tochter der Hausdienerin, die etwas älter war als ich; von ihr
lernte ich viele Vokabeln und Ausdrücke auf Rumänsich. Meine Eltern
begannen, von Schule zu reden. Ich sollte im Herbst auf eine rumänische
öffentliche Schule gehen; ich war siebeneinhalb Jahe alt und konnte
weder lesen, noch schreiben. Mein Vater beschloß, mich zu unterrichten.
Er brachte eine kleine Schiefertafel und etwas Kreide nach Hause und
begann, mir Buchstaben auf Rumänisch beizubringen. Er brachte mir
zehn Buchstaben bei, indem er sie aufschrieb und sie aussprach; dann
sollte ich jeden Buchstaben einzeln abschreiben. Am nächsten Tag
beschloß er, meine Kenntnisse der Buchstaben nachzuprüfen; ich kannte
die Meisten, konnte aber das "e" vom "f" nicht unterscheiden. Er
widerholte mehrmals seine Frage und ärgerte sich immer mehr über mich,
so daß ich in immer größerer Verwirrung geriet. Schließlich schrie er
mich an, sagte, daß ich dumm sei und ohrfeigte mich. Sein Ehering
hinterließ einen Kratzer auf meinem Gesicht und seine Ohrfeige, eine
große Narbe in meinem Herzen. Ich mußte lange weinen und konnte nicht
mehr aufhören, dann verfiel ich in ein unaufhörliches Schluchzen.
Schließlich trat meine Mutter herein und fragte, was passiert sei. Mein
Vater sagte: "Ich habe versucht, ihr das Alphabet beizubringen, aber sie
ist zu dumm, um zu lernen". Meine Mutter blickte wütend auf und sagte:
"Du hast keine Geduld und kannst nicht unterrichten.Laß sie in Ruhe. Sie
wird in der Schule lesen und schreiben lernen. Wir werden sie ins erste
Schuljahr schicken. Die meisten Kinder werden ein Jahr jünger sein, aber
ich bin sicher, daß es auch Kinder ihres Alters geben wird, die wegen des
Krieges das erste Schuljahr verpaßt haben. Sie werden alle lesen und
schreiben lernen". Als ich ihr zuhörte, wurde mir auf einmal bewußt, daß
ich älter war, als die anderen Kinder im ersten Schuljahr, und daß ich so
schnell wie möglich lesen lernen sollte; aber alleine konnte ich nichts
machen.
Eines Tages kehrte meine Mutter mit ein paar neuen Kleidern für mich
nach Hause. "Morgen ist dein erster Schultag. Ich war heute auf der
Schule und ich glaube, es wird dir gefallen. Morgen früh bring ich dich
dorthin". Am nächsten Morgen kämmte sie mir das Haar zu Zöpfen und
kleidete mich in ein hübsches blaues Kleid. Oben drüber trug ich einen
kurzen Kittel – es war die Schuluniform. Ich nahm meine kleine
Schiefertafel und die Kreide mit und wir machten uns zusammen auf den
Weg. Erst durchquerten wir das Feld und erreichten die Straße, auf der
sich die Werkstatt meiner Eltern befand. Wir winkten meinem Vater zu
und gingen eine Stunde lang weiter, bis wir die Schule erreicht hatten.
Meine Mutter führte mich in das Klassenzimmer, gab der Lehrerin
meinen Namen an und ging weg.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Die Lehrerin, eine große Frau mit dunklem Haar, in einen Haarknoten
gewickelt, lächelte uns an und befahl uns, aufrecht zu sitzen. Dann rief
sie unsere Namen ab; jeder mußte aufstehen und "anwesend" sagen, wenn
sein Name gerufen wurde. Ich konnte das meiste, von dem was sie sagte,
verstehen, da meine Rumänischkenntnisse sich sehr verbessert hatten. Sie
begann, uns die ersten zwei Buchstaben des Alphabets und einige
Grundlagen des Rechnens beizubringen. Ihre Erklärungen kamen mir
sehr einfach vor. Alles, was sie unterrichtete, wußte ich schon. Es gab mir
ein gutes Gefühl. Dabei merkte ich, daß einige unter den anderen Kindern
nicht alles verstanden hatten. Dann kam die Pause und wir begaben uns
nach draußen auf den Hof. Der Schulhof war groß; ich ging langsam mit
meinem Apfel und meinem Stück Brot in der Hand. Es war niemand da,
mit dem ich hätte reden können. Drei Mädchen gingen hinter mir her.
Eine von ihnn zeigte mit dem Finger auf mich: "Seht ihr dieses Mädchen?
Die ist Jüdin". Dabei spuckte sie auf den Boden. Die beiden anderen
lachten und eine von ihnen sagte: "Ich dachte, Juden sehen viel
schlimmer aus!" Ich spürte, wie mein Gesicht rot anlief und ich warf
meinen Apfel und mein Brot weg. "Wie wissen die, daß ich Jüdin bin?
Was wissen die über mich?" Ich beschloß, dermaßen boshafte Mädchen
zu ignorieren, aber mir war nun klar, daß ich niemandem erzählen würde,
daß ich Jüdin bin, es sei denn, man würde mich dazu zwingen.
Am Ende des Tages ging ich mit den anderen Kindern aus dem
Schulgebäude heraus. Ich schritt durch das Tor und machte mich auf den
Weg nach Hause. Plötzlich sah ich meine Mutter auf mich zukommen.
Sie hatte ein breites Lächeln auf dem Gesicht: "Littika, du kennst von
selber den Weg nach Hause?!" "Ja", erwiderte ich, "morgen kann ich
alleine zur Schule gehen und alleine nach Hause kommen". Sie schien
sehr zufrieden zu sein und umarmte und küßte mich.
Jeden Morgen ging ich anderthalb Stunden lang zur Schule und
anderthalb Stunden auf dem Rückweg. Auf dem Weg nach Hause ging
ich zur Werkstatt und hielt mich dort eine Weile auf. Gewöhnlich
befanden sich dort viele Leute, die Jiddisch, Deutsch und Rumänisch
sprachen. Dies waren Juden, die einen Grabstein für ein jüdische Grab
kaufen wollten. Meine Mutter war damit beschäftigt, ihnen verschiedene
Sorten von Marmor- und Granitstein zu zeigen. Ich war gerne in der
Werkstatt.
Nachdem ich schon seit einigen Wochen zur Schule ging, lernte ich neue
Freunde kennen. Ich freundete mich ganz besonders mit einem Mädchen
namens Marina an. Sie kam aus einem Dorf, daß noch weiter entfernt lag,
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
als das Anwesen der Budujs. Morgens traf ich sie auf dem großen Feld
und wir gingen gemeinsam den Weg zur Schule. Sie lief gewöhnlich
barfuß, dabei trat sie auf Steine und Dorne, als ob es ihr nichts ausmachen
würde. Sie war ein schüchternes und ruhiges kleines Mädchen, und ich
freute mich, ihr behilflich sein zu können.
Wenn ich auf dem Rückweg von der Schule in der Werkstatt halt machte,
sah ich oft meinem Vater zu, während er die eingravierten Buchstaben
auf den Grabsteinen anmalte. Die Buchstsben waren lateinische und
hebräische Buchstaben; er malte sie gewöhnlich in schwarz und gold an.
Bald hatte ich gelernt, wie man es macht und genoß es, meinem Vater zu
helfen.
Eines Tages kündigte die Lehrerin uns in der Schule eine besondere
Nachricht an: "Eine sehr wichtige Gruppe von Inspektoren wird unsere
Schule am Sonntag besuchen. Obwohl es gewöhnlich ein freier Tag ist,
werden wir am kommenden Sonntag Unterricht haben. Aber ihr könnt
später kommen und früher gehen. Wir werden nur zwei Stunden
Unterricht haben und die Inspektoren werden uns beim lernen zuschauen.
Ihr braucht nicht die Schuluniform zu tragen. Ihr könnt eure besten
Kleider anziehen". Jeder von uns erhielt einen Zettel für die Eltern, in
dem erklärt wurde, wie wichtig dieser Tag sei.
Als jener Sonntag kam, zog ich mein neues blaues Kleid an und meinen
Mutter steckte mir zwei schöne blaue Schleifen in die Haare. Es war ein
herrlicher sonniger Herbsttag und ich war sehr aufgeregt. Marina hatte
mir gesgat, daß sie am Sonntag nicht kommen könne, also ging ich
alleine. Das Schulgebäude war mit zahlreichen Fahnen ausgeschmückt,
viele von ihnen waren rote Fahnen. Unsere Lehrerin war hübsch
angekleidet und sie war besonders nett. Sie nahm jeden von uns einzeln
an der Tür auf und führte uns zu einem Stuhl, der nicht unserer
gewöhlicher Sitzplatz war. Sie setzte mich in die erste Reihe und ich
fühlte meine Beine zittern. Hinten im Raum saßen drei fremde Männer
und zwei Frauen, die uns beobachteten. Die Stunde begann. Die Lehrerin
widerholte Lernstoff, den wir bereits gelernt hatten. Dann rief sie mich
plötzlich vor die Tafel. Ich kam zögernden Schrittes und sie sagte:
"Melika (so nannten mich die Rumänen, anstelle von Melitta), schreib
den folgenden Satz an die Tafel: “Un cuc pe un nuc”". Ich wußte, was der
Satz bedeutete (ein Kuckuck auf einem Nußbaum) und ich wußte, wie
man ihn schrieb. "Wenn ich nur aufhören könnte, zu zittern", dachte ich
mir. Langsam und sorgfältig schrieb ich den Satz zwischen die roten
Zeilen auf die Tafel. Als ich fertig war, klatschten die Fremden hinten im
Klassenzimmer Beifall. Mein Gesicht loderte und ich kehrte schnell auf
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
meinen Platz zurück. Ich dachte, daß die Lehrerin mich sicher mag, wenn
sie mich vor der ganzen Klasse und vor den wichtigen Besuchern
schreiben läßt. Der Unterricht endete und ich wollte sofort weggehen und
nach Hause rennen. Viele der anderen Kinder wurden von ihren Eltern
abgeholt, aber ich konnte selbstständig nach Hause gehen.
Ich lief den ganzen Weg bis zu dem große Feld. Die Sonne schien, es
waren frühe Nachmittagsstunden des Sonntags. Ich konnte die Bienen
summen und die Kühe in der Ferne muhen hören. Dann waren auf einmal
vier Jungen da, größer als ich, wie aus dem Nichts gekommen; sie
begannen, mir hinterher zu gehen. Ich ging schneller, ohne nach hinten zu
blicken. Einer von ihnen kam an mich heran und fragte, wie ich heiße. Ich
antwortete flüsternd. Ein anderer fragte mich, wo ich herkomme. Ich
sagte: "Von der Schule". Sie brachen in lautes Gelächter aus und auf
einmal umzingelten sie mich. Ich versuchte, ihnen auszuweichen und
ging weiter, aber sie hielten mich fest und erlaubten mir nicht, mich zu
bewegen. "Komm mit uns!" sagte einer von ihnen. "Wir werden Spaß
haben". Ich erschrak und sagte: "Nein! Meine Eltern warten auf mich".
Dann rissen sie mich zu Boden und begannen, mir den Körper zu
betasten. Ich wußte, daß ich mich in wirklicher Gefahr befand und ich
mußte irgendwie gegen sie kämpfen. "Ich will ihnen nicht erlauben, mir
irgendetwas anzutun", dachte ich und begann, mit all meinen Kräften zu
schlagen und treten, einer nach dem anderen. Sie fluchten mich an und
drückten mich etwas nach hinten zurück. Dann schrie ich so laut ich nur
konnte – so laut und so heftig, daß ich nicht sicher war, daß es aus
meinem eigenen Hals herausgekommen war. Dann sagte einer von ihnen
plötzlich: "Ich glaube , wir verschwinden besser". Er trat mich und sie
liefen alle weg. Ich zupfte mein Kleid und meine Haare zurecht und lief
weiter den Weg nach Hause. Bis ich das Anwesen der Budujs erreicht
hatte, hatten meine Beine aufgehört zu zittern und mein Atem hatte sich
beruhigt. "Ich werde nie jemandem erlauben, mir etwas Böses anzutun.
Ich werde zurückschlagen, bis ich sterbe", sagte ich mir und setzte mich
zu meinen Eltern auf den Hof. Ich erzählte ihnen alles über den
mekwürdigen Schultag, erwähnte aber mit keinem Wort den Vorfall mit
den Jungen. Dann ging ich in den Obstgarten und fand dort einen Ast, der
in meinen Schulranzen hineinpaßte. Falls so etwas nochmals vorkommen
sollte, würde ich sie dermaßn heftig vor die Augen schlagen, daß die
Augen ihnen aus den Augenhöhlen herausspringen würden.
Am Ende des Schuljahrs erhielt meine Mutter eine Einladung, mich zur
Abschlußfeier zu begleiten. Eine große Menge von Kindern und deren
Eltern waren in dem großen Saal zusammengepfercht. Die Direktorin
stand in der Mitte und rief die Namen von Schülern aus den oberen
Klassen aus. Ich verstand nicht so recht, was dort vorging, und meine
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Mutter auch nicht. Plötzlich rief die Direktorin meinen Namen aus. Meine
Mutter schob mich nach vorne, in Richtung der Direktorin, die mich mit
einem Lächeln aufgriff und auf einen Stuhl neben sie setzte. "Dritter Preis
im ersten Schuljahr" rief sie laut und übergab mir ein Zertifikat. Ich war
völlig überrascht, und meine Mutter auch. Ich war die drittbeste
Schülerin in der Klasse. Ich konnte es nicht fassen. Meine Mutter wirkte
sehr erfreut und so gingen wir zusammen nach Hause."Ich wußte nicht,
daß du eine so gute Schülerin bist", sagte sie. "Laß uns nach Hause gehen
und Tata davon erzählen". Von jenem Tag an erwarteten alle immer von
mir, eine gute Schülerin zu sein.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 17
Das Leben unter den Kommunisten
Wir blieben bis zum Sommerende bei den Budujs; dann zogen wir in ein
kleines Haus an der Hauptstraße, die zu der Werkstatt meiner Eltern
führte. Von dort aus hatte ich nur eine Stunde bis zur Schule zu gehen,
statt eineinhalb Stunden. Marina kam aber immer noch an meinem Haus
vorbei und sie wartete jeden Morgen auf mich am Tor zu unserem Hof.
Das Haus war klein, mit zwei Zimmern und einem dunklen Raum, den
wir als Küche benutzten. Auch hier bestand die Toilette aus einem
Plumpsklo draußen auf dem Hof. Der schönste Ort war der Hof mit
seinen zahlreichen Bäumen und Büschen.
In den zwei Zimmern gab es Strom, aber nicht in der Küche; dort mußten
wir eine Gaslampe benutzen. Es gab kein fließendes Wasser, aber auf
dem Hof stand ein Brunnen und bald hatte ich gelernt, Wasser aus dem
Brunnen zu schöpfen. Im Winter kaufte mein Vater eine große Menge
Holz, um den großen Lehmofen im Wohnzimmer anzuheizen. Er brachte
mir bei, wie man das Holz in kleine Stücke schneidet und so wurde es
meine Aufgabe im Haus, Wasser zu bringen und Holz kleinzuhacken. Ich
lernte auch, Gemüse für den Salat zu schneiden und Kartoffeln zu
kochen. Bevor meine Eltern nach Hause kamen, um zu essen, machte ich
immer ein paar Vorbereitungen, wie meine Mutter es mir befohlen hatte.
Wenn ich mal ihren Anweisungen nicht gefolgt war, wurde sie sehr
wütend und manchmal schlug sie mich und ohrfeigte mich mit großer
Heftigkeit. Ich wußte, daß sie grundsätzlich gut zu mir war, aber in mir
dachte ich auch, daß sie mich nicht sehr liebte.
Die verabscheuteste meiner Aufgaben war es, lebendigen Fisch zu
kaufen, ihn im Netz zappelnd nach Hause zu tragen, und dann zu
versuchen, ihn zu töten und zu säubern. Ich haßte es, Fische zu töten;
gewöhnlich legte ich den Fisch auf das Brett ab, warf einen Holzhammer
auf ihn und lief weg. Wenn ich zurückkehrte und der Fisch bewegungslos
lag, war ich erleichtert; wenn er sich noch auf dem Brett bewegte,
widerholte ich die Aktion mit dem Hammer und lief wieder weg.
Manchmal dauerte diese Prozedur sehr lange und ich hatte es versäumt,
die Schuppen des Fisches vor der Rückkehr meiner Mutter entfernt zu
haben; dies war ein genügender Grund für sie, mich zu schlagen. Ich
sollte so schnell wie möglich den Fisch säubern, die Innereien entfernen
und ihn in Scheiben schneiden, damit sie ihn kochen könne. Bis heute
verabscheue ich es, Fische zu säubern.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Zu Beginn des darauffolgenden Schuljahres kehrte ich alleine mit Marina
in die Schule zurück. Wir hatten die gleiche Lehrerin. Sie war nett zu mir
und setzte mich an einen guten Platz. Nun wurden auf einmal viele
Kinder freundlich zu mir und während der Pause hatte ich zahlreiche
Spielgefährten. Es schien, daß sie vergessen hatten, daß ich jüdisch war.
Eines Tages, im zweiten Schuljahr, kam die Lehrerin mit Tränen in den
Augen an. Sie sagte: "Heute hat unser König Michaj abgedankt. Öffnet
eure Bücher auf der Seite, wo sich sein Foto befindet und reißt diese Seite
heraus. Reißt auch die Seite mit dem Bild der Königinmutter heraus. Von
nun an sind wir eine Republik". Wir trennten die Seiten schweigend
heraus. Die meisten unter uns verstanden nicht genau, was dieser
Vorgang zu bedeuten hatte, aber meine Eltern erklärten mir, daß wir nun
Teil der kommunistischen Welt seien. Einige Wochen später gab es
Wahlen. Hunderte von Menschen erfüllten die Straßen. Die
kommunistische Partei war die stärkste und sie wurde zu 90% von der
Bevölkerung gewählt. Meine Eltern sagten mir, daß wir nun sehr
vorsichtig sein müßten und so tun sollten, als ob wir die Kommunisten
mögen.
Am Ende des zweiten Schuljahres erhielt ich den ersten Preis als beste
Schülerin meiner Klasse. Mein Rumänisch war nun perfekt und ich war
auch in Mathematik gut; so begann ich das dritte Schuljahr als
Musterschülerin der Klasse. Bald wurde ich in der Klassenrat gewählt
und wurde zur jungen Pionierin, mit einem roten Tuch um den Hals. Im
dritten Schuljahr begannen wir, Russisch zu lernen. Die wurde mein
Lieblingsfach und meine Russischlehrerin mochte mich sehr.
Wannimmer sie das Klassenzimmer verlassen mußte, bat sie mich, an
ihrer Stelle den Unterricht weiterzuführen. Es war ein wonniges Gefühl.
Zu Jahresende wurde ich dazu ausgewählt, unsere Schule bei einem
Schreibwettbewerb der ganzen Stadt Bukarest zu represäntieren. Ich
erhielt den dritten Preis und die Schule war sehr stolz auf mich. Die
Schuldirektorin lud mich zu sich ins Büro ein und übergab mir eine
Sonderurkunde.
Eines Tages,als ich aus der Schule nach Hause kam, fand ich meine
Eltern in großer Aufregung vor. Sie hatten einen Brief von der Schwester
meines Vaters und ihrer Familie, den Buchbergs, aus Los Angeles
erhalten. Über das Rote Kreuz hatten sie es fertiggebracht, uns zu finden
und unsere Adresse zu erhalten. Bald erhielten wir regelmäßig CarePakete mit Kleidern und allerlei Leckerbissen wie Schokolade und
Kaffee. Aber meine Eltern sagten mir, daß wir nicht darüber reden
dürften, da einige unserer Nachbarn neidisch werden könnten.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Dann, eines Morgens, als mein Vater sich zu besonders frühen Stunde zur
Arbeit begeben hatte, klopften vier Männer an unser Tor. Meine Mutter
öffnete das Tor und lud sie hinein in das Haus. Sie erklärten, daß sie vom
Ermittlungsbüro seien und daß sie das Haus durchsuchen wollten, um
nachzuprüfen, ob dort Gold oder Dollars versteckt seien. Ich konnte
meiner Mutter ansehen, daß sie ziemlich erschrocken war, aber sie sagte
nur: "Bitte, suchen Sie, wo immer Sie wünschen!". Sie wühlten das ganze
Haus drunter und drüber, in sämtlichen Schränken, in den Betten, in den
verschiedenen Kisten und allem, was sich öffnen lies. In der Küche hatten
sie Schwierigkeiten, die Dursuchung durchzuführen, da es dort sehr
dunkel war und ein großes Durcheinander herrschte. Schließlich, nach
zwei Stunden Durchsuchung erklärten sie, daß sie nichts gefunden hatten
und verließen unser Haus.
An diesem Tag ging ich nicht zur Schule. Meine Mutter saß lange still
und betrachtete die ausgeschütteten Schubladen, die Kleider und
Dokumente, die in dem ganzen Häuschen zerstreut lagen. Letztendlich
machten wir uns an die Arbeit und räumten alles auf. Als mein Vater
zurück nach Hause kam, sagte meine Mutter: "Morgen werde ich mich
als Mitglied der kommunistischen Partei anmelden. Das ist der einzige
Weg, auf dem ich uns vor solchen Durchsuchungen schützen kann".
Als Parteimitglied wurde meine Mutter sehr bald zur Vorsitzenden. Sie
las viele von den Propagandaschriften, bereitete Vorträge vor und
verbrachte Stunden damit, Schlüsselsätze, auf die sie während der
Sitzungen zurückgreifen würde, endlos zu wiederholen. Eine der
Anführerinnen, eine Jüdin, wurde ihre engste Freundin und kam
mehrmals in der Woche zu uns nach Hause, um die Versammlungen mit
ihr gemeinsam vorzubereiten. Ihr Name war Valentina. Ich mochte
Valentina nicht, weil sie mich immer bat, Dinge für sie zu machen, wobei
sie mich immer auf einer eher unangenehmen Art und Weise ansprach.
Meine Mutter mahnte mich, sehr vorsichtig mit Valentina umzugehen, da
sie ziemlich gefährlich sein könne. Sie könne uns für das kleinste
Vergehen bei der Partei denunzieren.
Eines Tages, gegen Ende des Winters, brachte meine Mutter drei frische
Salatgurken mit nach Hause. Wir aßen liebend gern Salat und die
Gurkenzeit hatte gerade erst begonnen, wobei sie noch sehr teuer waren;
aber wir konnten es uns leisten, da das Geschäft meines Vaters gut lief.
Als meine Mutter gerade dabei war, die Gurken zu schneiden, sahen wir
auf einmal Valentina vor dem Tor stehen. Hastig versteckte meine Mutter
die Gurken und die abgeschälten Gurkenschalen unter einen Topf in der
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Küche, und bemühte sich, anhand eines Küchentuchs den Geruch zu
verwehen. Sie blickte mich streng an und sagte: "Valentina darf nicht
erfahren, daß wir Gurken haben. Sie wird mich in der Partei dafür
denunzieren, daß ich Geld habe für Gurken". Ich wußte, daß ich den
Mund halten sollte.
Sobald Valentina in das Haus hineingetreten war, sagte sie: "Oh, ich
rieche hier Gurken. Wer kann sich denn heutzutage schon Gurken
leisten?" Meine Mutter lachte auf und erwiderte: "Aber Valentina, das
bildest du dir nur ein, wer kann sich Gurken leisten?". Sie saßen und
unterhielten sich eine Weile. Aber Valentina schnüffelte immer wieder
mit der Nase herum und sagte: "Ich bin mir sicher, daß es hier nach
Gurken riecht". Sie schaute mich mit untersuchendem Blick an, aber ich
ließ mich nicht aus der Fassung bringen. Ich erwiderte einfach ihren
Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Schließlich verließ Valentina
unser Haus; wir lachten laut auf und schnitten unsere Gurken zu Ende.
Nichts schmeckte uns jemals so gut!
Eines Tages, als ich im dritten Schuljahr war, erhielten wir einen
hocherfreulichen Brief aus Czernowitz: meine Großeltern wollten nach
Bukarest kommen. Meine Eltern begaben sich umgehend auf der Suche
nach einer Wohnung für sie, in unserer Umgebung. Als sie schließlich
ankamen, war ich außer mir vor Freude. Ich blieb bei ihnen und
übernachtete mehrere Nächte in deren Wohnung. Aber bald wurde mir
bewußt, daß sie beide sehr gealtert waren, in den zwei Jahren seitdem ich
Czernowitz verlassen hatte. Keiner von ihnen war arbeitsfähig oder im
Stand, Geld zu verdienen; daher waren sie auf meine Eltern angewiesen,
die ihnen halfen; dabei konnte ich meiner Großmutter ansehen, daß sie
mit dieser Lage nicht zufrieden war.
Wir bekamen nette Briefe von unserer Familie in Palästina; mein Onkel
Srul sprach meinen Großeltern zu, zu ihm und seiner Familie in den
Kibbutz zu kommen. Es war die Zeit des Britischen Mandats in Palästina
und die jüdische Immigration war illegal. Viele der Einwanderer, die mit
dem Schiff nach Palästina kamen, wurden entweder nach Zypern
geschickt, wo sie in ein Lager eingesperrt wurden, oder sie wurden nach
Europa zurückgeschickt. Trotz all dem bemühten sich viele Juden um
Dokumente, damit sie Rumänien verlassen könnten.Meine Großeltern
beschlossen, nach Palästina auszuwandern und meine Großmutter schlug
mir vor, mich mitzunehmen, während meine Eltern später nachkommen
würden. Nach langen Dikussionen sagte meine Mutter, daß wir nun eine
unzertrennliche Familie seien und daß wir nicht nochmals
auseinandergehen sollten. Ich freute mich sehr, als ich sie dies sagen
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
hörte; ich dachte, daß ich mich vielleicht geirrt hätte und daß meine
Mutter mich wirklich liebte.
Meine Großeltern landeten letztendlich in Zypern, wo sie ein Jahr lang in
einem Aufenthaltslager lebten; erst nach der Gründung des israelischen
Staates in 1948 konnten sie sich ihrem Sohn Srul im Kibbutz anschließen.
Für uns ging das Leben in Rumänien recht friedlich weiter, von der
wöchentlichen Anspannung meiner Mutter vor ihren Vorträgen in der
kommunistischen Partei abgesehen.
Ich wuchs und entwickelte mich rasch. Auf einmal war ich die größte in
der Klasse. Dann fand ich eines Tages Blut in meiner Unterhose. Ich war
davon erschrocken, da ich keine Ahnung davon hatte, was es bedeutete.
Ich war fest davon überzeugt, daß ich mir weh getan und irgendetwas
falsch gemacht hatte. Meine Mutter mußte wohl etwas gemerkt haben;
zusammen mit meinem Vater sprach sie mich an und fragte mit einer
ängstlichen Stimme: "Blutest du?". Ich war unfähig, zu erwidern, wie
vom Blitz erschlagen. Meine Mutter kam auf mich zu und vor den Augen
meines Vaters zog sie meinen Rock hoch. Ich wäre am liebsten
verschwunden vor lauter Scham. Was hatte ich nur falsch gemacht? Was
ging mit mir vor? Sie ließen mich eine Weile alleine und unterhielten sich
leise untereinander. Dann befahl mir mein Vater, mit im auf den großen
Hof zu gehen, da er etwas mit mir besprechen wolle. Wir setzten uns
unter einen Baum und er versuchte mir zu erklären, was dieses Bluten zu
bedeuten hatte und daß es sich von nun an jeden Monat wiederholen
würde. Ich hörte zu und sagte kein Wort. Ich mußte erst über diesen
Bombenschlag hinweg. Ich hatte nie etwas davon gehört und nun war
meine Großmutter nicht da. Wer sollte mir nun die Dinge erklären? Keine
meiner Schulfreundinnen war so weit entwickelt wie ich. Meine Brüste
waren noch klein und noch konnte ich sie in der losen Schuluniform
verbergen. Ich wollte gerne von meiner Mutter aufgeklärt werden; aber
alles was sie tat, war mir die Stofflappen zu zeigen, die sie benutzte und
sie erklärte mir, daß ich sie sofort nach jeder Benutzung in kaltem Wasser
waschen solle. Ich schwor mir selbst, daß, falls ich selber einmal Töchter
haben würde, ich sie auf diese Lebensphase mit mehr Einfühlung und
Liebe vorbereite nwürde. Einige Zeit lang war ich sehr entmutigt und
erwägte sogar, mich umzubringen; aber dann wurde mir nach und nach
klar, daß dies zum normalen Leben gehörte und ich lernte, es zu
akzeptieren.
Die Zeit verstrich und meine Eltern begannen, die Ausreise nach Israel
ins Auge zu fassen, wobei alles in der größten Verschwiegenheit
verrichtet werden mußte. Wir fürchteten uns ganz besonders davor, daß
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die Partei über unsere Pläne erfahren würde und daß Valentina über unser
Vorhaben, das Land zu verlassen, berichten würde. Letztens Endes fand
sie es heraus, daß meine Eltern dabei waren, sich auf die Abreise
vorzubereiten. Sie informierte die Parteivorsitzende davon und währends
einer der wöchentlichen Versammlungen wurde meine Mutter gerügt,
blamiert und als "unerwünschtes Element" aus der Partei entlassen. Zu
diesem Zeipunkt wurde klar, daß wir alles so schnell wie möglich
abschließen und ausreisen mußten.
Da meine Eltern Geld hatten, zahlten sie den vollen Preis für die
Reisetickets und Dienste der Joint-Organisation und erhielten die
Reisekarten für das Schiff nach Israel. Innerhalb von drei Tagen
verkauften meine Eltern unsere Möbel, schlossen das Geschäft und
packten die vierzig Kilo Gepäck, die wir mitnehmen durften; so fuhren
wir mit dem Taxi zum Bahnhof. Ich nahm von keinem meiner Freunde
Abschied und erhielt auch nicht das Abschlußzeugnis des fünften
Schuljahres.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 17
Lange Reise in ein Neues Land
Wir erreichten den Bahnhof kurz vor Abenddämmerung. Dort fanden wir
andere Familien wie die unsere vor, mit kleinen Koffern und Taschen
voller Butterbrote in der Hand. Sie wirkten angespannt und mistrauisch.
Meine Mutter sagte immer wieder leise vor sich: "Laßt uns endlich
losreisen. Ich hoffe, es ist uns niemand nachgeschlichen, der uns nachher
aus dem Zug herausholt" – sie meinte damit die Kommunisten oder ihre
Parteikollegen, die irgendeinen Makel an ihr oder an unserer Familie
finden würde und uns an einen unbekannten Orte verschicken würden).
Mir kamen ihre Sorgen unbegründet vor, aber trotzallem empfand ich es
als beklemmend.
Wir stiegen alle in den Zug von Bukarest nach Konstanza ein, von wo aus
wir dann unsere Schiffsreise nach Palästina aufnehmen solltne. Es war
Anfang Juni 1950. Alle Passagiere auf dem Zug schienen Juden zu sein,
die alle auf dem Weg nach Palästina waren. Viele Leute waren in den
engen Abteilen und auf dem Durchgang des Zuges zusammengepfercht.
Wir hatten ein Abteil, das wir mit einem Ehepaar teilten, das etwas älter
war als meine Eltern. Die Frau saß still am Fenster, während der Mann
hin und her rannte und sich aufgeregt mit den Leuten um ihn herum
unterhielt. Er stellte sich selbst und seine Frau uns vor. Er fuhr mir über
den Kopf mit einem breiten Lächeln und einem Augenzwinker. Eine
weitere Dame saß dösend neben der Abteiltür.
Der Zug ging in Bewegung. Meine Eltern setzten sich hin und stießen
einen großen erleichterten Seufzer aus. Sie waren sehr müde und wollten
sich nun etwas ausruhen. Ich, meinerseits, war viel zu aufgeregt, um still
sitzen zu bleiben. Ich spürte, daß wir dabei waren, ein neues und
aufregendes Leben zu beginnen und wollte keine Sekunde davon
verpassen. Ich stellte mich vor das Fenster auf dem Gang, betrachtete die
Wälder an uns vorbeigleiten und lauschte nach den Geräuschen des
Zuges. Dies war meine erste Reise mit dem Zug und ich genoss es. Ich
atmete die kühle Nachtluft ein und war glücklich. Plötzlich spürte ich
jemanden ganz dicht neben mir stehen. Es war unser Abteilnachbar. Er
hatte den Arm um mich gelegt und berührte meine Brüste. Ich war außer
mir vor Wut, riß mich aus seiner Umarmung frei und kehrte in unser
Abteil zurück. Meine Eltern schienen zu schlafen. Während ich in der
Mitte des Abteils stand, trat er ebenfalls herein und begann, mir über die
verschiedenen Städte und Orte zu erzählen, an denen wir vorbeifuhren.
Nun näherte er sich mir wieder und legte mir seine beiden Hände auf die
103
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Brust. Ich war ratlos; ich wollte zwar einen Skandal vermeiden und doch
konnte ich es nicht ertragen. Für den Rest der Nacht bemühte ich mich,
ihm aus dem Weg zu gehen; er kam jedoch immer wieder und tastete
mich immer wieder an, die Leute um uns ganz und gar ignorierend.
Schließlich kam die Morgendämmerung und wir erreichten den Hafen.
Zu meiner Erleichterung verloren wir unsere Abteilnacharn für den Rest
unserer Reise aus den Augen, während die Menschenmenge aus dem Zug
heraus strömte. Obwohl das Schiff erst am Abend aus dem Hafen
auslaufen sollte, stiegen wir alle schon an Bord. Da meine Eltern den
vollen Preis für die Schiffsreise bezahlt hatten, erhielten wir eine hübsche
Kabine mit drei Betten und einem Waschbecken. Meine Eltern sagten
mir, daß sie in der Kabine bleiben würden, aber daß ich mich frei auf dem
Deck bewegen dürfe. Meine Mutter fürchtete immer noch, das jemand
kommen könnte und uns von dem Schiff herunternehmen würde.
Ich war von all den Vorbereitungen und der Geschäftigkeit auf dem
Schiff, die sich über den ganzen Tag hinauszogen, fasziniert und
verbrachte den größten Teil des Tages damit, das Ganze zu beobachten.
Es war ein Traum, der in Erfüllung ging. Jahrelang hatte ich
Abenteuergeschichten über Erforscher in Afrika und über die Entdeckung
Amerikas gelesen; ich wollte schon immer eine Schiffsreise
unternehmen. Nun war ich maßlos aufgeregt. Ich redete sehr wenig mit
anderen Reisegästen auf dem Schiff, wobei jeder seine Erwartungen von
dem neuen Land kundgab. Der Eine sagte: "Wir begeben uns in ein
dürres Land, in dem es nur Sand, Kamele und Wüsten gibt". Ein Anderer
sagte: "Wir werden in einem jüdischen Staat leben, und Sie sollten sich
jetzt allmälig wie ein Jude benehmen und am Sabbat nicht rauchen". Ich
hörte all diesen Leuten zu, aber in meinem Herzen hatte ich meine eigene
Sicht des neuen Landes: ein Land stolzer, hart arbeitender Menschen, die
sich bemühten, frei und unabhängig zu sein. Ich sehnte mich sehr danach,
selber so wie diese Menschen zu sein.
Am Abend war das Schiff endlich bereit, den Hafen zu verlassen. Alle
sammelten sich auf dem Deck an und man konnte sich nicht bewegen.
Während wir eine gute Kabine erhalten hatten, da wir aus eigener Tasche
dafür bezahlt hatten, hatten die meisten der anderen Fahrgäste ihre
Reisetickets von der Jüdischen Agentur erhalten und mußten sich daher
mit den engen Räumen des unteren Decks zufrieden geben. Als wir tief
mitten im Meer waren, umarmte meine Mutter mich und meinen Vater
und sagte: "So, jetzt haben wir es geschafft. Jetzt kann uns niemand mehr
anhalten". Wir stiegen in unsere Kabine und verzehrten etwas von den
Nahrungsmitteln, die wir mitgebracht hatten. Plötzlich sagte meine
104
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Mutter ganz ruhig zu meinem Vater: "Weißt du, daß auf dem Zug ein
Mann wa, der Littika dauernd an die Brust gefaßt hat. Ich bin so froh, daß
wir ihn nicht mehr gesehen haben". Als ich diese Worte hörte,
verschluckte ich mich fast. Ich konnte es nicht fassen, daß sie sein
Benehmen wargenommen hatte und kein Wort gesagt hatte. Ich verließ
die Kabine und hielt mich lange auf dem Deck auf, die Augen auf die
dunklen Wellen gerichtet und in den finsteren Horizont blickend. Ich
fühlte mich sehr einsam und sehnte mich nach meiner Baba.
Ich liebte es, auf der See zu reisen; erst fuhren wir einen ganzen Tag und
eine Nacht lang auf dem Schwarzen Meer mit seinen schwarzen
Gewässern, dann glitten wir am frühen Morgen nach und nach durch die
Bosphorus-Enge in das blaue Marmara-Meer. Dann machte ds Schiff
direkt gegenüber von Istanbul Halt. Wir waren alle hingerissen von der
Schönheit dieser Stadt: die grünen Abhänge, die Minarette und Moscheen
und die vielen roten Hausdächer. Es war atemberaubend; ich setzte mich
an einen stillen Ort auf dem Deck und schrieb ein Gedicht in drei Strofen
in mein Tagebuch. Meine Sprache war nun Rumänisch, es war die
Sprache, in der ich mich nun am wohlsten fühlte und die Sprache, in der
ich gebildet war.
Schließlich, nach zwei weiteren Tagen und Nächten, hörten wir eines
Morgens, kurz vor Sonnenaufgang, ein lautes Getöse und eine große
Aufregung auf dem Deck. Wir näherten uns der Stadt Haifa. Ich stand
dort oben, den Sonnenaufgang betrachtend und in Erwartung, die
Sandlandschaften und die Kamele, von denen so viel die Rede gewesen
war, demnächst zu erblicken. Bald konnten wir Haifa in ihrer vollen
Pracht sehen. Es war zwar nicht so atemberaubend wie Istanbul, aber es
war nicht weit davon entfernt. Wie konnten die Leute sich in ihren
Beschreibungen dermaßen geirrt haben?
Die Landung, das Abladen, die Registrierung und die administrativen
Angelegenheiten, die abgeschlossen werden mußten, bevor wir das Schiff
verließen, dauerten mehrere Stunden. Schließlich standen wir nun wieder
auf festem Boden; als wir uns gerade darauf vorbereiteten, uns in eine
große Halle zu begeben, kam ein Mann in Uniform auf uns zu und
besprühte uns mit DDT. Der Geruch war uns bekannt, da wir DDT bei
uns zu Hause benutzten, um Ungeziefer umzubringen. Es bekümmerte
uns nicht weiter. Wir lächelten den Mann an und hatten es eilig, unserer
israelischen Familie zu begegnen. Sie waren da – Tarzan, der Bruder
meiner Mutter, Efrajm, Meir, und Isjue, die Brüder meines Vaters. Meine
Baba war nicht mit dabei; Tarzan erklärte mir auf Deutsch, daß sie nicht
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
mehr gut reisen konnte, aber daß es ihr und Großvater gut ginge und daß
ich sie bald wieder sehen würde.
Wir setzten uns alle zusammen an einen Tisch in einem Restaurant und
alle sprachen aufgeregt auf Deutsch. In diesem Augenblick wude mir
klar, daß ich nie wieder Rumänisch reden würde und daß für mich nun
eine neue Zeit begann.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 18
Ein neuer Anfang
Der kleine und überfüllte Bus verlies Haifa und fuhr auf einer engen
Straße in den Kibbutz, auf dem zwei meiner Onkel lebten, Mischmar
Haemek. Wir fuhren durch die grünen Hügel und Felder und an ein paar
Häusern vorbei. Plötzlich sah ich braune Zelte in de Mitte eines der
Felder. Ich fragte meinen Onkel, was diese Zelte bedeuteten; er erklärte
mir, was es war und daß viele Flüchtlinge, so wie wir, nach Israel
gekommen waren und daß es nicht genügen Häuser für alle gab, so daß
diese Leute in Zelten leben mußten. Er fügte noch hinzu: "Aber ihr
kommt mit uns und werdet mit uns im Kibbutz leben". Ich fühlte mich
wohl dabei: eine neue Familie, ein neues Land und jetzt auch noch ein
Kibbutz – genau die Menschen, die ich so sehr bewunderte. Ich war sehr
aufgeregt.
Der Bus fuhr in einen Weg hinein, zu dessen beiden Seiten schöne
Palmenbäume aufgereiht waren. Mein Herz klopfte vor lauter Vorfreude.
Dann machte der Bus endlich halt an einem offenen Platz, der von
gepflegten Rasenflächen, Bäumen und Blumensträußen umringt war. Es
war Mittagszeit und die Hitze und die Sonne schlugen mir auf den Kopf
ein, wie ich es bis dahin noch nie erlebt hatte. Ich sah Leute auf den
Kibbutzwegen schreiten. Sie trugen alle kurze Hosen, einen kleinen
Sonnenhut und offene Sandalen. Sie sahen alle gebräunt und gesund aus.
Auf einmal kam ich mir mit meinem Blümchenkleid und meinen feinen
Schuhen fehl am Platz vor. Ich fühlte mich blass und farblos neben diesen
Menschen. Ich wollte so gerne so aussehen wie sie.
Wir erreichten Manias und Meirs Haus. Sie hatten eine kleine
Einzimmerwohnung mit einer kleinen Veranda auf der zweiten Etage
eines kleinen Gebäudes. Alles sah sehr adrett und geschickt eingerichtet
aus. Auch eine Dusche und eine Toilette hatten sie. Ich dachte zu mir
selbst: wie schön, daß sie eine eigene Dusche besitzen in einer dermaßen
kleinen Wohnung. Alle waren sehr freundlich und bekundeten uns
Flüchtlingen ein großes Interesse; dabei konnte ich mich nur mit meinen
Tanten und Onkel unterhalten, da all meine Cousins nur Hebräisch
sprachen und ich überhaupt keine Kenntnisse in dieser Sprache besaß.
Unser erster Besuch auf dem Kibbutz galt meiner anderen Großmutter,
Sarah, der ich noch nie begegnet war. Sie lebte in einer kleinen
Einzimmerwohnung in einem kleinen Gebäude, mit Nachbarn ihres
Alters. Sie war sehr anders als meine Baba, eine kleingewachsene Frau
mit einer Perrücke auf dem Kopf und einem langen schwarzen Kleid. Sie
107
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
war sehr erfreut und aufgeregt, uns zu sehen und hatte allerlei
Süßigkeiten für uns vorbereitet. Während wir bei ihr in ihrem Zimmer
saßen, trat ein hübsches junges Mädchen hinein. Sie wurde uns als
Schiffra vorgestellt; sie kam auf mich zu und sprach mich auf Jidisch an.
Es stellte sich heraus, daß sie das Konzentrazionslager in Polen überlebt
hatte und von Frojku und Jadja - mein Onkel und meine Tante aus dem
Kibbutz Mischmar Haemek – adoptiert worden war. Mir kam sie wie das
Idealbild eines Sabra vor – obwohl sie nicht in Israel geboren worden
war; es freute mich sehr, daß es wenigstens eine junge Person gab, die
sich mit mir unterhalten konnte. Sie sah wunderschön aus mit ihrer
gebräunten Haut und ihren großen schönen blauen Augen. Sie trug eine
tief auf der Stirn heruntergezogene "Tembel"-Sonnenmütze, kurze Hosen
und ein ärmelloses Hemd. Sie setzte sich auf den kühlen Fliesenboden
und blickte uns mit einem ernsten Ausdruk an. Ich verfiel sofort ihrem
Charm.
Gegen Abend wurde ich gebeten, mich zu Jadjas und Frojkes Wohnung
zu begeben und dort zu übernachten, während meine Eltern bei Meir und
Mania unterkamen. Wir schliefen alle auf Matrazen am Boden und ich
trug meine dünnes, besticktes Nachthemd, daß ich aus Rumänien
mitgebracht hatte. Auch dies wirkte fehlt am Platz, wo doch alle hier nur
kurze Hosen und Baunwollhemden trugen. Ich war noch immer in einem
Zustand großer Aufregung und konnte stundenlang nicht einschlafen. Mir
war auch sehr heiß, da ich nicht an das Klima gewöhnt war. Gegen
Morgen schlief ich schließlich ein, während ein früher Morgenwind sanft
durch die Fensterläden hineindrang.
Am nächsten Tag nahm Frojke – mit der Zeit stellte sich heraus, daß er
mein Lieblingsonkel war; er hatte große Ähnlichkeit mit meinem Vater,
nur war er langsamer und sanfter – uns auf eine Besichtigung des
Kibbutz. Wir sahen Kühe, Schafe und Hühner und mir schien, daß ich
dort für immer leben wollte. Dann führte er uns in den wunderschönen
Mischmar-Haemek-Wald. Die Luft dort war heiß und trocken, aber es
schwebte dort etwas Zauberhaftes. Das Lauschen des Windes in den
Bäumen, das Zwitschern der Vogel, das Geknister der Kiefern, alles
wirkte so friedlich und schön. Ich ahnte noch nicht, daß dieser Wald für
mich ein Refugium werden sollte und der Ort, in dem mein Vater und ich
unsere bedeutsamsten Unterhaltungen im Laufe der nächsten zwei Jahre
führen würden. Alles was ich wußte, war, daß ich mich in diesen Wald
wie von einem heimlichen Magnet angezogen fühlte; dies umwob diese
neue Phase meines Lebens mit nur noch mehr Mysterium und Aufregung.
108
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Nach einigen Tagen der Entspannung auf dem Kibbutz und nachdem wir
uns schon etwas an die Hitze, an die Nahrung und an die Menschen
gewöhnt hatten, begannen meine Eltern davon zu reden, nach Arbeit und
einer Wohnung in der Stadt zu suchen. Ich hätte liebend gern meine Baba
wiedergesehen, aber es wurde mir erklärt, daß der Kibbutz zur Zeit
wegen einer Maul- und Klauenseuche in Karantäne sei und ich nun für
einige Zeit hier bleiben müsse. Meine Eltern mußten abreisen und
konnten erst in zwei Wochen zurückkehren. Ich gab mich mit der Lage ab
und blieb bei meinem Onkel und meiner Tante. Da sie beide jeden
Morgen zur Arbeit gehen mußten, hatten sie einen Plan für mich
vorbereitet: ich sollte jeden Morgen mit Manja im Kuhstall arbeiten
gehen; dann würden wir zu mittag essen und danach nach Hause gehen,
um uns etwas auszuruhen; in den Nachmittagsstunden sollte ein
Kibbutzmitglied vorbeikommen, um mir Hebräisch beizubringen; in den
Abendstunden könnte ich dann meine Zeit mit der Familie verbringen. Es
wurden mir ein paar kurze Hosen, eine einfache Hemdbluse und ein paar
Sandalen ausgehändigt. So konnte ich jeden Tag zur Arbeit gehen. Da ich
num jeden Tag mit Manja zur Arbeit ging, zog ich in ihre Wohnung und
übernachtete dort.
Wir standen früh morgens auf und begaben uns in den Kuhstall, ohne
etwas gegessen oder getrunken zu haben. Draußen war es noch dunkel,
die Luft war frisch und etwas kühler als während des Tages. In dem
Kuhstall gab man mir ein paar schwere Stiefel und einige Erklärungen
dazu, wie man den Stall ausmistet. Es arbeiteten dort noch zwei andere
Kibbutzmitglieder und ich merkte, daß alle Respekt vor Manja hatten und
ihren Anweisungen folgten. Nach ungefähr zwei Stunden, nachdem wir
den Stall geputzt, die Kühe gemolken und gefüttert hatten, setzten wir uns
alle hin, um zu frühstücken. Tee und Milch nahmen wir aus dem
Kühlraum; Brot, Käse und Gemüse für den Salat wurden aus dem
gemeinschaftlichen Speisesaal gebracht. Wir saßen auf Kisten und aßen,
während alle um mich herum mir einzelne Vokabeln auf Hebräisch
beibrachten. Ich war so glücklich, wie ich es nur sein konnte. Weder der
Geruch, noch der Dreck in dem Kuhstall störten mich; ich fühlte mich
wichtiggenommen und allen anderen gleichgestellt.
Gegen Mittag begaben wir uns in die gemeinschaftliche Dusche für
Frauen. Während ich unter dem warmen Wasserstrahl der Dusche stand,
genoß ich jeden Tropfen. Ich hatte ein zweites Paar Shorts und eine
andere Bluse, die Manja mir gegeben hatte, um saubere Kleider nach der
Dusche zu haben. Ich hatte soweit keinen Gebrauch für meine Kleider aus
Rumänien. Nach der Dusche nahm Manja mich in den
gemeinschaftlichen Speisesaal des Kibbutzs, der aus einer kleinen
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Holzbaracke bestand; es war dort sehr eng und laut; eine große Menge
von Leuten in Arbeitsskleidung saßen dort um den Tisch gedrängt. Jeder
hatte einen eigenen Teller und eine Gabel, aber es gab nur ein einziges
Messer, das von allen abwechselnd benutzt wurde. Ein Kibbutzmitglied
kam mit einem Rollwägelchen durch den engen Gang und legte jedem
etwas Essen auf den Teller. Es gab Kartoffeln, einen kleinen Fleischkloß
und etwas Tomate. Es schmeckte alles wunderbar. Wir aßen ziemlich
schnell und warfen die Essensreste in einen kleinen Metallbehälter, der in
der Mitte des Tisches stand. Ich blickte um mich herum und beobachtete
die Leute. Jeder schien jeden zu kennen. Manche lächelten einander an,
während sie sich unterhielten, andere aßen schweigend – wie eine große
Familie. Hier und da kam jemand an uns heran und fragte nach mir. Sie
lächelten mich an; nur die älteren Menschen warfen mir ein oder zwei
Worte auf Deutsch zu. Mir wurde klar, daß ich so schnell wie möglich die
wunderbare hebräische Sprache lernen mußte, aber irgendwie fiel es mir
extrem schwer, die neuen Worte zu behalten. Es kamen immer wieder die
russischen Worte dazwischen, die mich durcheinander brachten.
Nach dem Mittagessen hielten wir einen Mittagsschlaf. Es schien, daß
alle etwa eine Stunde schliefen. Nachdem Meir von seiner Arbeit im
Zitronen-Hain zurück kehrte, legten wir uns alle hin. Anfangs war ich
viel zu aufgeregt, um am frühen Nachmittag schlafen zu können. Nach
und nach lernte ich, die Augen zu schließen und für kurze Zeiten
einzuschlummern, aber ich hatte nie wirlich Lust zu schlafen. Ich wäre
viel lieber nach draußen gegangen, um meinen Blick umherschweifen zu
lassen und etwas zu unternehmen.
Dann kam der Freitagabend. Man duschte sich am Nachmittag und zog
festliche Kleider an, wobei die festlichen Kleider aus einem weißen
Hemd und einer blauen Hose bestanden. Auch ich wollte mich hübsch
machen und holte meinen roten Rock mit den perlenverzierten Taschen
und eine hellgrüne Bluse hervor. Für mein Empfinden waren dies die
schönsten Kleider, die ich besaß. An diesem Abend sollte ich zum
Freitagabendessen mit Jadja und Frojku begeben. Schifra kam kurz zu
uns nach Hause vorbei; sie unterhielt sich sehr aufgeregt mit Jadja,
während sie mich betrachetete. Ich wußte nicht, was sie sagten, aber es
war deutlich zu erkennen, daß Schifra meine Kleider mit einem Ausdruck
des Entsetzens ansah. Schließlich entschied ich mich, Jadja zu fragen,
was los war. Sie blickte mich mit einem freundlichen Lächeln an und
sagte nur: "Mach dir keine Sorgen, es ist nichts Ernstes. Schifra meint,
daß du nicht passend angekleidet bist für den Kibbutz, aber ich bin der
Meinung, daß nicht darauf Acht geben solltest". So begaben wir uns in
den Speisesaal des Kibbutz. Den ganzen Abend lang schaute ich immer
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
wieder auf meine Kleider und auf die der Anderen: Schifra hatte recht
gehabt, ich war völlig falsch angezogen. Ich würde diesen Rock und diese
Bluse nie wieder anziehen.
Der folgende Tag war ein Samstag und ich ging wieder mit Frojku durch
den Kibbutz spazieren. Ich begann allmählig, mich auszukennen und
mich dort wohl zu fühlen. Am Nachmittag trafen wir uns alle gegen vier
Uhr bei Manja zum Tee. Nun lernte ich meine anderen Cousins kennen:
Eddi, Jadjas und Frojkus einziges Kind, sowie Tamar und Chanan, die
Kinder von Meir und Manja. Eddi war vier Jahre älter als ich, Tamar war
sieben Jahre älter und Chanan etwas jünger als ich. Ich konnte erkennen,
daß Eddi und Tamar neugierig auf mich waren; sie lächelten mich immer
wieder an, während Chanan mich völlig ignorierte. Ich konnte mich mit
keinem von ihnen unterhalten. Schifra setzte sich neben Tamar und
sprach mit ihr über irgendetwas, dann sagte sie laut: "Was für ein Name
ist das, Melitta? Es klingt nicht nach Hebräisch und Hadassa ist kein
passender Name für ein junges Mädchen. Ich schlage vor, wir nennen sie
Elite". Ich wurde ganz rot und mein Herz klopfte: ich hatte soeben einen
neuen Namen erhalten, einen Namen, der diesem Ort angemessen war,
einen Namen, der mir dazu verhelfen würde, Teil dieser Gesellschaft zu
werden. Wie aufregend!
Am nächsten Tag begegnete ich Tamar in der Zimmerwohnung ihrer
Eltern. Sie war hochschwanger und arbeitete nicht regelmäßig. Sie und
ihr Mann Gideon waren während des Unabhängigkeitskrieges in der
I.D.F. gewesen, die israelische Armee, und waren Kriegsgefangene der
jordanischen Armee gewesen. Ich hatte einen immensen Respekt für sie
und hoffte, bald im Stand zu sein, mich mit ihr zu unterhalten. Sie zeigte
mir einige Kleider, die sie für mich mitgebracht hatte: ein parr Shorthosen
und eine hübsche, bestickte weiße Bluse. Später erfuhr ich, daß dies eine
jemenitische Bluse war und als die schönste Kleidung galt, die ein junges
Mädchen tragen konnte. Manja erklärte mir, daß Tamar für eine gewisse
Zeit diese Kleider nicht tragen könnte, so daß ich sie solange behalten
konnte, wie ich wollte. Tamar setzte mich dann vor sich auf einen Stuhl,
kämmte mein Haar und anstatt der zwei Zöpfe, die ich gewöhnlich trug,
steckte sie mir das Haar zurück in einen Pferdeschwanz, in dem mein
lockiges Haar nach hinten aufgebauscht war. Die war die Frisur, die sie
selber trug und wir hatten beide ähnliches Haar. Ich sagte mir, daß dies
ein weiterer Schritt zu meiner neuen Identität als Sabra sei, nach der ich
mich so sehr sehnte.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Meine Hebräischkenntnisse machten große Fortschritte und ich wurde in
die Wäscherei versetzt, in der Jadja arbeitete. Ich lernte rasch und war
sehr bemüht, mich nützlich zu machen; alle mochten mich. Dann lernte
ich Uka kennen, eine Freundin von Manja; ich schloß mich ihr an und
begann, mit ihr die Schafe zu verpflegen. Nach zwei Wochen kamen
meine Eltern zu Besuch. Sie hatten eine Wohnung gefunden und mein
Vater sollte demnächst seine Arbeit in einem Bauunternehmen
aufnehmen. Sie sahen zufrieden und entspannt aus und blickte mich
fassungslos an.: "Du siehst ja wie ein Kibbutznick aus", sagte meine
Mutter.
Meine Tanten und Onkel besprachen meine Zukunft mit meinen Eltern.
Es wurde vorgeschlagen, daß ich im Kibbutz bleibe und dort den Mossad
- die Kibbutzschule - besuche. Meine Onkel überzeugten meine Eltern
davon, daß es sich um eine hervorragende Schule handele und daß ich
glücklich sei, dort lernen zu dürfen. Nach einem langen Tag von
Planungen verabschiedeten meine Eltern sich und versprachen, uns in
zwei Wochen wieder zu besuchen. Mir war es recht; ich lernte so viele
neue Dinge über den Kibbutz und seine Mitglieder und war nicht wirklich
daran interessiert, mit meinen Eltern wegzufahren.
Manja hatte soeben ihre Zeit im Kuhstall beendet und sollte nun in die
Gemeinschaftsküche übergehen. Der neue und schöne Speisesaal war
schon fast fertiggebaut und sie begann nun, die neue dazugehörende
Küche zu organisieren. Sie fragte mich, ob ich mit ihr arbeiten wolle und
die neue Küche putzen und sie für die Eröffnungsfeier vorbereiten wolle.
Ich freute mich sehr über das Angebot; es war für mich die Gelegenheit,
neue Menschen kennenzulernen und den ganzen Tag Hebräisch zu
sprechen. Ich war dermaßen eifrig, mich zu beweisen, daß ich täglich
viele Stunden arbeitete und von allen für meine Arbeit gepriesen wurde.
Zwei Wochen verstrichen und meine Eltern kamen wieder zu Besuch.
Diesmal brachten sie einen Brief von der jüdischen Agentur, eine
Verpflichtung an den Kibbutz, für die Kosten des Zimmers und die
Verpflegung in der Schule aufzukommen. Sie brachten mir ebenfalls neue
Kleider, die sie mit dem Geld gekauft hatten, welches sie von der
jüdischen Agentur erhalten hatten. Meine Onkel sagten, daß ich nun ein
Gespräch mit dem Schuldirektor haben müsse; er sollte entscheiden, in
welche Klasse ich kommen solle. Kurz nach dem Mittagessen, als alle
sich shlafen legen wollten, beschlossen mein Vater und ich, einen
Spaziergang im Wald zu machen. Dies war der Anfang einer
Gewohnheit, die wir lange Zeit weiterführten: jedesmal wenn meine
Eltern mich zweimal im Monat besuchten, gingen mein Vater und ich am
112
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Samstagmittag im Wald spazieren. Bei diesem ersten Besuch entdeckten
wir viele ruhige und schöne Orte im Wald. Wir beschlossen, bei jeden
Spaziergang einen neuen Weg einzuschlagen, um die verschiedenen Teile
dieses großen Waldes kennenzulernen. Während unserer Spaziergänge
erzählte mir mein Vater aus seiner Kindheit und Jugend und über
Czernowitz; ich erzählte ihm von den Dingen, die ich im Kibbutz
kennenlernte. Dies waren herrliche Momente des Zusammenseins und
des gegenseitigen Austauschs.
Eines Tages nahm mein Onkel Frojku mich zu dem Schuldirektor. Es war
ein großwüchsiger und ernstblickender Mann; er stellte mir zahlreiche
Fragen auf Hebräisch. Dann gab er mir eine kleine Prüfung in
Mathematik. Schließlich sagte er, daß es zwei Möglichkeiten gäbe: ich
könnte entweder in eine Klasse kommen, die zum größten Teil aus
Neueinwanderern aus verschiedenen Ländern bestand, die allerdings alle
etwas älter waren als ich, oder ich könnte in eine Klasse von jüngeren
Kindern gehen, die alle aus dem Kibbutz kamen. Ich blickte meinen
Onkel an und sagte: "Ich möchte mit den Kindern aus dem Kibbutz
zusammen sein". Die beiden Männer lächelten mir zu und der Direktor
sagte: "Gut, dann kommst du in die "Schibolim16"-Gruppe, mit deinem
Vetter Chanan".
Auf dem Rückweg nach der Begegnung mit dem Direktor wurde mir klar,
daß ich eine große Entscheidung treffen mußte: "Von nun an ist
Rumänisch für mich abgestorben. Ich werde diese Sprache nie wieder
sprechen. Alles, was ich bisher getan habe, ist unwichtig. Ich muß mich
wie eine Sabra verhalten, ich möchte Schiffra und Tamar ähneln, so gut
wie möglich. Am darauffolgenden Samstag nahm ich mein Tagebuch,
daß auf Rumänisch beschrieben war, das letzte Buch, daß ich gelesen
hatte – "40 Tage auf dem Musa Dag" –, sowie den roten Rock mit den
perlenverzierten Taschen, und begab mich alleine in den Wald. Dort grub
ich ein kleines Loch in die Erde, steckte darin all jene Gegenstände und
zündete darüber ein kleines Feuer an. Ich saß vor diesem kleinen
Lagerfeuer und spürte, wie ich mich von meiner Vergangenheit
entfesselte. Danach löschte ich das Feuer mit großer Vorsicht,
verschüttete alles mit etwas Erde und kehrte erleichtert und befreit in den
Kibbutz zurück.
16
Auf Hebräisch "Weizensamen". In der Kibbutzgesellschaft, in der Kinder über Jahre zusammen in
gemeinschaftlichen Räumen aufwuchsen, war es üblich, jeder Gruppe einen eigenen Namen zu geben.
Meistens wurden dazu Namen von Agrarpflanzen gewählt, als Ausdruck der Verbundenheit der
Kibbutzgesellschaft zur Agrarlandschaft.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Kapitel 19
Ich werde zur Sabra
Dann, als meine Eltern an einem Samstag mich wieder besuchten, wurde
mir angekündigt, daß ich nun gehen dürfe, um meine Eltern in Haifa zu
besuchen und auch meine Großmutter, die in einem anderen Kibbutz
lebte, in Ma'abarot. Als der Sabbatbesuch zu ende ging, packte ich meine
Sachen ein und stieg mit meinen Eltern zusammen in den Bus nach Haifa.
Ich hatte noch zwei Woche frei, bis zu Beginn des Schuljahres; ich
wünschte, so in diesen zwei Wochen viel wie möglich von Israel zu
sehen.
Meine Eltern lebten zur Untermiete in einem Zimmer einer
Vierzimmerwohnung, die sie sich mit drei weiteren Familien teilten; in
der Mitte der Wohnung gab es einen großen Flur, den alle sich teilten.
Den Balkon teilten meine Eltern mit der einen Familie und die Küche
teilten sie mit einer aneren. Das Bad und die Toilette wurde von allen vier
Familien gemeinsam benutzt, so daß jeder auf jeden Rücksicht nehmen
mußte. Die Wohnung befand sich auf der vierten Etage eines großen
arabischen Etagenhaus; von unserem Balkon aus konnte man den
wunderschönen Karmelberg sehen. In der ersten Nacht setzte ich mich
auf den Balkon und betrachetete die Lichter von Haifa. Es war so schön,
wie ein belichteter Weihnachtsbaum, und ich konnte nicht schlafen
gehen.
Am nächsten Morgen kam nun endlich der hochersehnte Moment, als
meine Baba uns besuchte. Ich hatte sie seit mehr als zwei Jahren nicht
mehr gesehen und ich war sehr erfreut festzustellen, daß sie gut und
zufrieden aussah. Mein Vater war an diesem Tag früh zur Arbeit
gegangen und meine Mutter erklärte mir, daß sie und Baba eine wichtige
Aufgabe zu verrichten hatten: nämlich ein paar Diamanten zu suchen, die
in zwei Daunenkissen verborgen worden waren, die wir aus Rumänien
mitgebracht hatten. Sie hatte versucht, die Steine allein wiederzufinden,
aber es schien eine unmögliche Aufgabe zu sein, da sie in kleine weiße
Wattebäuschchen eingenäht worden waren; nun mußte jedes Stück
Daunen sorgfältig untersucht werden, in der Hoffnung, diese wertvollen
kleine Steine wiederzufinden. Wenn ich die nötige Geduld dazu
aufbrächte, könnte ich ihnen mithelfen.
Wir bereiteten uns ein paar Butterbrote in der Küche vor, während wir
sorgfältig darauf achteten, innerhalb der Ecke, die uns zugeordnet war, zu
bleiben; danach sperrten wir uns in unser Zimmer ein. Erst öffneten wir
114
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das eine Kissen; wir saßen auf dem Boden, mit dem Daunen um uns
herum zerstreut. Wir betasteten sorgfältig jedes Stück und steckten es in
den Kissenbezug zurück. Nach langen Stunden des Suchens fand meine
Großmutter den ersten Stein und gegen Abend, nach einem langen und
anstrengenden Tag, fand ich den zweiten. Meine Mutter war erschöpft,
aber auch zufrieden. Sie erklärte, daß sie mit dem Geld, daß sie für den
Verkauf dieser beiden Steine erhalten würden, es ihnen ermöglichen
würde, einen Raum zu mieten, in dem sie wieder ihre eigene
Marmorwerkstadt aufbauen könnten. Innerhalb weniger Wochen wurde
der Plan verwirklicht und meine Eltern begannen, ihre eigene Werkstadt
in der Umgebung der Haifabucht zu führen.
Ich, meinerseits, wartete sehnsüchtig darauf, in den Kibbutz
zurückzukehren; aber erst mußte ich noch meine Baba in ihrem Kibbutz
besuchen und nachsehen, wie es meinem Großvater Lejser erging. Sie
lebten in einem kleinen Haus neben dem schönen Speisesaal des Kibbutz
Ma'abarot. Es war eine sehr zentrale Lage und meine Baba war damit
höchst zufrieden. Mein Großvater, wie immer, schlief die meiste Zeit und
stand nur dann und wann auf, um etwas zu essen oder ein paar Schritte in
dem kleinen Zimmer zu machen. Manhmal saß er auf einem Stuhl vor
dem Hauseingang und betrachtete die vorbeigehenden Leute.
Mein Onkel Tarzan und seine Frau Zipora waren lieb und rücksichtsvoll
und besuchten täglich meine Großeltern auf dem Weg zum Speisesaal.
Dabei brachten sie immer irgendeinen Leckerbissen mit; sie hielten sich
jedesmal eine Weile dort auf und unterhielten sich mit ihnen auf Deutsch.
Es gab noch weitere Kibbutzmitglieder in Ma'abarot, die meine
Großeltern aus Czernowitz kannten und öfters bei ihnen vorbeiskamen,
um sich mit ihnen zu unterhalten. Ich blickte meine geliebten Großeltern
an und dachte: "Endlich haben sie ein gutes Leben und sie können ihre
alten Tage genießen". Sie hatten auch drei wohlgeratene Enkelsöhne auf
dem Kibbutz, nur konnten sie sich leider nicht mit ihnen verständigen, da
meine Großeltern kein Hebräisch konnten.
Ich blieb eine ganze Woche bei meiner Baba. Ich erzählte ihr alles über
unsere Reise nach Israel und über den anderen Kibbutz. Sie fand an jeder
Einzelheit meiner Geschichten Freude. "Ich habe großes Glück, daß ich
es noch erleben konnte, wie deine Familie wieder zusammen gekommen
ist; dein Vater, deine Mutter – wer könnte es glauben, was wir alles
durchgemacht haben. Und nun seid ihre alle glücklich und gesund hier in
Palästina. Ich habe nun nur noch einen Wunsch: noch so lange zu leben,
daß ich auf deiner Hochzeit tanzen kann". Wir lachten beide über diesen
Gedanken und umarmten uns fröhlich.
115
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
An dem letzten Tag, bevor ich meine Großeltern verließ, um in meinen
Kibbutz zurückzukehren und das Schuljahr zu beginnen, setzte mich
Baba vor sie hin, vor dem Fenster ihres Häuschen. Sie sprach zu mir:
"Littika, weißt du, ich sitze hier jeden Tag und sehe mir die hübschen
Mädchen an, die hier vorbeigehen. Es gibt hier im Kibbutz einige junge
Mädchen, die wirklich sehr schön sind - aber keine, auch nur eine
Einzige, die halb so schön ist wie du. Es freut mich sehr zu sehen, daß du
zu einem lieblichen jungen Mädchen herangewachsen bist. Ich hoffe, daß
du im Leben weiterhin so viel Glück haben wirst".
Ich hörte ihr zu und wußte, daß sie es übertrieb und bemüht war, mir
gegenüber wohlwollend zu sein und mir eine Freude zu machen, und
doch war es ein wonniges Gefühl, zu wissen, wie sehr sie mich schätzte.
In Zeiten von Not und Schmerzen (trying moments) erinnerte ich mich
immer wieder an ihre Worte und mußte immer wieder dabei lächeln.
Nach dem langen Sommer kehrte ich nach Mischmar Haemek zurück. Es
war ein neuer Anfang. Nun ergab sich die Gelegenheit für mich, eine
Sabra zu werden und zu beweisen, daß ich im Stande war, wie alle
anderen Menschen im Kibbutz zu sein. Dieses Mal hatte ich das Gefühl,
daß ich dies aus eigenem Willen tat und daß es nur an mir lag, wie gut ich
mich integrieren würde.
Als ich im "Mossad", die Kibbutzschule, die auf einer Anhöhe lag,
ankam, lernte ich Dina, unsere Leiterin, kennen; sie war eine liebe und
freundliche Frau, die für unsere Altersstufe zuständig war. Sie zeigte mir
mein Zimmer, daß ich mit drei weiteren Jugendlichen teilte, einem
Mädchen und zwei Jungen. Sie erklärte mir, daß auf dem Kibbutz
Mädchen und Jungen im gleichen Zimmer schlafen, wie in einer Familie.
Die Mädchen erhalten die Betten auf der einen Seite des Zimmers, und
die Jungen diejenige auf der anderen Seite. Wir sollten uns nicht darüber
zieren, ein gemeinsames Zimmer zu teilen und wir sollten uns ebenfalls
das Badezimmer teilen. Ich hatte schon vorher davon gehört, bevor ich in
der Schule ankam, aber nun war ich sehr besorgt. "Ich geniere mich ja
sogar vor anderen Mädchen, wie kann ich da mit Jungen ein Zimmer und
das Bad teilen?". Dina blickte mich an und schien meine Gedanken zu
verstehen. Sie sagte: "Du wirst dich daran gewöhnen. Mach dir keine
Sorgen. Wenn du deine Periode hast, dann benutze die Dusche der
"schamvollen Mädchen"". Dabei wurde mir klar, daß "die Dusche der
schamvollen Mädchen" wohl für die Mädchen gedacht war, die ihre
Periode hatten, aber auch für solche, die sich einfach zu sehr genierten.
Ich verstand, daß es also eine Ausweichmöglichkeit aus dieser Lage gab.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Neben meinem Bett stand ein Schränkchen, in dem ich persönliche
Gegenstände unterbringen konnte. Ich legte meine paar Sachen dort ab
und ging draußen in der Umgebung des Gebäudes hin und her. Es kamen
noch andere Jugendliche mit ihren Sachen an, die in ihre Zimmer
eingewiesen wurden. Unter den Kibbutzkindern gab es auch zwei oder
drei Stadtkinder, die durch ihr beklemmtes Verhalten auffielen. Ich fühlte
mich genauso wie sie, beschloß aber, erst abzuwarten, bis ich all meine
Klassenkamaraden gesehen hätte, bevor ich mich mit jemandem
anfreundete. Am späten Nachmittag brachte Dina uns alle zusammen in
einem Klassenraum, der auf der gleichen Etage wie unsere Zimmer lag.
Sie hieß uns alle willkommen und erklärte uns unseren zukünftigen
Tagesablauf. Um sechs Uhr morgens würde uns eine laute Klingel
wecken. Um 6:30 Uhr sollten wir uns in den Sportsaal begeben und dort
Morgensgymnastik machen – von der ich wußte, daß sie von meiner
hübschen Kusine Schiffra gegeben wurde. Um sieben würden wir
frühstücken und um acht sollten wir uns in unserem Klassenraum
befinden, um den Schultag zu beginnen. Bevor wir uns in den
Klassenraum setzten, sollten wir unsere Betten machen und die Zimmer
aufgeräumt hinterlassen. Im Laufe des Vormittags gäbe es eine Pause,
während der wir frisches Obst zu essen erhalten würden, und zu Mittag
würde wir alle gemeinsam unser Mittagessen einnehmen. Danach hätten
wir Zeit bis 2Uhr nachmittags, um uns auszuruhen; danach müßte jeder
sich zu derjenigen Arbeit melden, die ihm zugeteilt worden war. Jedes
Quartier und jeder Schüler sollte auf einem anderen Gebiet und Ort
arbeiten. Dann erteilte sie jedem seine Aufgabe für das Schuljahr: mein
erstes Arbeitstrimester sollte ich in den Maisfeldern verbringen, das
Zweite in der Gemeinschaftsküche und im dritten Trimester würde ich
mich um die Schafe auf der Kinderfarm kümmern. Ich verstand das
Meiste von dem, was sie auf Hebräisch sagte und begann nun, mich
umzuschauen, um zu sehen, wer meine zukünftigen Freunde sein sollte.
Als Dina mich vorstellte, sagte sie: "Elite ist ein Flüchtling aus
Rumänien, aber sie ist nicht in der Immigrantenklasse. Sie wird Teil eurer
Gruppe sein und ihr sollt ihr helfen, eine Sabra zu weden". Einige der
Jungen bemusterten mich mistrauisch und die Mädchen ignorierten mich.
Später kam ich zu der Erkenntnis, daß mein sozialer Status sehr niedrig
war. Ich war weder ein Kibbutznik, noch eine Sabra – also eine von
"draußen", wie es dort hieß. Wenn es nur möglich gewesen wäre, hätten
sie am liebsten jeglichen Kontakt mit mir vermieden. Aber ich machte
mir nichts daraus; ich war fest davon überzeugt, daß ich es schaffen
würde; wie Baba immer gesagt hatte: "Mach, was du zu tun hast, mit
Liebe und Fürsorge, auch wenn es sich schrecklich anfühlt".
117
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Am Nachmittag, nachdem wir unsere Arbeit in unserem jeweiligen
Gebiet beendet hatten, waren wir frei bis zum Abendessen. Dies war die
Zeit, in der die Kibbutzkinder ihre Eltern besuchten und für mich war es
die Zeit, meine Tanten und Onkel, Frojku und Jadja, Meir und Manja, zu
besuchen. Sie freuten sich immer, mich zu sehen und ich genoß den
"Vier-Uhr-Tee", was mich an unsere Jause in Czernowitz erinnerte.
Indem ich Teil der Schulgruppe geworden war, wurde ich automatisch
eine Kandidatin, um dem Schomer Hatsaír als Mitglied beizutreten.
Einige Wochen nach Schulanfang fand eine große Zeremonie auf dem
Sportfeld statt. Große Sprüche mit strohgebundenen Riesenbuchstaben
wurden in Feuer geschrieben und wir wurden in einer Reihe
davorgestellt. Ein Betreuer des Schomer Hatsair las die Namen der
Neuankömmlinge laut vor und so wurden wir zu Mitgliedern. Ich erhielt
meine blaue Bluse mit der weißen Kragenschnur und war immens stolz
darauf. Zweimal in der Woche hatten wir Schomer-Hatsair-Treffen, die
mich manchmal an meine Zeit bei den russischen Pfadfindern erinnerten,
weil dort die Rede von der Bedeutung des Sozialismus und des
Kommunismus war. Manchmal wurde intensiv über Beziehungen unter
uns diskutiert. Während der Feiertage gab es Sonderveranstaltungen bei
dem Schomer Hatsair; dies waren für mich besondere Momente. Wir
pflegten in unserer Gruppe wie bei den Pfadfindern zu stehen; es wurden
große Abzeichen und Parolen hochgehißt; wir hörten uns Reden an und
sangen Lieder. Dabei hatte ich jedesmal das Gefühl, endlich meinem
Volk zuzugehören – eine Gruppe junger und schöner Israelis, die
aufrichtig, fleißig und hochintelligent waren. Ich empfand mich als
glückserkoren, Teil dieses neuen Anfangs zu sein, der auch für mich
persönlich ein neuer Anfang war.
Das erste Jahr in der Mossadschule war hart, aufregend und intensiv. Ich
wachte jeden Morgen vor der Klingel auf, so daß ich mich anziehen
konnte, noch ehe die Jungen aufstanden. Ich begab mich in die Dusche,
wenn gerade wenig Kinder in der Dusche waren und tat so, als ob ich
niemanden sehen würde. Ich freundete mich mit dem Mädchen in
meinem Zimmer an, das eine besonders schwache Schülerin war und von
den Anderen eher unbeliebt war, aber für mich bedeutete sie Zugang zu
den Ortsansässigen. Ich freundete mich mit einem weiteren Mädchen an,
daß eine Außenseiterin war. Ich freundete mich auch mit einigen der
Jungen an, mit denen ich zusammen auf den Maisfeldern arbeitete. Ich
war sehr bemüht, alle meine Aufgaben peinlich genau auszuführen. Auf
den Feldern war ich die schnellste Arbeiterin im ersten Trimester; im
zweiten Trimester putzte ich die Küche auf perfektester Weise und im
dritten Trimester war es mir eine Freude, die Schafe früh morgens zu
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
melken und am Nachmittag auf die Weide zu führen. Ich ging weiter mit
meinem Vater im Wald spazieren, jeden zweiten Samstag, wenn meine
Eltern mich besuchten. Mein Hebräisch wurde sehr schnell immer besser
und ich begann auch, Englisch zu lernen. Bald wurde ich zu einer
hervorragenden Schülerin in Englisch und ging von der niedrigsten Stufe
in die höchste Stufe über, so daß ich in der Lage war, anderen Schülern
bei den Schulaufgaben zu helfen. Ich spürte, wie mein sozialer Status sich
stärkte und bald begannen die Mädchen aus dem Kibbutz, etwas mehr
Interesse an mir zu finden. Gegen Ende des Schuljahres hatte ich das
Gefühl, es fertiggebracht zu haben, in die Gesellschaft der Kinder
aufgenommen worden zu sein; ich freute mich sehr darüber und war stolz
auf meine Errungenschaft. Jedesmal wenn ich meine Baba besuchte,
während der Ferien, erzählte ich ihr von meinen Freunden und von
meiner Arbeit in der Mossadschule. Wir gingren gewöhnlich Hand in
Hand im gemeinschaftlichen Speisesaal und ich spürte, daß meine Baba
auf mich stolz war und sich freute. Oft sagte sie: "Ich trage nur einen
Wunsch in meinem Herzen, nämlich daß ich noch lange genug leben
werde, um deine Hochzeit zu erleben".
Als die Sommerferien begannen, fuhr ich für einige Zeit zu meinen Eltern
und natürlich auch nach Ma'abarot zu meiner Großmutter. Zur Mitte der
Sommerferien sollte ich nach Mischmar Haemek zurückkehren, um dort
mit meiner Gruppe an einem Sommerlager des Schomer Hatsairs
teilzunehmen. Obwohl man mir das Datum und die genaue Zeit, zu der
ich mich für die Abreise bereithalten sollte, angegeben hatte, endeckte ich
zu meinem großen Entsetzen, daß die Gruppe zwei Stunden früher als
geplant losgefahren waren und mich völlig vergessen hatten. Ich war
schrecklich enttäuscht und versuchte, mich mit Manja darüber zu beraten,
was ich machen sollte, aber sie sagte nur: "Ich glaube nicht, daß du da
irgendetwas machen kannst. Sie sind alle heute morgen mit dem Bus
losgefahren und sie befinden sich in einem Wald, ein paar Stunden von
hier entfernt. Wir können von hier aus keinerlei Kontakt mit ihnen
aufnehmen und ich sehe da keine Möglichkeit für dich, irgendetwas zu
unternehmen. Bleib einfach hier mit uns und mach dir schöne Ferien". Ich
spürte die Tränen in mir aufkommen und war nicht bereit, aufzugeben. So
saß ich, traurig und mismutig, vor dem Speisesaal, als eine junge Frau aus
dem Kibbutz gerade vorbeikam und neben mir stehenblieb, um mich
anzusprechen. Wir hatten zusammen bearbeitet und sie mochte mich
gern. Als ich ihr meine Geschichte erzählte, sagte sie: "Weißt du was, du
kannst es noch schaffen. Geh, stell dich an die Straße und such nach einer
Mitfahrgelegenheit in die Stadt Afula. Dort begibst du dich dann auf den
Busbahnhof und nimmst einen Bus nach Kibbutz Beth Alfa. Dort steigst
du dann am Tor aus und fragst jemanden, wie du zu dem Schomer119
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Hatsair-Lager im Wald kommst. Es dürfte nicht länger asl eine Stunde zu
Fuß sein und dann bist du da. Das Ganze dürfte nicht mehr als drei oder
vier Stunden dauern, so daß du sie vor Anbruch der Dunkelheit erreichen
wirst". Ich hörte ihr sehr aufmerksam zu und eine neue Hoffnung brannte
in meinem Herzen auf. Ich war dreizehn Jahre alt, recht abenteuerlustig
und selbstsicher; ich fühlte mich stark und unabhängig und ich würde es
schon schaffen. Ich erzählte Manja von meinem Vorhaben. Sie bereitete
mir zwei leckere Butterbrote und gab mir etwas Geld für die Busfahrt,
und so trat ich meine Reise an.
Auf der Straße machten zwei Männer in einem Jeep vor mir halt. Ich stieg
ein und war etwas besorgt, aber sie brachten mich bis zum Busbanhof in
Afula. Auf dem Busbahnhof befanden sich zahlreiche Leute, die viele
verschiedene Sprachen sprachen. Ich fand schließlich den Bus nach Beth
Alfa und hatte das Glück, zu Mittagsstunde in dem Bus zu sitzen. Eine
Stunde später lief ich an der Straße entlang, die von Beth Alfa in den
Wald führte, während ich die Butterbrote von Manja verzehrte. Die
Sonne war heiß und die Straße menschenleer, aber ich genoß sowohl die
Butterbrote, als auch meine Freiheit und die Unabhängigkeit meiner
Taten. Bald erreichte ich den Wald und konnte die Klänge und Stimmen
junger Leute warnehmen. Ich lief direkt in ein Lager des Schomer Hatsair
hinein, in dem sich Leute aus dem ganzen Land befanden. Ich fragte nach
der Gruppe aus Mischmar Haemek und man zeigte mir die Richtung.
Langsamen Schrittes trat ich in das Lager hinein; einige meiner Freunde
merkten auf einmal, daß ich es war und alle umringten mich. Sie konnten
es nicht fassen, daß ich die ganze Reise alleine und auf eigener Faust
unternommen hatte und waren zutiefst beeindruckt. Ich wurde zur Heldin
des Tages und empfand ein herrliches Gefühl dabei. Würden sie mich von
nun an ganz akzeptieren? Ich mußte mir noch sehr in diesem Lager
bemühen, ehe ich mich als Sabra fühlen würde.
Zwischen den verschiedenen Lagergruppen entstand ein Wettstreit
darum, wer den schönsten und den säubersten Platz hatte. Wir mußten die
Steine um unseren Zelten weiß waschen, die Wege, die zu den Zelten
führten, säubern und alles Mögliche uneternehmen, damit unser Eßplatz
sauber und schön aussähre. Ich stellte mich freiwillig zur Verfügung, um
für diese Arbeit zuständig zu sein. Noch nie hatte ich so hart gearbeitet,
aber scließlich gewann unsere Gruppe den Preis. Alle Kinder riefen mir
Hurra zu und lobten mich. Auf dem Bus, auf dem Rückweg zum Kibbutz
mit der ganzen Gruppe, hatte ich endlich das Gefühl, ganz dazu zu
gehören. Mein zweites Jahr im Kibbutz sollte ein Vergnügen werden.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Epilog
Nun bin ich eine pensionierte Professorin für Spracherziehung von der
Hebräischen Universität und lebe in Jerusalem, in Israel. Ich hatte eine
wunderbare Karriere, als Spezialistin für Fremdsprachenunterricht für
Englisch. Ich habe eine wunderbare Familie, einen liebevollen Ehemann,
Seev, drei hübsche und erfolgreiche Töchter, alle mit liebevollen und
rücksichtsvollen Männern verheiratet; bisher habe ich acht Enkelkinder,
vier Jungen und vier Mädchen. Dieses Buch war etwas, das ich mir selbst
schuldete, um den Zusammenhang zwischen meiner Kindheit und den
neuen Generationen herzustellen, und um das laut auszusprechen, was
viele Holokaustüberlebende sagen: "Hitler wollte unser Volk ausrotten
und unser beste Rache ist die Tatsache, daß wir es fertiggebracht haben,
eine neue Familie in einem neuen Land zu gründen, trotz all dem Leid,
daß uns als Kindern aufgebürdet wurde".
Nach mehreren Jahren auf der Kibbutzschule kehrte ich zu meinen Eltern
zurück, die inzwischen nach Ramat Gan gezogen waren, einer kleinen
Stadt am Rande von Tel Aviv. Ich besuchte die Oberschule in Ramat
Gan, wurde zur Musterschülerin und erhielt ein Stipendium, das mir mein
Studium finanzierte. Ich war sehr gut in Englisch und daher konnte ich
jüngeren Kindern Nachhilfeunterricht geben; auf diese Weise konnte ich
ab dem Alter von fünfzehn etwas Geld verdienen. Ich verdiente genügend
Geld, um meine Schuluniform, meine Schulbücher und all meine
persönlichen Sachen zu kaufen, ohne meine Eltern damit zu belasten, die
sehr hart arbeiteten, um sich eine neue Existenz aufzubauen.
Ich begann mein Universitätsstudium in Wirtschaftswissenschaften ein
Jahr, bevor ich in die israelische Armee einberufen17 wurde. Während
meines Wehrdienstes führte ich mein Studium abends weiter und ein Jahr
nach dem Ende meine Wehrdienstes erhielt ich mein Diplom. An der
Universität lernte ich meinen Mann Seev kennen; wir heirateten 1959, als
ich 21 Jahre alt war. Meine Großmutter Sabina, die damals 80 Jahre alt
war, kam zu meiner Hochzeit und strahlte vor Wonne. Sie erlitt einen
Gehirnschlag, während wir uns auf unserer Hochzeitsreise befanden, und
sie starb wenige Monate später. Sie hatte immer meine Hochzeit erleben
wollen und so geschah es auch.
Nach unserer Hochzeit studierten Seev und ich an der UCLA in den
USA. Wir lebten in Los Angeles zu verschiedenen Zeiten unseres Lebens.
Ich erhielt mein Magisterdiplom; dann kam meine älteste Tochter Tali zur
17
In Israel sind junge Mädchen bis heute zu einem zweijährigen Wehrdienst verpflichtet. Junge
Männer dagegen müssen drei Jahre lang dienen.
121
© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Welt und schließlich erhielt ich meinen Doktortitel in den USA. Ich bin
zweisprachig auf Hebräisch und Englisch und fühle mich in beiden
Sprachen und Kulturen zu Hause. Ich verstehe bis heute perfekt Deutsch,
spreche aber etwas zögernd, da ich heute nur selten Gelegenheit habe,
von dieser Sprache Gebrauch zu machen. Rumänsich habe ich völlig
vergessen und gab diese Sprache am Tag unserer Ankunft in Israel auf.
Meine Eltern, Willy und Frieda, erreichten beide ein hohes Alter: Frieda
starb im Alter von 89 Jahren in 2001 und meine Vater starb 2003 im Alter
von 95 Jahren. Frieda begab sich bis zu ihrem letzten Tag zur
Marmorwerkstatt, die schon seit langem nicht mehr benutzt wurde.
Solange meine Eltern noch am Leben waren, hatte ich nie den Mut, dieses
Buch anzufangen. Nachdem sie beide gestorben waren, begann ich,
ernsthafte Recherchen zu den Ereignissen zu unternehmen, die während
meiner Kindheit stattfanden. Meine jüngste Tochter, Orly, half mir mit
diesen Nachforschungsarbeiten, während mein Mann Seev mich laufend
unterstützte und mir Mut zusprach. Meine Töchter Tali und Karen lasen
mein Manuskript mit Akribie und gaben mir den Einblick, der mir zur
endgültigen Version verhalf. Dies war sicherlich ein
Familienunternhehmen.
Schließlich machte ich im Sommer 2006 eine Reise nach Czernowitz und
nach Murafa, zusammen mit Seev. Meine gute Freundinn Bella diente
mir als Übersetzerin und als Reiseführerin. Wir fuhren spät nachts nach
Czernowitz herein.Mein Herz klopfte ganz wild und meine Augen waren
feucht, aber ich konnte nichts wiedererkennen. Als wir am nächsten
Morgen auf die Straße gingen, sah ich um mich nur Leute, die Ukrainisch
sprachen. Niemand sprach Deutsch und niemand kam mir bekannt vor.
Dann kam unsere Reiseleiterin mit eine Stadtkarte an. Ich zeigte auf die
Straße, auf der ich geboren wurde; ich wußte von meiner alten deutschen
Straßenkarte, daß es die Franzensgasse war. Nun heißt diese Straße "der
28. Juni", das Datum, zu dem die Russen beim ersten mal dort
einmarschiert waren. Ich konnte mich nicht an die Hausnummer erinnern.
Wir gingen zu unserer Straße. Nun begann die Umgebung, mir bekannt
vorzukommen, aber ich war immer noch recht verwirrt. Ich erklärte der
Reiseleiterin, daß meine Eltern 1935 geheiratet hatten und daß sie in eine
neue Wohnung in einem neuen Gebäude eingezogen waren. Sie lächelte
und sagte: "Ich werde euch zu eurem Haus führen. In 1935 gab es nur ein
einziges Bauhausgebäude und es gibt heute nur ein einziges solches
Gebäude auf dieser Straße". Ich stieg aus dem Wagen hinaus und das
Gebäude stand vor mir. Ich konnte mich noch aus meiner Kindheit daran
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
erinnern. Wir stiegen das Treppenhaus hinauf und ich blieb an genau der
Stelle stehen, an der meine Mutter und ich einander begeneten, nachdem
sie aus Transnistrien zurückgekehrt war. Dann klopften wir an der Tür
und die Dame, die in der Wohnung lebt, ließ uns hinein. Die Möbel
waren mir zwar fremd, aber alle Andere war genau so, wie ich mich
daran erinnerte, sogar die Lehmöfen waren da, genau wie vor 60 Jahren,
obwohl sie nicht mehr zum Heizen benutzt wurden.
Von der Wohnung aus gingen wir zum Ringplatz, den gleichen Weg, den
ich so oft mit meiner Großmutter gegangen war. Nun erkannte ich viele
Gebäude und natürlich auch die Herrengasse. Unsere Reiseleiterin führte
uns nach Rosch und ich erinnerte mich an die Begegnung mit meinem
Vater dort. Dann begaben wir uns auf den jüdischen Friedhof; unsere
Aufregung war besonders groß, als wir auf einigen der Granit-Grabsteine
die Signatur meines Vaters erkennen konnten. Dann kamen wir zum
hübschen Bahnhof, von dem aus meine Mutter nach Transnistrien
genommen wurde. Alles sah so friedlich aus, daß es unmöglich war, sich
vorzustellen, wie die Menschenmengen 1941 in die Züge gejagt wurden.
Ich wollte herausfinden, ob wir mit dem Zug nach Moghilev fahren
könnten, aber es wurde uns gesagt, daß es keine Züge in die Richtung
gab.
Wir beschlossen, selber nach Murafa zu fahren. Dies war das kleine Dorf,
in dem meine Mutter zweieinhalb, sehr schwierige Jahre verbracht hatte.
Die Straßen waren schlecht und die Richtungen ungewiss. Schließlich,
nachdem wir uns unterwegs bei zahlreichen Bauern erkundigt hatten,
erreichten wir Murafa. Bella sprach ein paar Frauen auf der Straße an und
fragte nach den ältesten Leuten im Dorf, die uns Auskunft über die
Kriegszeit geben könnten. Eine der Frauen führte uns zu den "ältesten"
Mann, der in einem winzigen Häuschen mit einem verkommenen
Hinterhof lebte. Er und seine Frau, die kaum reden konnten, erklärten
uns, daß sie sich an die Juden erinnern konnten, die während des Krieges
bei ihnen auf dem Dorf gelebt hatten. "Die mußten hart arbeiten", sagte
der alte Mann, "aber die Stärkeren überlebten den Typhus und den
Hunger. Sie wurden nicht im Murafa umgebracht, sonrn über den Bug
verschleppt". Wir wollten das Krankenhaus besichtigen, in dem Frieda
gearbeitet hatte, aber das Krankenhaus existiert heute nicht mehr. Es
existierte damals, um dem deutschen Heer zu dienen. Der alte Mann
konnte sich an eine junge Frau namens Frieda erinnern, die dort
gearbeitet hatte.
Als wir die Ukraine besuchten, war der größte Teil diese Buches bereits
geschrieben. Es gab nur wenig, daß neu angepaßt werden mußte. Meine
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
Erinnerungen schienen den Tatsachen des Lebens genau zu entsprechen.
Dies ist eine wahre Geschichte, aus den Augen eines kleinen Mädchens
betrachtet.
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© E.Olshtain, Der Lehmofen, 2008
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