1 Gliederung I. Einleitung S.2 1. Zielgruppendefinition 2. Fallgestaltung in Niedersachsen 3. Diskussionsverlauf der geschlossenen Unterbringung S.2 S.3 S.3 II. Konzepte aus anderen Bundesländern S.4 1. Martinistift Nottuln 2. Internationaler Bund – Jugendheim Mühlkopf Rodalben 3. Zusammenfassung (konzeptionell) S.4 S.7 S.10 III. rechtliche Betrachtung S.11 1. Unterbringung noch nicht strafmündiger Kinder 1.1. Zielgruppe 1.2. Rechtsgrundlagen Strafrecht Öffentliches Recht Zivilrecht a) geschlossene Unterbringung auf „Wunsch“ der Eltern b) geschlossene Unterbringung bei Gefährdung des Kindeswohls S.12 S.12 S.13 S.13 S.13 S.14 2. Unterbringung von Jugendlichen 2.1. Zielgruppe 2.2. Rechtsgrundlagen Vorläufige Anordnung über die Erziehung, § 71 JGG Untersuchungshaft Unterbringung in einem Heim Die Verhängung freiheitsentziehender Rechtsfolgen ( Arrest und Jugendstrafe) S.16 S.16 S.17 3.Zusammenfassung (aus rechtlicher Sicht) S.19 IV. Fazit S.20 Anlage Schemata §§ 1631 b, 1666, 1666a BGB § 42 Abs. 2 SGB VIII § 42 Abs. 3 SGB VIII Gesetzestexte 2 Geschlossene Unterbringung von Kindern und Jugendlichen -Position unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Anforderungen aus polizeilicher Sicht- I. Einleitung „Erziehung durch Freiheitsentzug muss die große Ausnahme sein“ ( Ministerin a. D. Gitta Trauernicht, Hann.Allg.Ztg. v. 29.01.2003) „ Für hochgradig gefährdete und kriminelle Kinder und Jugendliche soll im Rahmen erzieherischer und therapeutischer Konzepte die geschlossene Heimunterbringung in Niedersachsen ermöglicht werden.“ ( Koalitionsvereinbarung zwischen CDU und FDP für die 15. Wahlperiode des Niedersächsischen Landtages 2003 bis 2008) Unter diesen Gesichtspunkten soll die derzeitige Situation für die geschlossene Heimunterbringung für das Land Niedersachsen aus polizeilicher Sicht dargelegt werden. 1. Zielgruppendefinition Bei der Diskussion über die Thematik ist zunächst deutlich zu machen, für welche Zielgruppe die Maßnahme einer geschlossenen Unterbringung in Betracht kommt. Eine treffende Beschreibung ist Walkenhorst gelungen: Es sollen darunter junge Menschen verstanden werden, die sich weit überdurchschnittlich oft straffällig verhalten haben und deren Straffälligkeit nach Art und Schwere ihrer Straftaten eine besonders hohe „Sozialgefährlichkeit“ erkennen lässt (vgl. dazu Traulsen 199, 312). Ihre Zahl hat sich in den letzten Jahren erhöht, wenngleich daraus noch keine belastenden Schlüsse gezogen werden können. Es sind junge Menschen, die sich in jedem Fall noch in der Entwicklung ihrer selbst befinden und der Entwicklungshilfe bedürfen. Es sind junge Menschen, die noch ein hoffentlich langes Leben vor sich haben, noch viel erleben und erfahren, auch zum Wohlergehen ihrer selbst und ihrer Mitmenschen beitragen können. Es sind junge Menschen, die Schwierigkeiten haben und/oder Schwierigkeiten machen, sich selbst, ihrer unmittelbaren Umgebung oder auch anderen Menschen und Verhältnissen. Sie beschädigen mit ihrem Verhalten sich selbst und ihre Entwicklungsmöglichkeiten, sie beeinträchtigen mit ihrem Verhalten ihre Mitmenschen, ihre soziale Umgebung und sie binden erheblich personelle und finanzielle Mittel, die auch woanders gut eingesetzt werden könnten. Sie stellen auch Indikatoren für soziale Schieflagen, für problematische gesellschaftliche Entwicklungen, für instabile Beziehungen, für gestörte oder beeinträchtigte Erziehungsverhältnisse und –umgebungen dar1. 1 1/2003 Ph. Walkenhorst, Referat –Fachtagung „Junge Mehrfachtäter“, Ev. Akademie Bad Boll 3 2. Fallgestaltung in Niedersachsen Es ist der Frage nachzugehen, ob diese Zielgruppe von Kindern und Jugendlichen auch in Niedersachsen zu finden, ihre Zahl so hoch ist, dass sie die Bereitstellung von Plätzen zur geschlossenen Unterbringung bedingt. Spektakuläre Einzelfälle haben immer wieder die öffentliche Diskussion über diese jungen Menschen, auch als „Junge Intensivtäter“ bezeichnet, ausgelöst. Es wird von der Bevölkerung und zumindest Teilen der Fachöffentlichkeit erwartet, dass sich primär die Jugendhilfe dieser Gruppe junger Menschen annimmt, sie in ihrer Entwicklung unterstützt und dazu alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausschöpft. Die Polizei wird diesem Anspruch in Niedersachsen schon seit Anfang 1999 gerecht, in dem die Bearbeitung von Jugendsachen organisatorisch und strukturell eine besondere Gewichtung erfahren hat. Hier ist insbesondere die Konflikt- und Opferorientierung, die Bearbeitung nach dem Wohnortprinzip sowie die enge Vernetzung mit allen an der Entwicklung junger Menschen beteiligten Institutionen zu nennen. In Niedersachsen fehlten bislang weitgehend verlässliche Daten und Erkenntnisse über Deliktsauffälligkeiten, Vorgeschichten, soziale und persönliche Merkmale junger Menschen und ihrer Familien. War zunächst nach einer Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) von 551 Fällen (Stand: Sept. 2002) delinquenter Kinder auszugehen, wurde dieses Datenmaterial durch das Landeskriminalamt Niedersachen (LKA NI) einer nochmaligen kritischen Recherche unterzogen. Auf Grund landeseinheitlich festgelegter Zuordnungskriterien ergab sich danach eine Zahl von 119 Fällen hochdelinquenter Kinder. Eine nochmalige spezialisierte Falldarstellung und – auswertung, in welche das LKA NI alle der Polizei bekannten Jugendhilfemaßnahmen, die Situationen des sozialen Umfeldes und sonstigen personenbezogenen Auffälligkeiten (z. B. Schulschwänzen) einbezogen hatte, ergab, dass es in Niedersachsen im Erhebungszeitraum 2001/2002 insgesamt 69 Fälle von hochdelinquenten und auffälligen Kindern gab, bei denen die Fallverläufe die Notwendigkeit einer geschlossenen Unterbringung erkennen ließen. Im welchem Unfang sich diese polizeilichen Feststellungen bestätigen, wird zur Zeit für 49 sog. Akutfälle durch ein beim Nds. Landesjugendamt angesiedeltes Kriseninterventionsteam (KIT) analysiert. Ein abschließendes Ergebnis ist in Kürze zu erwarten. 3. Diskussionsverlauf der geschlossenen Unterbringung Zur bisher geführten Diskussion über die geschlossene Unterbringung: Kinder und Jugendliche entwickeln in geschlossenen Heimen eine „Insassen- und KnastMentalität“, die zur Ablehnung der Betreuer als „Einschließer“ führt und alle Energie auf den Ausbruch konzentriert2. Für eine kleine und überschaubare Zahl von Kindern und Jugendlichen ist eine vorübergehende außerfamiliäre Unterbringung mit partiellem Freiheitsentzug .m. E. nicht zu umgehen, wenn man diese Kinder und Jugendlichen nicht fallen lassen möchte3. Jugendhilfe wird für ein Sammelsurium von Interessen und Aufgaben in Anspruch genommen, die von ihrem Handlungsauftrag häufig nicht gedeckt sind. So wird ihr 2 3 G.Trauernicht, Zentralblatt für Jugendrecht 1991, S. 520ff. (S.522) H.Remschmidt, DVJJ-Journal 3-4/1994, S.273 4 zugemutet, mit der geschlossenen Unterbringung gleichsam einen „Strafersatz“ vorzuhalten, mittel derer „nicht-erziehbare“ Jugendliche davon abgehalten werden sollen, strafrechtliche oder andere gesellschaftliche Normen zu übertreten4. Geschlossene Unterbringung, so wie in der Öffentlichkeit regelmäßig gefordert wird, ist geeignet, gesellschaftliche Verhältnisse zu kaschieren, nicht jedoch die bestehenden Probleme zu lösen. Weder Jugendhilfe noch Justiz sollten dieses zweifelhafte Unterfangen unterstützen5. Ich glaube, dass wir solche Plätze für unter 14jährige brauchen werden. Keine Heime, aber geschlossene Plätze in Einrichtungen. Das darf nicht mehr so pauschal abgelehnt werden6. Diese Auswahl von Zitaten mag belegen, dass die Diskussion zur geschlossenen Unterbringung weder neu ist noch gleichförmig geführt wird. Außer Zweifel steht aus hiesiger Sicht, dass eine ideologisch geführte Diskussion dem Anspruch entgegensteht, sich dieser sachlich zu stellen und nach wirklichen Lösungsansätzen zu suchen. Wenngleich derzeit ein breiter Konsens in der Diskussion kaum zu erwarten ist, zeichnet sich jedoch ein Paradigmenwechsel ab. Den Zweifeln, ob in der geschlossenen Unterbringung das Allheilmittel zur Lösung und Klärung eine durch die Jugendhilfe kaum noch zu befriedende Konfliktkonstellation junger Menschen gefunden werden kann, muss unvoreingenommen und pragmatisch nachgegangen werden. II. Konzepte aus anderen Bundesländern Aufschluss über die erzieherischen und sozialarbeiterischen Konzepte und der therapeutischen Arbeit in vorhandenen Einrichtungen, dienten ausführliche Informationsbesuche im Martinistift Nottuln, 48302 Nottuln (NRW) und im Jugendheim Mühlkopf (Internationaler Bund), 66971 Rodalben (RP). Die Leiter der Einrichtungen standen für intensive Gespräche zu den pädagogischen Konzepten und für die Besichtigung der Räumlichkeiten zur Verfügung, dabei konnten ferner kurze Gespräche mit dem Betreuungspersonal und Probanden geführt werden. Die Ergebnisse sind –wenn auch z. T. identisch- nachstehend für jede Einrichtung dokumentiert. 1. Martinistift Nottuln Die Einrichtung Martinistift in Nottuln (NRW) wurde am 31. 03. 03 von Carola Gustedt und Winfried Bodenburg, LKA NI besucht. Das zuvor studierte pädagogische Konzept7 wurde in einem vertiefenden Gespräch anhand eines Fragenkataloges mit dem pädagogischen Leiter, Herrn Pohlmann, erörtert. Die Besichtung einer geschlossenen Gruppe fand nachfolgend statt. Träger des Martinistift Nottuln ist der Kinder- und Jugendhilfeverbund Münsterland/ Ruhrgebiet. 4 5 6 7 Th. Trenczek, DVJJ-Journal 3-4/1994, S.289 Ch. Scholz, DVJJ-Journal 3/2000, S.238 K. Hurrelmann, AJS-Forum, 2/2002, S. 10 Martinistift Nottuln, Pädagogisches Konzept der geschlossenen Intensivgruppe, St. 3/2003 5 Die Einrichtung Martinistift Nottuln hält 3 geschlossene Gruppen, bestehend aus maximal 10 Jungen, altersgemischt, vor. Spezielle Zielsetzungen: Die Zielgruppe für eine Unterbringung sind männliche Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 11 –17 Jahren (keine koedukativen Gruppen). Die zeitliche Begrenzung der geschlossenen Unterbringung gestaltet sich individuell. Jedoch wird ein Zeitansatz von mindestens einem halben Jahr bis zu einem Jahr Aufenthalt als bewährt angesehen (nach ca. einem Jahr des Aufenthaltes setzt ein Gewöhnungseffekt ein). Hierbei erfolgt nach 8 Wochen ein Klärungsprozess, ob diese Form der Unterbringung als geeignet für den Klienten erscheint oder ob evtl. eine andere Unterbringungs- und Betreuungsform für den Klienten angezeigt ist. Ein Abbruch der Maßnahme wird ebenfalls spätestens zu diesem Zeitpunkt geprüft, falls sich der Klient als „Totalverweigerer“ jeglicher Angebote gezeigt hat. Der Ablöseprozess aus der geschlossenen Gruppe wird von Beginn der Arbeit mit den Klienten betrachtet und vorbereitet. Systemischer Ansatz: Von Beginn an wird eine begleitende Elternarbeit durchgeführt. Mit Aufnahme in die geschlossene Gruppe und somit der Trennung von alten Strukturen stellt sich den Klienten häufig die Frage nach ihren Wurzeln. Auch bei Klienten aus anderen Bundesländern, d.h. in Fällen, bei denen die Distanz zur Familie wichtig ist, wird Elternarbeit betrieben, jedoch in anderer speziell für diese Klienten geeigneter Form. Gruppenstruktur: Die Unterbringung erfolgt in drei geschlossenen Gruppen. Jede Gruppe besteht maximal aus 10 Jungen, ist altersgemischt und strukturiert. Es gibt eine klare Gruppenführung. Der Personalschlüssel liegt in einem Verhältnis 1:1. Die Jungen benötigen den emotionalen Halt in der Gruppe, sie haben hier die Möglichkeit sich von alten Gruppenstrukturen alter Cliquen zu lösen und können eine eigene Neubewertung und Selbstidentifikation in der jetzigen Gruppe vornehmen. Wichtig ist, dass das Team die gewünschten Verhaltensregeln, Einstellungen und Handlungsweisen vorleben, da dies sehr kritisch von der Gruppe hinterfragt und überprüft wird. Wirksysteme in der Gruppe: Zunächst hoher Identitätsverlust, dann Aufbau neuer Identitätsmuster z. B. durch täglich geführte Gruppengespräche. Schulbesuch: Es befinden sich drei Schulen unterschiedlicher Schulform auf dem Gelände – Hauptschule, Schule für Lernbehinderte, Schule für Erziehungshilfe. Die Schule für Erziehungshilfe betreut die Klienten direkt in der geschlossenen Gruppe in einer Einheit mit 3 – 4 Jungen. Wenn die Jungen genügend Halt in der Gruppe haben und bereits eine längere Verweildauer dort erfolgt ist, besuchen diese eine der Schulen auf dem Gelände. Der Unterricht in der Hauptschule und der Schule für Lernbehinderte erfolgt in der Gruppenstärke 10 – 15 Jungen. Schulverweigerung wird in Form von Sanktionen durch die Gruppe begegnet. 6 Die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt erfolgt in Form von Hilfeplangesprächen, auch unter Einbeziehung der Eltern. Das erste Gespräch findet in den ersten 6 Wochen des Aufenthaltes des Klienten statt. Wünschenswert wäre ein regelmäßiger Besuch des Jugendamtes in der geschlossenen Gruppe alle 3 Monate. Die Zusammenarbeit mit der Polizei z. B. wenn Ermittlungen während der Unterbringung zu führen sind, gestaltet sich derart, dass die Polizeibeamten direkt in die Gruppe kommen oder ein Erzieher den betroffenen Jungen zur Dienststelle begleitet. Bislang sind keinerlei Komplikationen aufgetreten. Die Zusammenarbeit mit sonstigen Freien Trägern erfolgt z. B. regelmäßig mit der Drogenberatungsstelle, die zu Informationsveranstaltungen die Einrichtung aufsucht. Ausschlusskriterien (außer den im Konzept genannten): Bei Sorgerechtsentzug (Sorgerecht in der Verantwortung des Jugendamtes) wird ganz genau hingeschaut. Bei ethnischer Zugehörigkeit zu Sinti und Roma wird die Einbettung in die Kultur und das Familiensystem einer genauen Überprüfung unterzogen. Begrifflichkeit der Eigen- und Fremdgefährdung: Unter Eigen- und Fremdgefährdung wird das Zusammentreffen von hohem Aggressionspotential + Steuerungsverlust + Impulskontrollverlust + niedrige Intelligenz verstanden. Das Zusammentreffen dieser Faktoren stellt eine Überforderung des Klienten in einem Gruppengefüge dar und kann somit als nicht gruppenfähig angesehen werden. „Eignung“ zur Aufnahme: Es gibt keine Mindestanforderungen für die „Eignung“ der Aufnahme. Die Aufnahme in eine geschlossene Gruppe ist nicht unbedingt als „ultima ratio“ anzusehen. Es müssen nicht zuvörderst alle Maßnahmen, die das KJHG zu bieten hat, ausgeschöpft worden sein. Eine so starke Gefährdung der Entwicklung, dass der Proband sich mit eigenen Kräften nicht mehr lösen kann oder der Proband sich in einer Lebenssituation befindet, in der er keine andere Hilfe mehr akzeptieren kann z. B. Ausüben der Prostitution, Zerreibung in der Familie, Zugehörigkeit zu rechtsradikalen Gruppen, sind durchaus Gründe, die für eine Aufnahme in eine geschlossene Gruppe sprechen. Auch ist hohe Delinquenz nicht als alleinige „Eignungsvoraussetzung“ anzusehen, sie wird jedoch häufig als Symptomträger für anderes Konfliktpotential erkennbar. Vita der Klienten: Die Vita der Klienten sind individuell, es sind nicht immer identische Verläufe erkennbar. Erkennbar sind jedoch vergleichbare hilflose Versuche seitens der Jugendämter und Jugendpsychiatrien mit erzieherischen Mitteln auf die Klienten einzuwirken, sie zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. Hilfeplan / sonstige Voraussetzungen: Ein aktueller Hilfeplan muss vor der Unterbringung in die geschlossene Gruppe erstellt werde. Zusätzlich erfolgt i.d.R. eine Abklärung durch ein psychiatrisches Gutachten. Ein Verfahrenspfleger ist während des Verfahrens involviert. Der Beschluss des Familiengerichtes ist obligatorisch. Ein hoher Stellenwert wird der Wahrung der Rechte der Klienten eingeräumt, z.B. findet kein sogenannter Einschluss, ähnlich wie in einer Vollzugsanstalt statt, Zwangsmittel kommen nicht zur Anwendung. Kosten: Ca. 230 € pro Tag / pro Person 7 Qualifikation der BetreuerInnen: Pro Gruppe arbeiten 3 MitarbeiterInnen im diagnostischen und analytischen Bereich der systematischen Beobachtung, es gibt eine Teamleitung sowie MitarbeiterInnen, die die Fähigkeit zur gruppenpädagogischen Arbeit, zur Einzel- und Beziehungsarbeit sowie zur Eigenreflexion besitzen. Supervisionen und Intervisionen sind obligatorisch. Die Arbeit in den Gruppen erfolgt zur Vermeidung einer hohen Fluktuationsrate und damit einhergehender, pädagogisch nicht zu vereinbarender Beziehungsarbeit nur auf der Basis des festangestellten und vollzeitbeschäftigten Personals. Rückfallquote: Klienten der geschlossenen durchschnittlich zu ca. 50 % rückfällig. Unterbringung werden Beendigung der Maßnahme: Nach Beendigung der Maßnahme der geschlossenen Unterbringung erfolgt eine individuelle Anschlussmaßnahme. D.h. es kann ein Angebot in anderen Einrichtungen angenommen werden, die offenen Gruppen des Martinistiftes besucht werden, aber es besteht auch durchaus die Möglichkeit der direkten Entlassung in das Elternhaus. Bauliche Sicherungen: Im Haus ist eine freie Bewegungsmöglichkeit vorhanden. Es gibt keinen time- out- Raum (keinen Einschluss). Der freie Ausgang erfolgt als 3. Stufe. Akzeptanzprobleme: Durch die sehr ländliche Lage, ist der Kontakt zu den Bewohnern nicht direkt gegeben, so dass kaum Resonanz aus der Öffentlichkeit erfolgt. Der Einzugsbereich der Zielgruppe erfolgt aus dem gesamten Bundesgebiet. Jährlich liegen ca. 250 Anfragen zur geschlossenen Unterbringung vor. Insgesamt werden 170 Jungen in den Einrichtungen des Martinistiftes betreut. 2. Internationaler Bund - Jugendheim Mühlkopf Rodalben Die Einrichtung Jugendheim Mühlkopf in Rodalben (RP) wurde am 16. 04. 03 von Carola Gustedt und Winfried Bodenburg besucht. Der geschäftsführende Leiter Herr Ulrich Teufel stand auf der Grundlage des pädagogischen Konzeptes8 für ein intensives Gespräch zur Verfügung. Die Besichtung einer geschlossenen Gruppe fand nachfolgend statt. Träger des Jugendheimes Mühlkopf ist der Internationale Bund (IB). Der IB ist in freier Trägerschaft und ist in allen Bundesländern tätig. Der IB unterhält ca. 800 Einrichtungen, in der Mehrzahl Bildungszentren, Beratungsdienste und ambulante Wohnheime sowie über 30 stationäre und ambulante Angebote der Kinder- und Jugendhilfe. Die Einrichtung Rodalben hält seit fast 20 Jahren Plätze zur geschlossenen Unterbringung vor. Im Juli 2002 ist eine zweite geschlossenen Gruppe errichtet worden. Internationaler Bund – Jugendheim Mühlkopf, Rotalben, Leistungsbeschreibung „Intensiv heilpädagogische Gruppe“, St. 3/2003 8 8 Spezielle Zielsetzungen: Die Zielgruppe für eine geschlossene Unterbringung sind männliche Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 10 und 17 Jahren, wobei eine Aufnahme eines Klienten nur bis zum Alter von 15 Jahren erfolgt, da hiernach bei den Jungen schon eine zu starke Verfestigung der Auffälligkeiten stattgefunden hat. Die Verweildauer in der geschlossenen Unterbringung gestaltet sich individuell. Jedoch ist ein Zeitansatz von 8 bis 12 Monaten Aufenthalt die Regel, z.T. sind 15 Monate angemessen. Die Mindestverweildauer der Klienten von 8 Monaten ist notwendig, damit u.a. der sehr strukturierte Tagesablauf verinnerlicht werden kann und um die erzieherischen Ziele der Unterbringung erreichen und festigen zu können. Nach 6 bis 8 Wochen erfolgt ein Hilfeplangespräch mit den Jugendlichen und der Klärungsprozess der aktiven Mitarbeit, die eine wesentliche Voraussetzung der Arbeit ist. Ein wesentliches Ziel dabei ist, die jeweiligen persönlichen Ressourcen zu erkennen und diese in positive Energien zu wandeln. Es stellt sich in dieser Zeitspanne heraus, ob diese Form der Unterbringung als geeignet für den Klienten erscheint oder ob evtl. eine andere Unterbringungs- und Betreuungsform angezeigt ist. Die ersten vier Wochen bekommen die Jungen keinen Ausgang, danach erfolgt eine individuell abgestimmte Lockerung des Ausganges in unterschiedlichen Stufen. Bei Entweichungen innerhalb der ersten sechs Wochen erfolgt eine Ausweisung aus der Einrichtung. Der Ablöseprozess aus der geschlossenen Gruppe wird von Beginn der Arbeit mit den Klienten betrachtet und vorbereitet. Aufnahme: Die Aufnahme erfolgt zumeist direkt in die geschlossenen Gruppen, nur selten direkt in das offene Angebot. Daraus folgt, dass die Klientel in den offenen Gruppen zu ca. 90% zuvor die geschlossene Unterbringung durchlaufen hat. Die Aufnahme erfolgt bundesweit. Die Einrichtung verzeichnet drei mal soviel Anfragen wie Kapazitäten vorhanden sind. Elternarbeit: Die Elternarbeit ist wegen der häufig sehr großen Entfernung nur eingeschränkt möglich. Bei 2/3 der Jugendlichen erfolgt keine intensive Zusammenarbeit mit dem Elternhaus, zu beobachten ist, dass Eltern ihre Kinder „abgeschrieben“ haben und keinerlei Beziehungen aufbauen wollen. Eine Rückführung in die Herkunftsfamilie ist nur selten realistisch; das primäre Ziel ist die Verselbständigung der Jungen. Gruppenstruktur: Die Unterbringung erfolgt in zwei geschlossenen Gruppen. Jede Gruppe besteht aus maximal 8 Jungen und ist nach Alter und Status strukturiert. Für die 16 Jungen stehen insgesamt 20 MitarbeiterInnen zur Verfügung, von denen 12 MitarbeiterInnen direkt im Gruppendienst tätig sind. Des weiteren arbeiten drei HeilpädagogInnen, ein Psychologe und vier Honorarkräfte gruppenübergreifend. In der Gruppe arbeiten ständig mindestens drei Mitarbeiter zeitgleich, die täglich bis 15 Uhr im Bereich Heilpädagogik unterstützt werden. Die Jungen benötigen den emotionalen Halt in der Gruppe, sie haben hier die Möglichkeit sich von alten Gruppenstrukturen alter Cliquen zu lösen und können eine eigene Neubewertung und Selbstidentifikation in der jetzigen Gruppe vornehmen. Wichtig ist, dass das Team die gewünschten Verhaltensregeln, Einstellungen und Handlungsweisen vorleben, da dies sehr kritisch von der Gruppe hinterfragt und überprüft wird. 9 Ein wichtiges Kriterium ist die Entwicklung persönlicher Beziehungen zwischen den BetreuerInnen und dem einzelnen Klienten (Bezugserzieher- System). Wirksysteme in der Gruppe: Zunächst hoher Identitätsverlust, dann Aufbau neuer Identitätsmuster z. B. durch täglich geführte Gruppengespräche. Es ist angedacht die Gruppenstruktur in naher Zukunft zu verändern. Hierzu sind kleinere Gruppen mit jeweils 3 Jugendlichen und 4 BetreuerInnen vorgesehen, die verstärkt in Einzelmaßnahmen arbeiten werden. Schulbesuch: Die Einrichtung hält eine heiminterne Schule vor, die von allen Angehörigen der geschlossenen Gruppen besucht wird. Die interne Schule soll die Motivation für Schule wieder wecken, da die Klienten fast ausschließlich auch Schulverweigerer sind. Der Unterricht ist sehr individuell gestaltet, zumeist erfolgt die Arbeit in Einzelbetreuung oder Zweigruppenarbeit. Die Zusammenarbeit mit der Polizei ist als sehr positiv anzusehen. Es gibt einen „kurzen Draht“ auch zur StA. Wenn Jugendliche massiv KV- Delikte oder Diebstahlsdelikte gegen andere Jungen in der Gruppe begehen, wird von Seiten der Einrichtung eine Anzeige bei der Polizei gemacht. Dies wissen die Jugendlichen und wird ihnen im Einzelfall auch mitgeteilt. Wenn Ermittlungen während des Aufenthaltes zu führen sind, erscheint die Polizei in der Einrichtung. Ein mal pro Jahr findet eine Zusammenkunft zwischen StA, Polizei, dem Jugendamt und der Einrichtung statt. Ausschlusskriterien: Sind eindeutige geistige Behinderungen, psychiatrische Grunderkrankungen sowie ethnische Besonderheiten z.B. Sinti / Roma, da diese jegliche Zusammenarbeit komplett verweigern. Ein Drittel der Jugendlichen kommt gegen ihren Willen in die Einrichtung der geschlossenen Gruppe z.T. von der Polizei in Handschellen zugeführt. Begrifflichkeit der Eigen- und Fremdgefährdung: Unter Eigen- und Fremdgefährdung wird das Zusammentreffen von hohem Aggressionspotential + Steuerungsverlust + Impulskontrollverlust + niedrige Intelligenz verstanden. Das Zusammentreffen dieser Faktoren stellt eine Überforderung des Klienten in einem Gruppengefüge dar und kann somit als nicht gruppenfähig angesehen werden. Vita der Klienten: Die Vita der Klienten sind individuell, jedoch lassen sich durchaus Parallelen feststellen. Delinquenz und andere Auffälligkeiten, zumeist starke soziale Vernachlässigung, sowie aktive und passive Gewalterfahrungen in der Familie sind bei den meisten Jungen häufig gesammelte Erfahrungen. Ca. 90 % der Klienten entstammen dem Unterschichtmilieu. Vor der Aufnahme in die geschossene Gruppe durchlaufen die Klienten häufig die gesamte Palette ambulanter Hilfen in offenen Einrichtungen der Jugendhilfe. Erst wenn sie sich diesen vermehrt durch Flucht oder Verweigerung entziehen, wird eine geschlossene Unterbringung in Betracht gezogen. D.h. die geschlossene Unterbringung ist hier „letztes Mittel“. Hilfeplan / sonstige Voraussetzungen: Ein aktueller Hilfeplan muss vor der Unterbringung in die geschlossene Gruppe erstellt werde. Zusätzlich wird i.d.R. nach einer umfassenden Diagnostik ein psychiatrisches Gutachten erstellt. Der Beschluss des Familiengerichtes ist obligatorisch. Weiterhin bedarf es der Zustimmung des Sorgeberechtigten, in der Regel ist es das Jugendamt. Der Hilfeplan wird nach jeweils drei Monaten überprüft und aktualisiert. 10 Kosten: Ca. 220 € pro Tag / pro Person Qualifikation der BetreuerInnen: 20 MitarbeiterInnen sind für die beiden geschlossenen Gruppen zuständig. Davon sind 12 MitarbeiterInnen direkt im Gruppendienst tätig; hierbei handelt es zumeist um ErzieherInnen, Heilerziehungspfleger und vereinzelt um Dipl. Sozialpädagogen/Dipl. Sozialarbeiter. Des weiteren arbeiten drei HeilpädagogInnen, ein Psychologe und vier Honorarkräfte gruppenübergreifend. Die MitarbeiterInnen werden als Multiplikatoren im Anti- Aggressions- Training ausgebildet, insbesondere werden ganz bewusst Frauen hierfür befähigt. Aufgrund der Schwierigkeiten geeignete pädagogische MitarbeiterInnen zu finden, erfolgt bei nicht vorhandener Fachausbildung eine berufsbegleitende Ausbildung mit Genehmigung des Landesjugendamtes. Alle MitarbeiterInnen sind extremen psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt, wobei körperliche Übergriffe nicht ausgeschlossen sind. Vor der Einstellung in ein Arbeitsverhältnis erfolgt eine dreitägige Probearbeit. Eine sechsmonatige Probezeit ist obligatorisch. Rückfallquote: Klienten der geschlossenen Unterbringung werden durchschnittlich „nur“ zu einem Drittel rückfällig. Je früher der Klient aufgenommen wird, desto größer ist die Chance auf eine rückfalllose Perspektive. Beendigung der Maßnahme: Nach Beendigung der Maßnahme der geschlossenen Unterbringung erfolgt eine weiterführende Maßnahme in einer der offenen Gruppen in der Einrichtung. Es wird nicht in andere Einrichtungen mit offenem Angebot vermittelt. Die Jungen haben im offenen Bereich die Gelegenheit im geschützten Rahmen eine Ausbildung zu absolvieren. Sie können in der einrichtungsinternen Tischlerei als auch in der Malerei sowie in dem nahegelegenen Ausbildungsbereich in Pirmasens einen von ca. 10 bis 15 Ausbildungsangebote wahrnehmen. Bis zum Abschluss der Ausbildung bleiben die Klienten in dem offenen Gruppenbereich. Bauliche Sicherungen: In den offenen Gruppen ist eine freie Bewegungsmöglichkeit vorhanden. Die jeweiligen Wohnungseingangstüren sind verschlossen. Vor den Fenstern befinden sich Gitter. Je nach Verweildauer in der geschlossenen Gruppe und Lockerung der räumlichen Beschränkungen, kann der umzäunte Außenbereich des Geländes genutzt werden. Akzeptanzprobleme: Es gibt in der Bevölkerung keine Akzeptanzprobleme. Im Mai soll entschieden werden, ob in der Einrichtung eine Gruppe zur U- Haft Vermeidung, installiert werden soll. Dies erfolgt bei den Jugendlichen auf der Basis der Freiwilligkeit sowie bei zu erwartender geringer Strafe. Selbst vor diesem Hintergrund, der in der Bevölkerung durchaus bekannt ist, gibt es keine negativen Äußerungen. Der Einzugsbereich der Zielgruppe umfasst das gesamte Bundesgebiet. 3. Zusammenfassung (aus konzeptioneller Sicht) Zusammenfassend kann für die Arbeit beider Einrichtungen festgestellt werden: Die Parallelität geschlossener und offener Gruppen wird als pädagogisch sinnvoll erachtet, da beispielsweise ein Anreiz für die Klienten der geschlossenen Gruppen besteht „es selbst auch in die offenen Gruppen zu schaffen“. 11 Ferner ist die Beziehungsarbeit in geschlossenen Einrichtungen pädagogisch sinnvoll und erfolgreich. Die Maßnahme der geschlossenen Unterbringung schließt eine erfolgreiche und fruchtbare Beziehungsarbeit keineswegs aus. Ausschlaggebend ist ein von allen Mitgliedern getragenes pädagogisches Konzept, dieses entspricht überregional anerkannten Standards und wird ständig überprüft und aktualisiert. Zudem ist die Unterbringung in eine geschlossene Gruppe ein „Mittel zum Zweck“, denn nur so kann die Anwesenheit der Klienten gesichert werden, welche als unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit angesehen werden muss. Ohne die Möglichkeit der geschlossenen Unterbringung muss insbesondere nach dem Scheitern vorheriger Hilfen ein völliges Abgleiten der Klienten in Kriminalität, Verwahrlosung, Drogensucht pp. befürchtet werden. Ein Problem stellen letztendlich diejenigen Jugendlichen dar, die aufgrund ihres Alters, ab 16 Jahren aus pädagogischen Gründen nicht mehr aufgenommen werden können und von der hohen professionellen Betreuung und dem erzieherischen Potential derartiger Einrichtungen nicht mehr erfasst werden. III. Rechtliche Betrachtung Die Freiheit der Person ist ein Menschen- und ein Grundrecht. Deswegen kann sie gemäß Art. 104 GG nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. In Art. 37 der Kinderrechtskonvention (KRK) heißt es, - dass Festnahme, Freiheitsentziehung und Freiheitsstrafe bei einem Kind (bis zu 18 Jahren) im Einklang mit dem Gesetz nur als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene Zeit angewendet werden, - dass jedes Kind, dem die Freiheit entzogen ist, menschlich und mit Achtung vor dem der dem Menschen inne wohnenden Würde und unter Berücksichtigung der Bedürfnisse von Personen seines Alters behandelt wird und - dass jedes Kind, dem die Freiheit entzogen ist, das Recht auf umgehenden Zugang zu einem rechtskundigen oder anderen geeigneten Beistand und das Recht hat, die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung anzufechten. Außerdem ist gemäß Art. 3 KRK das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen. Im Umkehrschluss ergibt sich aus diesen Regelungen, dass eine Freiheitsentziehung bei Minderjährigen (unter 18 Jahre) bei Beachtung rechtsstaatlicher Grenzen grundsätzlich zulässig sein kann, wenn eine entsprechende Rechtsgrundlage gegeben ist9. Rechtsgrundlagen für eine Unterbringung mit Freiheitsentziehung gibt es sowohl im Strafrecht, im Zivilrecht, als auch im Öffentlichen Recht. Dabei soll unterschieden werden zwischen 1. der Unterbringung noch nicht strafmündiger Kinder 2. Untersuchungshaft nach §§ 71, 72 JGG bzw. möglichen Alternativen 3. der Verhängung freiheitsentziehender Rechtsfolgen ( Arrest und Jugendstrafe) 9 B.-R. Sonnen, DVJJ-Journal, 3/ 2002 S.327 12 1. Unterbringung noch nicht strafmündiger Kinder 1.1. Zielgruppe Zur Größe der Zielgruppe strafunmündiger Kinder, die mit delinquenten Verhaltensweisen in Niedersachsen im Jahre 2002 aufgefallen sind: Tatverdächtige Kinder unter 14 Jahren davon männlich davon weiblich insgesamt Gesamttatverdächtige prozentualer Anteil der Kinder davon männlich davon weiblich 13.864 9891 3973 224.008 6,19% 71,34% 28,66% Gliedert man die tatverdächtigen Kinder nach Straftaten, so zeigt sich für das Jahr 2002 folgendes Bild. Kinder unter 14 Jahren Gesamtzahl Diebstahl (ohne 8220 erschwerende Umstände) Jungen 5252 53,1%* Mädchen 2968 74,7%* Diebstahl (unter 1042 erschwerenden Umständen) 927 9,37% 115 2,89% 6593 3955 39,99% 2638 66,4% 2336 1998 20,2% 338 8,5% Körperverletzung (vors. und 955 leicht) 776 7,85% 179 4,5% schwere u. Körperverletzung 672 6,8% 165 4,15% 409 4,1% 285 2,88% 84 0,85% 54 1,36% 29 0,73% 11 0,28% - davon Ladendiebstahl – Sachbeschädigung Brandstiftung gefährl. 837 463 Raub, räub. Erpressung, 314 Angriffe auf Kraftfahrer Erpressung 95 * Von den Gesamttatverdächtigen Jungen (9891) bzw. Mädchen (3973) entfällt prozentual auf z.B. Diebstahl etc. Bei den Spitzenpositionen (Diebstahl) handelt es sich meist um Ladendiebstahl. Dieses Massenphänomen hat überwiegend Bagatell-, Gelegenheits- und Episodencharakter und sollte deswegen nicht dramatisiert werden. 13 Andererseits gibt es eine Gruppe von ca. 4 – 5% der Kinder, die eine Mehrzahl von Delikten begehen und in der Gefahr sind, in eine "kriminelle Karriere" zu geraten. Bekannt ist, dass die sog. Intensivtäter bereits in früher Kindheit Verhaltensauffälligkeiten zeigen10. Damit stellt sich die Frage nach Prävention und Reaktion und ihren rechtlichen Grundlagen. 1.2. Rechtsgrundlagen Strafrecht Voraussetzung für die Anwendung innerhalb des Strafrechtes ist die Strafmündigkeit. Da die erst mit 14 Jahren beginnt, können Kinder nicht bestraft werden. Demzufolge stehen für Kinder nur die Rechtsgrundlagen aus dem öffentlichen Recht, insbesondere dem Kinder- und Jugendschutzgesetz (KJHG/ SGB VIII) und dem Zivilrecht zur Verfügung. Öffentliches Recht Freiheitsentziehende Maßnahmen sind nach dem Wortlaut des Gesetzes nur im Falle des § 42 Abs. 3 SGB VIII (KJHG) erlaubt. Nach der Legaldefinition des § 42 Abs. 1 SGB VIII (KJHG) ist die „Inobhutnahme“ die vorläufige Unterbringung des Kindes oder Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer Einrichtung oder in einer sonstigen betreuten Wohnform. Die Voraussetzungen und Anforderungen für eine Inobhutnahme gelten zwingend auch für freiheitsentziehende Maßnahmen. Freiheitsentziehende Maßnahmen liegen vor, wenn die körperliche Bewegungsfreiheit der betreffenden Person, auf welche Weise auch immer und unabhängig vom Intensitätsgrad, beeinträchtigt ist. Freiheitsentziehung liegt auf jeden Fall vor, wenn jemand gegen oder ohne seinen Willen an einem bestimmten Ort festgehalten wird. Freiheitsentziehung liegt auch vor, wenn zwar der konkrete Ort verlassbar ist, nicht aber die Wohnung, die Einrichtung, Gebäude usw., in der die Person untergebracht ist11. Eine freiheitsentziehende Maßnahme ist bei dringender Gefahr für das Wohl des Kindes und Jugendlichen und nur dann zulässig, wenn und soweit sie erforderlich ist, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes, eines Jugendlichen oder einem Dritten abzuwenden. Der Gefahrenbegriff ist hier nicht gleichgestellt mit der polizeilich definierten Gefahr, sondern mit der Gefahrenlage i.S.d. § 1666 BGB12. Diese wird z.B. bei den verhängnisvollen S-Bahn-Surfen, sowie anderen Fällen deutlicher Suizidgefährdung oder bei den sog- „Crash-Kids“ der Fall sein (Eigen- und Fremdgefährdung). Nicht aber schon bei jeder drohenden einfachen Körperverletzung. 10 11 B.-R. Sonnen, DVJJ-Journal, 3/2002 S. 326ff. (327) Münder u.a. Frankfurter Lehr- und Praxiskommentar zum SGB VIII/ KJHG, St.1/99, § 42 RNr. 18, 12 dazu unter I. 2.3.b) 14 Die Gefährdung anderer Rechtsgüter wie Eigentum, Besitz etc. auch wiederholt, reicht nicht aus13. Die Gefahr muss dringend sein. Das ist dann der Fall, wenn ein Abwarten nicht mehr möglich ist. Es muss also objektiv eine große Wahrscheinlichkeit bestehen, dass Leib oder Leben des Kindes oder eines Dritten gegenwärtig, also in allernächster Zeit in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Gefahrenlage muss sich hierbei aus Tatsachen ergeben. Reine Spekulationen, Alltagserfahrungen und Vermutungen begründen nicht die Annahme einer dringenden Gefahr14. Aber auch die dringende Gefahr ermächtigt nicht automatisch zu freiheitsentziehenden Maßnahmen. Die Maßnahme muss verhältnismäßig, d.h. geeignet und auch erforderlich sein ( Abs. 3 S.3). Sie kann auch nur so lange dauern wie die dringende Gefahr besteht. Das Jugendamt hat immer zu prüfen, ob durch andere Maßnahmen (z.B. intensive Einzelbetreuung, § 35 KJHG, räumliche und zeitliche Beschränkung) eine Freiheitsentziehung vermieden bzw. weitergeführt werden kann. Dass das Jugendamt entsprechend geprüft hat, muss sich aus dem Antrag auf bzw. bei Gefahr im Verzuge aus den Gründen der Entscheidung für eine freiheitsentziehende Unterbringung ergeben. Bei jeder freiheitsentziehenden Unterbringung ist eine gerichtliche Entscheidung notwendig, und zwar regelmäßig eine vorherige. Aufgrund des Sachzusammenhanges ist entsprechend § 1631 b BGB das Familiengericht zuständig. Verfassungsrechtlich sind die Art. 2, 11 und 104 GG angesprochen. Danach sind für eine freiheitsentziehende Unterbringung rechtlich ein förmliches Gesetz, die Entscheidung durch einen Richter und die Beachtung des verfassungsrechtlichen Zitiergebotes erforderlich. Bei Freiheitsentziehung muss das Gesetz, das das Grundrecht einschränkt, hier Art 2 und 11 GG zitiert werden. Dies ist durch Art. 20 des Gesetzes zur Neuordnung des Kinderund Jugendhilferechts geschehen. Nicht zitiert wurde Art. 104 GG. Hier ist es strittig, ob Art. 104 GG bei einer Freiheitseinschränkung zu zitieren ist. Befürworter halten daher § 42 SGB VIII/ KJHG für verfassungsrechtlich nicht ausreichend15. Im Übrigen findet sich in den §§ 27 und 34 SGB VIII/ KJHG keine Rechtsgrundlage für eine geschlossene, freiheitsentziehende Unterbringung. Rechtsgrundlagen für eine geschlossene Unterbringung finden sich landesrechtlichen Unterbringungsgesetzen bzw. Psychisch-Kranken-Gesetzen. in den Zivilrecht Nach der derzeitigen Rechtslage darf eine Unterbringung von Kindern und Jugendlichen, die mit Freiheitsentzug verbunden ist, nur bei Vorliegen einer richterlichen Genehmigung erfolgen, § 1631 b BGB. 13 Th. Trenczek, Rechtliche Voraussetzungen und Grenzen der freiheitsentziehenden Unterbringung, Kurzgutachten S. 3 14 BverfG NJW 2001, 1122ff. 15 Münder u.a. Frankfurter Lehr- und Praxiskommentar zum KJHG/ SGB VIII, St.1/99, § 42 RNr. 20, 21 15 a) geschlossene Unterbringung auf „Wunsch“ der Eltern Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht ist, Art 6 GG. Den Eltern obliegt das Personensorgerecht, welches gemäß § 1631 BGB insbesondere das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen umfasst. Daher können die Personensorgeberechtigten ebenso wie der Vormund, § 1800 BGB bzw. der Personensorgerechtspfleger, § 1915 BGB im Rahmen des Aufenthaltsbestimmungsrechts eine geschlossene Unterbringung veranlassen. Diese Freiheitsentziehung bedarf der Genehmigung des Familiengerichtes nach § 1631 b BGB. Die Genehmigung nach § 1631 b BGB ist keine Anordnung des Gerichtes, sondern eine nachträgliche Zustimmung des Gerichtes auf Antrag der Personensorgeberechtigten. Sie soll das Kind bzw. den Jugendlichen vor einer Abschiebung in ein geschlossenes Heim schützen und verspricht eine Orientierung am Kindeswohl, die Unterbringung mit Freiheitsentziehung als „ultima ratio“. Für das Verfahren über Unterbringungsmaßnahmen gelten die §§ 70-70 n FGG. Ohne Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist16. b) geschlossene Unterbringung bei Gefährdung des Kindeswohls Bei Gefährdung des Kindeswohls bestehen gemäß §§ 1666, familienrechtliche Eingriffsbefugnisse. 1666a BGB Eine Gefährdung des Kindeswohls liegt unter Berücksichtigung des Milieus, in das das Kind hineingeboren ist, vor, bei begründeter, gegenwärtiger Besorgnis der Gefährdung des körperlichen, geistigen oder seelischen Kindeswohls. Auch kurz zurückliegende oder nahe bevorstehende Gefährdungen genügen17. Die Gefährdung des Kindeswohls und ein damit einhergehendes Erziehungsunvermögen der Eltern können sein: - Sorgerechtsmissbrauch oder - die Vernachlässigung des Kindes oder - ein unverschuldetes Versagen der Eltern oder - durch das Verhalten eines Dritten Sorgerechtsmissbrauch ist dabei das Ausnutzen der elterlichen Sorge zum Schaden des Kindes. Im einzelnen stellen Sorgerechtsmissbräuche z.B. dar: Selbstmordversuch mit Tötungsversuch am Kinde, körperliche Misshandlung des Kindes, übermäßige Züchtigung, jahrelange körperliche Misshandlung, Anhalten zum Betteln oder sonstigen strafbaren Handlungen, Abhalten vom Besuch der Schule Eine Vernachlässigung des Kindes kann vorliegen bezüglich der Wohnverhältnisse, Ernährung, Pflege und einer weitestgehenden Verwahrlosung. z.B durch Duldung des Herumtreibens, mangelhafter Beaufsichtigung auch des regelmäßigen Schulbesuches , Duldung ungünstiger Einflüsse Dritter 16 17 B.-R. Sonnen, DVJJ-Journal 3/ 2002 S. 318 Palandt, BGB-Kommentar, 52. Auflage § 1666, RNr. 4 16 Unverschuldetes Versagen der Eltern wurde begrifflich deshalb erfasst, da es auch Fälle geben kann, in denen die Kindesgefährdung nicht auf ein Verschulden der Eltern zurückzuführen ist. Kindeswohlgefährdung durch das Verhalten eines Dritten liegt vor bei gefährdenden Einflüssen von dritter Seite. Dies muss ausdrücklich festgestellt werden, um auch gegen den Dritten vorgehen zu können (§ 1666 Abs. 1 S.2 BGB). Bsp.Zuhälter, Rauschgiftsüchtige, Terroristen, ansteckende Krankheiten Zusätzlich zur Kindeswohlgefährdung muss seitens der Eltern eine mangelnde Bereitschaft oder Fähigkeit zur Gefahrenabwehr von dem Kind vorliegen. Das ist dann der Fall, wenn die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Diese Voraussetzung muss zusätzlich vorliegen, um den Eingriff des Vormundschaftsgerichtes zu rechtfertigen und von diesem auch festgestellt werden. Dabei stehen der vom bestimmten Willen getragenen Hilflosigkeit der Eltern deren Unwillen, ihrer fehlenden Einsicht oder bloßen Gleichgültigkeit völlig gleich. Es spielt keine Rolle, ob sie in der Lage, aber unwillig, oder willig, aber nicht in der Lage sind. Das Merkmal dient ausschließlich dazu, die Eltern ihres Erziehungsvorranges zur Selbsthilfe zu bewegen18. Als Folge kann dann als Maßregel die Entziehung der Ausübung der Personensorge und damit des Aufenthaltsbestimmungsrechtes ausgesprochen werden. Dabei können auch Erklärungen der Eltern durch das Vormundschaftsgericht ersetzt werden. Dabei sind Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, nur dann zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann, so § 1666 a Abs. 1 BGB. Damit ist im Kontext zum GG und KJHG die Freiheitsentziehung nur als „ultima ratio“ möglich. 2. Unterbringung von Jugendlichen 2.1. Zielgruppe Zur Größe der Zielgruppe „Jugendliche“, die mit delinquenten Verhaltensweisen in Niedersachsen 2002 aufgefallen sind: Tatverdächtige Jugendliche davon männlich davon weiblich 14 –16J 16 bis unter 18J. 14745 15182 10405 11804 4340 3378 Gesamttatverdächtige prozentualer Anteil der 14-16J davon männlich davon weiblich 224.008 6,58% 70,57% 29,43% prozentualer Anteil der 16 bis unter 18J davon männlich davon weiblich 6,78% 77,75% 22,25% 18 Palandt, § 1666, Rnr.13ff. 17 Gliedert man die tatverdächtigen Jugendlichen nach Straftaten, so zeigt sich für das Jahr 2002 folgendes Bild: Gesamt- Jungen zahl 14-16J 14-16J Diebstahl (ohne 6700 4079 erschwerende Umstände) 39,20%* Diebstahl (unter 1746 1551 erschwerenden Umständen) 14,91% Ladendiebstahl (klassisch) 4591 2381 22,88% Sachbeschädigung 2426 2116 20,34% Körperverletzung (vors. und 1434 1070 leicht) 10,28% Mädche n 14-16J 2621 60,39%* 195 4,49% 2210 50,92% 310 7,14% 364 8,39% Gesamt- Jungen zahl 16-18J 16-18J 5020 3479 29,47%* 1854 1694 14,35% 2948 1747 14,80% 2311 2131 18,05% 1557 1259 10,67% Mädche n 16-18J 1541 45,62%* 160 4,73% 1201 35,55% 180 5,33% 298 8,82% schwere u. gefährl. 1407 Körperverletzung Raub, räub.Erpressung, 548 Angriff auf Kraftfahrer Erpressung 102 281 6,47% 58 1,34% 12 0,28% 1789 213 6,31% 56 1,66% 4 0,12% 1126 10,82% 490 4,71% 90 0,86% 603 67 1576 13,35% 547 4,63% 63 0,53% * prozentuales Verhältnis Gesamttatverdächtige zum Tatbestand auf z.B. Diebstahl etc. (10405 männl.TV, im Verhältnis zu 4079 TV, 4340 weibl. TV im Verhältnis zu 2621TV) 2.2 Rechtsgrundlagen Innerhalb des Zivilrechtes und des öffentlichen Rechtes finden für Jugendliche ebenfalls die §§ 1666, 1666a BGB und § 42 Abs. 3 SGB VIII/ KJHG Anwendung. Da ab dem 14. Lebensjahr Strafmündigkeit besteht, kann eine geschlossene Unterbringung auch aufgrund des Strafrechtes erfolgen. Dabei muss zwischen der strafrechtlichen Sanktion einerseits und dem Erziehungsgedanken andererseits strikt getrennt werde. Vorläufige Anordnung über die Erziehung, § 71 JGG Eine einstweilige Unterbringung in einem geeigneten Heim für den Jugendlichen kann seitens des Gerichtes dann angeordnet werden, wenn dies auf die zu erwartende Maßnahme geboten ist, um den Jugendlichen vor einer weiteren Gefährdung seiner Entwicklung, insbesondere der Begehung neuer Straftaten, zu bewahren ( §71 Abs. 2 JGG) Zusätzlich zu den allgemeinen Voraussetzungen einer Anordnung nach Absatz 119 - Verdacht einer Verfehlung - Prognose, keine Verfahrenseinstellung nach §§ 45, 47 JGG 19 erzieherische Anordnung nach § 71 Abs. 1JGG können sein: Betreuungsweisung, Aufnahme in einer Wohngemeinschaft, eine Familie oder Heim, Übernahme bzw. Wechsel eines Arbeitsplatzes, einer Lehrstelle etc. 18 - erzieherische Belange, nur bei andauernder Beeinträchtigung ein Abwarten bis zum Urteil ist nicht zumutbar muss der Verdacht noch gesteigert sein und eine erzieherische Notwendigkeit bestehen, den Jugendlichen vor „weiterer Gefährdung seiner Entwicklung“ zu bewahren. Eine solche Notwendigkeit kann sich insbesondere aus einer durch hinreichende Anhaltspunkte belegten (Wiederholungs-) Gefahr der Begehung neuer Straftaten ergeben20. Es muss jedoch ein spezifischer Zusammenhang zwischen wiederholten Straftaten und der Entwicklungsgefährdung erkennbar sein. Aus diesem Grund findet bei Bagatellen, Straftaten mit einmaligem Charakter bzw. jugendtypischer Art § 71 JGG keine Anwendung. Repressive Gesichtspunkte scheiden bei der Anordnung der vorläufigen Maßnahme aus, denn Sinn und Zweck des § 71 JGG ist es, die auch im Jugendstrafverfahren innewohnenden erzieherischen Ziele im Zeitraum des Urteils zu sichern. Zudem muss die Anordnung auch im Hinblick auf die zu erwartende Maßnahme geboten sein. Das ist in der Regel dann der Fall, wenn Jugendstrafe zu erwarten ist. Die Unterbringung kann nur als zeitlich, begrenztes Mittel angeordnet werden (Subsidiaritätsprinzip)21. Das Vorhandensein eines geeigneten Heimes bleibt dabei der Jugendhilfe überlassen. Die Eignung des Heimes richtet sich nach dem Ziel, durch erzieherische Beeinflussung (Therapie) die Wiederholung von Straftaten zu verhindern. Wenn aus sozialpädagogischer Sicht geschlossene Heime hierzu nicht geeignet sind, bleiben nur offene Heime als geeignet übrig22. Vereinzelt wird sogar ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf die Alternative der geschlossenen Heimunterbringung behauptet. Keineswegs ist umgekehrt als geeignetes Heim lediglich ein fluchtsicheres zu verstehen. Eine fluchtsichere Unterbringung ist nicht Voraussetzung. Da die Heime ganz unterschiedlich organisiert sind und sich nicht in die Schablone „offengeschlossen“ einpassen lassen, hat das Gericht eine Auswahl zu treffen und das Erziehungsheim konkret zu bezeichnen. In § 71 Abs. 2 S. 3 JGG wird klargestellt, dass die Ausführung der einstweiligen Unterbringung sich nach dem für das Heim der Jugendhilfe geltenden Regelungen richtet23 Die Entscheidung steht im richterlichen Ermessen, kann sich aber zur Vermeidung der Untersuchungshaft zu einer Verpflichtung verdichten. Untersuchungshaft Eine weitere Kategorie der geschlossenen Unterbringung ist die Untersuchungshaft (§ 72 JGG). Die Untersuchungshaft soll hier nicht weiter abgehandelt werden. Sie kann jedoch durch die Heimeinweisung vermieden werden. 20 21 22 23 U. Eisenberg, JGG-Kommentar, § 71, RNr. 7 U. Eisenberg, § 71 JGG, RNr. 7 so H. Ostendorf, JGG-Kommentar, 4.Aufl. 1997, § 71, RNr. 7 H. Ostendorf, JGG-Kommentar, 4.Aufl. 1997, § 71, RNr. 7 19 Unterbringung in einem Heim Nach § 72 Abs. 4 JGG kann zur Vermeidung des Vollzugs der Untersuchungshaft unter den selben Voraussetzungen, unter denen ein Haftbefehl erlassen werden kann, die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe (§ 71 Abs. 2) angeordnet werden. Voraussetzung ist hierfür neben dem dringenden Tatverdacht, das Vorliegen eines Haftgrundes nach §§ 112 Abs. 2, 3 und 112a StPO. Selbst bei Vorliegen eines Haftgrundes darf Untersuchungshaft nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann (Verhältnismäßigkeit). Wegen der Nähe zur Untersuchungshaft ist lange Zeit – wie ursprünglich auch vom Gesetzgeber vorgesehen- mit dem Heim der Jugendhilfe eine geschlossene fluchtsichere Unterbringung verbunden worden24. Es darf nicht übersehen werden, dass § 72 Abs.1 S. 2 JGG nicht auf § 119 StPO verweist. Die Ausführungen der einstweiligen Unterbringung richten sich deshalb nach § 71 Abs. 2 S. 3 JGG. Das Heim der Jugendhilfe muss deshalb weder baulich gesichert noch „fluchtsicher“ sein. Dies wird weder nach dem JGG noch nach dem KJHG/ SGBVIII gefordert25, kann jedoch auch nicht ausgeschlossen werden (pädagogisches Konzept). Die Verhängung freiheitsentziehender Rechtsfolgen ( Arrest und Jugendstrafe) Der Vollständigkeit halber sei hier noch der Jugendarrest (§ 16 JGG) und die Jugendstrafe (§ 17 JGG) angesprochen. Die Vollstreckung des Arrestes (Freizeit-, Kurz- bzw. Dauerarrest) bzw. der Jugendstrafe richtet sich nach den §§ 82 bis 87 JGG und der Vollzug nach § 90ff. JGG. Danach wird der Arrest in Jugendarrestanstalten oder Freizeitarresträumen der Landesjustizverwaltung vollzogen und die Jugendstrafe in Jugendstrafanstalten. Diese sind von geschlossenen Heimen allein aufgrund der Intention hin zu unterscheiden, weshalb hier nicht näher darauf eingegangen werden soll. 3. Zusammenfassung (aus rechtlicher Sicht) Die geschlossene Unterbringung ist bei Gefährdung des Wohles des Kindes und Jugendlichen unter den genannten Voraussetzungen möglich (§ 42 Abs. 3 SGB VIII/ KJHG und nach § 1666, 1666a BGB). Jugendliche können auch einstweilig nach § 71 Abs. 2 JGG in einem geeigneten Heim untergebracht werden. Dies muss nicht, kann aber geschlossen sein (je nach Konzept der Jugendhilfe). In beiden Fällen sind die Voraussetzungen sehr eng gefasst und die (geschlossene) Heimunterbringung ist als „ultima ratio“ anzusehen. 24 25 292f. Ch. Scholz, Wegschließen – Lösung oder Hilflosigkeit?, DVJJ-Journal 3/00 S. 237 Th. Trenczek, Geschlossene Unterbringung oder Inobhutnahme, DVJJ-Journal 3-4/94 S. 20 IV. Fazit Auf Grund der rechtlichen Bewertung und der praktischen Erkenntnisse aus den beiden Einrichtungen ist Gegnern einer geschlossenen Unterbringung entgegenzuhalten, dass es sich dabei weder um das „Wegsperren“ einer problematischen Klientel noch um ein Regulativ für eine wegen ihrer Strafunmündigkeit strafrechtlich nicht zu erreichende Zielgruppe handelt. „Es geht bei der geschlossenen Unterbringung im Kontext von Hilfe zur Erziehung – also eine Leistung im Leistungskatalog des Kinder- und Jugendhilferechts, deren Zielsetzung sich am Programm des § 1 Abs. 1 SGB VIII ergibt: Dem Recht auf Erziehung und auf Förderung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“26. So formuliert die Sachverständigenkommission zum 11. Kinder- und Jugendbericht: Trotz der in einer Reihe von Studien empirisch gut belegten Negativfolgen geschlossener Unterbringungen (vgl. u.a. Woltersdorff u.a. 1996), der dadurch erzeugten pädagogischen Widersprüche und der problematischen Sogeffekte geschlossener Einrichtungen kann deshalb in wenigen, sehr seltenen Konstellationen zeitweilige pädagogische Betreuung in einer geschlossenen Gruppe eine dem jeweiligen Fall angemessene Form der Intervention sein27. Darüber hinaus formuliert Wiesner deutlicher: „Es erscheint an der Zeit, dass die Jugendhilfe sich ihrer Verantwortung für alle Kinder bewusst wird und sich nicht länger hinter rechtlichen Gutachten zu einer Frage, die gar nicht ihren Verantwortungsbereich betrifft und deren Implikationen zudem anfechtbar sind, versteckt. Mit einer generellen Absage an geschlossene Unterbringung nimmt sie in Kauf, dass eine nicht unwesentliche Zahl von Kindern und Jugendlichen auf der Strecke bleibt und vom gesellschaftlichen Integrationsprozess ausgeschlossen wird“28. Diesen in ihrer Deutlichkeit nicht mangelnden Feststellungen ist wenig entgegenzusetzen, ihnen kann aus polizeilicher Sicht in vollem Umfang zugestimmt werden. „Für eine kleine Anzahl straffälliger Kinder muss die geschlossene Unterbringung auch in Niedersachsen möglich sein. „Lediglich in wenigen Einzelfällen seien Kinder so stark desintegriert, dass sie für sich selbst und andere eine Gefahr darstellen“29. Wenn auch die eingangs gestellte Frage, ob in Niedersachsen ein Bedarf an Plätzen für eine geschlossene Unterbringung gegeben ist, noch nicht in absoluten Zahlen zu beantworten ist, so kann sie aber grundsätzlich mit „Ja“ beantwortet werden. Im Zuge einer noch besseren Kooperation von Jugendhilfe, Justiz, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Polizei sollte es gelingen, sich in der Diskussion wie praktischen Umsetzung mehr von der Maxime „zum Wohl des Kindes“ leiten zu lassen. Winfried Bodenburg , EPHK Landesbeauftragter für Jugendsachen 26 R.Wiesner, Wenn Pädagogik an Grenzen stößt, EREV-Schriftenreihe 3/2002, S. 10 BT.-Drs. 14/8181, 11. Kinder- und Jugendbericht, S.240 28 R.Wiesner, ebenda S.24 29 Gem. Erklärung der AGJÄ Niedersachsen/Bremen und der Nds. Ministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Frau Dr. Ursula von der Leyen, Hannover, 3/2003) 27 21 Carola Gustedt, PK‘in Dipl. Soz.- Päd. Kathleen Hirt, PR` in z.A. 22 §§ 1631 b, 1666, 1666 a BGB auf Wunsch der Eltern § 1631 b BGB, Zustimmung durch Gericht, Orientierung am Kindeswohl, keine "Abschiebung" durch die Eltern Gefährdung des Kindeswohls - Sorgerechtsmissbrauch oder die Vernachlässigung des Kindes oder ein unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten und mangelnde Bereitschaft oder Fähigkeit der Eltern zur Gefahrenabwehr u.a. Entziehung der Ausübung des Personensorge- und Aufenthaltsbestimmungsrechts ..... ..... u.a. Trennung Kind von elterl. Familie Gefahr kann nicht auf andere Weise beseitigt werden u.a. Geschlossene Unterbringung § 42 Abs. 2 SGB VIII/KJHG Kind bittet um Inobhutnahme Unterrichtung der Personensorge- oder Erziehungsberechtigten (PE) nicht erreichbar widerspricht stimmt zu Übergabe des Kindes an (PE) Entscheidung des Familiengerichtes zum Wohle des Kindes keine Inobhutnahme Inobhutnahme 23 § 42 Abs. 3 SGB VIII / KJHG Dringende Gefahr für Wohl des Kindes oder Jugendlichen Gefährdung des Kindeswohls i.S.d. § 1666 BGB - Sorgerechtsmissbrauch oder - die Vernachlässigung des Kindes oder - ein unverschuldetes Versagen der Eltern oder - durch das Verhalten eines Dritten dringend, abwarten nicht mehr möglich = Inobhutnahme verpflichtet Freiheitsentziehend, wenn andere Hilfen Gefahr für Leib oder Leben des Kindes, Jugendlichen oder Dritten deutliche Suizidgefährdung, Eigen- und Fremdgefährdung drohende, einfache Körperverletzung, Gefährdung anderer Rechtsgüter wie Eigentum, Besitz etc. auch wiederholt Verhältnismäßigkeit Maßnahmekatalog Freiheitsentziehung als "ultima ratio" andere Hilfen Unterrichtung der Personensorge- oder Erziehungsberechtigten (PE) stimmt zu widerspricht nicht erreichbar Übergabe des Kindes an (PE) oder Familiengericht keine Entscheidung Entscheidung zum Wohle des Kindes Folge: Ende Freiheitsentziehung mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn keine Inobhutnahme als freiheitsentziehende Maßnahme (FE) Inobhutnahme als FE Folge: Zustimmung der Eltern wird ersetzt, deren 24 Anhang – Gesetzestexte § 42 Abs. 2 SGB VIII (KJHG) Danach ist das Jugendamt verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert. Freiheitsentziehende Maßnahmen sind dabei nur zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Die Freiheitsentziehung ist ohne gerichtliche Entscheidung spätestens mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn zu beenden. Das Jugendamt hat den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten unverzüglich von der Inobhutnahme zu unterrichten. Widerspricht der Personensorge- oder Erziehungsberechtigte der Inobhutnahme, so hat das Jugendamt unverzüglich 1. das Kind oder den Jugendlichen dem Personensorge- oder Erziehungsberechtigten zu übergeben oder 2. eine Entscheidung des Familiengerichtes über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen. Ist der Personensorge- oder Erziehungsberechtigte nicht erreichbar, so gilt Satz 3 Nr.2 entsprechend. § 1666 BGB – GesetzestextI.Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch mißbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten gefährdet, so hat das Vormundschaftsgericht, wenn die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden, die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Das Gericht kann auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen. II. Das Gericht kann Erklärungen der Eltern oder eines Elternteils ersetzen. § 71 JGG – Gesetzestext (1) Bis zur Rechtskraft des Urteils kann der Richter vorläufige Anordnungen über die Erziehung des Jugendlichen treffen oder die Gewährung von Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch anregen. (2) Der Richter kann die einstweilige Unterbringung in einem geeigneten Heim der Jugendhilfe anordnen, wenn dies auch im Hinblick auf die zu erwartenden Maßnahmen geboten ist, um den Jugendlichen vor einer weiteren Gefährdung seiner Entwicklung, insbesondere vor der Begehung neuer Straftaten, zu bewahren. Für die einstweilige Unterbringung gelten die §§ 114 bis 115 a, 117 bis 118 b, 120, 125 und 126 der Strafprozessordnung sinngemäß. Die Ausführung der einstweiligen Unterbringung richtet sich nach den für das Heim der Jugendhilfe geltenden Regelungen. 25 § 72 Untersuchungshaft – Gesetzestext (1) Untersuchungshaft darf nur verhängt und vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit, § 112 Abs. 1 S. 2 StPO, sind auch die besonderen Belastungen des Vollzugs für Jugendliche zu berücksichtigen. Wird Untersuchungshaft verhängt, so sind auch die besonderen Belastungen des Vollzuges für Jugendliche zu berücksichtigen. Wird Untersuchungshaft verhängt, so sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, dass andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist. (2) Solange der Jugendliche das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist die Verhängung von Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur zulässig, wenn er 4. sich dem Verfahren bereits entzogen hatte oder Anstalten zur Flucht getroffen hat oder 5. im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat. (3) .........